Die dreifache Krone Rom’s.
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I.
Triadologiſche Analyſe des Papſtthums. Die in ihm enthaltenen Ele-
mente und Principien und deren vorläufige Erſcheinungsweiſen und
Repräſentationen in vorchriſtlicher Zeit und Welt. Das paläſtinenſiſche,
römiſche und griechiſche Moment und deren organiſche Vereinigung
im römiſch-katholiſchen Prieſter- und Kirchenthum.
Dreifach iſt die Krone, die das Haupt des römiſchen
Biſchofes ſchmückt. Dreifach iſt der welthiſtoriſche Grund
und Stoff, der die Alles überragende Autorität und Be-
deutung dieſes erhabenen Kirchenfürſten, und des von ihm
zu allerhöchſt repräſentirten Kirchen- und Prieſterthums
bildet. Dies auseinanderzuſetzen, ſind nachſtehende Er-
örterungen beſtimmt. Wer ihnen folgt, dem wird ſich in
der genannten großen Erſcheinung eine Verknüpfung der
bedeutungsvollſten, weſentlichſten und großartigſten Prin-
cipien und Elemente des welthiſtoriſchen Entwickelungs-
und Bildungsproceſſes darſtellen, wie ſie nirgend ihres
Gleichen hat, und wie ſie ſchwerlich weder vom Zufall
zuſammengewürfelt, noch durch bloß menſchliche Kraft und
Kunſt zu Stande gekommen iſt, ſondern nur als ein Er-
zeugniß der die menſchlichen Dinge lenkenden allgemeinen
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Macht, als ein Werk des in der Kirche wirkſamen, ja zu
deſſen Vorbereitung ſchon lange zuvor ſelbſt im Heidenthume
thätig geweſenen göttlichen Geiſtes betrachtet werden kann.
Es iſt vor Allem der oſtwärts in Paläſtina und dem
daſelbſt heimiſchen Volksſtamme ſemitiſchen Urſprunges
wurzelnde Idealismus und Spiritualismus — die über
Natur und Menſchheit in ihrer gegenwärtigen Beſtimmt-
heit hinaus in ein höheres Gebiet des Werdens und Seins
überleitende Religion des romantiſchen Zeitalters — was
den Geiſt, Gehalt und Zweck des römiſch-katholiſchen Kir-
chen- und Prieſterthums bildet. So weſentlich aber dieſe
Beſtimmung iſt, ſo iſt damit doch nur der allgemein chriſt-
liche Charakter der Sache, nichts ſpecifiſch Eigenes, Beſon-
deres und Unterſcheidendes ausgeſprochen, da das Nehmliche,
wenn auch nicht in derſelben Ausführung und Bedeutſam-
keit, auch bei den übrigen chriſtlichen Confeſſionen und
Kirchenthümern der Fall. Anders verhält es ſich mit den
beiden anderen Momenten, die jene eigenthümliche römiſch-
katholiſche Trias bilden, wovon insbeſondere das eine ſchon
gleich im Namen und örtlichen Mittelpunkte der Sache
hervortritt und ausgeprägt iſt.
Wir haben es nehmlich auch mit einem ganz eigen-
thümlichen geographiſch-hiſtoriſchen Phänomen zu thun,
das in Italien, in Rom ſelbſt zu Haus, deſſen Wurzeln
ſich hier bis in das graueſte Alterthum zurück verfolgen
laſſen und als deſſen abſtrakt weltliche Baſis und Vorſtufe
die ganze alte Geſchichte Roms betrachtet werden kann.
Wir werden dieſem Verhältniſſe und Zuſammenhange ſpä-
terhin eine beſondere Betrachtung widmen. Hier wird es
genug ſein, als Thatſache ſo viel hervorzuheben, daß ſich
in Rom mit dem, ſeinem irdiſchen Ausgangspunkte nach,
aus Paläſtina ſtammenden höheren Elemente das hier ein-
heimiſche römiſche, d. h. abſolut praktiſche und politiſche,
auf eine die ganze Erde und Menſchheit einheitlich um-
faſſende Macht und Herrſchaft gerichtete Princip verbunden
hat. Als der eigentliche Begründer der von Rom angeſtreb-
ten geiſtlichen Univerſalmonarchie wird Papſt Gregor I.
bezeichnet — wie merkwürdig daher, daß dieſer große Papſt
einem altrömiſchen Patriciergeſchlechte ſeinen Urſprung ver-
dankte! Es kann dies zwar allerdings auch auf eine Weiſe
betrachtet werden, die einem uns hier ganz fremden oppoſi-
tionellen Standpunkte angehört. So hat ein Hiſtoriker
darüber folgende Bemerkung gemacht: „Derſelbe italieniſche
Nationalcharakter, der einſt die Conſuln und Proconſuln
des alten Roms mit unbeugſamer Strenge auswärtigen
Königen Geſetze vorſchreiben lehrte, trieb hier den Patriar-
chen des neuen zur nachdrücklichſten Behauptung ſeiner
angemaßten Oberherrſchaft an.“ Wir hoffen unſeren Leſern
klar zu machen, wie ſeicht und wie wenig im Stande, die
Räthſel der Geſchichte zu löſen, dergleichen Urtheile und
Anſichten ſind. Es fehlt einem ſo beſchränkten Partei-
ſtandpunkte die Einſicht in die innere, göttliche Berechtigung
jener angeblichen Anmaßung, in die ungeheuere Bedeutung,
welche die Umwandlung der größten weltlichen Energie,
die wir kennen, und ihres koloſſalen Meiſterwerkes in eine
geiſtliche d. h. ganz nur auf höhere Zwecke, wenn auch mit
Anwendung weltlicher Mittel, gerichtete Erſcheinung und
Anſtalt hat, und in die geheime, providentielle Beziehung
jener erſteren auf die letztere. Er ahnet nicht, daß ſich
die Sache eher umgekehrt verhält, als er meint und will,
ſofern die Kraft, das Glück und das Recht des antiken
Römerthums im Grunde darin beſtand, daß es, ſo zu ſa-
gen, das noch in der Puppenhülle verborgene, römiſch-
katholiſche Prieſterthum war, das einſt dem Willen und
der Leitung der Vorſehung gemäß, aus ihm hervorgehen
und ſeine geiſtigen Schwingen entfalten ſollte.
Wie nothwendig jedenfalls die Verbindung des römiſchen
Princips mit dem chriſtlichen war und iſt, offenbart nur
allzu genügend die Geſchichte des Proteſtantismus, der
daſſelbe in ſeiner abſtrakten Feindſchaft und Empörung
wider die alte, concrete Mutterkirche ſo gänzlich verſchmäht
und ausgeſchieden hat. Es wurde dadurch nicht nur die
angefeindete Kirche, ſondern das Chriſtenthum überhaupt,
inſofern ihm eine nicht nur ſubjektive, individuelle, parti-
culäre, ſondern auch objektiv-reale, welthiſtoriſche und uni-
verſale Stellung, Exiſtenz und Entwickelung gebührt, im
gefährlichſten Grade erſchüttert, depotenzirt und in Frage
geſtellt. Die eine große, allumfaſſende Kirche zerfiel in
Folge deſſen in lauter einzelne, getrennte, zuſammenhang-
loſe Lokal- und Nationalkirchen; und die von Rom in
Anſpruch genommene und eroberte Freiheit, Unabhängigkeit
und Superiorität der geiſtlichen Macht verwandelte ſich in
eine unwürdige, ohnmächtige Unterordnung unter das zu-
fällig und willkührlich beſtimmte weltliche Regiment, welches
vielmehr in angemeſſener Weiſe zu beſtimmen, zu beſchrän-
ken, zu zähmen und zu leiten, die Aufgabe des Chriſten-
thums und der chriſtlichen Kirche iſt. Die des römiſchen
Principes beraubte Kirche ſank im Proteſtantismus zu ei-
nem bloßen Momente und dienenden Organe der ſie ab-
ſorbirenden politiſchen Macht herab, ward in eine nach
Zufall und Laune ſo oder ſo gefärbte und zugeſchnittene
knechtiſche Staatslivree geſteckt und zum Werkzeuge äußer-
licher, unheiliger und ſelbſtſüchtiger Intereſſen und Zwecke
erniedrigt. War der religiöſe Trieb des Menſchen hiemit
nicht zufrieden geſtellt, verlangte er nach etwas Wahrerem,
Reinerem, Freierem, Weſenhafterem, als ihm eine ſolche
Kirche zu bieten vermag, ſo blieb ihm nur die einſame,
trübe Zurückziehung in’s ſubjektive Innere des Individuums,
oder ein ſektirender Abfall vom gemeinſamen Religions-
verbande, der, wenn auch auf noch ſo gutem und Achtung
verdienendem Grunde beruhend, doch allzu ſehr in’s Kleine,
Obſcure, ja Abgeſchmackte und Lächerliche fiel, keiner groß-
artigen und machtvollen Entwickelung fähig und ſo eben-
falls untüchtig war, die großen, welthiſtoriſchen Probleme
des Chriſtenthums zu löſen.
So viel von dieſem zweiten Elemente, dem römiſchen.
Wir haben nun noch das dritte zu nennen, welches in
Beziehung auf das Papſtthum zugleich in und mit dem
römiſchen gegeben iſt — das griechiſche. Dieſes war
weſentlich ſchon vom alten, vorchriſtlichen Rom in ſich auf-
genommen worden, ſo wie es für dieſen univerſalen Welt-
ſtaat unumgänglich nöthig war, um nicht als eine, bei
aller praktiſchen Tüchtigkeit und Größe doch nur barbariſche
Macht und Gewalt, ſondern auch in Kraft und Namen
des höheren Menſchengeiſtes und der feineren, dem Schönen
huldigenden Bildung, die ſich bei den Griechen zu ihrem
Gipfelpunkte erhoben, die Welt zu beherrſchen. Griechen-
lands Weſen und Herrlichkeit wurde in Folge dieſes Vor-
ganges nach Rom verpflanzt, und als es mit Griechenland
und deſſen eigener Culturblüthe zu Ende war, blieben doch
in der ſchönen weſtlichen Halbinſel die dahin gewanderten
und daſelbſt einheimiſch gewordenen Keime der Intelligenz
und des Geſchmackes, der Poeſie und der Kunſt bewahrt,
die hier noch in ſpäten Jahrhunderten, als ein den päpſt-
lichen Stuhl umgebender Kranz und Schmuck, ihre erneuten
Blüthen trieben. Noch immer kann man ſagen, daß die
Kunſt katholiſch ſei, während die abgefallenen Culte und
Kirchenthümer auch dieſes Element hinweggeworfen oder
nur in äußerſt beſchränktem und verkümmertem Maße bei-
behalten haben, dadurch aber auch zu jener Dürre, Nüch-
ternheit und Reizloſigkeit verkommen ſind, welche poetiſche
und künſtleriſche Naturen ſo ungünſtig für ſie zu ſtimmen
pflegt und ſchon ſo manche derſelben aus ihnen hinaus in
den Schooß der alten, poetiſchen, gemüthvollen und kunſt-
freundlichen Mutterkirche zurückgetrieben hat. Vergl. Beilage A.
Und hiemit hätten wir nun auch den dritten der Be-
ſtandtheile genannt, die jene im Eingange vorläufig charak-
teriſirte Totalität des römiſch-katholiſchen Kirchen- und
Prieſterthums bilden. Damit iſt die Sache vollſtändig
erſchöpft, und es gibt Nichts, was weiter von Nöthen
wäre und vermißt werden könnte. Das Himmliſche, die
Grenzen des Irdiſchen und Menſchlichen Ueberſchreitende,
und die zwei weſentlichſten Seiten des Irdiſchen und
Menſchlichen, wie ſie durch Rom und Griechenland vertre-
ten ſind, verbinden ſich hier, um das allſeitigſte, gehaltvollſte
und concreteſte Ganze zu formiren, das ſich denken läßt.
Ein Hinzukommen noch anderer Momente könnte nur ta-
delhaft, verfälſchend und verunreinigend ſein, ſofern es
barbariſche, unmenſchliche und ungöttliche wären und nur
wieder ausgeſchieden werden müßten. Die drei, die der
Katholicismus, um Alles in Allem zu ſein, in der That
in ſich ſchließt und ſeinen Zwecken gemäß in Anwendung
bringt, können nun allerdings auch in einer Trennung und
mit einer vorwiegenden Geltung einzelner Momente hervor-
treten, durch welche die Totalität ihrer Erſcheinung mo-
mentan beeinträchtigt, ja gänzlich aufgehoben wird. Es
kann dies in der Nothwendigkeit der Zeitumſtände und der
hiſtoriſchen Entwicklung liegen; es mag auch wohl zum
Theil auf individuelle und perſönliche Urſachen zurückge-
führt werden können — jene drei großen, weſentlichen und
weltwichtigen Momente ſind doch immer da, und ihre Ver-
knüpfung zu nothwendig und unentbehrlich, als daß eines
davon vollſtändig und für immer aufgegeben werden könnte.
Es gab Päpſte, in denen vorzugsweiſe der Alles einheitlich
verbindende und beſtimmende römiſche Univerſalismus zum
Ausſpruche kam; andere, welche ſich, dem griechiſchen Prin-
cip gemäß, vor Allem um Gelehrſamkeit und Kunſt ver-
dient machten; andere endlich, in welchen die chriſtliche
Negation des Selbſtiſchen und Sinnlichen ihre muſterhafte
Vertretung hatte, womit auch wohl eine energiſche Reprä-
ſentation der päpſtlichen Autorität und Macht verbunden
war, ſo daß Mönch und Herrſcher zugleich auf dem Throne
ſaß. Dies Alles wird einen tiefer ſchauenden, ächt philo-
ſophiſchen Geſchichtsforſcher durchaus nicht befremden; es
wird ihm die Nothwendigkeit und der Zuſammenhang der
Sache vollkommen einleuchten, ſo weſentlich verſchieden und
ſo einheitslos auseinanderfallend auch dieſe Charaktere und
Manifeſtationen erſcheinen mögen, wenn man mit ober-
flächlicher, ja feindſeliger Betrachtung daran geht, und nicht
den Schlüſſel beſitzt, der das Verſtändniß eines ſo reich-
haltigen, vielſeitigen und bei aller Varietät des Inhalts
harmoniſch angelegten Phänomens eröffnet. Es iſt noch
überdies zu bedenken, daß die Geſchichte des Papſtthums
noch nicht zu Ende iſt, und daß dieſes große Ganze in
der Reife der Zeit, bei vollendeter Ausbildung ſämmtlicher
Momente und totaler Ausgleichung aller ſcheinbaren oder
wirklichen Widerſprüche, eine Erſcheinung bieten mag, von
deren Herrlichkeit und Vollkommenheit wir noch gar keine
Vorſtellung haben.
II.
Das alte Rom als weltliche Baſis und Vorſtufe des Papſtthums.
Nachweiſung der eigenthümlichen Myſtik, Spaltung und Befriedigungs-
loſigkeit in ſich ſelbſt, mit welcher es über ſich hinaus auf ein
dunkles Jenſeits der Zukunft weiſt.
Wir haben bemerkt, daß das geiſtliche Rom nicht bloß,
wie proteſtantiſche Hiſtoriker wollen, als eine Erneuerung
und Wiederholung des alten, weltlichen in geiſtlicher Form
zu faſſen ſei; daß im Letzteren vielmehr ſchon das Erſtere
wunderbar angelegt und im Keime vorhanden geweſen.
Wir laſſen hiemit eine nähere Erörterung dieſes merkwür-
digen Verhältniſſes folgen, das uns den Blick in die ge-
heimſten Zuſammenhänge der Dinge und in die ſtaunens-
würdigſten Tiefen der göttlichen Weltregierung zu eröffnen
im Stande iſt.
Wer das alte Rom nur oberflächlich, ſeiner äußerlichen
Erſcheinungsform und Schale nach, d. h. als einen kriege-
riſchen, erobernden, Alles allmählig unter ſich zwingenden,
ſich auf dieſe Weiſe zu einem ausgedehnten, deſpotiſchen
Weltreiche geſtaltenden und endlich bei überhand nehmen-
dem Verderben naturgemäß wieder auflöſenden Staat von
übrigens gewöhnlichem Weſen und Charakter kennt und
nimmt, der kann ohne Weiteres damit fertig zu ſein und
keiner tieferen Forſchung zu bedürfen glauben, um der
Sache auf den Grund zu kommen. In der That aber
gibt es nichts Sonderbareres, Räthſelhafteres, ſeiner eigent-
lichen Natur und Beſtimmung nach Dunkleres, Verſteckte-
res, als dieſes Rom; es ſtellt ſich bei näherem Zuſehen
durchaus nicht als etwas einfach Klares, ſich ſelbſt Glei-
ches, dem Verſtändniß ſomit unmittelbar Zugängliches,
ſondern als etwas vielmehr durchaus Gedoppeltes, Geſpal-
tenes, Zweiſeitiges und Zweideutiges dar, und hat auch
ſchon ſich ſelbſt als ein ſolches gefaßt und ausgeſpro-
chen. „Rom“ war der allbekannte, profane Name der
Stadt; aber es hatte dieſelbe auch einen geheimen; und
ein eigenthümlicher, geheimnißvoller Genius wachte über ſie;
auf dem Capitol war ein Schild geweiht, auf welchem ge-
ſchrieben ſtand: „Dem Genius der Stadt Rom, ſei er
Mann oder Weib.“ Servius ad. Virgil. Aen. 11.293—96: Genio urbis Romae, sive
mas sit sive foemina. Es fanden hier, wie es ſcheint,
nicht bloß Myſterien im Sinne der Verheimlichung eines dem
Eingeweihten wohl bewußten Inhaltes Statt; die Sache litt
an und für ſich an Unbeſtimmtheit und Dunkelheit. Der
Römer hatte die Ahnung einer noch anderen Beſtimmung
und Aufgabe, als diejenige war, die er äußerlich verfolgte;
er glaubte, daß ihm in dieſer Beziehung auch eine eigene
göttliche Obhut und Leitung zu Theile werde; einen deut-
lichen Begriff davon ſcheint er nicht gehabt zu haben.
Merkwürdig iſt übrigens, daß man Roma, welches dem
Griechiſchen nach Kraft und Stärke bedeutet, rückwärts
Amor las und daß dies der Myſterienname Roms ſein
ſollte, Vergl. Creuzer, Symbolik. 2. Ausg. II. S. 1002. wo die Idee der Umkehrung von Roms krie-
geriſchem und gewaltthätigem Charakter in ein ſanftes,
liebevolles Gegentheil zum Vorſchein kommt.
Das Wort des Räthſels, wie es weiterhin die Welt-
geſchichte thatſächlich ausgeſprochen hat, iſt dieſes, daß in
dem äußeren, offenbaren, militäriſch-politiſchen, mit einem
Worte weltlichen Rom, wie in einer Hülle und Ver-
puppung, noch ein anderes, das ſpäterhin im Chriſtenthume
zu entwickelnde geiſtliche ſtak; daß dieſe große Erſchei-
nung mit einer künftigen, noch größeren, dem zum Träger
und Organe eines höheren Princips gewordenen chriſtlichen
Römerthum, ſchwanger ging, wie dies noch weiter aus
Folgendem erhellt.
Der alte Römer war Krieger, Feldherr, Staats-
mann. Das iſt die am meiſten hervortretende Seite ſei-
nes Weſens; ja es kann ſcheinen, als ſei dies ſeine ganze
Beſtimmung und Befriedigung geweſen. Aber eine eben ſo
große Rolle ſpielte das religiöſe Moment. Cicero
rühmt die Römer als die frömmſte Nation, die überall an
die Götter denke, Alles mit Religion thue und den Göt-
tern für Alles dankbar ſei. Poſidonius ſagt von den
älteren Römern: „Herkömmlich war bei ihnen Ausdauer und
einfache Lebensweiſe und ein einfältiger, ungeſuchter Genuß
ihrer Güter, ingleichen eine bewundernswürdige Ver-
ehrung und Frömmigkeit gegen die Gottheit
(ευσεβια ϑαυμαστη περι το δαιμονιον), auch Gerechtigkeit,
ſehr viel Enthaltſamkeit in Betreff der Beeinträchtigung Ande-
rer, verbunden mit fleißiger Betreibung des Ackerbaues.“ Vergl. Posidonii Rhodii reliquiae. p. 169. ed. Bake. —
Creuzer, Symbolik. 2. Ausg. II. S. 494.
In ähnlicher Weiſe äußert ſich Valerius Maximus:
„Es war,“ ſagt er, „ein beſtändiger Grundſatz unſeres
Staates, den Religionspflichten jede andere Rückſicht unter-
zuordnen, und zwar galt derſelbe auch für diejenigen Perſo-
nen, die mit dem Glanze der höchſten Macht umgeben waren.
Die irdiſche Größe nahm niemals Anſtand, ſich
dem Heiligen zu unterwerfen.“ Unter den Beiſpie-
len, die er gibt, iſt folgendes. Der Conſul Poſtumius,
der zugleich Prieſter des Mars war, wollte ſich eben zum
Kriege nach Afrika begeben. Da verbot ihm der Ober-
prieſter Metellus mit Strafandrohung, die Stadt zu
verlaſſen und ſich von ſeinem Tempeldienſt zu entfernen.
„Und es beugte ſich die höchſte Behörde vor dem Stabe
der Religion.“ Der alte Autor nennt dies duodecim
fascium religiosum obsequium. Unter ſolchen Umſtänden,
meint er, ſei es nicht verwunderlich, wenn ſich die Gnade
der Götter die Beſchirmung und Vergrößerung des Reiches
ſtets angelegen ſein ließ. Er erzählt auch folgende That-
ſache. „Nach der Schlacht bei Kannä war kein Haus ohne
Trauer, da der größte Theil der römiſchen Helden auf je-
ner jammervollen, fluchbedeckten Stätte lag.“ Da gebot
der Staat eine bedeutende Abkürzung der herkömmlichen
Trauerzeit, damit ſich die Frauen, in weiße Gewänder ge-
kleidet, dem Dienſte der Ceres widmen könnten. Das habe,
meint Valerius Maximus, auf die Götter einen ſo
beſchämenden Eindruck gemacht, daß ſie beſchloſſen, fortan
nicht mehr ein Volk zu verfolgen, das ſelbſt durch die bit-
terſten Erfahrungen nicht läſſig in ihrem Dienſte wurde.
Die Religion der Römer kann uns jetzt in vielem
Betrachte nur als ein kindiſcher Aberglaube erſcheinen, dem
eine ſpätere Aufklärung das ihm gebührende Recht anthat.
Aber das iſt hier von keinem Belange. Es handelt ſich
um das religiöſe Moment überhaupt, um die Anlage zu
ſeiner Ausbildung und um die Thatſache, daß mit dem
militäriſch-politiſchen Charakter der Römer ein ſo hochge-
ſteigerter Sinn für Religion und eine ſo vorherrſchende
Berückſichtigung derſelben verbunden war; daß dieſes Volk
nicht wild und trotzig nur ſeiner eigenen menſchlichen Kraft
und Macht vertraute, ſondern bei aller Energie des Wil-
lens und Thuns und bei allem Gefühle und Bewußtſein
irdiſcher Größe und Ueberlegenheit doch ſtets demuthsvoll
den Blick nach oben richtete und all ſein Glück, ſeine Ho-
heit und Herrſchaft nur einer göttlichen Gunſt und Obhut
zu verdanken glaubte. Auch dieſe Seite des Römerthums
war wieder merkwürdig in ſich ſelbſt geſpalten; eine ganz
äußerliche, abergläubiſche, ja läppiſche und lächerliche Schaale
enthielt einen edlen und tiefen Kern, der in jenen Zeiten
nicht wohl von ihr zu trennen und in ſeiner Reinheit und
Freiheit herauszufaſſen war, und der, wenn dieſe Schaale
verachtet und verhöhnt wurde, zugleich mit ihr verloren zu
gehen drohte; daher diejenigen nicht zu loben ſind, die ſich
gegen Gebräuche der Art, ſo kleinlich und albern ſie auch
erſcheinen mochten, ein Benehmen erlaubten, wie z. B. von
P. Claudius Pulcher bekannt. Derſelbe wollte im
erſten puniſchen Kriege ein Seetreffen liefern; die Auſpicien
fielen jedoch ungünſtig aus, da die der Sitte gemäß be-
obachteten jungen Hühner nicht freſſen wollten. „Wenn ſie
nicht freſſen wollen, ſo mögen ſie ſaufen“, ſagte der irreli-
giöſe Feldherr und ließ ſie in’s Waſſer werfen. Das
Glück war nicht mit ihm. Er büßte im Gefechte ſeine
Flotte ein, wie ſein College, L. Junius Pullus, der
ebenfalls die Auspicien verachtete, die ſeinige durch einen
Schiffbruch verlor. Der Eine wurde durch das Volksgericht
verurtheilt, der Andere tödtete ſich ſelbſt. Man vergleiche
über dieſe Gegenſtände namentlich das erſte Buch der Beiſpiel-
ſammlung des Valerius Maximus! Dieſer Schrift-
ſteller, der zur Zeit des Kaiſers Tiberius lebte, zeigt
uns in ſeinem Werke, was damals noch Alles geglaubt
wurde. Er führt auch Fälle von Nichtachtung ſolcher
Dinge und darauf folgendem Unheil an, und bricht einmal
nach einer ſolchen Erzählung in die Worte aus: „Hier
liegt ein Beiſpiel vom Grimme der Götter vor, wenn man
ſie verachtet. So werden die Gedanken der Menſchen ge-
demüthigt, wenn ſie ſich über den Willen der Götter er-
heben.“
Ein nicht zu überſehender Umſtand iſt der, daß mit dem
religiöſen Momente, wie es von Numa eingeführt wurde,
ein humaniſtiſches Princip verbunden war, das allzu un-
menſchlichen Verfahrungsweiſen ſelbſt gegen Feinde und
Verbrecher wehrte. Das Gegentheil trat gleich wieder nach
Numa unter dem wilden Religionsverächter Tullus
Hoſtilius hervor. Derſelbe ließ den Mettus Fuffe-
tius durch Pferde zerreißen, und das war, wie Livius
bemerkt, das erſte und letzte Beiſpiel einer die Geſetze der
Menſchlichkeit vergeſſenden Todesſtrafe bei den Römern;
„ſonſt“, ſagt er, „dürfen wir uns rühmen, daß kein Volk
mildere Strafen beliebte.“
Eine vorzügliche Beachtung verdient ferner das heilige
Collegium der pontifices mit ſeinem Oberprieſter, dem
pontifex maximus, ſo wie auch der höchſt eigenthümliche
Name dieſer Prieſterſchaft, wo wieder ein unerwartet großer
und tiefer Sinn in die Augen leuchtet. Dieſe pontifices
waren keine Diener einzelner Gottheiten und Vollzieher be-
ſonderer Religionsgebräuche; es war ihnen die Aufſicht
über das Ganze vertraut; wenn von einer höheren geiſtli-
chen Würde die Rede iſt, ſo ſteht der Name pontifex,
während im Uebrigen der Ausdruck sacerdos gebräuchlich,
ſo daß man ſagen kann, jeder pontifex ſei auch ein sa-
cerdos, nicht jeder sacerdos aber ein pontifex geweſen.
Den höchſten Rang hatte der ſogenannte pontifex maxi-
mus, der auf lebenslang gewählt war und Italien nicht
verlaſſen durfte. Wir ſehen ihn unter den übrigen Dingen,
welche er vor den anderen Prieſtern voraus hatte, mit ei-
nem öffentlichen Hauſe geehrt, das ſich auf der heiligen
Straße befand, wo auch Numa Pompilius ſeine könig-
liche Burg gehabt. Er war der oberſte Richter in den die
Heiligthümer und Religionsgebräuche betreffenden Angelegen-
heiten, und konnte nicht nur Privatperſonen, ſondern auch
Behörden ſtrafen, wenn ſie ſeinen Anordnungen ungehorſam
waren. Ein Beiſpiel ſeiner Macht iſt ſchon oben vorge-
kommen. Man ſieht, wie es auch hier ſchon auf eine
überragend große, geiſtliche Autorität angelegt war. Am
merkwürdigſten aber iſt der Name; denn pontifex heißt
Brückenbauer, was nichts Anderes, als einen prieſter-
lichen Vermittler zwiſchen Menſch und Gott, Erde und
Himmel, Dieſſeits und Jenſeits, bedeuten kann. Es laſſen ſich hiemit die attiſchen Γεφυρεις vergleichen, welche von
γεφυρα, Brücke, benannt waren, ihren Urſprung auf Kadmos zurück-
führten und für wohlerfahren in geheimen Dingen gehalten wurden.
Betrachten wir die Anfänge Roms, ſo erſtaunen wir
billig über die hier ſogleich hervortretenden, ſich wechſelsweiſe
zur Geltung bringenden Gegenſätze, Extreme und Wider-
ſprüche. Zunächſt ſehen die Dinge gar nicht erbaulich aus
und flößen uns mehr Abſcheu und Geringſchätzung, als
Achtung und Bewunderung ein. Die Stifter Roms wer-
den von einer heidniſchen Nonne geboren, ausgeſetzt, von
einer Wölfin geſäugt und von Hirten erzogen; ein Bruder
erſchlägt im Streit den anderen; Rom iſt ein Aſyl für
Flüchtlinge, Verbrecher, Unzufriedene; man nimmt Alles
auf, was kommt; die Nachbarſtaaten wollen mit einem
ſolchem Geſindel keine Gemeinſchaft haben; um Frauen zu
bekommen, muß man ſie rauben; Romulus wird bei
guter Gelegenheit von den „Vätern“ hinweggeräumt; dem
Volke ſagt man, er ſei zum Gotte geworden. Aber wie
durch einen Zauberſchlag iſt die Scene plötzlich umgewan-
delt, ſo daß ſich das völlige Widerſpiel und Gegenbild der
vorausgegangenen barbariſchen Zuſtände zeigt. Der fromme
Sabiner Numa Pompilius tritt auf und verrichtet
ein Wunder der Staatskunſt und der Bändigung roher
und wilder Kräfte, wie ſonſt keines bekannt, indem er ſich
rein nur der ſanften Mittel der Religion und einer Ehr-
furcht gebietenden Perſönlichkeit bedient. Plutarch ver-
gleicht ihn mit Lykurg und hebt dabei dies an ihm als
„einzig groß und wunderbar“ hervor, „daß es ihm, dem
vom Auslande her auf den Thron Berufenen, gelungen
ſei, Alles durch Ueberredung umzugeſtalten, und in einer
Stadt, welcher Einigkeit noch fremd war, Herr zu werden
nicht durch Waffen und irgend gewaltſame Mittel, wie
doch Lykurg ſich an die Spitze der Edlen gegen das Volk
geſtellt, ſondern indem er durch Weisheit und Gerechtigkeit
Alles zu ſchönſter Harmonie verband.“ Livius ſagt von
ihm, er habe die zunächſt durch Gewalt und Waffen ge-
gründete Stadt durch ſeine Geſetzgebung und Sittigung
von Neuem gegründet. Und offenbar war dieſe zweite
Gründung die eigentliche, da die vorhergegangene Anſiede-
lung nur einen rohen Stoff lieferte, aus welchem erſt dieſer
erhabene Mann ein wahrhaft geſellſchaftliches Gebäude ſchuf.
So tritt uns denn gleich im altergrauen Hintergrunde
der römiſchen Geſchichte eine ehrwürdige prieſterliche Ge-
ſtalt entgegen, in der es wohl erlaubt ſein mag, das erſte,
entfernte Vorbild der hohen Kirchenfürſten zu erblicken, die
im chriſtlichen Weltalter den römiſchen Thron einnahmen.
Gleich auf ihn folgt wieder ein kriegliebender und ſtreit-
ſüchtiger Herrſcher, der wilde Tullus Hoſtilius, der
Zerſtörer Alba Longa’s, der Mutterſtadt Roms, eine Er-
ſcheinung, die einen nicht nur einfach rohen, natürlich be-
ſtimmten, ſondern oppoſitionellen und tendenziös outrirten
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Charakter hat. „Dieſer König“, ſagt Livius, „war nicht
nur dem vorhergegangenen unähnlich, ſondern ſogar noch
kriegeriſcher als Romulus.“ Die Abſicht dieſes Fürſten
war, den durch ſeinen Vorgänger gedämpften kriegeriſchen
Geiſt des Römerthums wieder aufzuwecken, wobei er mit
einer Einſeitigkeit und Leidenſchaft verfuhr, die jenes fromme
und friedliche Element ſchonungslos zu verdrängen ſuchte,
damit aber ſo wenig zu Stande kam, daß ſich daſſelbe am
Ende ſogar bei ihm ſelbſt, und das in einer um ſo ängſt-
licheren und frömmleriſcheren Manier, wieder geltend machte.
Seine trotzige Kraft ward erſt durch eine Krankheit ge-
brochen, ſo daß, wie Livius ſagt, „derſelbe Mann, der
Nichts für unköniglicher gehalten hatte, als ſich mit heili-
gen Dingen zu befaſſen, auf einmal jedem großen und
kleinen Aberglauben fröhnte und auch das Volk mit allerlei
Gedanken frommer Angſt erfüllte.“ Er ſchlug auch die
Bücher des Numa nach und fand da gewiſſe myſteriöſe
Opfer beſchrieben, die eine himmliſche Erſcheinung zur Folge
haben ſollten. Es ward ihm, als er zu dieſem Opfer
ſchritt, keine ſolche zu Theil; er wurde vielmehr von
Jupiter mit dem Blitze erſchlagen und verbrannte mit ſei-
nem ganzen Haus.
Man wird fühlen, daß dies Alles von der größten
Bedeutung iſt. Selbſt wenn dieſe Darſtellungen nur ein
Gedicht, oder eine durch Erfindungen ausgeſchmückte Ge-
ſchichte ſein ſollten, ſo würden ſie doch immer ein höchſt
merkwürdiger Spiegel römiſcher Denkarten, Geſinnungen
und Tendenzen ſein. Es wäre jedenfalls dadurch kund
gethan und deutlichſt ausgedrückt, daß es ſich bei dieſem
Volke und Staate keineswegs nur um Kühnheit, Thatkraft,
Sieg und Eroberung handle, und daß Rom noch einen
anderen Beruf zu erfüllen habe, den religiöſen und prieſter-
lichen, der nie aus den Augen geſetzt werden dürfe. Für
uns zeigt ſich darin beſtimmter die behauptete Anlage zu
der Umwandlung des weltlichen Roms in das geiſtliche,
das für jenes Alterthum ſelbſt noch in ferner, dunkler Zu-
kunft, doch, deſſen innerſtem Sinn und Geiſte nach, offen-
bar ſchon ſehr nahe lag.
Fragt man, ob ſich dieſe Anlage nicht auf ähnliche
Weiſe auch in ſpäteren Zeiten herausgeſtellt, ſo fehlt es
auch hier an ſolchen Spuren und Analogien keineswegs.
Namentlich zeigt ſich dies in der Kaiſerzeit, nachdem der
fürchterliche Schwindel und Wahnſinn, der die römiſchen
Weltherrſcher ergriff, bereits ſeine Rolle geſpielt, und ſeine
hervorragendſten Repräſentationen erhalten hatte. Es gab
wohl nirgend ſcheußlichere Tyrannen, als auf dieſem Throne;
aber es ſaß auch eine Anzahl der edelſten und liebenswür-
digſten Menſchen darauf, die die Geſchichte kennt. Die
Güte eines Titus z. B. iſt eben ſo weltbekannt und zu
einem eben ſo ewigen Beiſpiele und Sprüchworte geworden,
als eines Nero Tollheit und Grauſamkeit. Das gute
Princip wird ſogar einen ganzen langen Zeitraum hin-
durch entſchieden vorherrſchend und ſiegreich gefunden. Mit
Nerva begann eine Reihe von Regierungen, die über
achtzig Jahre dauerte, die man als die glücklichſte Periode
der Menſchheit, als eine Art von goldenem Zeitalter ge-
prieſen hat und der man ihre jedenfalls relativ großen
und preiswürdigen Vorzüge nicht ſtreitig machen kann. Der
glorreich herrſchende Trajan, „der Beſte“ genannt; der,
wenn auch nicht tadelloſe, doch ebenfalls mit vorzüglichen
Eigenſchaften ausgerüſtete Hadrian, welcher zehn Jahre
lang ſeine ſämmtlichen Staaten in allen drei Welttheilen,
meiſt zu Fuße und in bloßem Kopfe, bereiſte; der von ihm
adoptirte Antoninus Pius, deſſen Güte, Weisheit,
Einfachheit, geräuſchloſe Thätigkeit und ſtrenge Ordnung
das Reich beglückte und den von ihm beherrſchten Völkern
2*
Ruhe und Wohlſtand ſicherte; der von dieſem wieder adop-
tirte Marcus Aurelius, der ſtoiſche Philoſoph, der unter
den ſchwierigſten Umſtänden regierte und ein ewig denkwür-
diges Muſter jeder Art von Güte, Tugend und Trefflich-
keit war — das ſind die glänzenden Sterne, die dieſen
ausgezeichneten Zeitraum ſchmückten. Von den beiden zu-
letzt Genannten ſagt Schloſſer: „Unter ihnen ſchien die
Zeit da zu ſein, wo nach Plato’s Wunſche Philoſophie
und Wiſſenſchaft die Welt regieren würden; denn beide
verbanden tiefe, innere Bildung, ächten Sinn für das Hö-
here und ein wahrhaft edles Streben mit Einfachheit, Sit-
tenreinheit, Gerechtigkeit und Herzensgüte.“ Nach Marc
Aurel kam wieder durch den Zufall der Geburt ein Un-
menſch, wie Commodus, zur Herrſchaft. Aber dieſem
Zufall war doch wenigſtens eine Zeit lang durch weiſe
Adoption edler Menſchen und tüchtiger Nachfolger geſteuert
worden. Nun trug zwar die Herrſchaft der vorzüglichen
und achtungswerthen Kaiſer Roms, wovon die Rede iſt,
nicht den formell religiöſen Charakter, wie Numa’s prie-
ſterliches Regiment; dem Weſen nach war ſie jedoch ſo
verſchieden nicht. Die ſtoiſche Philoſophie, die mit den
Antoninen auf dem Throne ſaß, hatte ſogar eine gewiſſe
Verwandtſchaft mit dem Chriſtenthume; manche Anſchauun-
gen und Lehren hatte ſie ganz mit dieſer Religion gemein,
wie mit unumwundener Anerkennung ſchon Hieronymus
in ſeiner Auslegung des 11. Cap. des Jeſaias bemerkt. Stoici, qui nostro dogmati in plerisque concordant,
nihil appellant bonum, nisi solam honestatem atque virtutem, nihil
malum, nisi turpitudinem. Als eine auf dieſe Analogien eingehende
Abhandlung wird folgende angeführt: M. D. Omeisii disp., qua
stoicorum philosophiam moralem sobriam eorumque placita cum
ehristianismo convenientia ostendit. Altorf. 1699.
Bekannt iſt der von dem Stoiker Kleanthes verfaßte
Hymnus auf Zeus, der mit den höchſten und reinſten Vor-
ſtellungen, die wir von Gott zu haben im Stande ſind,
in bewundernswürdiger Uebereinſtimmung iſt. Vergl. hierüber die Aeußerungen Tennemann’s: Geſchichte der Phi-
loſophie. IV. S. 236. Die von
Epiktet gegebenen Vorſchriften hat ſein Schüler Arrian,
ein kleinaſiatiſcher Grieche und Freund des Kaiſers Ha-
drian, in einer Schrift zuſammengeſtellt, welche Enchiridion
betitelt iſt und mit der Sittenlehre des Chriſtenthums ſo
vielfach harmonirt, daß Manche daraus ſchließen zu dürfen
geglaubt haben, Epiktet ſei Chriſt geweſen. Die Stoiker
ſtellten namentlich auch den Grundſatz der Feindesliebe
auf. Marc Aurel ſelbſt hat uns ein in dieſen Bezie-
hungen ſehr merkwürdiges Buch hinterlaſſen, eine Samm-
lung von Notizen, Reflexionen und Maximen, welche den
Titel: „An ſich ſelbſt“ führt. Die ſchönſte Seele, die
lauterſte Geſinnung, der ſanfteſte Charakter, das ernſtlichſte
Streben nach dem Guten und Edlen, nebſt einer großarti-
gen, von allem Particularismus, aller inhumanen Aus-
ſchließung und Härte freien Weltanſchauung thut ſich in
dieſem Buche kund. Vergl. im Anhange den Aufſatz: „Stoa und Chriſtenthum.“ Höchſt intereſſant ſind die Schil-
derungen, die hier Marc Aurel von ſeinem einfach gu-
ten und großen Vorgänger im Reiche, Antoninus Pius
macht; ſie erfüllen uns mit der höchſten Achtung ſowohl
für den Preiſenden, als für den Geprieſenen. Als Marc
Aurel im Begriffe war, wider die Scythen zu Felde zu
ziehen, verſammelten ſich vor ſeinem Palaſte die Römer
und ſtellten an ihn die Bitte, er möchte ihnen vor ſeiner
Abreiſe eine Anleitung zu ächter Lebensführung und Pflicht-
erfüllung aufſetzen, damit ſie für die Zeit, in welcher er,
ihr perſönliches Muſter und Vorbild, abweſend ſei, Etwas
hätten, woran ſie ſich halten könnten. Der Kaiſer wandte
drei Tage darauf, um dieſem Wunſche zu genügen. Das
iſt doch wahrlich ein mehr geiſtliches, als weltliches Regi-
ment zu nennen, wiewohl die Sache die ſpecielle Färbung
des Zeitalters trägt, das ſich eben ſo ſehr von dem des
Numa, als von dem der ſpäteren chriſtlichen Kirchenfür-
ſten unterſcheidet, mit beiden aber, was jene philoſophiſche
Richtung und deren wohlthätige Repräſentation auf dem
römiſchen Kaiſerthron betrifft, in einem doch unverkennba-
ren Zuſammenhange ſteht. Schließlich mache ich noch auf den im Anhange zu findenden Aufſatz
über Janus aufmerkſam. Es mußte mir, als ich an dem vorliegen-
den Capitel ſchrieb, nothwendig auch jene ſonderbare doppelköpfige Gott-
heit beifallen, die ein ſo anſchauliches Bild des in ſich ſelbſt geſpaltenen
und gedoppelten Römerthums darbietet. Die darauf hin unternommene
Erörterung dieſes merkwürdigen Symboles dehnte ſich jedoch zu einer
eigenen kleinen Abhandlung aus, die ich denn auch für gut fand, als
ſolche beſonders zu ſtellen und unter die Beilagen des Anhanges zu
verweiſen.
III.
Das Griechenthum, ſofern es als eine ideelle Anticipation des Chri-
ſtenthums zu betrachten iſt. Der Heraklesmythus ein Chriſtenthum
der Idee, eine poetiſche und mythologiſche Fata Morgana der
chriſtlichen Wahrheit und Wirklichkeit.
Wir haben im vorſtehenden Capitel zu zeigen verſucht,
wie das alte, weltliche Rom zur ganz ſpeciellen und un-
mittelbaren Vorbereitung und Grundlegung des geiſtlichen
auf Seiten des heidniſchen Weltprozeſſes gedient. Da wir
aber bei unſerer Analyſe des römiſch-katholiſchen Prieſter-
und Kirchenthums nicht nur ein römiſches, ſondern auch
ein griechiſches Element und Princip erkannt, ſo kann es
ſchicklich und intereſſant erſcheinen, nun auch einen nähe-
ren Blick auf das alte Griechenthum zu werfen, um ſeine
etwaige, wenn auch entferntere und verſtecktere Beziehung
zu chriſtlichen und kirchlichen Dingen zu erkennen.
Es iſt hier nicht die Rede von einzelnen und abſon-
derlichen Erſcheinungen, nicht von ſolchen, die mehr oder
weniger aus dem allgemeinen Weſen der griechiſchen Welt
heraustraten und dadurch eine gewiſſe Beziehung zum Chri-
ſtenthum erlangten, oder die gar ein uns an dieſem Orte
ſpeciell intereſſirendes Gepräge erſt bei den Römern an-
nahmen, wie die im vorhergehenden Capitel berührte ſtoiſche
Philoſophie. Wir ſehen auf die griechiſche Welt überhaupt
zurück, wie ſie in ihrer reinſten und ächteſten Eigen-
thümlichkeit, ihrer volleſten Blüthe, ihrer culminirendſten
Kraft und Größe zu welthiſtoriſcher Entwickelung und Er-
ſcheinung gekommen. Dieſe nun hat zu chriſtlichen und
kirchlichen Dingen ein allerdings ganz anderes Verhältniß,
als das Römerthum und ſein militäriſch-politiſches Problem
und Werk in der Weltgeſchichte. Sie iſt keine ſo räthſel-
hafte, geheimnißvolle, zweiſeitige und zweideutige, für ſich
ſelbſt ungenügende, über ſich ſelbſt hinausweiſende und hin-
ausgreifende Vorſtufe eines ſpäter zu entwickelnden Phäno-
mens geweſen, wie das Römerthum, deſſen Sinn, Bedeu-
tung und Zweck erſt durch das in der Entfaltung und Blüthe-
zeit deſſelben noch ſo fern liegende chriſtliche Rom aufgeſchloſ-
ſen wird. Die griechiſche Welt ſteht weit einfacher, freier
und ſelbſtſtändiger da, ſo daß ſie ſehr wohl auch für ſich
aufgefaßt und verſtanden werden kann, oder daß ſie wenig-
ſtens eine ganze, große, über das griechiſche Denken, Schaf-
fen und Leben glänzend ausgebreitete Seite bietet, an die
man ſich halten kann, um ſich das helleniſche Cultur- und
Kunſtprincip genügend anzueignen. Wer tiefer ſchaut, der
bemerkt, daß eine gewiſſe vorläufige und vorbildliche Be-
ziehung auf die Erſcheinungen und Thatſachen des chriſt-
lichen Weltalters, die zu betrachten von hohem Intereſſe
iſt, auch hier nicht fehlt. Es ſcheint, als ob Griechen-
thum und Chriſtenthum zwei direkte, totale, völlig aus-
einanderfallende und unverſöhnliche Gegenſätze bildeten, und
man erinnert ſich wohl, wie in nahe liegender Vergangen-
heit dieſer Anſchein benutzt worden iſt, um das Chriſten-
thum als ein trübes, finſteres, barbariſches Phänomen ge-
gen das gebildete Heidenthum, ſeine heitere Sinnlichkeit
und ſchöne Menſchlichkeit in Schatten zu ſtellen. Um ſo
überraſchender iſt es, wenn man erkennt, wie mächtig und
grandios die chriſtliche Idee, wiewohl ganz in die ſpecifiſch
nationale und temporelle Form gefaßt, ſchon bei den Grie-
chen hervorbricht, ja wie ſie ſo recht eigentlich den Gipfel
und die Blüthe der ganzen antiken Poeſie und Mythen-
bildung formirt, und das nicht etwa erſt in Folge einer
Wendung, wodurch dieſes Alterthum ſich ſelber untreu
wurde und einem in daſſelbe verändernd und verfälſchend
einbrechenden fremdartigen Einfluß unterlag. Es iſt na-
mentlich jenes von Alters her gegebene mythiſch-ſymboliſche
Heroenideal, es iſt der allbekannte, aber noch keineswegs
genügend erkannte und ergründete Heraklesmythus, worauf
wir hinzielen, da ſich in ſelbigem ein poetiſches Analogon
und Vorſpiel der Erſcheinung und Geſchichte Chriſti un-
möglich verkennen und läugnen laſſen wird. Faſſen wir
ihn zunächſt nur ganz kurz und ſcharf in ſeinen offen da-
liegenden Haupt- und Grundzügen auf, um uns von die-
ſem merkwürdigen Verhältniſſe zu überzeugen!
Es iſt ein wunderbar erzeugter Gottesſohn und Gott-
menſch, von dem dieſer Mythus ſpricht, der Sprößling
des griechiſchen Gottvaters Zeus und der liebſte ſeiner Söhne;
ein Helfer und Heiland, wie ſonſt keiner war, beſtimmt,
von Menſchen und Göttern Unheil abzuwehren. Pallas
Athene, die Weisheit von oben, iſt ſeine Lenkerin und Hel-
ferin. Das in ihm erſcheinende Höhere, Göttliche iſt aber
erniedrigt zur Knechtsgeſtalt; er muß einem viel ſchlechte-
ren Manne, dem Feigling Euryſtheus, dienen, der die ihm,
dem großen Sohne des Zeus, gebührende Herrſchaft in ſei-
nen unwürdigen Händen hat. Der Held fügt ſich darein,
weil es die Götter wollen; und ſo muß er kämpfen und
leiden ſein Lebenlang, ja eines furchtbar ſchmerzlichen To-
des ſterben, ſchwingt ſich aber, indem er ſich auch dieſem
grauſamen Schickſale willig hingibt, in verklärter Geſtalt
zum Himmel empor und wird daſelbſt mit Hebe, dem Sym-
bole der ewigen Jugend, vermählt.
„Tief erniedrigt zu des Feigen Knechte,
Ging in ewigem Gefechte
Einſt Alcid des Lebens ſchwere Bahn,
Rang mit Hydern und umarmte Leuen,
Stürzte ſich, die Freunde zu befreien,
Lebend in des Todtenſchiffers Kahn.
Alle Qualen, alle Erdenlaſten
Wälzt der unverſöhnten Göttin Liſt,
Auf die willigen Schultern des Verhaßten,
Bis ſein Lauf geendet iſt,
Bis der Gott, des Irdiſchen entkleidet
Flammend ſich vom Menſchen ſcheidet
Und des Aethers reine Lüfte trinkt.
Froh des leichten, ungewohnten Schwebens,
Flieht er aufwärts, und des Erdenlebens
Schweres Traumbild ſinkt und ſinkt und ſinkt.
Des Olympos Harmonien empfangen
Den Verklärten in Kronion’s Saal;
Und die Göttin mit den Roſenwangen
Reicht ihm lächelnd den Pokal.“ Aus Schiller’s Gedichte: „Das Ideal und das Leben.“ Der Kern
des Mythus iſt hier auf eine bewunderungswürdige Weiſe herausgefaßt.
Schon ſo viel würde genügen, um die behauptete auf-
fallende Analogie zu documentiren. Zwar hat Alles in
dieſem Mythus die ganz eigenthümliche griechiſche Färbung
und Form; man wird nirgend verſucht, zu glauben, daß
etwas daraus in das Evangelium oder aus dieſem in den
Mythus gekommen; beide ſtehen inſofern für ſich in reiner
Sonderung und Selbſtſtändigkeit da. Aber eben dies iſt
das Intereſſante und Merkwürdige, da der Idee, dem Geiſte,
dem Sinne nach gleichwohl die unverkennbarſte Verwandt-
ſchaft in’s Auge leuchtet. Es iſt der nämliche Prozeß des
Herabſteigens aus einer höheren Region, eines daraus ſich
ergebenden Zuſtandes der Erniedrigung und des Leidens,
einer dabei entwickelten gottmenſchlichen Berufsthätigkeit,
eines qualvollen irdiſchen Untergangs und eines ſiegreichen
Wiederauflebens und Aufſteigens daraus zu um ſo größe-
rer Herrlichkeit innerhalb des höheren Gebietes, aus dem
ſich das Göttliche herabgelaſſen, um dieſen Prozeß durch-
zumachen. Gehen wir in die Sache ſpecieller ein, ſo wer-
den wir uns um ſo mehr überzeugen, wie groß und be-
deutſam der nicht äußere, wohl aber innere Zuſammen-
hang und Aehnlichkeitsgrund der beiden zu vergleichenden
Seiten iſt.
Ich habe hiebei den Vortheil, eine Arbeit des ſcharf-
ſinnigen Philologen und Mythologen Buttmann be-
nutzen zu können, der eine Abhandlung „über den Mythus
des Herakles“ geliefert, worin er „aus inneren Gründen“
wahrſcheinlich zu machen ſucht, daß die Geſchichte des Hel-
den durchaus nicht hiſtoriſchen, ſondern rein nur poetiſchen
Grundes und Urſprunges, eine ſinnvolle moraliſch-allego-
riſche Dichtung ſei. „Eine ſolche Wahrſcheinlichkeit ent-
ſteht“, ſagt Buttmann, „wenn in einer Erzählung ein
ſo deutlicher poetiſcher Zuſammenhang iſt, eine ſo ſichtbare
Einheit zu einem gewiſſen Zwecke herrſcht, die Data, welche
offenbar die Haupt- und Grundzüge bilden, ſich dermaßen
zuſammenrunden und in Beziehung auf den poetiſchen Zweck
ſo vollſtändig ſind, wie es die wirkliche Geſchichte niemals
zuſammen darbietet. Wir erkennen die Hand eines Dich-
ters, wie ich ſie in der Geſchichte des Herakles von An-
fang bis zu Ende erkenne.“ Weiterhin heißt es: „Eine
ſo vollendete, runde Schilderung, die Eins iſt von An-
fang bis zu Ende, durch und durch von moraliſcher Ten-
denz und allegoriſcher Einkleidung, deren Grundzüge ſich
fortdauernd als Haupttheile der Geſchichte des Helden, mit-
ten unter einer Menge der verſchiedenartigſten Zuſätze und
planloſer Häufungen, erhalten und deren Nebenzüge, ob-
gleich hie und da vereinzelt, ſich doch ſogleich als zu jenem
Ganzen gehörig ausſprechen, kann von keinem Vorurtheils-
freien für eine bloß durch Sage und Dichtung vergrößerte,
mythiſch gewordene Geſchichte gehalten werden; es iſt ein
reines Dichterprodukt, das, unter die geſchichtlichen Sagen
verwebt, ſelbſt allmählich viel Geſchichtliches an ſich gezo-
gen hat.“
Ich ſtimme nicht in allem Einzelnen mit dem genann-
ten Forſcher überein; im Ganzen aber ſcheint er mir Recht
zu haben; nur glaube ich noch tiefer greifen und der Sache
namentlich auch eine prophetiſch-viſionäre Bedeutung zuer-
kennen zu müſſen, während ſich Jener bei aller Vergeiſti-
gung und Idealiſirung des Mythus doch noch viel zu ſehr
auf der Oberfläche hält und den tiefſten, innerſten Kern
und Ernſt der Sache nicht herauszukehren wagt.
In Beziehung auf den gewichtvollen Umſtand, daß die
Weisheitsgöttin Pallas Athene die beſtändige, ſpecielle
Schutzgottheit des Helden iſt, ſagt Buttmann: „Es
beſtätiget dies den von uns gegebenen höheren Begriff des
Herakles, daß er nämlich nicht bloß das Ideal ungebilde-
ter Körperkraft, nicht nur ein die Welt mit der Keule
durchziehender, allenfalls gutmüthiger Todtſchläger, ſondern
zugleich das menſchliche Ideal aller Geiſtesvorzüge ſei, de-
ren göttliches Urbild Pallas iſt. Was ihn anders darzu-
ſtellen ſcheint, erwächſt bloß aus den entſtellenden Zuſätzen
ſpäterer Perioden.“
Vieles in dem Mythus kann uns anſtößig und un-
würdig, wenigſtens allzu unpaſſend und ſtörend in Bezie-
hung auf den von uns gewagten Vergleich mit evangeli-
ſchen Dingen erſcheinen. Man darf aber nur die bildliche
Hülle abſtreifen, die populäre Faſſung und Modifikation
beſeitigen, ſo liegt, wie öfters in alter Mythologie, ein
großer, ſtaunenswerther Sinn vor Augen.
In einer dreifachen Nacht wird der Held erzeugt,
weshalb er denn auch τριεσπερος λεων, der in der drei-
fachen Nacht erzeugte Löwe, heißt. Wie leicht iſt zu er-
kennen, daß hiebei eine bekannte Ausdrucksweiſe ihre Rolle
geſpielt, nach welcher dreifach und dreimal, τρις, τρι
in vielen Zuſammenſetzungen, wie in τριςευδαιμων, τρις-
μακαρ dreimal d. h. ſehr oder höchſt glücklich oder ſelig,
τριςκακοδαιμων, τριςαϑλιος, dreimal d. h. ſehr oder höchſt
unglücklich, u. ſ. w. Vergl. im Lateiniſchen ter in der Bedeutung ſehr oder höchſt, ter
felix, terque quaterque beatus, triplex ſtatt groß; dann Zuſammen-
ſetzungen, wie triperditus, ganz verloren, trifur, Erzdieb, trifurcifer,
Erzſchurke; franz. très, ſehr, von τρις, ter mit verlorener Urbedeutung. eine ſteigernde Bedeutung hat. He-
rakles iſt das Licht des Heils, das aus der dreifachen Nacht
des Unheils aufleuchtet, von welcher Erde und Menſchheit
umfangen iſt, vergl. Jeſ. 9, 1: „Das Volk, das im Fin-
ſtern wandelt, ſchauet ein großes Licht, und die da ſitzen
in Todesnacht, Licht erglänzet über ſie.“ Und Jeſ. 60,
1 ff.: „Auf, werde Licht, denn es kommt dein Licht und
die Herrlichkeit Jehova’s gehet auf über dir. Denn ſiehe,
Dunkel decket die Erde und Finſterniß die Nationen, aber
über dir gehet Jehova auf und ſeine Herrlichkeit erſcheinet
dir. Und es gehen Völker nach deinem Lichte und Könige
nach dem Glanze, der dir aufgegangen.“ Ferner im neuen
Teſtamente: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nach-
folget, der wird nicht wandeln in der Finſterniß, ſondern
er wird das Licht des Lebens haben.“ Ev. Joh. 8, 12.
Vergl. Cap. 1, 4 ff., 12, 35 und 46. Luc. 1, 78 f.
Es kommt auch eine Verſuchung des Herakles
vor, bekannt unter dem Namen: „Hercules am
Scheidewege.“ Es iſt eine moraliſche Erzählung, die
von Sokrates In Xenophon’s Denkwürdigkeiten des Sokrates. auf Prodikos zurückgeführt wird,
die aber Buttmann gleichwohl für ächt mythiſch hält.
Als Herakles, ſo heißt es, die Jahre der Kindheit über-
ſchritten hatte, begab er ſich in eine einſame Gegend, um
über den von ihm einzuſchlagenden Lebensweg nachzuden-
ken. Da erſchienen ihm zwei allegoriſche Frauengeſtalten,
die Wolluſt und die Tugend; jede ſuchte ihn für ſich zu
gewinnen; er entſchloß ſich für die letztere, trotz der von
ihr nicht verhehlten Beſchwerlichkeiten des Tugendpfades.
Mag nun dieſe Darſtellung einen urſprünglichen Zug des
Mythus bilden, oder erſt ſpäter hinzugedichtet ſein, ſie
macht wirklich einen organiſchen Beſtandtheil des Ganzen
aus; denn ein Held und Heiland muß wiſſen, was auf
ihn wartet, was er aufgibt und was er zu ertragen haben
wird; er muß den Weg, den er einſchlägt, mit vollem,
klarem Bewußtſein wählen, da ſonſt ſein Leiden und Thun
an innerem Unwerthe krankt und für ein erhabenes Vor-
bild voll ſittlicher Kraft und Charaktergröße nicht gelten
kann. —
Wohl zu bemerken iſt auch dieſes, daß hier Alles auf
göttliche Anordnung, unter göttlicher Leitung, dem Wil-
len und Ausſpruche der größten und höchſten Gottheiten,
des oberſten Herrn und Vaters Zeus, der Athene, dieſer
Perſonifikation ſeiner Weisheit, des Apollon, ſeines gött-
lichen Propheten, gemäß, geſchieht und daß ſich Herakles,
wiewohl ſo kühn und ſtark, daß er ſelbſt Götter zu ver-
wunden vermag, alldem unterwirft, ſo ſchwer es ihm auch
fallen mag. In den wichtigſten Angelegenheiten fragt der-
ſelbe zu Delphi an, was er thun ſolle, und folgt dem
wenn auch noch ſo harten, Götterſpruche. Der elende Eu-
ryſtheus ruft ihn zu ſich, um ihn durch Auflegung ſchwe-
rer und unmöglicher Arbeiten und Abentheuer zu verderben.
Da Herakles widerſteht, ſo gebeut ihm Zeus, zu gehor-
chen, und das delphiſche Orakel beſtätigt dieſen Befehl. Diodor 4, 10.
In ſeiner letzten Krankheit wünſcht er Geneſung; der Gott
aber befiehlt ihm, zu ſterben, und er ſtirbt. „Vater, iſt’s
möglich, ſo gehe dieſer Kelch vorüber vor mir; doch nicht
mein Wille geſchehe, ſondern der deinige.“ Matth. 26, 39.
Vergl. Jeſ. 50, 5 f. Cap. 53, 7. Philipp. 2, 8: „Er
demüthigte ſich und ward gehorſam bis zum Tode, u. ſ. w.
Herakles hieß beſtimmt der Heiland, er wurde He-
rakles Apotropaios, Alexikakos und Keramyn-
tes, der Abwehrer des Unheils und Verderbens, Soter,
der Retter, Paraſtates, der Helfer, Pacifer, der Frie-
denbringer, ευεργετης των ανϑρωπων oder auch bloß He-
rakles Euergetes, der Wohlthäter, ja der Abweh-
rer des Fluches für Götter und Menſchen ge-
nannt. Um dies Letztere zu ſein, dazu hatte ihn nach ei-
ner uralten Vorſtellung ſein erhabener Vater erzeugt.
Unter den ſogenannten Arbeiten des Herakles ſind zwei
die merkwürdigſten; ſie möchten auch wohl die weſentlich-
ſten, wenn nicht die einzigen, in der älteſten Faſſung des
Mythus geweſen ſein. Wir meinen den Kampf mit der
lernäiſchen Schlange und den mit Hades und Tod, wobei
das bekannte Heraufbringen des Kerberus aus der Unter-
welt nur Nebenſache iſt. Der chriſtliche Heiland überwin-
det Teufel und Tod; der erſtere wird als Schlange, Drache
dargeſtellt, und auch die lernäiſche Hydra iſt im Grunde
wohl nichts Anderes, als ein Symbol des böſen Princips,
welches der hier als moraliſcher Heiland thätige Held über-
wältiget. Es ſind die zahlreichen, immer neu hervorwach-
ſenden Köpfe der Hydra, auf welche der Kampf gerichtet
iſt; dabei kneipt den Kämpfenden ein Krebs in den Fuß.
Wie nahe liegt es hier, ein altteſtamentliches Bild zu ver-
gleichen! „Ich will Feindſchaft ſetzen zwiſchen deinem und
ihrem Samen; derſelbe wird dir nach dem Kopfe trachten,
und du wirſt ihm nach der Ferſe trachten.“ 1. Moſ. 3, 15.
Die lernäiſche Schlange hat ihren Namen von dem
lernäiſchen Pfuhle, wo ſie gehauſt haben ſoll. Lerna iſt ein
ſehr ſchwankendes, unbeſtimmtes Wort, womit man eine
gewiſſe Gegend im Peloponnes bei Argos und mehrere
Gegenſtände daſelbſt benannte, die zum Theil auch wieder
ihren eigenen Namen hatten. Vergl. Buttmann’s Abhandlung darüber im „Mythologus“ II,
S. 93 ff. See und Moraſt, Hain und bewohnter Ort, Strom und
Quelle, das Alles hieß Lerna. Es iſt eine mythiſch und
myſtiſch ſehr ausgezeichnete Oertlichkeit, an die ſich alte
Myſterien knüpften und wo verſchiedene Weihen und Got-
tesdienſte bis in die ſpäteſten Zeiten des Heidenthums ge-
ſchahen. Man hat ſich namentlich eine Waſſergegend, ein
Marſchland, Moor zu denken, das ſpeciell Alkyonia
hieß und das für grundlos und für einen der Eingänge
in die Unterwelt galt. Man ſagte im Sprüchwort: „eine
Lerna von Uebeln“, und Heſychius bemerkt: „wegen
der Sündigkeiten, καϑαρματα, die hineingeworfen wer-
den“, womit Pauſanias zu vergleichen, welcher angibt,
daß jährlich in einer Nacht Etwas in den See geworfen
werde, worüber er ſich nicht näher auslaſſen dürfe. Man
ſagte, der See ziehe, wiewohl ganz ſtill, diejenigen, die
ſich hineinwagen, in die Tiefe hinab und reiße ſie in den
Abgrund. Durch ihn ſtieg Dionyſos nach der Sage der
Argeier, in die Unterwelt. Man ſieht alſo, die Lerna im
Sinne dieſes Sumpfes oder Sees war in antiker Vorſtel-
lung ein Sünden- und Höllenpfuhl; um ſo mehr
iſt zu behaupten, daß die Schlange, die ſich da aufgehal-
ten haben ſoll, das Böſe iſt, welches Herakles als mora-
liſcher Heiland zu beſiegen hatte. Es gibt hier Alles ei-
nen großen religiöſen Ernſt und eine Symbolik und Bil-
derſprache zu erkennen, die mit der bibliſchen und chriſtli-
chen die größte Aehnlichkeit hat.
Um das im lernäiſchen Sünden- und Höllenpfuhle
hauſende Ungeheuer zu bezwingen, war das Element des
Feuers nöthig. Mit brennenden Pfeilen treibt Herakles
die furchtbare, vielköpfige Schlange aus ihrem Lager her-
aus; und um die Stellen der ihr abgeſchlagenen Häupter
auszubrennen und ſo zu verhindern, daß ſie nicht von
Neuem wuchſen, zündet Jolaos, der Wagenlenker des
Herakles, einen Wald an und bedient ſich der davon ge-
nommenen Feuerbrände. Sicher liegt auch hier wieder ein
bedeutender Gedanke verborgen. Die Dichtung wollte wohl
andeuten: es ſei, um die Aeußerungen und Erſcheinungen
der ſelbſtiſchen Menſchennatur gründlich und für immer
niederzuſchlagen, eine feurige Liebe zum Guten und ein
brennender Ernſt und Eifer im Streben nach moraliſcher
Vollkommenheit nöthig, da oberflächliche Siege unnütz ſeien
und das durch ſolche überwältigte und ſcheinbar vertilgte
Böſe ſich immer wieder erneuere, ja in nur noch energi-
ſcherer Weiſe — verdoppelt und verdreifacht gleichſam —
ſein Haupt erhebe. Darum ſagt der Mythus: ſtatt ei-
nes Kopfes, der der Hydra abgeſchlagen wurde, ſeien
zwei oder gar drei hervorgekommen, wogegen nur des
Jolaos Feuerbrand half. Wegen der ſtets neu hervortrei-
benden Köpfe wurde die Schlange παλιμβλαστης und
excetra genannt. Etwas dem Sinne nach Aehnliches, doch
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ganz anders ausgedrückt, kommt im Evangelium vor. „Wenn
ein unreiner Geiſt aus dem Menſchen ausgefahren, und
wenn er das Haus, das er bewohnt hat, geleert, gefegt
und geſchmückt ſieht, ſo kommt er mit ſieben anderen ſol-
chen Dämonen wieder, die noch ärger ſind, als er, „und
ſie fahren ein und wohnen daſelbſt, und es wird mit dem
Menſchen noch ſchlimmer, als es geweſen war.“ Matth.
12, 43 ff.
Eines jener Häupter war unſterblich; darauf wälzte
Herakles ein Felsſtück. Das ſcheint dieſen Sinn zu ha-
ben. Das Böſe iſt das ſelbſtiſche Weſen der Creatur in
der Beſtimmtheit des abſtrakten Für-ſich-ſeins, der excluſi-
ven Beziehung auf ſich. Dieſe Abſtraction und Excluſion
muß überwunden, die Selbſtheit in dieſer Erſcheinungsform
getilgt werden, nicht aber die Selbſtheit überhaupt; denn
ſie iſt der Grund der Individualität und Perſönlichkeit,
als welche die Creatur nicht negirt werden ſoll, ſondern
fortzubeſtehen hat; wäre das ſelbſtiſche Weſen deſſelben nicht
nur überwunden und zur Univerſalität erweitert, ſondern
völlig und in jeder Beziehung aufgehoben, ſo wäre damit
Natur und Creatur nicht bloß moraliſch umgewandelt, ge-
beſſert, geheiliget, verklärt, ſondern vernichtet; und dar-
auf iſt es nicht abgeſehen.
Das Wunderbarſte von Allem iſt, daß Herakles hin-
unter in die Todtenwelt ſteigt und mit dem ſonſt unbe-
zwinglichen Herrſcher dieſer finſteren, furchtbaren Region
den ſchauerlichen Kampf beſteht. Daß er den Kerberos auf
die Oberwelt heraufſchleppt und dadurch dem Curyſtheus
beweiſt, daß er auch dieſen Auftrag vollzogen habe, hat
ſchon Buttmann als einen unbedeutenden Nebenzug be-
trachtet. „Hier hat“, ſagt er, „der ſpätere mythiſche Vor-
trag den Sinn der Fabel etwas geſchwächt und die Neben-
ſache als Hauptſache hingeſtellt.“ Es war bei den Alten
ausdrücklich von einem Kampfe mit dem Hades oder Plu-
ton die Rede. Herakles ſoll ihn verwundet haben, als die-
ſer den Pyliern wider ihn beiſtand. Die für uns älteſte
Quelle der Sage iſt eine ſchon dem Alterthum dunkle und
zweideutige Stelle im Homer Il. V, 395 ff., die nach
Voß alſo lautet:
„Selbſt auch Aides trug’s, der gewaltige Schatten-
beherrſcher,
Als ihn eben der Mann, der Sohn des Aegis-
erſchüttrers,
Unten am Thore der Todten mit ſchmerzendem Pfeile
verwundet.“
Dieſe Sielle verſtand ein großer Theil der Alten, ſo,
wie ſie hier überſetzt iſt; der dritte Vers läßt ſich jedoch
im Griechiſchen auch ſo verſtehen, daß Aides zu Pylos un-
ter die Todten geſtreckt worden ſei, und in dieſer Verbin-
dung berührt dieſen Kampf Pindar Ol. 9, 46. Man
ſehe auch Apollodor II. 7, 3 wo Herakles gegen Pylos
ſtreitet, den Periklymenos tödtet, und den Hades verwun-
det. Klymenos iſt ein Name des Hades und Periklymenos
iſt auch nur wieder derſelbe Gott, in welchem Herakles den
Tod tödtet. Es wurde dieſer Kampf, „von welchem
man alſo ſieht, daß er ein feſter und weſentlicher Theil
des Mythus iſt“, auch mit der dem Helden zugeſchriebe-
nen Befreiung der Alkeſtis aus der Unterwelt in Verbin-
dung gebracht. „Sie wurde“, ſagt Apollodor I, 9. 15,
„von Perſephone wieder zurückgeſchickt, nach Anderen dem
Hades von Herakles wieder abgekämpft.“ Euripides in der
nach dieſer Königin benannten Tragödie läßt den Herakles
mit dem Thanatos, dem eigentlichen Tode kämpfen.
Ich führe darüber noch eine Aeußerung von Movers
an. „Am großartigſten“, ſagt dieſer, „zeigt ſich die Vor-
ſtellung von einem Gotte, der alle phyſiſchen Uebel als
3*
Werke eines böſen Princips und als Störungen im Welt-
plane aufhebt oder zum Wohle der Menſchen wider ſie an-
kämpft, in den Mythen, nach welchen Herakles ſelbſt mit
dem Tode kämpft, ihm ſeine Beute entreißt oder den Sterb-
lichen aus den Gärten der Heſperiden die Frucht vom
Baume des Lebens wiedergeben will. Nach Pherecydes,
der die griechiſchen Mythen gewöhnlich in ihrer urſprüng-
lichen Faſſung vorträgt, war der Garten der Heſperiden
der Göttergarten; die Frucht, welche der Drache hütete,
wurde alſo wohl als Götterſpeiſe gedacht, wodurch ſie ſich
die Unſterblichkeit friſteten. Herakles tödtete den Drachen,
der den Eingang des Gartens, wie der Cherub mit dem
Flammenſchwerte den Weg zum Baume des Lebens, be-
wachte, und pflückte von der Frucht.“ Movers ſieht hier
Verwandtſchaft mit der bibliſchen Erzählung, was nicht
ohne Schein iſt. Man kann auch Offenb. Joh. 2, 7 ver-
gleichen, wo es heißt: „Wer überwindet, dem will ich zu
eſſen geben von dem Baume des Lebens im Paradieſe mei-
nes Gottes.“ Und daſelbſt Cap. 22, 14: „Selig, die ſeine
Gebote thun, auf daß ſie Macht erhalten über den Baum
des Lebens“, u. ſ. w. Der Mythus von den Heſperiden-
äpfeln, die Herakles erbeutet, ſcheint daſſelbe zu ſein, nur
poſitiv ausgedrückt, was, negativ dargeſtellt, jene Beſiegung
des Todes iſt. Auf jeden Fall iſt ſo viel klar, daß hier
noch ganz andere Dinge angedeutet ſind, als Heldenthaten,
zu deren Vollbringung bloße Tapferkeit und Stärke genügt.
Herakles hilft auch den Göttern ſelbſt ihre Feinde be-
ſiegen. Als die Giganten den Himmel angriffen, da konn-
ten die Götter allein keinen Sieg gewinnen; ſie hatten ei-
nen Spruch erhalten, nach welchem ſie der Beihülfe eines
Sterblichen bedurften. Da rief Zeus durch Athene ſeinen
Sohn Herakles herbei, und mit dieſem im Vereine gewan-
nen die Götter die ungeheuere Schlacht. Hiemit iſt das
Größte ausgedrückt, was geſagt werden konnte, indem ein
Gottmenſch, wie Herakles, nöthig war, um die Feinde des
Göttlichen zu überwältigen und die allgemeine Weltökono-
mie vor Auflöſung und Ruin zu bewahren.
Als Herakles jenes mit der Galle der Hydra getränkte
Kleid angezogen und das furchtbare Gift in die Haut ein-
drang, ward er von wüthenden Schmerzen ergriffen und
beſchloß, ſein Leben durch Feuer zu enden. Er begab ſich
auf den Öta, errichtete einen Scheiterhaufen und befahl,
ihn anzuzünden, wenn er ihn beſtiegen habe. Niemand
wollte ſich dazu verſtehen, bis es endlich Poias that, dem
Herakles dafür ſeine Pfeile ſchenkte. Als der Holzſtoß
brannte, nahm den an’s Ziel ſeiner Leiden gekommenen
Helden eine Wolke auf und trug ihn unter Donnerſchlä-
gen zum Himmel empor. Von da wurde er der Unſterb-
lichkeit theilhaftig, mit der feindſeligen Here verſöhnt und
mit ihrer Tochter Hebe vermählt. So Apollodor II.
7, 7. Nach Diodor’s Erzählung IV, 38. ſandte Hera-
kles nach Delphi, um den Gott nach möglicher Hülfe zu
fragen. Dieſer antwortete, man ſolle den Helden mit ſei-
ner Rüſtung auf den Öta bringen und daſelbſt einen Holz-
ſtoß errichten; für das Uebrige werde Zeus ſorgen. Dies
führte Jolaos aus. Öta iſt der Berg des Todes auch
dem Namen nach; vergl. οιτος, Unglück, Tod — ein
griechiſches Golgatha.
Der Ausgang des Heraklesmythus zeigt eine auffallende
Verſchiedenheit von allen übrigen Vorſtellungen des bezüg-
lichen Alterthums. „Die ganze Fabel iſt voll von Göt-
terſöhnen und beſonders von Söhnen des Zeus, die von
ſterblichen Müttern geboren ſind. Aber alle ſolche werden
entweder ohne Weiteres zu Göttern, wie Dionyſos, oder
ſie ſterben gleich anderen Menſchen, wie Sarpedon vor
Troja, oder werden nach ihrem Tode nur für Heroen ge-
achtet, eine Art von Mittelweſen, wovon das Alterthum
ſelbſt vielleicht keinen deutlichen Begriff hatte.“ Bei He-
rakles allein findet ein beſtimmter Läuterungs- und Ver-
klärungsprozeß Statt, eine Abtrennung der groben ſterb-
lichen Stoffe durch die Negativität eines ſchmerzlichen To-
des, dem ſich dieſer Gottesſohn und Gottmenſch freiwillig
unterwirft und durch den er mit verklärtem Leibe zum Him-
mel erhoben und zum olympiſchen Gotte wird.
Der Heraklesmythus iſt das Größte, Tiefſte, Sinn-
vollſte, Bedeutendſte, was das Alterthum in dem ideellen
Felde der Poeſie, des Mythus, der Symbolik und Alle-
gorie geleiſtet hat; es geht mit dieſem ſeinem höchſten Pro-
dukt bereits über ſich ſelbſt hinaus und erhebt ſich zur
chriſtlichen Idee. Aber es iſt nur Idee, nicht Reali-
tät, was wir vor uns haben. Etwas ganz Anderes prä-
ſentirt ſich im Chriſtenthum; denn dieſes iſt die Reali-
ſation der Idee, erſt in einem beſtimmten, hiſtoriſch-
realen Individuum und dann in der geſammten Menſch-
heit, ſofern dieſe auf die Nachfolge Chriſti eingeht
und ſich dadurch zur chriſtlichen Frömmigkeit und Heilig-
keit erhebt. Das iſt der ungeheuere Unterſchied des Chri-
ſtenthums auch ſelbſt von dem gebildeten Heidenthum, na-
mentlich dem geiſtvollen Griechenland, und von der höch-
ſten Stufe, auf welche ſich daſſelbe erhoben hat. Der He-
raklesmythus ſchwebt über der antiken Welt als ein bereits
Höheres, wozu ſie ſich dichteriſch und prophetiſch geſteigert
hat, als eine Art von anticipirtem Evangelium, als eine
Fata Morgana der ſpäterhin hervortretenden chriſtlichen
Wahrheit und Wirklichkeit. Er wird aber wieder in die
Region, aus der er ſich erhoben, zurückgezogen und zu-
rückgenommen, wie es beſonders durch die ſpäteren Zuſätze
und populären Ausſchmückungen des Mythus geſchieht; er
geht ſo wieder nur in ihr ſelber auf, ohne ſie zu verän-
dern und etwas Neues, faktiſch Höheres daraus zu machen.
Um dies zu bewirken, dazu gehörte mehr, als Phantaſie
und Poeſie; mehr als ſelbſt die wunderbare Tiefe der Er-
kenntniß, die uns im Heraklesmythus ſo einleuchtend ent-
gegentritt. Es gehörte dazu das reale Eingreifen und Ein-
gehen eines überweltlichen Princips in den Weltprozeß,
eine wahre und wirkliche Vereinigung der göttlichen und
menſchlichen Natur, wie wir ſie in Chriſtus vollbracht glau-
ben. Wäre auch dieſe Lehre nur Mythus und Dichter-
produkt, ſo hätte das Chriſtenthum gar keine eigenthüm-
lich hervorragende Stellung in der Weltgeſchichte, und der
Heraklesmythus wäre dem Evangelium ſogar vorzuziehen,
da er den Vorzug hat, trotz ſeines Ernſtes und Tiefſinnes,
an der allgemeinen Schönheit und Heiterkeit griechiſcher
Poeſie und Mythologie Theil zu nehmen. Die Wahrheit
tritt nicht ſo anmuthig und reizend, wie ein helleniſches
Märchen, auf; ſie iſt auch nicht ſo friedlich und harmlos,
wie ein ſolches; ſie erweiſt ſich, da ſie die Welt nicht laſ-
ſen kann, wie ſie iſt, als ein feindſeliges, ſtörendes und
zerſtörendes Princip, das, ehe es den Frieden bringt, erſt
das Feuer der Zwietracht entzündet. Aber ſie iſt die Wahr-
heit, und als ſolche hat ſie dennoch einen unendlich höheren
Werth und Reiz, als die ſchönſte, geiſtvollſte und intereſſan-
teſte Erfindung und Darſtellung jenes hochpoetiſchen Al-
terthums. Auf die reale Wahrheit und Gewißheit, die
evidente Thatſächlichkeit deſſen, was durch das Evangelium
verkündigt wurde, iſt denn auch von Anfang an der Accent
gelegt worden. Die Apoſtel und neuteſtamentlichen Schrift-
ſteller beziehen ſich hiebei allerdings nur auf die altteſta-
mentlichen Weiſſagungen und nicht auf die ihnen fernlie-
gende heidniſche Mythologie. Sofern wir aber in dieſer
denſelben Inhalt zu erkennen im Stande und berechtigt
ſind, der uns in den begeiſterten Darſtellungen der hebräi-
ſchen Propheten entgegentritt, iſt ihr Verhältniß zum Chri-
ſtenthum das nämliche. Die chriſtliche Idee vor dem Chri-
ſtenthum war in zweierlei Form vorhanden, erſtlich als
klar bewußte und ausgeſprochene meſſianiſche Vorſchau und
Vorherſage, und dann als Mythus, als ſymboliſche und
poetiſche Abſpiegelung und Vergegenwärtigung des Künfti-
gen, wie in einer Art von Somnambulismus und Traum-
geſicht. Von beiderlei Art der Vorſtellung war die alte
Welt erfüllt; beſonders jedoch war dem Judenthum der
klare meſſianiſche Prophetismus und die damit verbundene
feurige Sehnſucht und Erwartung deſſen, was kommen
ſollte, dem Heidenthum der traumartig bildende Mythus
eigen; und wenn jener in den beſonders ſogenannten Pro-
pheten des alten Teſtamentes ſeinen höchſten und vollkom-
menſten Ausdruck findet, ſo culminirt dieſer in der grie-
chiſchen Mythologie, wie namentlich in dem erörterten hera-
kleiſchen Sagen- und Bilderkreis. Wie ſich nun durch
Chriſtus jene Weiſſagungen erfüllen, ſo realiſiren ſich in
ihm auch jene mythiſchen Dichtungen und Vorbilder Chri-
ſtus, als bloße Idee betrachtet, iſt daſſelbe, was der lei-
dende, ſterbende und dennoch triumphirende Meſſias des
Jeſaias, daſſelbe, was ſeiner zu Grunde liegenden Natur
und Bedeutung nach der eben ſo durch Leiden und Tod
zur Verklärung hindurchgehende Herakles. Aber Chriſtus
iſt nicht bloß Idee, prophetiſche und mythiſche Vorſtellung,
ſondern er iſt die realiſirte Idee, die erfüllte Weiſſagung,
die Wahrheit des Mythus, die hiſtoriſch eingetretene Fülle
gottmenſchlicher und meſſianiſcher Wirklichkeit. Das iſt ei-
nerſeits die Analogie und andererſeits der Unterſchied. Und
ſo glauben wir unſere Meinung und Abſicht klar und un-
zweideutig genug ausgedrückt zu haben. Es handelte ſich
bei dieſer Darſtellung nur darum, zu zeigen, daß ein
Evangelium der Idee, wenn man ſo ſagen darf,
eine Art von mythiſchem und poetiſchem Chriſtenthum ſchon
dem claſſiſchen Alterthum nicht fehlte, und daß ein ſolches
namentlich im Mythus des Herakles deutlich ausgeprägt
ſei, ſomit auch nicht erſt in Paläſtina geſchaffen zu wer-
den brauchte, da es ſchon in höchſter Vollkommenheit in
griechiſcher Mythologie enthalten war. Das Evange-
lium der Wahrheit und Wirklichkeit dagegen iſt
und bleibt das originelle, ausſchließliche, charakteriſtiſche
Eigenthum der chriſtlichen Zeit und Welt.
IV.
Zeus, Herakles und Apollon, eine griechiſche Göttertrias und ein heid-
niſches Analogon der chriſtlichen Trinität.
An die ſo eben erörterte Geſtalt des Herakles ſchließen
ſich im Cultus des griechiſchen Alterthums zwei andere an
und bilden mit ihr eine Trias, die zu merkwürdig iſt und
in den Zuſammenhang dieſer Forſchungen zu tief eingreift,
als daß wir nicht auch ihr einige Aufmerkſamkeit zuwenden
ſollten. Drei Götter nämlich waren in Hellas die am all-
gemeinſten verehrten: Zeus, Herakles und Apollon;
wir finden ſie in dieſer Verbindung auch ganz beſonders
hervorgehoben, wie wenn das delphiſche Orakel bei Demoſth.
Mid. 15 den Athenern gebietet, dem höchſten Zeus,
dem Herakles und dem Apollon Proſtaterios zu
opfern, oder wenn es nach Pauſ. 1, 34 im Cultus der
Oropier einen Altar gab, der aus fünf Theilen beſtand,
von welchen ein jeder einer eigenen Gruppe höherer Weſen
geweiht, der erſte aber dem Zeus, Herakles und Apol-
lon zuſammen geheiliget war. Wie ſehr nun dieſe griechiſche
Trias der chriſtlichen Trinität entſpricht und wie ſehr man
berechtiget iſt, ſie für eine geiſt- und ſinnvolle Anticipation
dieſes großen Dogmas zu halten, wird leicht zu zeigen ſein.
Als ein heidniſcher Gottvater präſentirt ſich uns offen-
bar jener große Himmelskönig Zeus, welcher „der Vater
der Götter und Menſchen“ hieß, und dem Range, der
Macht und der Güte nach, das Höchſte war, was ſich die
Alten zu denken vermochten, daher ϑεων ὑπατος και
αριστος, αναξ, βασιλευς, Jupiter optimus, maximus,
der Beſte und Größte genannt, gentis humanae pa-
ter atque custos nach Horaz Carm. 1. 12, qui res ho-
minum ac deorum, qui mare ac terras variisque mun-
dum temperal horis, wie er ebendaſelbſt geprieſen wird,
daher auch als exsuperantissimus, der Hocherhabene, be-
ſtimmt. Der Name Vater, womit Zeus vorzugsweiſe in
Gebetformeln angerufen wurde Creuzer, Symbolik. 2. Ausg. I. S. 166. II. 498., iſt auch ſchon in dem
Namen Jupiter, Juppiter enthalten, denn eigentlich lau-
tete er Jovis pater, Vater Jupiter. Der Name Jovis,
der auch als Nominativ vorkommt, iſt ſelbſt mit Jehovah
zuſammengeſtellt worden; auch ſind in hebräiſchen Namen, die
mit Jehovah zuſammengeſetzt, die Formen Jahu, Jeho, Jo
gebräuchlich. Was die Verherrlichung dieſer höchſten Gott-
heit des klaſſiſchen Alterthums durch die Kunſt betrifft, ſo
iſt an das berühmte Werk des Phidias zu Olympia zu
erinnern, das eine ſo wunderbare Wirkung that. „Hoher
Reichthum der die einfach erhabene Figur umgebenden
plaſtiſchen Zierden“, ſagt Otfried Müller in ſeiner
Archäologie, „tiefſte Wiſſenſchaft in der Anordnung der Maſſe
der ſehr koloſſalen Figur und der höchſte Schwung des
Geiſtes in der Auffaſſung des Zeus-Ideales machten
dieſe Statue zu einem Wunder der alten Welt. Die zu
Grunde liegende Vorſtellung iſt die des allmächtig herrſchen-
den, überall ſiegreichen Gottes in huldvoller Gewährung
menſchlicher Bitten. In ihm ſchauten die Griechen ihren
Zeus gegenwärtig an.“ Dieſes grandioſe Bild der höch-
ſten Macht und Güte vor ſeinem Tode nicht erblickt zu
haben, ward für ein Unglück gehalten. Hier drängt ſich
der nicht unwürdige Vergleich von ſelber auf, auch wenn
wir nur bei der älteren und allgemeineren Idee und Dar-
ſtellung bleiben, und philoſophiſche Faſſungen, wie ſie bei
einem Plato oder Kleanthes hervortreten, ganz bei
Seite laſſen. Vergl. übrigens Creuzer, Symbol. 2. Ausg. II. 490. 500 f. In
Plato’s Philebus wird dem Zeus eine königliche Seele und
ein königlicher Verſtand beigelegt. In Beziehung auf den be-
rühmten Hymnus des Kleanthes, den Herder in den zerſtreuten
Blättern II. S. 209 überſetzt hat, bemerkt Creuzer: „Man achte
hier vorzüglich auf den ethiſchen Geiſt, worin Zeus aufgefaßt wird.“
Und Tennemann, Geſchichte der Philoſophie IV. S. 236 ſagt:
„Wir finden den Pantheismus der Stoiker in der bekannten Hymne
des Kleanth ſo erläutert und verfeinert, daß er ganz in die Vor-
ſtellung des erhabenen, allmächtigen und allweiſen Beherrſchers der
Natur, des heiligſten Weſens, das Alles nach unwandelbaren Geſetzen
regiert, übergeht.“
Von Herakles, dem leidenden, ſterbenden, zur
Knechtsgeſtalt erniedrigten, durch ſeinen Verklärungstod
aber zur himmliſchen Glorie emporſteigenden Gottmenſchen
und Heilande, als einem ideellen Analogon der großen
chriſtlichen Thatſache, iſt ausführlich gehandelt worden; und
ſo haben wir nur noch von dem dritten Gotte der genann-
ten mythologiſchen Trias, von Apollon zu ſprechen.
Dieſer iſt den Griechen die hochverehrte, auch in Satzung
und Leben mächtig und tief eingreifende Quelle der ſehe-
riſchen, prophetiſchen und poetiſchen Eingebung und Offen-
barung geweſen und hat den Heiden auf dieſe Weiſe ganz
den inſpirirenden Gottesgeiſt des jüdiſchen und chriſtlichen
Religionskreiſes vertreten. Er heißt der Reine, Unbe-
fleckte, Heilige, ἁγνος ϑεος, wie er oft mit Nach-
druck genannt wird; sanctus Apollo; Φοιβος, Phoebus,
vergl. φοιβαζειν, februare, reinigen; ξανϑος, was daſſelbe
bedeutet, nämlich rein und hell, daher die Flüſſe bei den
Heiligthümern des Gottes in Troja und Lycien Xanthos
heißen, und bei den Macedoniern das Sühnfeſt Xanthika.
Die Mutter des Gottes heißt Leto, Latona; ſie iſt dieſem
Namen nach, der von λαϑειν, latere kommt, die Dunkle,
Verborgene und wird als eine mildgeſinnte, mit dunklem
Gewande bekleidete Göttin dargeſtellt. Ein Gegenſatz von
Licht und Dunkel iſt unzweifelhaft; Apollon, der lichte Gott,
geht aus der dunklen Leto hervor; aber dieſe iſt nicht als
Finſterniß an ſich und im ſchlimmen, lichtfeindlichen Sinne
des Wortes zu faſſen; ſie iſt vielmehr ſelbſt Licht, aber ver-
borgenes, noch nicht offenbares, für die Menſchen noch ver-
hülltes, und nur in dieſem Sinne Dunkelheit. Durch die
Geburt Apollons wird dieſes Licht offenbar; daher Delos,
wo der Gott geboren ſein ſoll, die Inſel der Offenbarung
(Δηλος), bei den Göttern aber nach Pindar „das weit-
berühmte Geſtirn der dunklen Erde“ heißt. Auf dieſer
heiligen Inſel durfte Niemand geboren werden und Nie-
mand ſterben; ſchwangere Frauen wurden nach dem nahen
Rheneia hinübergebracht; auch Hunde durften nicht gehal-
ten werden. So wendet ſich nach Ottfr. Müller’s Be-
merkung der über die Natur erhabene Gott von ihren Er-
zeugungs- und Zerſtörungsprozeſſen, als von etwas für ihn
Befleckendem ab. Sog er doch nicht einmal die Mutter-
bruſt; denn Themis reichte ihm, als er geboren war, ſogleich
Nektar und Ambroſia. Apollon iſt eine ſtrenge und keuſche
Gottheit. Er hat keine Gemahlin; die Söhne, die er er-
zeugt, ſind es in hohem, geiſtigem Sinne des Wortes;
es ſind ſpirituelle Zeugungen So iſt Branchos der ſchöne Sohn des Apollon oder des Smikros
aus Delphi. Seine Mutter träumte, die Sonne ziehe durch ihren; und was ſeine von Dich-
tern in ihrer Art behandelten Liebſchaften mit ſchönen Kna-
ben und Mädchen betrifft, ſo muß man auf den dabei
herrſchenden Zug merken, daß die von dem Gotte gelieb-
ten Weſen immer unglücklich ſind und untergehen, und
daß dann eine Blume, ein Baum, ein dem Gotte heiliges
Gewächs daraus entſteht, wie der Hyakinthos, der Lorbeer,
die Weihrauchſtaude. Apollon iſt der Geiſt, und wo die-
ſer waltet, da ſtirbt die ihm nicht entſprechende natürliche
Lebendigkeit; aber es blüht aus dieſem Tode ein neues,
höheres Leben empor. „Denn wofern du das nicht haſt,
Dieſes Stirb und Werde,
Biſt du nur ein trüber Gaſt
Auf der dunklen Erde.“
Göthe. Das iſt der Sinn dieſer Mythen,
die alſo eine urſprünglich ſehr ernſte Bedeutung haben.
Nur in ſolcher Beziehung kann Apollon auch ein her-
vorbringender Gott, ein Apollon Genetor ſein; ſo wie
ja auch der h. Geiſt des Chriſtenthums ein „Lebendigma-
cher“ und „Schöpfer“ heißt. Veni, creator spiritus! Nicht die erſte, natür-
liche Schöpfung iſt dieſes Geiſtes Werk, ſondern eine zweite,
höhere; aus ihm ſoll Menſch und Natur wiedergeboren
werden, ein ganz neues erhöhtes und verklärtes Daſein er-
Leib hin. Da gebar ſie dieſen Sohn, den der Gott liebte und mit
Weiſſagerkunſt begabte. Derſelbe gründete das Orakel der Brauchiden
in Didyma bei Miletos, das nächſt dem delphiſchen großes Anſehen
genoß und beſonders von Joniern und Äolern befragt ward. Den
Ruhm und Glanz des Tempels verkünden noch die Ruinen. So iſt
ferner Jamos Sohn der Euadne und des Apollon; die Erſtere ge-
bar im dunklen Hain einen Knaben, den ſie aus Scham verlies, zwei
Schlangen aber mit Honig nährten. Zwiſchen blühenden Veilchen ge-
funden, erhielt er den Namen Jamos, das Veilchenkind. Der
delphiſche Gott erklärte, es werde ein herrlicher Seher und Haupt ei-
nes Sehergeſchlechtes werden. Derſelbe Gott führte ihn nach Olympia,
wo dann die Weiſſagerfamilie der Jamiden ihren Hauptſitz hatte. Das
iſt Alles ſo göttlich-rein und erhaben, als reizend und ſchön.
langen. Dies iſt nicht möglich ohne Kampf; denn das
zu Verwandelnde, zu einem Andern ſeiner ſelbſt zu Ma-
chende widerſteht, und ſucht ſich in ſeiner alten Beſtimmt-
heit zu erhalten, auf ſeiner niedrigeren, ihm aber allein
faßlichen und genußreichen Entwicklungsſtufe zu behaupten.
Dies iſt die Schlange Python, welche der Gott mit
ſeinen Pfeilen zu erlegen, die Aufgabe hat. Sie heißt
auch Delphine, Delphyne von δελφυς, Bärmutter,
wovon auch das ſich ſchnell vermehrende Schwein, δελφαξ,
benannt. Python-Delphyne iſt alſo wohl die producirende
Natur, dieſer endloſe Prozeß des Entſtehens und Vergehens,
dem der Gott abgeneigt iſt, von dem abgebrochen werden
ſoll, damit ein höheres, nicht mehr ſo in die Aeußerlich-
keit verlorenes Bewußtſein und Daſein zu Stande komme.
Sofern nun der Geiſt dieſe negative Stellung zu dem
unmittelbaren Sein und Leben der Dinge und der Menſch-
heit hat, und ſein erſtes Amt, bevor er ſich poſitiv er-
weiſen und entfalten kann, ganz nur noch das der Ver-
neinung, der unnachſichtigen, bitter empfundenen Störung
und Zerſtörung der Natürlichen iſt, wird er als ein furcht-
bares Weſen, als ein Gott des Todes und der Vernich-
tung gefaßt und heißt der Verderber, Apollon von
απολλω, απολλυω. Sofern er aber, ſtatt der natürli-
chen Unmittelbarkeit ein höheres, edleres und ſchöneres
Daſein und Leben begründet, iſt er der große Cultur-
genius Griechenlands, der Begründer geordneter Zuſtände,
der den Colonien ihre Richtung, den Staaten ihre Ver-
faſſungen gibt, und deſſen Orakelſprüche Themiſtes,
Satzungen heißen, ſowie er ſelbſt den Namen Thermios,
der Geſetzliche, führt; der Gott des Geſanges und Saiten-
ſpieles, der Muſenführer, der ſchöne Gott, der auf der
Hand die Chariten, die Symbole der Anmuth und des Rei-
zes trägt. Ueber das Alles wäre ausführlich zu han-
deln. Es wird jedoch ſchon ſo viel genügen, um die Ueber-
zeugung zu begründen, daß es das ſpirituelle Princip iſt,
welches in Apollo ſeinen der griechiſchen Stufe angemeſſe-
nen Ausdruck gefunden. Was die Darſtellungen Anderer
betrifft, ſo iſt namentlich die von Ottfried Müller Dorier I. S. 290. ff. 203.
zu vergleichen, da dieſer Gelehrte, wenn auch mit uns im
Einzelnen differirend, doch im Ganzen übereinſtimmend,
behauptet und nachzuweiſen ſucht, daß Apollon keine Na-
turgottheit ſei, daß Idee und Cultus deſſelben vielmehr
auf dualiſtiſcher und ſupernaturaliſtiſcher Denk-
und Gefühlsweiſe beruhe. Noch Einiges über Apollon, als dieſe ſpeciell griechiſche Gottheit, kommt
im nächſten Capitel, ſowie, was die Hervorbildung der poſitiven Seite
aus ſeinem zunächſt ſo negativ erſcheinenden Weſen betrifft, in der
Beilage D. des Anhanges vor.
V.
Ethnologiſche Abſpiegelung der Trinität. Die drei wichtigſten und
bedeutſamſten Nationen des vorchriſtlichen Alterthums — Römer,
Griechen und Juden — von dieſem Geſichtspunkte aus betrachtet.
Aus dem Vorhergehenden erhellt, daß die vorchriſtlichen
Alten in der ihnen möglichen und eigenen Weiſe auch das
chriſtliche Dogma von dem dreieinigen Gotte anticipirt, in
ihrem Cultus ausgeprägt und in ihren Dichtungen und
Kunſtſchöpfungen ſinnvoll und geiſtreich dargeſtellt haben,
ſo nehmlich, daß die drei vom Chriſtenthum in das un-
trennbare Eins zuſammengefaßten Beſtimmungen und Cha-
raktere (Hypoſtaſen, Perſonen) polytheiſtiſch angeſchaut, in
drei beſondere Göttergeſtalten auseinandergelegt und in
eigenen großen Mythenkreiſen, religiöſen Einrichtungen,
Gottesdienſten und Kunſtdarſtellungen fixirt und verherr-
licht wurden. Das iſt indeſſen noch nicht Alles; es kommt
noch etwas ſehr Merkwürdiges und Intereſſantes hinzu.
Dieſer Trias von Göttern nach heidniſcher Vorſtellungs-
weiſe, oder von Hypoſtaſen, Perſonen, beſonderen Beſtimmt-
heiten und Charakteren der einen mit ſich identiſchen Gott-
heit, wie unſere Dogmatik lehrt, entſprechen in volksthümlich
4
hiſtoriſcher Form, Weltſtellung und Bethätigung die drei
wichtigſten Nationen des Alterthums, welche die drei im
Papſtthume vereinigten, unter I. namhaft gemachten Prin-
cipien und Elemente geliefert haben, womit es ſich näher
in folgender Weiſe verhält.
Das univerſaliſtiſche, weltbeherrſchende Römerthum iſt
der beſondere völker- und weltgeſchichtliche Ausdruck des
Vaters geweſen, daher die Römer auch ganz beſonders den
erhabenen Götterkönig, den Jupiter optimus maximus, wie
ſie ihn mit ſchönem und würdigem Ausdrucke nannten,
für ihren Gott und Herrn erkannten. Er war die Haupt-
gottheit der römiſchen Staatsreligion; ſein Haupttempel
befand ſich auf dem Capitol, daher er Capitolinus hieß. „Die höchſte Herrlichkeit und Oberherrſchaft über Natur und Welt dachte
ſich der Römer in ſeinem Jupiter Optimus Maximus vereinigt,
der auf dem Capitol ſeinen Sitz hatte und als Capitolinus Mittel-
punkt der öffentlichen Staatsreligion und ſofort auch der Reichsreligion
geworden war.“ Creutzer, Symbolik. 2. Ausg. II. S. 546.
In dieſen Tempel pflegte ſich nach Valerius Maximus
1, 2, 2 Scipio Africanus zu begeben, bevor er ein
Geſchäft vornahm; auch wurde dieſer große Römer für einen
Sohn des daſelbſt verehrten Gottes gehalten. — Das
Griechenthum mit ſeiner ſeheriſchen und dichteriſchen Be-
geiſterung und Begabung iſt die beſondere Sphäre des
Geiſtes geweſen; ihm haben die Hellenen die erhabene Ge-
ſtalt ihres Apollon gegeben, der als „der Prophet des
Vaters Zeus“ Äſchylos Eum. 19. das weltberühmte Orakel zu Delphi be-
ſaß. Hier war der Fleck, den man den Nabel oder Mit-
telpunkt der Erde nannte; wovon der leicht zu erkennende
Grund dieſer iſt, daß man Delphi als das religiöſe und
theokratiſche Centrum der griechiſchen Welt, der Völker
Griechenlands betrachtete. Es iſt erſtaunlich, was von da
aus für eine unbedingte, Alles lenkende und beſtimmende
Herrſchaft ausgeübt wurde. Ottfr. Müller Dorier I. S. 254. ſagt von
Delphi: „Es tritt mit einer wahrhaft imponirenden Kraft
auf, wie kaum ein Inſtitut nach ihm. Der Gott ſchaltet
mit den Völkern nach ſeinem Willen, ſendet ſie in Nähe
und Ferne, nöthiget ſie, trotz ihres Widerſtrebens, zu wei-
ten Zügen, und weiſ’t ihnen mit beſtimmten Worten ihre
Wohnſitze an.“ Die Staaten fragten den Gott wegen
ihrer Verfaſſungen um Rath; es wurde keine Kolonie ge-
gründet, wenn man nicht zuvor das Orakel befragt hatte,
weßhalb Apollon auch als Verfaſſungsgründer, Ertheiler
von Satzungen, Kolonienſtifter und Gott der Grundmauern
galt und deßhalb αρχηγετης, κτιστης, οικιστης, δωμα.
τιτης hieß. Stets erfreut ſich Apollon, ſiehet er Städte
bauen, wie Kallimachos ſagt. Megara hatte eine
Akropolis mit Tempeln dieſes Gottes; dieſelbe ſollte Al-
kathoos, Pelops Sohn, gegründet und Apollon ihm
dabei geholfen haben; daher Theognis, der Megarer,
ſingt:
„Um dem pelopiſchen Sohn Alkathoos Huld zu
erweiſen
Haſt du, o König Apoll, hoch uns gethürmet die
Burg.“
Man zeigte daſelbſt einen Stein, auf welchem der Gott
ſeine Kithara niedergelegt; wenn man mit einem Steinchen
daran warf, ſo tönte er einer zerſchlagenen Kithara gleich. Pauſ. I. 42, 1, 2.
Sehr entſchieden tritt beſonders das Verhältniß des dori-
ſchen Stammes und ſeiner Staatsverfaſſungen zu dieſem
Cultus und deſſen Hauptinſtitut, dem Tempel zu Delphi,
hervor, zu welchem ſämmtliche Dorier in einem gewiſſen
4*
Unterthanenverhältniſſe ſtanden. Es war der Stolz der
Spartiaten, daß ihre Geſetze πυϑοχρηστοι, vom Orakel
zu Pytho ausgegangen waren; wie denn daſſelbe auch
fortwährend die Oberaufſicht über die Verfaſſung behielt.
Es wurde dies namentlich durch die ſogenannten Ποιϑιοι,
Pythier, vier von den Königen erwählte Abgeordnete,
bewerkſtelliget, welche die Ausſprüche des Gottes einzuholen
und an die Könige zu bringen hatten, deßhalb auch deren
Beiſitzer und beſtändige Tafel- und Zeltgenoſſen waren.
Selbſt auf die Philoſophie hatte das Orakel den merkwür-
digſten Einfluß. Pythagoras ſoll die Grundlehren ſei-
ner Wiſſenſchaft von der Pythia Themiſtokleia oder
Ariſtokleia erhalten haben; auch war er ſchon von Haus
aus Apollodiener; denn wir hören, daß ſeine Familie Sacren
des Apollon Nomios hatte, welchen er ſelbſt zu Kroton
als den größten Philantropen, den Geſetzgeber von Hellas
und Gott der Humanität empfahl. Daß Pythagoras ſein
politiſches Ideal in Kroton zu verwirklichen unternahm,
hängt damit zuſammen, daß dies eine ganz apolliniſche
Stadt war. Ueber alles dies iſt Ottfr. Müller in ſeinem für uns hier ſo wichti-
gen Buche „Die Dorier“ zu vergleichen. Wie Socrates von dem Gotte geehrt
wurde, iſt bekannt. Es läßt ſich hiebei bemerken, daß
Apollon beſonders mit denjenigen Denkern zuſammenhängt
und im Bunde ſteht, welche ihr Augenmerk nicht bloß auf
Naturprincipien richten und nicht bloß einer unfruchtbaren,
ja frivolen Dialektik huldigen, ſondern einen ſeheriſchen
und prophetenartigen Charakter entwickeln und tiefen Ernſtes
auch in Leben und Sitte einzugreifen verſuchen. So mäch-
tig war hier bereits das ſpirituelle Princip, deſſen vor-
chriſtliche Manifeſtation und Repräſentation die ſpecielle
Beſtimmung des Griechenthums war. — Im Judenthum
endlich mit ſeinem Meſſianismus und mit dem aus ihm
hervorgehenden Chriſtenthum iſt eben ſo einleuchtend das
Gebiet des Sohnes zu erkennen. Ueberall ſind in Vor-
ſtellung, Cultus, Ahnung dieſer Nationen nebſt dem einen
ſpeciell vertretenen und ausgeführten Elemente auch die
beiden anderen vorhanden; aber nur eines davon gibt dem
Volke ſeine ganz eigenthümliche Stellung und Bedeutung;
ſo iſt der Jupiter des Römers auch im griechiſchen Zeus
und im jüdiſchen Jehova da; der Grieche gibt ihm eine
ideale Kunſtgeſtalt; der Jude verehrt ihn bildlos, damit
er keine barbariſche Götzengeſtalt annehme; aber nur Rom
und der römiſche Weltgebieter ſpielt auf Erden die reale
Rolle, in der ſich die univerſaliſtiſche Würde und Größe
jenes Gottes ſpiegelt, wie es Horaz, Oden 1, 13 in der
ſchließlichen Anrede an Jupiter ausdrückt:
— — — — tibi cura magni
Caesaris fatis data, tu secundo
Caesare regnes.
Te minor laetum regat aequus orbem;
Tu gravi curru quaties Olympum etc.
Jupiter regiert die Welt, donnert im Himmel u. ſ. w.;
unter ſeiner ſpeciellen Obhut ſteht der große Cäſar, der all-
gewaltige Auguſt und beherrſcht, als der zweite nach ihm,
den Erdkreis. Apollon ward auch in Italien verehrt, Ein merkwürdiges Heiligthum deſſelben war auf dem Berge Sorakte,
wo gewiſſe Familien, Hirpi genannt, bis in die ſpäte Zeit mit bloßen
Füßen auf glühenden Kohlen wandelten. Plin. H. N. VII. 2. Vergl.
Virgil Aen. XI. 786. Man wollte auf dieſe Weiſe anſchaulich ma-
chen, daß für den Geiſt die Geſetze der phyſiſchen Natur keine Bedeu-
tung haben.
aber man ſandte, um ihn zu fragen, nach Delphi, wohin,
nach Livius 1, 56 „als zu dem berühmteſten Orakel
der Welt“ ſchon Tarquinius Superbus, durch ein
Zeichen erſchreckt, zwei ſeiner Söhne, „durch damals unbe-
kannte Lande und noch unbekanntere Meere nach Griechen-
land ſchickte.“ Mächtig und glänzend tritt das prophetiſche
Moment auch im alten Teſtamente hervor; aber nur um
den Meſſias zu verkünden, der im Judenthume geboren
werden ſollte und auf den hier Alles angelegt war. Die
Idee des meſſianiſch bethätigten Gottſohnes fehlte, wie wir
geſehen haben, auch dem heidniſchen Alterthum nicht; aber
ſie bleibt hier nur Idee und idealiſtiſche Vorbereitung; die
ungeheuere Thatſache der Realiſirung derſelben fällt in die
Sphäre des übrigens zurücktretenden und verachteten Ju-
denthums, und ſelbſt, wo ſie in dieſer nur erſt als pro-
phetiſche Vorſtellung vorhanden, zeichnet ſie ſich durch jenes
ſehnſüchtige, pathetiſche Drängen zur Realität aus, das
ſonſt nirgend in demſelben Maße zum Ausſpruche kommt.
VI.
Ueberſicht. Zuſammenſtellung der erörterten Triaden. Die ſich in der
Trinitätslehre ausſprechende Trias als allgemeines weltgeſchichtliches
Myſterium. Noch ein ſchließliches Wort über Papſtthum und
proteſtantiſche Kirchenthümer.
Hiemit glauben wir nun, jene dreifache Krone, die wir
in unſerer Weiſe auszudeuten übernommen haben, jenes
drei Principien und Elemente befaſſende Kirchen- und
Prieſterthum, das den allgemeinen und eigentlichen Gegen-
ſtand unſerer Beobachtungen bildet, zur Genüge betrachtet,
nachgewieſen und erläutert zu haben. Die einander deut-
lich entſprechenden, in evidentem Zuſammenhange ſtehenden
Triaden, die ſich dabei herausgeſtellt, ſind, um ſchließlich
noch dieſe Ueberſicht zu geben, die folgenden.
1. Die drei principiellen und elementaren Momente,
die ſich im Papſtthume vereinigen, erſtlich das durch den
thatſächlichen Eintritt einer überweltlichen Macht und Na-
tur in den Weltprozeß zum Chriſtenthum vollendete und
geſteigerte paläſtiniſche, und dann auf Seiten des gebilde-
ten Heidenthums das der griechiſchen Cultur und das der
römiſchen Univerſalherrſchaft.
2. Die hiemit ſchon namhaft gemachten drei repräſen-
tativen Volksſtämme und Volksgeiſter, welche dieſe Momente
geliefert, indem ſie die Aufgabe gehabt, dieſelben zum Be-
hufe nachheriger um ſo concreterer und concentrirterer
Zuſammenfaſſung für ſich auszubilden und darzuſtellen,
der jüdiſche, der römiſche und der griechiſche.
3. Die drei mythologiſchen Göttergeſtalten, welche den
angegebenen Momenten und Volksſtämmen entſprechen, und
welche zugleich als die ſich vorläufig verkündende, noch
polytheiſtiſch auseinanderfallende Trinität des Chriſtenthums
betrachtet werden können, Zeus, Herakles und Apollon.
4. Dieſe Trias endlich als chriſtliche Trinität, oder
Vater, Sohn und Geiſt, als die eine, dreifach be-
ſtimmte und gegliederte, mit ſich jedoch identiſch bleibende
Gottheit der chriſtlichen Glaubenslehre.
Man erſtaunt über eine ſolche Alles einem Zwecke
und Ziele zu Gute verknüpfende Harmonie und Architek-
tonik, ein ſolches Syſtem von Ideen, Principien, Elemen-
ten, völkerſchaftlichen und welthiſtoriſchen Charakteren, Be-
ſtimmungen und Erſcheinungen Ueber einige triadiſche Erſcheinungen und Thatſachen im neuen Teſta-
ment und in der erſten Geſchichte des Chriſtenthums iſt in der Bei-
lage E. beſonders gehandelt., die theils ſo ganz ein-
heitslos auseinanderfallen und ihren Weg für ſich machen,
theils wieder in eine überraſchende Einheit zuſammentreten
und bei näherem Zuſehen als ſchon von Anfang an auf
eine ſolche geheimnißvoll angelegt, berechnet und hingeleitet
erſcheinen. Man überzeugt ſich wohl, daß etwas der Art
nicht auf zufälligen, ſubjektiven und willkührlichen Urſachen
und Grundlagen beruhen kann, daß es vielmehr von der
objektivſten und nothwendigſten Natur ſein und im tiefſten
Grunde des Weltorganismus und der Weltanlage wurzeln
muß; man ahnet auf dieſe Weiſe ein großes, allgemeines
Schöpfungs- und Weltgeheimniß, dem nachzuſpüren gewiß
die würdigſte Aufgabe des Denkers iſt; man merkt nament-
lich, daß die Trinität, deren Vorſtellung die chriſtliche
Dogmatik gibt, und als deren getreueſte Abſpiegelung im
Reiche geſchichtlicher Wirklichkeit wir das katholiſche Kir-
chen- u. Prieſterthum erkannt, die innere göttliche Wurzel
und Norm der ganzen Weltentwickelung und Weltgeſchichte
iſt, und ſieht um ſo deutlicher den ungeheueren Fehler ein,
den jene chriſtlichen Kirchen und Sekten begehen, welche
die wundervolle Verknüpfung und Totalität zerſtören, deren
Bewahrung dem Katholicismus zu ſo großem Vortheil
und Vorzuge gereicht. Wer dieſe Organiſation mißbilligt,
der ſollte wenigſtens auch das Dogma der Trinität auf-
geben, das in ihr ſeinen realen, hiſtoriſchen Ausdruck fin-
det, was freilich noch Niemand bemerkt zu haben ſcheint.
Iſt aber dieſes Dogma eine weſentliche, nicht aufzugebende
Inhaltsbeſtimmung des Chriſtenthums, ja der Kern, die
Alles in ſich faſſende Grund- und Hauptlehre dieſer Re-
ligion, und hat daſſelbe einen ſo umfaſſenden welthiſtori-
ſchen Sinn, ſo wird eine Kirche, welche dieſem Dogma,
und das ganz dieſem großartigen Sinn entſprechend, einen
ſo vollſtändigen Ausdruck verleiht, nothwendig für diejenige
zu gelten haben, in der ſich das Chriſtenthum überhaupt
ſeiner adäquateſten Darſtellung und Ausführung in Zeit
und Welt erfreut.
Anhang.
Beilagen.
A.
Ueber katholiſche Cultusformen und Cultusmittel.
Zu I. S. 8.
Niemand hat die Wirkung, welche der katholiſche Cultus
in Folge ſeiner Objektivität und Anſchaulichkeit auf das
Gemüth des Menſchen auszuüben vermag, trefflicher ge-
ſchildert, als Schiller in ſeiner Maria Stuart, indem
er Mortimer von ſeiner Converſion erzählen läßt.
„Ich zählte zwanzig Jahre, Königin;
In ſtrengen Pflichten war ich aufgewachſen,
In finſterm Haß des Papſtthums aufgeſäugt,
Als mich die unbezwingliche Begierde
Hinaus trieb auf das feſte Land. Ich ließ
Der Puritaner dumpfe Predigtſtuben,
Die Heimat hinter mir; in ſchnellem Lauf
Durchzog ich Frankreich, das geprieſene
Italien mit heißem Wunſche ſuchend.
Es war die Zeit des großen Kirchenfeſtes;
Von Pilgerſchaaren wimmelten die Wege,
Bekränzt war jedes Gottesbild, es war,
Als ob die Menſchheit auf der Wandrung wäre,
Wallfahrend nach dem Himmelreich — Mich ſelbſt
Ergriff der Strom der glaubensvollen Menge
Und riß mich in das Weichbild Rom’s —
Wie ward mir, Königin!
Als mir der Säulen Pracht und Siegesbogen
Entgegenſtieg, des Koloſſeums Herrlichkeit
Den Staunenden umfing, ein hoher Bildnergeiſt
In ſeine Wunderwelt mich ſchloß!
Ich hatte nie der Künſte Macht gefühlt;
Es haßt die Kirche, die mich auferzog,
Der Sinne Reiz, kein Abbild duldet ſie,
Allein das körperloſe Wort verehrend.
Wie wurde mir, als ich in’s Inn’re nun
Der Kirche trat, als die Muſik der Himmel
Herunterſtieg und der Geſtalten Fülle
Verſchwenderiſch aus Wand und Decke quoll,
Das Herrlichſte und Höchſte, gegenwärtig,
Vor den entzückten Sinnen ſich bewegte;
Als ich ſie ſelbſt nun ſah, die Göttlichen,
Den Gruß des Engels, die Geburt des Herrn,
Die heilige Mutter, die herabgeſtiegene
Dreifaltigkeit, die leuchtende Verklärung —
Als ich den Papſt drauf ſah in ſeiner Pracht
Das Hochamt halten und die Völker ſegnen.
O, was iſt Goldes, was Juwelen-Schein,
Womit der Erde Könige ſich ſchmücken!
Nur er iſt mit dem Göttlichen umgeben,
Ein wahrhaft Reich der Himmel iſt ſein Haus;
Denn nicht von dieſer Welt ſind dieſe Formen.
Maria.
O, ſchonet mein! Nicht weiter! Höret auf,
Den friſchen Lebensteppich vor mir aus-
Zubreiten — Ich bin elend und gefangen.
Mortimer.
Auch ich war’s, Königin, und mein Gefängniß
Sprang auf, und frei auf Einmal fühlte ſich
Der Geiſt, des Lebens ſchönen Tag begrüßend.
Haß ſchwur ich nun dem engen, dumpfen Buch,
Mit friſchem Kranz die Schläfe mir zu ſchmücken,
Mich fröhlich an die Fröhlichen zu ſchließen.“
Allerdings ſpricht hier Schiller nicht in ſeinem ei-
genen Namen, ſondern aus der Seele einer ſeiner Theater-
figuren heraus, die er zu charakteriſiren hat. Seine Dar-
ſtellung iſt aber ſo warm und wahr, daß ſie fühlbar auch
aus eigener Gefühls- und Anſchauungsweiſe gefloſſen iſt
und als ein Votum dieſes großen Dichters und Denkers
zu Gunſten des Katholicismus betrachtet werden darf. Auf
jeden Fall mußte eine ſolche Dichterſeele dieſem unendlich
holder ſein, als „dem engen, dumpfen Buch“, und als
„der Puritaner dumpfen Predigtſtuben.“ Wer eine aus
katholiſcher Feder gefloſſene Darſtellung vergleichen will,
der wird eine ſolche in Beda Weber’s „Cartons aus
dem deutſchen Kirchenleben“, Mainz 1858, S. 766 ff.
unter der Ueberſchrift: „Der große Roſenkranz auf
dem heiligen Berge bei Vareſe im Mailändi-
ſchen“ finden. Ich ziehe hier mit großer Abkürzung nur
Folgendes aus.
„In dem Geiſte des h. Carlo Borromeo, Cardi-
nal-Erzbiſchofs von Mailand, deſſen Wirkſamkeit in die
Jahre 1548—1584 fällt, tauchte die Idee auf, die Ge-
heimniſſe des Evangeliums plaſtiſch darzuſtellen und zu die-
ſem Zwecke nicht nur alle Mittel der Kunſt, ſondern auch
die großartigen Bilder der Natur ſelbſt als Rahmen dazu
in Anwendung zu bringen. Sein Vetter, Federigo,
ebenfalls Erzbiſchof von Mailand, brachte dieſe Idee in
den Jahren 1563—1631 zur Ausführung. Es erhob ſich
die wunderbare Schöpfung des heiligen Berges zu
Vareſe als Einheits- und Erfriſchungsort des Volkes
der lombardiſchen und piemonteſiſchen Ebenen und der an-
grenzenden Schweizerthäler, eine aus weißem Marmor ge-
bildete rieſige Chriſtenlehre. Ein freiſtehender, faſt pyra-
midenartiger Hügel erhebt ſich aus der Ebene des Dorfes
Vareſe, welcher in ungeheuren Wellungen vom friſcheſten
Grün überkleidet, in’s Hochgebirge der Teſſiner Alpen aus-
läuft, an ſeinem Fuße mit unzähligen Landhäuſern, dar-
über mit Feldern und Wieſen voll ſchwellender Fruchtbar-
keit, zuhöchſt mit beherrſchendem Ausblick auf die weite
Landſchaft des Po und die abgränzenden Berge. Eine
gutgepflaſterte Straße, zu beiden Seiten mit einer Mauer
eingefaßt, führt auf den Gipfel deſſelben empor.“
„Iſt der Wanderer aus dem Bereiche üppiger Villen
und ihrer Waldungen in’s Freie emporgedrungen, ſo quillt
aus dem Fels am Wege ein kühler, wohlumhegter Brun-
nen, dem müden Wanderer ein erwünſchtes Labſal. Gleich
daneben wölbt ſich über die Straße ein mächtiges, kunſt-
reich aus Marmor gebautes Portale und bezeichnet durch
ſeine chriſtliche Anlage den Eintritt in’s Gebiet der heili-
gen Jungfrau. Dahinter ſtehen in mäßiger Entfernung
fünf Kapellen, rings mit Säulengängen, durch die ein
Reiter bequem paſſiren kann, ſtets auf einer Hügelecke,
wo die reichſte Ausſicht in die ewig wechſelnden Bilder ei-
ner reichen Natur das Auge entzückt. Sie enthalten die
ausführliche Darſtellung der freudigen Geheimniſſe des hei-
ligen Roſenkranzes mit originellen Bildereien, die aus ei-
ner Erdart gebrannt und mit Farben lebenstreu bemalt
ſind. Den Anfang macht in der erſten Kapelle der eng-
liſche Gruß, die Heimſuchung Mariä, die Geburt Chriſti,
die Darſtellung Jeſu im Tempel und deſſen Wiederfindung
unter den Schriftgelehrten. Ihnen ſchließen ſich die ſchmerz-
haften an, abermals durch eine rieſige Thorhalle über dem
Wege eröffnet nach der nämlichen Anlage und Ausführung,
der heilige Oelberg, die Geißelung, die Dornenkrönung,
die Kreuzfahrt und die Kreuzigung. Aus dieſem Gebiete
der Todesſchmerzen treten wir aufwärtsſteigend durch ein
drittes Thor in die lichte Region der glorreichen Geheim-
niſſe der Menſchenerlöſung, wo in vier auf einander fol-
genden Kapellen die Auferſtehung und Himmelfahrt Chriſti,
die Sendung des heiligen Geiſtes und die Aufnahme Ma-
riens in den Himmel dargeſtellt ſind. Die Hügelpyramide
iſt immer ſchlanker und luftiger geworden; mit den Licht-
maſſen, die ſich von allen Seiten auf uns niedergießen,
haben ſich die Düfte und Kühlungen der überragenden
Alpen gemiſcht, um unſere Seele durch die glorreichen
Thaten Jeſu Chriſti, welche den Tod gebrochen und die
Hölle beſiegt haben, fröhlich aufathmen zu laſſen. Weite
dunkellaubige Thäler haben ſich rings um unſere Höhen-
wanderung aufgethan und unſere erhabene Stellung auf
eine faſt ſchwindelerregende Weiſe in den Lüften iſolirt.
Auf der höchſten Spitze des Hügels befindet ſich die Kirche
der allerſeligſten Jungfrau und das ihr verbundene Non-
nenkloſter. Die Kirche iſt der Krönung Maria’s, alſo dem
letzten glorreichen Geheimniſſe des h. Roſenkranzes geweiht.
Fünf Geiſtliche verſehen an der Kirche den Wallfahrtsdienſt
und ſind an Marienfeſten beſonders viel beſchäftigt.“
„Tritt man an ſolchen Tagen aus der Kirche auf die
Höhenteraſſe heraus, ſo genießt man einen Anblick, der
ſich mit Worten nicht ausdrücken läßt. Der heilige Berg
iſt von oben nach unten mit Menſchen bedeckt, alle ſelig
und froh im Reviere der Himmelskönigin, hier an Mar-
morſtufen, dort unter rieſigen Bäumen gelagert, von mild-
thätigen Reichen leiblich geſpeiſt, nachdem ſie im Krönungs-
ſaale der heiligen Jungfrau die Himmelsſpeiſe genoſſen,
5
rings im Ausblick auf die wunderherrliche Welt, welche
eine unermeßliche Ebene, wogende Seen, prangende Berge
zeigt und ſich ſchmiegſam herangelaſſen hat, das Evange-
lium unſeres Herrn Jeſu Chriſti in den prachtvollſten Rah-
men zu faſſen. Der Rieſenbau des Mailänder Doms
und die borromäiſchen Inſeln ſchauen aus der Ferne wie
Sterne ewiger Hoffnungen tröſtend in’s Volksgewühl herein,
das ſich als lebendige Pyramide zum Himmel aufgebaut
hat, ſo daß man mit Wahrheit ſagen kann: Alles was Herz
und Stimme auf Erden hat, Licht und Farbe, Frucht
und Blüthe, Geiſt und Natur haben ſich zu Vareſe ver-
einigt, die Offenbarung Gottes unter den Menſchen wahr
und wirklich zu machen.“
„Der h. Carlo Borromeo ging bei dem Plane zu
dieſer Schöpfung von einer Anſicht aus, die wir bei einem
gleichzeitigen Schriftſteller entwickelt finden und hier im
Auszuge wiedergeben wollen. Wenn der chriſtlichen Lehre
zur Wirkung auf die Gemüther nur das Wort und die
Schrift gelaſſen wird, ſo hat die Seelſorge einen beſchränk-
ten Kreis, um für alle Einzelheiten individueller Begriffe
zu ſorgen und in’s innerſte Lebensmark erfolgreich einzu-
dringen. Die Predigt, von einem irdiſchen Menſchen ge-
tragen, daher leider oft ſeinen natürlichen Talenten und
Schwächen unterthan, wird nur zu leicht die nächſte Ver-
anlaſſung, alle himmliſchen Wahrheiten durch menſchliche
Fehlerhaftigkeit zu blamiren. Kommt noch dazu, daß die
Predigt allein ohne individuelle Kenntniß der Seelenzu-
ſtände in den Zuhörern allzuleicht in leeres Phraſengeklin-
gel, carrikirtes Geberdenſpiel und in einen ganz eigenthüm-
lichen Heulerton ausartet, der einem Theater ſchlecht ſteht
und in der Kirche nur dem verdorbenſten Geſchmacke zu-
ſagen kann, ſo iſt die Langeweile und der Ekel der Zu-
hörer unvermeidlich und fällt leider nicht ſelten auf den
ungeſchickten Redner zurück. Noch bedenklicher ſteht es mit
der Schrift, welche uns die ewige Wahrheit deuten ſoll.
Sie iſt ein äußeres Zeichen, als Symbol des Unausdenk-
baren und Ewigen tauſend verſchiedenen Auslegungen un-
terworfen, die Jeder nach dem Stande ſeiner Bildung,
ſeines Eigenſinnes, ſeiner vorgefaßten Meinung macht,
und in dieſe ſubjektive Auffaſſung ſeine eigenen Anſichten
und Meinungen hineinlegt, ſo daß zehn Menſchen über
die nämliche Bibelſtelle verſchiedene Verſtändniſſe und Miß-
verſtändniſſe hegen können ohne Mißbrauch ihrer Freiheit,
ohne vorſätzliche Bosheit. So iſt ſie nur zu oft ein Spie-
gel, in dem jeder Menſch nur ſich ſelbſt, ſeine eigenen
Züge, ſein eigenes Weſen erblickt. Dieſe Erfahrungen,
ſeit Jahrhunderten durch unzählige Thatſachen der Geſchichte
gemacht und beſtätigt, haben in der katholiſchen Kirche
von jeher zur univerſellen Auffaſſung der Offenbarung
und Vermittlung derſelben mit dem ganzen Umfange un-
ſeres irdiſchen Lebens geführt und dadurch das Wort Got-
tes auf der breiteſten Grundlage entwickeln helfen. Da
nämlich das Wort ſo gut als die Schrift nicht die Wahr-
heit ſelbſt, ſondern nur Sinnbilder ſind, um die Lehre
des Heilandes dem Menſchengeiſte zu vermitteln und nahe
zu legen, da ferner Wort und Schrift nach dem Bildungs-
ſtande gewöhnlicher, oft roher Menſchen, nicht einmal die
populärſten Mittel ſind, um das ſinnliche Element mit
ewigen Ideen zu durchdringen, und nothwendig zum rech-
ten Verſtändniſſe einen gewiſſen, leider oft nicht vorhan-
denen Bildungsgrad erfordern, ſo nahm die katholiſche
Kirche keinen Anſtand, nicht bloß dieſe Mittel allein, ſon-
dern alle tauglichen Wege in Anwendung zu bringen, wo-
durch die Seele zur Erkenntniß der ewigen Wahrheit ge-
bracht werden kann. Die Malerei, die Bildhauerkunſt,
die Schnitzkunſt, die Bildnerei durch Guß und Formbil-
5*
dung und die Baukunſt werden zu Hülfe genommen, um
das Ewige nicht bloß einſeitig, ſondern univerſell in die
Seele einzuſenken. Alle dieſe Künſte werden unmittelbar
mit Welt und Leben in Verbindung gebracht, und der un-
ermeßliche Reichthum der Welt und des Lebens ſelbſt be-
nutzt, um dadurch der Lehre unſeres Heilandes die um-
faſſendſte Wirkung auf das menſchliche Gemüth zu ver-
ſchaffen, ſo daß ſich ſelbſt der Blödeſte und Ungebildetſte
derſelben nicht entziehen kann. Dieſem natürlichen Lebens-
triebe der katholiſchen Kirche verdanken wir die runde Vol-
lendung unſeres chriſtlichen Lebens, die Naturwüchſigkeit
der Empfindung, die Klarheit und Anſchaulichkeit der er-
habenſten Wahrheiten der geoffenbarten Religion. Wo die
Einleitung der evangeliſchen Heilslehre in das Leben bloß
auf Wort und Schrift beſchränkt bleibt, wird ſie mehr
oder minder ewig in der Luft ſchweben und mit den Wor-
ten bald dahin, bald dorthin über den Köpfen der meiſten
Menſchen erfolglos tanzen, je nachdem die Winde und Luft-
züge gebieten, weil die wurzelhafte Einſenkung derſelben
in Welt und Zeit nicht beliebt worden iſt.“
Der Katholicismus nimmt Kunſt und Natur zu
Hülfe, um ſeine Wirkungen zu thun, ſeine Abſichten zu
erreichen. Thut er es nicht immer und überall in einer
jedem Geſchmacke zuſagenden Manier, ſo iſt doch durchweg
der Grundſatz, das Princip anzuerkennen. Dabei iſt in
Betrachtung zu ziehen, zu welch’ ödem, geiſtloſem und
ennuyantem Extreme ſich der Gegenſatz häretiſcher Par-
teien in dieſem Punkte fortbewegt hat. Wenn Carlſtadt
in Wittenberg und Zwingli in Zürich Altäre und Bil-
der zertrümmert, ja letzterer die Orgeln zerſtört hatte, ſo
erklärten die Wiedertäufer auch ſelbſt noch die entleerten
Tempel für Götzenhäuſer. Vom Geſange urtheilten ſie un-
gefähr wie Peter v. Bruys, der ihn für eine Anbetung
Satans hielt. Möhler, Symbolik, Mainz und Wien 1838. S. 483. Daran reihen ſich auch die Quäker.
Ihre gottesdienſtlichen Uebungen und Verſammlungen ſind
von der ſubjektivſten und abſtrakteſten Art. In einem
ſchmuckloſen, kahlen, nur mit Bänken angefüllten Saale,
wo kein äußerer Gegenſtand irgend eine Wirkung thun
darf, ſitzen ſie im tiefſten Schweigen, um ſich von aller
irdiſchen Zerſtreuung in ſich ſelbſt zurückzuziehen und
zum Vernehmen innerer himmliſcher Einſprache zu be-
fähigen. Wer ſich endlich nach langem Harren dazu an-
getrieben fühlt, läßt ſich in einer Rede oder einem Ge-
bete vernehmen; es geſchieht auch wohl, daß die Ver-
ſammlung auseinander geht, ohne daß es zu einer ſol-
chen Aeußerung gekommen iſt. Nicht nur Romanenlektüre,
Theaterbeſuch, Tanz und Spiel jeder Art, ſondern auch
Muſik, ſowohl Geſang, als Inſtrumentalmuſik, iſt von
dieſen Leuten verworfen worden. Daſelbſt S. 516 f. 519 ff. „Die Quäker“, ſagt
Thomas Paine, „würden, wenn man ihren Geſchmack
bei der Schöpfung zu Rathe gezogen hätte, die ganze Na-
tur lautlos gemacht und in trübe Farben gekleidet haben.
Nicht eine Blume hätte ihre Farbenpracht entfalten, nicht
ein Vogel ſein Lied ſingen dürfen.“ Das ſind die Con-
ſequenzen dieſer Richtung. „Alle menſchliche Herrlichkeit
iſt Kinderſpott; der Menſch iſt nicht dazu da, Paläſte zu
bauen und ſchöne Bilder zu malen, und Gott hat kein
Wohlgefallen an dem Betrieb irgend einer eitlen, irdiſchen
Kunſt.“ So läßt Jung-Stilling in ſeinen „Scenen
aus dem Geiſterreiche“ einen Engel im Himmel ſprechen.
Ich erinnere mich aus meiner Jugendzeit, wie weh mir
einmal der pietiſtiſche Profeſſor Kanne in Erlangen that,
als er über alle Poeſie den Stab brach. Auch das nega-
tive Moment des Chriſtenthums hat ſeine Wahrheit und
Berechtigung; aber es hat nur ein Moment des Ganzen,
nicht das Ganze ſelbſt zu ſein. So wird es denn auch
vom Katholicismus behandelt. Er treibt, da Alles in ihm
enthalten und vertreten iſt, die Abſtraktion und Negation
theilweiſe noch viel weiter, als irgend eine nichtkatholiſche
Sekte und Partei; aber er ſchließt ſie in ihre Grenzen ein
und breitet ſie nicht zum Nachtheil der Religion und zur
deſtruktiven Abſchwächung ihrer Manifeſtationen und Effekte
über das ganze chriſtliche Leben aus.
B.
Stoa und Chriſtenthum.
Zu II.
Einwürfe, die nicht nur zu erwarten, die von achtungs-
wertheſter Seite bereits in der That gemacht worden ſind,
veranlaſſen uns zu folgenden näheren Erörterungen über
das Verhältniß der ſtoiſchen Philoſophie zum Chriſtenthum.
Bei der am Ende unſeres II. Capitels angeſtellten
Vergleichung der beiderſeitigen Lehre und Denkweiſe war
es nicht unſere Abſicht, die hier eben ſo ſehr auch Statt
findenden großen und weſentlichen Differenzen zu läugnen.
Eine zu weit getriebene Verähnlichung heidniſcher und chriſt-
licher Dinge liegt überhaupt gar nicht in unſerem Inte-
reſſe; die Verwiſchung des Unterſchieds iſt ein eben ſo gro-
ßer Fehler, als die totale Auseinanderreißung; und wir
brauchen, um unſerer Tendenz zu genügen, nicht weiter
zu gehen, als der Apoſtel Paulus, die Kirchenväter und
neuere katholiſche Theologen und Hiſtoriker gethan. Was
die von uns ſelbſt durchaus anerkannte eigenthümliche Na-
tur des Chriſtenthums betrifft, ſo kommt dieſem bei all
den Berührungspunkten, die es mit ſonſtigen Phänomenen
in Geſchichte und Bewußtſein der Menſchheit hat, eine
Bedeutung, Größe, Tiefe und Würde zu, die mit nichts
Anderem in der Welt vergleichbar iſt. Es handelte ſich
und handelt ſich fortwährend bei ihm um noch ganz andere
Dinge, als um die Anſichten und Lehren, die es mit der
Stoa und ſonſtiger Philoſophie und Moral gemein hat und
haben kann. Es iſt dies namentlich die ganz neue Ein-
ſenkung und Einverleibung eines höheren Princips in Menſch
und Welt, wie ſie in Chriſtus geſchehen iſt und in der
von ihm geſtifteten Kirche perennirend zu geſchehen hat.
Durch ihn ſollte eine zwiſchen Welt und Gott entſtandene
furchtbare Kluft getilgt Coloſſ. 1, 19 ff. 2. Corinth. 5, 18 f. Epheſ. 1, 10. Cap. 2, 14., dem Tode ſeine Macht genom-
men, der Anfang zu einem ganz neuen Weltalter und Welt-
prozeß gemacht, der zu einer ganz neuen Art von Exiſtenz
hinüberführende Weg eröffnet, ein Inſtitut in’s Leben ge-
rufen werden, welches den Zweck und Beruf, ſo wie die
aus übermenſchlicher Sphäre ſtammende Kraft hat, dieſes
ungeheuere Werk durch die Jahrtauſende hindurch zu ſei-
nem Alles verwandelnden und verklärenden Ende zu füh-
ren. 1. Corinth. 15, 45 ff. Der erſte Adam war nur „eine lebendige
Seele“, wie hier mit Bezug auf 1. Moſ. 2, 7 geſagt; der zweite aber
iſt „ein belebender Geiſt“; der erſte Menſch war irdiſcher, der zweite iſt
himmliſcher Natur. Es ſind auf dieſe Weiſe zweierlei Schöpfungen un-
terſchieden, wovon die erſte eine noch unvollkommene, auf relativ niedri-
ger Stufe ſtehende war; dieſe Stufe muß überſchritten werden, damit
die zweite, höhere Schöpfung, die aus dem Geiſte, zu Stande komme.
Das iſt der Inhalt und die Bewegung der ganzen Weltgeſchichte und
Paulus der wahrhafte Geſchichtsphiloſoph. Vergl. Galat.
6, 15: „In Chriſto Jeſu iſt weder Beſchneidung Etwas, noch Vorhaut,
ſondern eine neue Schöpfung.“ 2. Corinth. 5, 17: „So Jemand in
Chriſto iſt, ſo iſt er eine neue Schöpfung; das Alte iſt vergangen,
ſiehe, es iſt Alles neu geworden.“ 2. Petr. 3, 13: „Wir war- Das konnte kein Heros und Genius, keine Re-
ligion und Philoſophie der heidniſchen Zeit und Welt, das
konnte nur er, der incarnirte, leidende, ſterbende, aufer-
ſtehende Gott des Chriſtenthums. Vorbereitet und heran-
gereift für dieſe Erſcheinung mußte aber eben ſo gut das
Heidenthum, als das Judenthum, ſein; mußte es um ſo
mehr, da die Stiftung Chriſti, die neue Religion und
Kirche zwar im Judenthume gegründet wurde, ſich aber in
keiner Weiſe auf daſſelbe beſchränken konnte, ſich der
Feindſeligkeit wegen, womit ſie von ihm behandelt wurde,
vielmehr in’s Heidenthum ergießen und da ihr Reich er-
richten mußte.
Zu dieſer Vorbereitung und Reife gehört denn auch
die Philoſophie und Ethik der Stoiker, ſofern ſie ſich der
chriſtlichen Lehre und Denkart nähert, ja mit ihr zum Theil
ſelbſt bis zur formellen Uebereinſtimmung zuſammenfällt.
Hiebei iſt wohl zu merken, daß ſich unter den Stoikern
und ihren Lehren ſelbſt ein bedeutender Unterſchied findet
und nicht Alles, was unter dem Namen der Stoa zuſam-
mengefaßt wird, aus einem Geiſte ſtammt und unter
denſelben Geſichtspunkt fällt. Darum haben wir oben
auch nur die Namen Kleanthes, Epiktetes und
Marcus Aurelius Antoninus genannt. Was man
den Stoikern vorwirft, iſt beſonders „der Hochmuth, der
ihrem Syſteme zu Grunde liege“, in welcher Rückſicht
Döllinger Heidenthum und Judenthum S. 874. eine Reihe von Citaten aus Seneca gibt.
Hören wir indeſſen, wie ſich Tennemann, und wie ſich
Döllinger ſelbſt über Epiktet äußert. „Seine Leh-
ren“, ſagt der Erſtere, „haben weit mehr Einfalt, als die
des Seneca; ſie ſind ganz der Abdruck ſeines Charakters
ten eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in wel-
chen Gerechtigkeit wohnet“; und Offenb. Joh. 21, 6: „Und der
auf dem Throne ſaß, ſprach: Siehe, ich mache Alles neu.“
und Lebens. Sein ganzes Leben ſtand mit den Grund-
ſätzen, die er vortrug, in Harmonie; er wollte das, was
der Menſch nach ſeiner Ueberzeugung ſein ſollte, nicht
ſcheinen, ſondern ſein; in ſeinen Lehren iſt nicht die ge-
ringſte Anwandlung von anmaßendem Stolze, keine Spur
von der Sucht, zu gefallen und zu ſchimmern, bemerklich.
Sein Hauptgrundſatz war: Alles, was die innere Ueber-
zeugung, das Gewiſſen, als gut und böſe vorſtellt, als
ein untrügliches Geſetz zu betrachten, und ſich weder durch
Luſt noch durch Unluſt davon abwendig machen zu laſſen.“ Tennemann’s Geſchichte der Philoſophie V. S. 178.
Noch viel bedeutender iſt, was Döllinger aushebt und
zugeſteht. „Der Anfang der Philoſophie“, ſagt er, „iſt
ihm das Bewußtſein unſerer Schwäche und Ohnmacht.
Um gut zu werden, müſſen wir erſt zu der Einſicht kom-
men, daß wir ſchlecht ſind. Die Philoſophie muß uns vor
Allem vom Dünkel reinigen, der Nichts zu bedürfen wähnt.
Epiktet verweiſt den Menſchen auf Gott; bei ihm ſolle der
Menſch das ihm Mangelnde, die ſittliche Hülfe ſuchen,
und noch nie war eine Moral mit ſo ſtarken
und zahlreichen chriſtlichen Anklängen ent-
wickelt worden.“ Döllinger a. a. O. S. 577. Hier kehrt ſich jedenfalls eine ganz
andere Seite, als die gerügte, heraus und das genügt
vollkommen für unſeren Zweck. Uebrigens haben die Ver-
theidiger der Stoa ſelbſt die ſtolze Höhe, auf welche die-
ſelbe ihren „Weiſen“ ſtellt, mit chriſtlicher und bibliſcher
Idealität in Einklang zu bringen gewagt. In der Vor-
rede zu Hofmann’s Ueberſetzung der Selbſtbetrachtun-
gen des Marc Aurel Hamburg 1755. Fünfte Ausgabe. heißt es: „Es wird für irrig,
ja für gottlos gehalten, daß die Stoiker ihren Weiſen, oder
nach unſerer Sprache, ihren vollkommenen Menſchen, Gott
gleich machen wollen. Will aber nicht Chriſtus ſeine Schü-
ler gleichfalls ſo vollkommen haben, als Gott? Schuf
nicht Gott den erſten Menſchen nach ſeinem Bilde? Und
ſoll nicht der neue Menſch wiederum nach Gott geſchaffen
ſein in wahrhafter Gerechtigkeit und Heiligkeit?“ 3. Moſ. 19, 2. 1. Petr. 1, 15 f. Matth. 5, 48. Coloſſ. 1, 22.
Cap. 3, 9 ff. 2. Corinth. 3, 18. Cap. 7, 1. Epheſ. 1, 4.
1. Theſſal. 5, 23. Daß
ein ſolches Ideal, wie es auch übrigens beſchaffen ſein
mochte, auch auf dieſer Seite hervorgetreten, iſt jedenfalls
als eine bedeutende Thatſache und als ein weſentliches
Moment in der Entwicklung des heidniſchen Bewußtſeins
zu betrachten. Der mit ſich und ſeiner Welt zerfallene
Menſch ſtrebte über ſich und dieſe Welt hinaus nach einem
harmoniſcheren, ſeligeren, würdevolleren Ziel. Er hatte
das Bedürfniß, einen weſentlich höher geſtellten, von dem
ſchmählich laſtenden Drucke der Welt und Zeit befreiten
Menſchen ſich wenigſtens idealiſtiſch vorzuſtellen. Der
ſtoiſche Weiſe war ſomit ein heidniſches, und inſofern frei-
lich nicht weniger differentes, als analoges Seitenſtück zu
dem neuen Menſchen, dem „anderen Adam“ des Chriſten-
thums; er war die höchſte Anſtrengung des Heidenthums,
ſich mit den ihm zu Gebote ſtehenden Mitteln auf einen
über das Menſchliche im untergeordneten und ſchlechten
Sinne des Wortes erhabenen Standpunkt zu verſetzen.
Die Stoiker rühmten ſich jedoch nicht, das Ziel erreicht zu
haben; ſie ſpreizten ſich mit ihrem Ideale nicht perſönlich
auf; ſie geſtanden, daß Niemand zu nennen ſei, in welchem
es ſich realiſirt zeige; nicht einmal z. B. in einem Sokra-
tes, Antiſthenes, Kleanthes, Chryſippus finde es ſich dar-
geſtellt. Je höher die Stufe, auf welche man den idealen
Denker und Ethiker ſtellte, deſto unerreichlicher erſchien dieſes
Muſterbild; je ſtolzer die Idee, um ſo beſchämter und de-
müthiger empfand ſich das ſeine Mangelhaftigkeit damit
vergleichende Individuum. Was den in Beſchreibung des
ſtoiſchen Weiſen, ſeiner Würde und ſeines Glückes aller-
dings ſehr hochfliegenden und überſchwänglichen Seneca
betrifft, ſo erklärt ſich derſelbe doch in Rückſicht auf ſich
ſelbſt mit einer Offenheit und Beſcheidenheit, an der Nichts
auszuſetzen iſt. So ſagt er de vita beata 17: „Ich
bin kein Weiſer, werde auch keiner werden. Meine For-
derung an mich ſelbſt iſt nicht dieſe, daß ich den Trefflich-
ſten gleich, ſondern nur beſſer, als die Schlechten ſei. Es
iſt mir genug, wenn ich täglich von meinen Fehlern Etwas
ablege und mir meine Verirrungen vorwerfe.“ — — —
„Von der Tugend rede ich, nicht von mir; und wenn
ich auf die Laſter ſchelte, ſo ſchelte ich am erſten auf die
meinigen.“ — — — „Nichts ſoll mich hindern, die Tu-
gend anzubeten und ihr von meinem mächtigen Abſtande
aus mit wankendem Schritte nachzugehen.“ Und de
tranquill. an. 7: „Es iſt nicht gemeint, als ob ich dir
zur Regel machte, du ſolleſt dich nur mit einem Weiſen
berühren; denn wo wirſt du den finden, den man ſchon
ſo viele Jahrhunderte ſucht! Für den Beſten muß der
gelten, der am wenigſten ſchlimm.“ Der idealiſtiſchen Ethik
des Stoikers genügt nicht bloße Geſetzlichkeit und äußere
Schuldloſigkeit; wer aber will ſich rühmen, auch den höhe-
ren Anforderungen des Sittengeſetzes vollkommen Genüge
gethan zu haben! So heißt es bei Seneca de ira I. 14:
„Es gibt keinen Menſchen, der ſich frei ſprechen könnte;
und wenn Jemand behauptet, er ſei ohne Schuld, ſo kann
dies nur in Rückſicht auf Zeugen, nicht aber auf ſein
Gewiſſen gelten.“ Und daſelbſt II. 28: „Kein Menſch
iſt ohne Schuld. Du ſprichſt: Ich habe nicht gefehlt; ich
habe Nichts gethan. Nein, du geſtehſt nur Nichts. Wir
nehmen es übel auf, wenn wir durch Mahnung oder Ein-
ſchränkung zurecht gewieſen werden, und fehlen in demſel-
ben Momente, indem wir zu begangenen Sünden noch die
der Anmaßung und des Trotzes hinzufügen. Wer kann
ſagen, er habe nie gegen ein Geſetz gehandelt? Und ge-
ſetzt, du könnteſt es, welch eine allzu beſchränkte
Unſchuld, vor dem Geſetze gut zu ſein! Um
wie viel weiter erſtreckt ſich der Umfang unſe-
rer Pflichten, als die Regel des Rechtes! Wie
Vieles fordert die Frömmigkeit, die Menſchen-
liebe, die Freigebigkeit, die Treue — was Alles
auf den Tafeln der bürgerlichen Geſetze nicht geleſen wird!“
Das iſt eine Sprache, wie ſie aus dem chriſtlichſten Munde
der Welt zu gehen, geeignet wäre. Kann nun aber, ſagt
der Stoiker, unſer Tugendideal nicht erreicht werden, oder
wird es nur höchſt ſelten erreicht, ſo iſt doch darnach zu
ringen; und ſelbſt das bloße Aufſtellen eines ſolchen
Ideals und das hinter ſeinen Forderungen zurückbleibende,
jedoch ernſtliche und redliche Streben iſt Etwas. So heißt
es bei Seneca, de vita beata 20: „Die Philoſophen
leiſten nicht, was ſie vortragen. Aber ſie leiſten doch viel,
indem ſie es ausſprechen, indem ſie ein ſolches Ideal auf-
ſtellen. Die Beſchäftigung mit ſo heilſamen Studien iſt
lobenswerth, wenn es auch am Vollbringen fehlt. Darf
man ſich wundern, wenn die, welche ſich an ſo ſchroffe
Höhen gewagt, nicht bis zum Gipfel kommen? Den Mann,
der Großes verſucht, muß man achten, auch wenn er fällt.“
Was den von den Stoikern aufgeſtellten Grundſatz der
Feindesliebe betrifft, ſo ſagt der treffliche Marc Au-
rel ausdrücklich VII. 22: es zieme ſich für den
Menſchen, auch diejenigen zu lieben, die ihn
beleidigen; VII. 36 führt er den Ausſpruch des An-
tiſthenes an: „Es iſt königlich, Gutes thun
und böſe Nachrede leiden;“ I. 7 ſpricht er von dem
Stoiker Ruſticus, von dem er gelernt habe, ſich jeder
Art von Stolz, Hochmuth und Oſtentation zu enthalten,
ſtets bereit zu ſein, dem Beleidiger zu verge-
ben, und ſtets willfährig, wenn Feinde ver-
ſöhnliche Abſichten zeigten — ganz in Ueberein-
ſtimmung mit den bekannten Lehren des Evangeliums. Vergl. Cicero pro Marcello 3: Animum vincere, iracundiam co-
hibere, victoriam temperare, adversarium nobilitate, ingenio, virtute
praestantem non modo extollere jacentem, sed etiam amplificare
ejus pristinam dignitatem, haec qui faciat, non ego eum cum summis
viris comparo, sed simillimum Deo judico. In Hofmann’s
Ueberſetzung der Selbſtbetrachtungen Marc Aurel’s, Hamburg 1755,
S. 146, wird zu der oben angeführten Stelle bemerkt: „Erkennet ein
Heide, daß es menſchlich ſei, die Feinde zu lieben, ei, was ſchreien denn
die Chriſten wider das Gebot unſeres Heilandes: „Liebet euere Feinde“
u. ſ. w. Aehnliche Bemerkungen ſtehen in Spener’s Predigten
über Arnd’s Bücher vom wahren Chriſtenthum, Frankf. a. M. 1711,
S. 179: „Nächſtenliebe iſt eine Pflicht, die allen Menſchen von Natur
bekannt und in’s Herz geſchrieben iſt, Röm. 2, 14 f. Daher es auch
die Heiden verſtanden haben, und der Kaiſer Alexander Severus
den Spruch Chriſti, Matth. 7, 12 geführt, daß Jeder dem Anderen thun
ſolle, was er ſelbſt von ihm verlange.“ Und S. 187: „Die Tugend
der Feindesliebe findet ſich in einigem Grade auch bei einigen Heiden,
welches zeiget, daß auch die Vernunft ſolcher Tugend Billigkeit und
Würde erkenne. Dadurch diejenigen, die Chriſten heißen wollen und
ſolche nicht allein nicht haben, ſondern für unmöglich halten, beſchämt
werden können.“
Wie geneigt dieſer edle Fürſt geweſen, ſolchen Grundſätzen,
ſelbſt ſeinen ärgſten Feinden gegenüber, praktiſche Folge zu
geben, das beweiſt ſein Benehmen gegen den Aufrührer
Caſſius. „Wer,“ ſagt ein älterer Forſcher In der Vorrede zu Hofmann’s Ueberſetzung des Marc Aurel. von den
Stoikern, „hat je die allgemeine Menſchenliebe eifriger und
höher getrieben, die Güte ohne Wucher, die Gerechtigkeit
ohne Einſchränkung und die Demuth ohne Niederträchtig-
keit beſſer zu üben gelehrt?“ Von den Stoikern der
Kaiſerzeit ſagt Aehnliches auch Döllinger: Heidenthum und Judenthum, S. 729. „Als
Moraliſten ſtanden ſie auf einer hohen Stufe; ihr geiſtiger
Horizont war freier und weiter geworden, der Begriff der
Menſchheit als eines großen, zuſammengehörigen Ganzen
hatte ſich bei ihnen entwickelt; Marc Aurel redet bereits
von einer Weltrepublik, in welcher Römer und
Barbaren, Sklaven und Krüppel Bürgerrecht
hätten und Gleichheit herrſche. Wie die Aerzte
in Zeiten großer Krankheiten ihre beſten Studien machen,
ſo hatten auch die Stoiker in dem allgemein herrſchenden
Sittenverderben ihren moraliſchen Blick geſchärft; ſie waren
ernſte Sittenrichter, ſie wußten mitunter ſehr treffende
Rathſchläge zu ertheilen über die Methode ethiſcher Reini-
gung und Beſſerung. Wie einſchneidend, lebendig, glän-
zend, voll tiefer Kenntniß des menſchlichen Herzens, ſeiner
Schwächen und Tücken iſt Seneca; wie feierlich weh-
müthig und rührend Marcus Aurelius! Wie ver-
traulich und unwiderſtehlich wiſſen Epiktet und ſein
Dollmetſcher Arrian den Leſer für ihre Predigt des Dul-
dens und der Selbſtverläugnung zu gewinnen, und ihn
ſtets wieder darauf zurückzuführen, daß er Nichts leiden-
ſchaftlich begehre und, ſeiner geiſtigen Freiheit immer ein-
gedenk, auf dem Wege der Tugend keiner Furcht Raum
gebe!“ Tennemann Geſchichte der Philoſophie V. S. 180 f. ſagt: „In der anziehendſten
Geſtalt erſcheint der Stoicismus bei dem philoſophiſchen
Kaiſer Antonin, welcher der Menſchheit und der Fürſten-
würde ſo viel Ehre machte. Sein gebildeter Geiſt hatte
das ſtoiſche Syſtem als eine Lehre für das Leben, nicht
für die Schule, mit inniger Lebendigkeit ergriffen, und ſein
wahrhaft menſchlicher Charakter, ſein religiöſer Sinn und
ſeine Humanität gaben dem Ganzen ein eigenes, hervor-
ſtechendes Gepräge. Ohne den weſentlichen Geiſt des
ſtoiſchen Syſtemes aufzuopfern und den ſtrengen moraliſchen
Grundſätzen Etwas zu vergeben, verbindet er damit in der
Anwendung mehr Milde und Toleranz in Beurtheilung
der nicht nach denſelben Grundſätzen lebenden Menſchen,
mehr Nachſicht mit den Fehlenden, mehr Liebe und Ach-
tung für die Menſchheit in jedem Individuum des Men-
ſchengeſchlechts. Die theoretiſchen Behauptungen des Syſte-
mes von einem vernünftigen Geiſte, welcher die Seele des
Weltalls iſt, braucht er nur zur Befeſtigung moraliſcher
Grundſätze und zur Belebung der allgemeinen Menſchen-
liebe. Der Menſch ſoll ſich als das Glied eines Ganzen,
welches von einer höchſt weiſen Intelligenz regiert wird,
ſich mit anderen Menſchen als Kind eines gerechten und
liebevollen Vaters, alle ſeine Schickſale als weiſe Fügungen
des oberſten Geſetzgebers der Natur betrachten und ſeinen
Privatwillen dem unveränderlichen Willen des Einen höchſt
weiſen Weſens unterwerfen. Dieſe religiöſe Anſicht der
Welt und des Menſchen liegt zwar in dem ſtoiſchen Sy-
ſteme überhaupt; ſie iſt aber doch durch die eigene Denkart
Antonin’s mehr hervorgehoben, und hat dadurch etwas
ungemein Herzliches erhalten. Eine Folge davon iſt auch
dieſe, daß er, ſo wie Epiktet, weit weniger dem Selbſt-
morde das Wort redet. Beide verlangen nur eine der
Vernunft angemeſſene ruhige Ergebung in den Willen Got-
tes, eine furchtloſe Erwartung des Todes und ein fleißiges
Andenken an ihn, als moraliſches Uebungs- und Stär-
kungsmittel.“ Selbſt die Terminologie der Stoiker nähert
ſich der chriſtlichen, ſo z. B. was den Ausdruck σαρξ,
caro, Fleiſch, betrifft. Non est summa felicitatis nostrae
in carne ponenda, ſagt Seneca epist. 74. Nunquam
me caro ista compellet ad metum, daſelbſt 65 u. ſ. w.
Dies Alles zuſammen genommen wird man bekennen müſ-
ſen, daß das Heidenthum, daß ſpeciell der Stoicismus,
daß ganz beſonders der in den Antoninen auf dem Throne
der Welt ſitzende philoſophiſche, religiöſe und ſittliche Geiſt
des Alterthums bei Weitem mehr geleiſtet, als uns ohne
ſo beſtimmt vorliegende Zeugniſſe der Literatur und Ge-
ſchichte glaublich ſein würde.
6
C.
Ueber Janus.
Zu II..
Die oben unter II. erörterte Doppelnatur des alten Rö-
merthums ſpricht ſich auch wohl in jener räthſelhaften
Gottheit aus, von welcher Ovid ſagt, daß Griechenland
keine ähnliche habe:
Quem tamen esse deum te dicam Jane biformis?
Nam tibi par nullum Graecia numen habet. Fast. 1, 89.
Dieſer römiſche Doppelgott — Janus biformis, bifrons,
biceps, geminus, ancipiti mirandus imagine Janus Letzterer Ausdruck nach demſelben Dichter Fast.
1, 95. Der vierköpfige Janus war ein fremder Gott, den die
Römer wohl nur ſo nannten, weil er ſie an ihren zweiköpfigen
erinnerte. Serv. ad. Aen. VII. 608: Postea captis Phaleris (al.
Faliscis), civitate Tusciae, inventum est simulacrum Jani cum
frontibus quatuor. Der Name Janus, worüber unten das Nähere,
iſt rein lateiniſch. Vergl. Ottfr. Müller, Etrusker. II. S. 58. —
iſt im Grunde nichts Anderes, als ein Bild, eine Perſo-
nifikation des römiſchen Volkes und Weſens ſelbſt, das,
wie mehrere ſchon oben berührte Spuren lehren, keines-
wegs ohne Bewußtſein über ſeine wunderliche, zweiſeitige
und zweideutige Beſchaffenheit und Beſtimmung geweſen
iſt. Dieſer Ausdeutung entſpricht auch das theils offene,
theils verſchloſſene Heiligthum dieſes Gottes, welcher deß-
halb auch ſelber Patulcius und Clusivius oder Clusius heißt,
und als ſolcher zugleich Kriegs- und Friedensgott iſt, ſich
theils kämpfend und erobernd nach außen, theils myſtiſch-
tief und abgeſchloſſen nach innen kehrt. Der Doppelkopf
iſt gewöhnlich ein auf beiden Seiten männlicher und bär-
tiger, was einer Ausdeutung, wie der auf Sonne und
Mond, nicht günſtig iſt. Derſelbe wird noch jetzt auf
tauſend Bronzen, auf Aſſen und Denaren erblickt. Den
geſchmackvollen, ihrem ganzen Weſen nach weit einheitlicher
und natürlicher beſtimmten Griechen war dieſes römiſche
Monſtrum, das für ſie auch gar keinen Sinn hatte, ein
Anſtoß und Aergerniß; und erſt ſpät entſchloſſen ſich, wie
die Münzkunde lehrt, ſiciliſche und macedoniſche Städte,
es zum Münztypus aufzunehmen. Die Römer wußten am
Ende ſelber nicht mehr, was ſie aus dieſem alten Symbole
und Denkmale einer tiefſinnigen, in ihren Darſtellungen
dunklen und räthſelhaften Vorzeit machen ſollten, das ſich
aber ſehr wohl verſtehen und durchaus befriedigend erklären
läßt, ſo wie man, ohne irgendwie weiter auszugreifen und
anzuknüpfen, ganz einfach bei dem alten, ernſten, in ſich
ſelbſt geſpaltenen, mehr der Zukunft, als der Gegenwart
angehörigen, ſelbſt über die hohe griechiſche Stufe, aber
noch ohne alle Vollendung, Heiterkeit und Ruhe in ſich,
hinausgehenden, in dieſem Bilde rein nur ſich ſelbſt ſpie-
gelnden Römerthume ſtehen bleibt.
Alte Münzen zeigen auf der einen Seite einen Janus-
kopf, auf der anderen ein Schiffsvordertheil und eine
Victoria darauf. Das deutet Fortbewegung und Sieg,
ſiegreichen Fortgang der römiſchen Angelegenheiten an.
6*
Es kommt ſtatt der letzteren Symbole auf der einen Seite
auch ein Delphin vor; Beides, Schiff und Fiſch, bezeichnet
Vordringen und Fortgang. Die Formen Cameses, Ca-
mesenus, Camises, Camise, Camisene, Camasene ſind
Namen eines Bruders, einer Schweſter und Gattin des
Janus, womit ſich das ſicilianiſche Wort καμασινες, κα-
μασηνες, Fiſche, vergleicht. Das ſtimmt mit dem Fiſche
der Münzen zuſammen. Es tritt das Bild des Quellens,
Fließens, Strömens hinzu; ein Sohn des Janus von der
Juturna hieß Fontus, und die Familie der Fonteji
führte auf ihren Münzen den Doppelkopf und ein Schiff.
Juturna war eine italiſche Quellnymphe; aus ihrem Borne
wurde das Waſſer zu allen Opfern nach Rom gebracht,
ſo daß hier zugleich das religiöſe Moment bemerklich, der
Fortgang Fontus als auf heiligem Grunde beruhend dar-
geſtellt iſt. Alſo Schiffen, Schwimmen, Strömen d. h.
Fortbewegung, Fortgang ohne Raſt und Ruhe, ohne Hem-
mung und Aufhalt wird ausgedrückt. Es wird dem Ja-
nus auch eine Venilia beigegeben, das Wort venilia
aber durch unda, quae ad litus venit, die Welle, die an’s
Ufer kommt, erklärt; es wird alſo auch ein Gelangen an’s
Ziel in Ausſicht geſtellt. Iſt hier das Einzelne dunkel
und zweifelhaft, ſo wird es klar und gewiß durch eine
ſolche Zuſammenſtellung, einen ſolchen Zuſammenhang,
und man kann um ſo weniger zweifeln, daß man unter
Janus nichts Anderes als Rom ſelbſt, ſein Weſen, ſeinen
Charakter, ſeine welthiſtoriſche Idee und Beſtimmung,
ſeine Abſichten, Angelegenheiten und Hoffnungen zu ver-
ſtehen habe.
Einige haben gemeint, der Doppelkopf des Janus deute
darauf, daß Letzterer dem Leben der Menſchen in Italien
eine mildere Geſtalt gegeben habe; worin die Wahrheit
liegt, daß er der das Princip der Milde und des Friedens
mit ſich vereinigende römiſche Kriegsgott und Staatsgenius
iſt, das auf ſolche Weiſe humaniſtiſch und idealiſtiſch ver-
edelte und höher geſtellte römiſche Weſen und Streben
bedeutet. Man hat ihn auch auf die Vereinigung der
Sabiner mit den Römern bezogen. Als Titus Tatius
und Romulus Frieden ſchloſſen, da gaben ſie, heißt
es, dem Janus dieſe zwei in einem Bilde vereinten Ge-
ſichter, zum Zeichen, daß nun die zwei kämpfenden Völker-
ſchaften verſöhnt und verbunden ſeien. Servius zum Virgil, Aen. I. 147: Postquam Romulus et T.
Tatius in foedera convenerunt, Jano simulacrum duplicis frontis
effectum est, quasi ad imaginem duorum populorum. Das iſt unſerer
Auffaſſung ebenfalls vollkommen gemäß. Die ganz ſpe-
cielle, genealogiſche und volksthümliche Wurzel Roms in
ſeiner rein weltlichen Natur und Beſtimmtheit war der
latiniſche Stamm; die Sabiner hingegen vertraten den
Römern ſchon im Voraus das religiöſe und ſittliche Mo-
ment, das nachher aus Paläſtina als Chriſtenthum ein-
wanderte und die Seele des in höherem Sinne wiederer-
ſtehenden und auflebenden Römerthums wurde; wie denn
ſchon ihr Name, ſo wie der des ſamnitiſchen Volksſtammes,
zu dem ſie gehörten, mit σεβομαι, σεβαστος, σεμνος ver-
wandt zu ſein und ein heiliges, prieſterliches Volk zu be-
deuten ſcheint. Ein ſabiniſcher Gott hieß Sabus, Sancus, Semo, ſoll auch der erſte
König der Sabiner und Vater des Sabinus geweſen ſein. Sancus,
wobei man an das lat. sancire, sanctus erinnert wird, ſoll in der
Sprache der Sabiner den Himmel bedeutet haben, Ioh. Laur. Lyd.
de mens. spec. 58. Mit Semo kann σαμος, Anhöhe, arab. sema,
hebr. schamaim, Himmel, verglichen werden. Es läßt ſich auch an
die unter den Sueven durch ihre Frömmigkeit und ihren Gottesdienſt
in einem ſehr heiligen Haine ausgezeichneten Semnonen, ſo wie an
den ſich von den übrigen Brutenern durch ſeine ſonderliche Lebensweiſe
und ſeine Andacht in einem heiligen Eichenwald unterſcheidenden Stamm
des Samo denken, vergl. Tacit. Germ. c. 39. Tettau u. Temme, Romulus, der Sohn des Mars, und
der wilde Tullus Hoſtilius waren latiniſchen, der
friedliche, hehre, prieſterliche Numa ſabiniſchen Urſprunges.
Daß der Gründer Rom’s ein Sohn des römiſchen Kriegs-
gottes Mars geweſen ſein ſoll, iſt höchſt bezeichnend für
den kriegeriſchen Charakter dieſes Volkes und Staates;
wie denn auch Rom die Stadt des Mars, urbs Mavortis,
heißt. Virg. Aen. VI. 813. Mit dem dieſem Gotte geweiheten Monate, dem
martiſchen oder März, begann in älteſter Zeit auch das
römiſche Jahr, das nur zehn Monate hatte; daher die
Namen September, October, November, December, noch
jetzt, wiewohl ganz falſch nach jetziger Einrichtung, ſtatt
des neunten bis zwölften, den ſiebenten bis zehnten Monat
bezeichnen. Der unbändige Gott der Schlachten Mavors,
Mamers, Mars Gradivus, „der mit raſchem
Schritte zum Kampf eilende,“ war der natürliche
Volks- und Staatsgenius des urſprünglichen Rom, der
vor Allem gefeiert wurde, und deſſen Feſt daher ganz an
gemeſſen auch an der Spitze des römiſchen Kalenders ſtand.
preußiſche und litthauiſche Volksſagen, Berlin 1837. S. 9 f. Die
Richtung auf ein Höheres, Himmliſches ſcheint hiemit ſchon durch die
Namen dieſer Völker ausgedrückt. Was den moraliſchen Charakter und
Einfluß der Sabiner auf die Römer betrifft, ſo findet ſich eine ſchöne
Schilderung davon in Schloſſer’s Weltgeſchichte III. S. 142 ff.
„Von allen ſamnitiſchen Völkerſchaften haben die Sabiner die alten,
guten Sitten und den einfachen, frommen und gerechten Sinn der frü-
heren Zeit am ſtrengſten und reinſten bewahrt.“ — — — „Von den
Samniten ging eine Art ſtrenger Sittenlehre auf die Römer über und
entwickelte bei dieſen in ihrer früheren Zeit eine beſondere Gattung der
Poeſie. Die alten Samniten, namentlich das wackere Volk der Sabi-
ner, verliehen, als ſie mit den Römern innig vereinigt wurden, dieſen
nicht allein durch ihre unverdorbenen Sitten, ihre moraliſche Feſtigkeit,
ihre Frömmigkeit und Gerechtigkeit Macht und Anſehen unter den
Völkern Italiens; ſie blieben auch den ſpäteren Römern, die zum Theil
ihre Nachkommen waren, Muſter der Einfachheit und Biederkeit, ſo
daß der Name ſabiniſche Tugend ſprüchwörtlich wurde und in den
Werken der römiſchen Dichter nicht ſelten erwähnt wird.“
Ihm pflegten zu dieſer Zeit die ſogenannten Salier oder
Marsprieſter bewaffnet und im Prachtgewande, tanzend
und ſingend, den bekannten Aufzug zu halten. Dann
aber wurde dieſer gewaltſame Gott als ausſchließliches
Symbol des Römerthums und Krone des Feſtkalenders
ſeines Ranges und Anſehens beraubt und der doppelte
Janus, welcher Aeußeres und Inneres, Krieg und Frieden,
Kraft und Milde, Trotz und Demuth zugleich bedeutete
und bezeichnete, an die Stelle geſetzt; daher nun ſein
Monat, der von ihm benannte Januarius, den kalendari-
ſchen Reigen begann. An ſeinem Tage ſah man alle Haus-
thüren mit Lorbeerzweigen und Kränzen geſchmückt; es
wurde von den Conſuln und ſpäter von den Kaiſern ein
feierlicher Feſtzug gehalten; man bekränzte ſein Bild mit
Lorbeer; es ward ihm ein Opfer mit Weihrauch, Wein,
Früchten, Opferkuchen aus Mehl und Honig gebracht; man
beſchenkte und beſuchte einander; die Obrigkeiten legten
den Purpur der Amtskleidung an. In den Feſten des
Mars und Janus ſpiegelte, ehrte, feierte Rom ſich ſelbſt.
Mars war das erſte, urſprüngliche, einfach rohe, Janus
das durch den Zutritt ſabiniſcher Tugend und Frömmig-
keit eine doppelte Natur, Bedeutung und Beſtimmung an-
genommen habende, ſich nicht bloß auf ſich, ſondern zugleich
auf etwas Anderes, Höheres, mehr Künftiges und Ideelles,
als Gegenwärtiges und Wirkliches beziehende Rom. Der
erſte Januar, wiewohl dem Gotte ganz beſonders heilig
und ſehr feſtlich begangen, war doch eigentlich kein Feier-
tag; denn man ſaß zu Gericht, verrichtete ſeine Geſchäfte
und arbeitete, was ſchon Ovid auffallend gefunden hat:
Postea mirabar, cur non sine litibus esset
Prima dies etc. Fast. I. 165.
Das erklärt ſich befriedigend nur aus der Annahme,
daß Janus kein eigentlicher Gott, keine ſelbſtſtändige, reale
Macht, wie der über Rom beſonders wachende, ſich in ihm
welthiſtoriſch manifeſtirende Jupiter, ſondern nur ein Bild,
eine Perſonifikation des römiſchen Weſens, Staates und
Lebens ſelbſt geweſen, welches als kein müßiges, ſondern
als ein ſtets tüchtiges und thätiges dargeſtellt werden mußte.
Rom ſollte die Welt beherrſchen; darum iſt Janus Welt-
herrſcher, hat in ſeiner Hand den Schlüſſel, das alte Zei-
chen der Herrſchaft und Gewalt und heißt Claviger, der
Schlüſſelträger. Vergl. Offenb. Joh. 1, 18. und was Böttiger in ſeiner „Kunſtmy-
thologie“ S. 248 und 258 ff. über jenes Bild bemerkt und in umfaſſend ge-
lehrte Vergleichung zieht. „So viel iſt als erwieſen anzunehmen, daß
der Ausdruck: „„den Schlüſſel haben““ ſchon in der früheſten Vorwelt
als Gewaltzeichen der Herrſchaft im Himmel und auf der Erde allge-
mein gegolten hat.“ — — — „Der Schlüſſel iſt im Begriffe der alten
vorderaſiatiſchen und ägyptiſchen Symbolik das Zeichen der Gewalt über
die Ober- und Unterwelt. So iſt Pluto der κλειδουχος, Schlüſſel-
halter, des Orkus im orphiſchen Hymnus, und ſo geht der Ausdruck
„„Schlüſſelgewalt““ durch die ganze griechiſche Sprache und Mytho-
logie.“ — — — „Ja ſelbſt die dem Petrus übertragene Schlüſſelge-
walt kann in Vergleichung der Stelle der Apokalypſe 1, 18: εγω εχω
τας κλεις του ἁδου, als damals allgemeiner Sprachgebrauch hieher
gezogen werden.“ Schon der Altdorfer Philologe Schwarz hat in
einer Abhandlung von den ſchlüſſelhaltenden Göttern zur Erklärung
der oben angeführten Bibelſtelle, wo dem Heilande die Schlüſſel der
Hölle und des Todes zugeſchrieben werden, alles Hiehergehörige zuſam-
mengeſtellt; ſ. die Schwarziſchen Opuscula, in der Ausgabe von Har-
les 1792. N. III. P. Weſſeling in ſeinen Observationibus.
Spanheim ad Callim. in Cerer. 45. Creuzer, Symbol. 2. Ausg.
S. 883. Dieſer Schlüſſel iſt dann nach dem
bekannten Ausſpruche Chriſti Math. 16, 19: δωσω σοι τας κλεις της βασιλειας ϑεου. auf Petrus und die rö-
miſche Kirche übergegangen.
Wir haben bemerkt, wie der wilde Kriegsgott Mars
um ſeine erſte Stelle im römiſchen Kalender gekommen. Der-
ſelbe wurde zwar nicht abgeſchafft; es blieb ihm ſeine Ehre,
ſein Monat, ſeine Feſtfeier; aber er wurde degradirt, und
das bedeutend. Denn er kam nicht nur um die erſte
Stelle, welche ſtatt ſeiner der doppelte Janus, als das
wahrhaftere Symbol des Römerthums, einnahm, ſondern
auch um die zweite, ſo daß er ſich mit der dritten begnü-
gen mußte. Die Anordnung war nehmlich dieſe, daß
zwiſchen den Monaten des Janus und des Mars ein
Reinigungs- und Sühnmonat, Namens Februarius, von
dem ſabiniſchen Worte februare, reinigen, ſühnen, zu ſte-
hen kam. In dieſen Monat fielen jene merkwürdigen
Chariſtien, ein von der holden Charis benanntes
Feſt, wo der Aelteſte der Familie ſämmtliche Mitglieder
derſelben zu einem Liebes- und Verſöhnungsmahle ver-
ſammelte. Hier ladet ſelbſt der Name zur Vergleichung
mit einem chriſtlichen Gebrauche ein, ſofern Euchariſtie
das h. Abendmahl bezeichnet. Die in dem doppelten Ja-
nus vereinigten Momente wurden in den beiden Monaten,
die auf den ſeinigen folgten, ſinnreich auseinandergelegt;
im Februar trat das religiöſe und ſittliche, im März das
kriegeriſche hervor, ſo daß jenes den Vorrang hatte. Es
gab auch eine Juno Februa, Februalis, Februlis,
Februtis, Februata; und wenn die Monate ſymboliſch
abgebildet wurden, ſo erhielt der Februar allein eine weib-
liche Geſtalt. Eine ſolche Abbildung nach einem alten Calendarium findet ſich in
Graevii thesaur. antiqu. Roman. Tom. VIII. zu fol. 97. Damit mag es zuſammenhängen, wenn der eine
Kopf des Janus, ſtatt, wie gewöhnlich, ein ebenfalls männlicher
und bärtiger zu ſein, als ein weiblicher erſcheint. Dem Prin-
cip des Inſichgehens, der Zurückziehung vom Aeußeren,
des Friedens, der Milde, dem Janus Cluſius, wie man
es ſonſt im Unterſchiede von dem Janus Patulcius
bezeichnete, ward, ganz angemeſſen, dieſe ſanftere und wei-
chere Form gegeben. Janus hieß auch Junonius, ſofern
das in der Juno Februa für ſich angeſchaute und im Fe-
bruar beſonders gefeierte Princip in ihm, als dem Ganzen,
enthalten war, ja das Hauptmoment bildete, dem das an-
dere, wenigſtens theoretiſch und formell nachzuſtehen hatte.
Noch iſt Etwas über den höchſt ſonderbaren Namen
Janus zu ſagen. Das lat. janus bedeutet nehmlich ei-
nen nach beiden Seiten offenen, oben bedeckten Durchgang,
womit in nächſter Verwandtſchaft janua, Thüre, zuſammen-
hängt. In einem ſolchen Durchgang im Forum hatten
die Bankiers ihre Tiſche zu Geldgeſchäften, was janus
medius hieß. Die Formen janus, janua, ſind von eo,
ire gemacht, wie denn ſchon Cicero den Namen Janus
ab eundo herleitet. De nat. Deor. II. 27. Vergl. Buttmann, Mythologus. II. S. 78. 81. Dieſe Gegenſtände haben ihre Be-
nennungen nicht von dem Gotte; letztere ſind offenbar ganz
ſelbſtſtändig formirte Wörter der Sprache, und von janus,
als von einem ſolchen ſchon vorhandenen Worte, war der
Gott benannt — nicht aber als Gott der Durchgänge,
Thore und Thüren überhaupt, ſondern in einem ganz an-
deren, höheren Sinn. Das in ihm perſonificirte Römer-
thum nehmlich ward als ein bloßer Durch- oder Ueber-
gang zu etwas noch weit Höherem und Größerem betrachtet.
Eigentlich ſagte man Janus Quirinus, der heilige Durchgang
oder der Durchgang, Uebergang zum Heiligen, Höheren, Gött-
lichen. Quirinus hieß bekanntlich der vergötterte Romu-
lus; aber auch Männer, wie Auguſtus und Antonius,
wurden ſo genannt. Das Wort hat alſo wohl eigentlich hoch,
hehr, heilig, göttlich bedeutet. In dieſen Zuſammen-
hang möchte auch die Notiz gehören, daß man den Janus
für den Chaos gehalten habe. Das Römerthum ward
als etwas noch Unentwickeltes, Unfertiges betrachtet, das
ſeine Bedeutung, Vollendung und Wahrheit nicht unmittel-
bar in ſich ſelbſt, ſondern in etwas Anderem, Künftigem
habe. Von chaos im Sinne des Anfangs und Grundes von Etwas ſcheint
inchoare gemacht, welches anfangen, begründen, den Grund zu Etwas
legen, bedeutet; inchoatus, angefangen, aber noch unvollendet, unvoll-
kommen, im Gegenſatze zu perfectus; ab inchoato, von Grund aus. Mit ſo deutlichem Gefühle der Unvollkommen-
heit und Befriedigungsloſigkeit im Eigenen und Gegen-
wärtigen erwartete dieſes Alterthum die ihm übrigens noch
ſo ferne und dunkle Erſcheinung des Chriſtenthums und
chriſtlichen Kirchenthums, welchem es ſeine weltliche Stätte
bereiten ſollte, und ſo wunderbar-tief begründet iſt dies
Letztere auch von der ſcheinbar ganz außer Zuſammenhang
mit ihm ſtehenden heidniſchen Seite her.
D.
Ein Blick auf Indien und wieder zurück auf
Griechenland.
Zu IV.
Ich habe es bei den obigen Vergleichungen vermieden,
auf andere religiöſe und mythologiſche Kreiſe, als die der
Griechen und Römer, hinzublicken und auszuſchweifen. Da
ich aber eine klaſſiſche Göttertrias nachzuweiſen und als
eine ſo merkwürdige heidniſche Anticipation der chriſtlichen
Trinitätslehre zu beſtimmen geſucht, ſo erinnert man ſich
leicht an eine längſt bekannte und berühmte Dreiheit der
Art, bei welcher der Vergleich formell weit näher liegt,
als bei der griechiſchen; ich meine den indiſchen Trimur-
tis oder Dreigeſtaltigen, der aus den Göttern Brah-
man, Vishnus und Sivas beſteht, eine förmliche
Dreieinigkeit bildet, und als ſolche durch eine Figur mit
drei Köpfen, wie ſie ſchon in den alten Felſentempeln er-
ſcheint, auch durch die aus drei Buchſtaben beſtehende Sylbe
AUM, womit das Leſen jeder h. Schrift beginnt und ſchließt,
und ſonſt noch auf andere Weiſe ausgedrückt wird. Ich
will dieſe frappante Erſcheinung hier in kurze Betrachtung
ziehen, hauptſächlich um ihr Verhältniß zu jener griechiſchen
Trias zu beleuchten, die zwar nicht ſo unmittelbar auf-
fällt und zur Vergleichung zwingt, vielmehr erſt durch Un-
terſuchungen, wie unſere obigen, herausgebracht wird, bei
genauerer Betrachtung aber eine weit nähere Verwandtſchaft
mit dem chriſtlichen Dogma zeigt, und namentlich, was
die dritte Perſon, den Geiſt, betrifft, unendlich mehr aus
der Barbarei herausgearbeitet iſt.
Voran ſteht Brahman mit Scepter, Ring (Sym-
bol der Ewigkeit) und Vedas, und mit ſeiner Gattin Vach,
der Urvernunft, die ſich mit der Griechiſchen Metis ver-
gleicht. Er heißt der Urvater, Schöpfer, Weltenſchöpfer,
Herr der Weſen und der Götter u. ſ. w. Vishnus,
der Durchdringer, iſt die ſich durch Materie und Natur
hindurchdringende, einen Weg der Verwandlungen vom
Niedrigſten bis zum Höchſten durchmachende Gotteskraft.
Hier treten die bekannten Avatara’s oder Verkörperungen
der Gottheit auf, welche dem Vishnus zufallen und deren
zehn gezählt werden. Eine davon iſt noch zukünftig und
hat den Zweck, die Menſchen von ihrer Sünde zu befreien
und alle Laſter zu tilgen. „Vishnus eigentliches Amt iſt,
Erhalter der Welt zu ſein, und zwar in dem Sinne, daß
er, wenn die Welt durch Bosheit, Ruchloſigkeit und Ty-
rannei in Gefahr kommt, als erhaltende Schutzgottheit zu
ihrer Rettung in allerlei Geſtalten erſcheint und auch die
geringſte nicht verſchmäht, die zum Rettungsmittel dienen
kann.“ Kleuker’s aſiatiſche Abhandlungen I. S. 52. Die katholiſche Theo-
logie hat keinen Anſtand genommen, das dem Chriſtenthum Analoge
dieſer Vorſtellungen anzuerkennen; ſiehe z. B. Möhler’s „Symbolik“
unter der Aufſchrift: „Betrachtung über das Heidenthum“ S. 82 ff.
„Wer“, ſo heißt es hier, „hat jemals die Lehren der Indier von den Nun kommt Sivas, der dritte Gott, und in
dieſem müßte das ſpirituelle Princip, der Geiſt, zu erken-
nen ſein. Seine Farbe auf Bildwerken iſt ſchneeweiß;
das zeigt die Reinheit ſeines Weſens, wie auch Apollon
der Reine, Heilige iſt, und einen ſilbernen Bogen führt,
welches ein Reſt derſelben Farbenſymbolik zu ſein ſcheint.
Uebrigens iſt der hervortretende Charakter dieſer Gottheit
ein ſehr abſtoßender; er iſt der Gott der Zerſtörung, Ver-
nichtung, daher als Feuer bezeichnet; er wird Rudras,
Ugras, der Fürchterliche, genannt; ſeine Attribute ſind
Schlingen, Keule, Bogen, Pfeil und Dolch; auch wird
er mit einer Halskette von Schädeln gebildet. Auf dieſe
Weiſe wird ein grauenhafter Götze daraus, und es wider-
ſtrebt unſerem Gefühle, dergleichen mit der eigenen Reli-
gion und Bildungsſtufe in Beziehung zu ſetzen. Ganz
anders ſpricht uns die herrliche Geſtalt Apollon’s an; auch
iſt derſelbe als jene mächtig und tief eingreifende Quelle
prophetiſcher Begeiſterungen und Begabungen, als jene ſo
beſtimmt ausgeprägte, vom menſchlichen Selbſt unterſchie-
dene und doch in ihm und durch daſſelbe wirkende höhere
Geiſtigkeit der bibliſchen und chriſtlichen Idee des h. Gei-
ſtes entſchieden näher gerückt. Es iſt die verneinende, mit
der unmittelbaren, natürlichen Beſtimmtheit der Welt und
des Menſchen im Streite liegende Eigenſchaft dieſer gött-
lichen Macht, was in dem indiſchen Sivas ſo einſeitig her-
ausgefaßt und ſo barbariſch dargeſtellt iſt. Es iſt jedoch
zu bemerken, daß auch noch der griechiſche Gott zunächſt
ganz vorzüglich dieſe Seite zeigt. Seinem Namen nach,
der von απολλω, απολλυω kommt und auch vom grie-
chiſchen Alterthume ſelbſt ſo verſtanden und abgeleitet
göttlichen Incarnationen kennen gelernt, ohne darin wenigſtens eine
entfernte Sehnſucht nach einer göttlichen Befreiung vom Falle anzu-
erkennen! Eine Sehnſucht, die ſich im ganzen Alterthume findet.“
wurde „O Fürſt Apollon, ſchädige Du die Schuldigen;
Vernichte ſie, ſo wie Du zu vernichten pflegſt!“
ſagt ſehr ausdrucksvoll Archilochos., iſt er der Verderber, Vernichter, inſofern alſo
kein anderer Gott, als jener indiſche. Die finſtere, ſchreck-
liche Seite Apollon’s wird auch von Homer, der ſeine
Götter ſonſt mit parodiſcher Leichtfertigkeit zu behandeln
pflegt, mit auffallendem Ernſte hervorgekehrt. Wie Nacht-
grauen wandelt er her, von der Schulter raſſeln die ſicher
und tödtlich treffenden Pfeile. Er treibt die Troer von
der Zinne der Burg herab mit lautem Schlachtgeſchrei
zum Kampfe an; er ſchreitet ihnen, eine Wolke um die
Schulter und die Ägis in der Hand, als λαοσσοος (Auf-
reger der Kriegsluſt und Kampfbegier im Volke) vor, an
Kriegsgewalt dem Ares gleich, wiewohl hoch erhaben über
deſſen ſtürmiſchen Trotz. Den verderblichſten Gott nennt
ihn Achilles, und ſelbſt wenn er unter den Göttern er-
ſcheint, zittern Alle im Hauſe des Zeus und fahren von
ihren Sitzen empor. Nur Leto freut ſich, daß ſie einen
ſo ſtarken, bogentragenden Gott geboren. Ottfr. Müller, Dorier I. S. 292 f. Ein den The-
banern gehöriges Heiligthum dieſes Gottes, eine dreigipfliche
Höhe, an deren waldigem Abhange ein Apollotempel ſtand,
hieß Ptoon, Schreckenshain, und er ſelber ward hier
als Apollon Ptoos, der Schreckbare, verehrt. Was
die Kunſt betrifft, ſo bildete ſie ihn, bevor ſie ihm die
bekannte ideale Geſtalt verlieh, ſehr roh. Man ſah ihn
mit vier Händen und vier Ohren, recht wie ein indiſches
Monſtrum, gebildet, oder als Säulenpfeiler mit Bogen,
Lanze und Helm, wie zu Amiklä der Fall; einen lanzen-
bewaffneten Apoll weiheten die Megarer nach Delphi; zu
Tenedos erſchien er mit dem Doppelbeil gerüſtet; die Ko-
loſſe des Kanachos von Sikyon hatten eine breite Bruſt,
einen viereckigen Körperbau und faſt ſäulenartige Beine.
Er war auch Wolfgott, Lykeios, worauf die Tragiker
anſpielen, wenn es z. B. bei Äſchylos heißt:
„O König Wolfgott, ſei es für der Feinde Heer!“
Ein Wolf aus Erz mit alten Inſchriften lag bei dem gro-
ßen Altar zu Delphi, und daß ein Wolf in eine Stier-
heerde fällt, veranlaßt die Verehrung des Apollon Lykeios
in Argos, wo man auf dem Markte die Gruppe in Erz
gebildet ſah. Zu Athen war dieſer Wolfgott allgemeiner
Gerichtsvorſtand, daher ſich vor jedem Gerichtshofe die
Statue eines Wolfes befand. Die Argiver führten den
Wolf auch auf Münzen. Hieher gehören auch wohl die hirpi, die auf dem Berge Sorakte bei
Rom dem Apollo dienten; ſie hießen ſo vom ſabiniſchen hirpus, Wolf. Bei Homer nimmt Phöbos
die Geſtalt des taubenwürgenden Habichts an, und
auf einer Bergſpitze bei Epheſus verehrte man ihn als Apol-
lon Gypaieus oder Geiergott. Vergl. Ottfr. Müller, Dorier I. S. 303, 245, 335. So war er ge-
wiß eine der ſchreckhafteſten und furchtbarſten Gottheiten
des Alterthums und in keineswegs holder und heiterer
Form gedacht und vor’s Auge geſtellt. Um ſo merkwür-
diger iſt die Verwandlung und Umgeſtaltung deſſelben durch
Hervorbildung der poſitiven Seite, dieſes Meiſterſtück und
Wunderwerk des helleniſchen Nationalgeiſtes, das gewiß
nicht ohne göttliche Leitung und Kraft, wie ſie ſchon im
Heidenthum wirkte, vollbracht worden iſt. Siehe unten Beilage F. Angedeutet
iſt ſie zwar ſchon bei den Indiern. Sivas iſt der ſchreck-
liche Feuergott; aber von ſeinem Haupte rinnt die heilige
Ganga herab. Zur Schönheit und Grazie, wie in dem
feinſinnigen und hochbegabten Hellas, ward hier im Oriente
nicht fortgegangen. Apollon trug in alten Wandbildern
zu Delos und Delphi die Chariten oder Grazien auf der
Hand, dieſe Symbole der Anmuth und Feſtfreude, die
durch Tanz, Muſik und geſelligen Lebensgenuß in lieblich-
ſter Weiſe das Daſein erheitern. Dahin gehört auch der
Ausſpruch Pindars, Apollon ſei den Menſchen zum freund-
lichſten Gotte beſtimmt. In dieſer Erſcheinungsform
iſt er namentlich der muſikaliſche Gott und treibt durch den
ſanften Zauber der Tonkunſt die Menſchen zu dem Guten
und Rechten an, das er als Orakelgott verkündet und ge-
beut. Beim Bau der Mauern Ilions werden die Steine
dazu durch ſein Saitenſpiel zuſammengeführt. Schon bei
Homer ſpielt er beim Schmauſe der Götter die Phorminx
und unterrichtet Sänger; ſpäterhin wird er Muſaget, Mu-
ſenführer. — Was den apolliniſchen Opfercult betrifft, ſo iſt
auch hier eine Umwandlung in’s völlige Gegentheil zu be-
merken. Ein urſprünglich ſo zorniger und furchtbarer Gott
heiſchte ernſte und düſtere Culte und Beſänftigungsmittel.
Zu Athen wurden an den Thargelien zwei Menſchen zum
Opfer geſchmückt, feierlichſt, wie Opferthiere, vor’s Thor
geführt und dann vom Felſen geſtürzt, zu welchen Sühn-
opfern, φαρμακοι genannt, überwieſene Verbrecher genom-
men wurden. Es gab jedoch in demſelben Cultus auch
andere Opfer und Huldigungen, friedlich und zart und
ſelbſt vom Blute der Thiere frei. Auf Delos ſtand hin-
ter dem Hornaltare der ſogenannte „Altar der Frommen“,
worauf man nur Weizen- und Gerſtenkuchen legte, der
einzige, der Sage nach, auf welchem Pythagoras opferte.
Er war dem Apollon Genetor heilig; da war Apollon
nicht mehr Verderber, Vernichter, Richter, Rächer, Wolf-
gott u. ſ. w.; da hatte er aufgehört, zu negiren und war
Zeuger und Schöpfer im höheren Sinne des Wortes, crea-
tor spiritus nach dem Ausdrucke des Chriſtenthums. Da-
ſelbſt war es auch, wo man an Feſten Malven und Ähren
in die Tempel trug. Zu Delphi weihete man Kuchen und
7
Weihrauch in heiligen Körben, zu Patara Kuchen in Form
von Bogen, Pfeil und Leier, an die doppelte Natur des
Gottes erinnernd, während jedoch die letztere bei einem ſo
harmloſen Opfer entſchieden überwog. An dem attiſchen
Herbſtfeſte der Panepſien pflegte man einen mit Wolle um-
wundenen Oliven- oder Lorbeerſtab, Eireſione genannt, mit
Trauben, Früchten und kleinen Gefäßen voll Honig und
Öl zu behängen und an die Thüre eines Apollotempels
zu tragen. Auch Leierkuchen kamen in der Eireſione vor.
Der Name hängt mit Eirene, Friede zuſammen. Es wurde
auf dieſe Weiſe ausgedrückt, daß der Geiſt mit der Natur
keinen Krieg führe, ſofern ſie durch ihn geweiht und ge-
heiligt und ſo wieder rein, unſchuldig und gottvoll ge-
worden.
War doch auch die von dem Gotte bezwungene Del-
phyne, in der wir die Natur, als Gegenſatz des Geiſtes,
erkannten, nicht ganz verſtoßen und verbannt, da ſie bei
dem Erdſpalt an den Füßen des Dreifußes im innern
Adyton lag. Lukian de astrol. 23. Dahin gehört auch, daß der Delphin,
dieſes muſikaliſche und menſchenfreundliche Thier, als die
gleichſam geiſtig umgewandelte und ſo mit dem Gotte
verſöhnte und befreundete Delphyne oder Delphine
dem Apollon heilig war; daß er ſelbſt die Geſtalt des
Delphins annahm, um ſeine Kreter nach Kriſſa zu füh-
ren, und als Delphinios Tempel und Verehrung hatte.
Der Geiſt iſt an und für ſich kein Ungeheuer, keine
bösartig verneinende Kraft und Macht; denn ſeine Nega-
tivität iſt nur Mittel zum Zweck, ein Uebergangsprincip,
welches verſchwindet, ſowie der Uebergang vollbracht; das
Ziel iſt die abſolute Milde, Schönheit und Seligkeit. Aber
er kann als ein Ungeheuer und Schreckniß der furchtbar-
ſten Art aufgefaßt und dargeſtellt werden, das dann auch
die entſprechenden Opfer empfängt, wie es im Reiche der
Barbarei überall auf eine rückſichts- undnnd ſchonungsloſe, für
gebildetere Völker und Zeitalter oft ganz unbegreifliche
Weiſe zur Erſcheinung kommt. Die fürchterlichſten Götzen
des Heidenthums mit ihren barbariſchen Opferculten ſind
nichts Anderes, als der in ſo rein verneinender Weiſe vor-
geſtellte, verehrte und geltend gemachte Geiſt geweſen. Der
Geiſt iſt die Negation der Natur; er iſt der zweite Schöpfer,
der die erſte, natürliche Schöpfung, als ſolche, aufzuheben
und eine neue daraus zu geſtalten hat, die dem zu reali-
ſirenden göttlichen Ideale entſpricht. Wenn das Bewußt-
ſein hierüber in dem übrigens noch rohen Menſchen auf-
zugehen beginnt, ſo wird der Geiſt nur ganz abſtrakt und
einſeitig, als Feind der Natur und des Lebens, als Zer-
ſtörer und Vernichter gefaßt und ſein Cult iſt dieſer Auf-
faſſung conform, d. h. grauſam und gräuelhaft. Das iſt
aber nicht die Schuld des großen, göttlichen Princips ſelbſt,
ſondern die des ſubjektiven menſchlichen Verhaltens zu ihm,
für welches die poſitive Natur und Tendenz deſſelben eine
noch fremde, dunkle, verſchloſſene Sphäre iſt, und welches
daher bei dem Negativen ſtehen bleibt, wozu es keines
Aufwandes ſchaffender und geſtaltender Kräfte bedarf und
wo man in der einfachſten und unmittelbarſten Weiſe, wie
namentlich durch Tödtung des Lebendigen, zu Werke gehen
kann. Für den Naturmenſchen iſt nur die Natur poſitiv;
der Geiſt iſt ihm nur das verhaßte und gefürchtete Gegen-
theil, oder wenn er denſelben, zu einer höheren Stufe über-
gehend, zum eigenen Principe macht, ihn in ſeine Geſin-
nung aufnimmt, ihm als ſeiner Gottheit zu huldigen und
zu dienen beginnt, ſo entſteht zunächſt nur eine fanatiſche
Feindſchaft gegen das Natürliche, die ebenfalls wieder zu
bekämpfen und zu bewältigen iſt. Erſt dem gebildeten
7*
Menſchen geht auch endlich das beſänftigende und beſeli-
gende Verſtändniß des Poſitiven im Geiſtprincip auf, wel-
ches die Natur nicht bloß verneint, ſondern in ſich erhebt
und auf dieſe Weiſe zugleich auch bewahrt und bejaht; und
in dem Grade, daß der Menſch gebildet iſt, hört der Geiſt
auf, ein Schreckniß und Ungeheuer, ein Sivas und Ly-
keios, ein fürchterlicher Feuer- und Wolfgott zu ſein, und
fängt er an, die holdſelige Geſtalt des Gottes anzunehmen,
der ſich an unblutigen Opfern erfreut, durch ſein liebliches
Saitenſpiel Mauern baut und Sitten bildet und auf der
Hand die Symbole der Anmuth, die Grazien trägt. Die
reine, vollendete Herausbildung dieſer Seite jedoch iſt das
Schwierigſte und Letzte im Reiche menſchlicher Entwick-
lungen, die Krone und der Abſchluß der Cultur, wozu
es nur nach unendlichen Mühen und Kämpfen mit theils
ſinnlichen Rohheiten, theils ſpirituellen Barbarismen kommt,
was denn auch der griechiſche Mythus beſagt, wenn er die
Geburt des ſchönen, helleniſchen Gottes als eine ſo ſehr
erſchwerte und gefährdete beſchreibt. „Mit der Zeit ward Apollon geboren“ ſagt Pindar, auf die vielen Hinder-
niſſe und Verzögerungen deutend, die ſich ſeiner Geburt entgegenſtellten. Die
Mutter Leto irrt in qualvoller Geburtsangſt lange über Erde und Meer,
bis ſie auf die ſteinige Inſel gelangt, welche, wie Pindar ſagt, die
Sterblichen Delos, die Seligen im Olymp aber „das weitberühmte
Geſtirn der dunklen Erde“ nennen. Auch dieſe Inſel ward der
Sage nach erſt von Winden und Wellen unſtät umhergetrieben, bis ſie
feſten Beſtand erlangte. Damit iſt wohl ausgedrückt, daß auch der helle-
niſche Apollocult, wie er ſich in Delos geſtaltete, lange ſchwankte, bis er
zu definitiver Anerkennung und Feſtigkeit gedieh. Die Griechen wa-
ren das Volk, das in dieſer Hinſicht das Höchſte erreicht
hat, was in vorchriſtlicher Zeit und Welt zu erreichen
war — das iſt ihre große Stellung, ihr ewiger Ruhm
und Glanz in der Weltgeſchichte.
E.
Neuteſtamentliche Triaden.
Zu V. und VI.
Es ließe ſich zu den in den genannten Capiteln aufge-
ſtellten Triaden, namentlich was völkerſchaftliche und per-
ſönliche Charaktere und Verhältniſſe betrifft, noch Vieles
hinzufügen; ja es möchte bei tieferer Forſchung wohl ein-
mal eine triadiſche Darſtellung der ganzen Menſchheits-
entwicklung und Weltgeſchichte gelingen. Was ich hier
noch als beſonders merkwürdig und beachtenswerth heraus-
faſſen und erläutern will, ſind einige im neuen Teſtamente
und in der erſten Geſchichte des Chriſtenthums vorkommende
Erſcheinungen der Art.
Man ſehe ſich einmal die Verklärung Chriſti Matth.
17., Marc. 9., Luc. 9. an, wo dieſer mit zwei altteſta-
mentlichen Perſönlichkeiten zuſammen, die dabei erſcheinen,
eine Dreiheit bildet, die nicht ohne ſymboliſche und reprä-
ſentative Bedeutung im Sinne des von uns angedeuteten
triadiſchen Syſtemes zu ſein ſcheint.
Moſes, Elias und Chriſtus ſind zuſammenge-
ſtellt. Der Erſtere als Fürſt, Geſetzgeber, Feldherr, Ver-
trauter Jehova’s, iſt jedenfalls geeignet, das Moment der
erſten, oberſten Einheit, Herrſchaft und Macht zu bezeich-
nen und ſo zu einem menſchlichen Nachbilde und Analogon
des Gottvaters der bezüglichen Religionskreiſe zu dienen.
Elias repräſentirt den prophetiſchen Genius, das Geiſtprin-
cip, wie es ſich in altteſtamentlicher Zeit manifeſtirt hat;
Chriſtus vertritt einfach ſich ſelbſt, den Sohn. Dieſen
dreien nun will Petrus auf dem Verklärungsberge drei
Hütten bauen. Er iſt der apoſtoliſche Repräſentant der
Kirche, die auf ihn gegründet iſt; und ſo könnte damit
wohl angedeutet ſein, daß die Kirche jene drei Principien
in ſich enthalten, bewahren und ausbilden ſolle.
Es ſind übrigens noch zwei andere Apoſtel zugegen;
Chriſtus hatte von ſeinen Jüngern nur Petrus, Jo-
hannes und Jakobus zu ſich genommen; und ſo ha-
ben wir wieder eine Trias, beſtehend aus denſelben aus-
gewählten Jüngern und Apoſteln, von welchen wir Gal.
2, 9. erfahren, daß ſie für Säulen oder Grundpfeiler der
Kirche galten. Es fragt ſich, ob hier nicht dieſelbe Glie-
derung zu entdecken; ob ſie nicht als die ſich in ähnlicher
Weiſe unterſcheidenden Vertreter jener triadiſchen Momente
zu faſſen ſeien. Dieſe drei bilden jedenfalls einen ganz
beſonderen enggezogenen Kreis um ihren Meiſter und Herrn;
erſt in zweiter Reihe kommen die neun Anderen; dann
weiter und in äußerſter Peripherie die Siebenzig und die
Uebrigen. Was auf jenem Berge vorgeht, iſt Myſterium;
die drei allein dürfen es wiſſen und ſollen es vor der Hand
Niemandem mittheilen. Dieſelben werden von Chriſtus auch
bei anderen wichtigen Anläſſen ganz allein zu ſich genom-
men, wie Marc. 5, 37. Luc. 8, 51. Matth. 26, 27.
Marc. 14, 33. Hiebei iſt es nun wohl einleuchtend ge-
nug, weßhalb Petrus und Johannes, dieſe ſo ausgezeich-
net hervortretenden apoſtoliſchen Perſönlichkeiten, der Eine
der Fels, auf welchen Chriſtus ſeine Kirche baut, und dem
er die Schlüſſel des Himmelreichs übergibt; der Andere,
der perſönliche Liebling Chriſti, der Verpfleger ſeiner Mut-
ter und eigenthümliche neuteſtamentliche Schriftſteller, einen
ſo großen Vorzug haben; weniger begreifen wir aber, weß-
halb Jakobus hinzugenommen iſt. Er iſt zwar ein Bru-
der des Johannes und, wie er, ein „Donnerskind“ d. h.
vom größten religiöſen Eifer erfüllt; ein ſpecieller Charak-
ter jedoch wird hiedurch nicht in ihm erkannt. Apoſtelgeſch.
3, 1 ff. erſcheinen Petrus und Johannes zuſammen, vergl.
21, 20. Dieſe Beiden zeigen ſich als ſehr verſchiedene
Naturen; jeder von ihnen iſt bedeutſam und wichtig in
ſeiner Art, ſo daß man wohl die Repräſentanten zweier
triadiſcher Elemente in ihnen ahnen und ſuchen kann, wo-
zu aber durch Jakobus kein drittes, ergänzendes hinzu-
kommt. Dieſer tritt auch bald vom Schauplatz ab; er
wird Apoſtelgeſch. 12, 2 hingerichtet und es wird an ſei-
ner Statt kein neuer Apoſtel gewählt. Ein ſolcher aber
und zwar einer der größten und wichtigſten Art tritt durch
Paulus hinzu, durch den ſich in Wahrheit die durch die
Idee geforderte Triade geſtaltet. Es hat ſomit den An-
ſchein, als ob Jakobus, bei überhaupt würdigem, aber
nicht in beſonderer Weiſe beſtimmtem Charakter, die dar-
zuſtellende Trias nur erſt formell auszufüllen gehabt, weil
das wahrhafte, eigenthümlich beſchaffene Dritte noch nicht
vorhanden war. Bezeichnen wir die drei Momente der
Idee als Vater, Sohn und Geiſt oder ethnologiſch
als römiſches, chriſtlich-jüdiſches und griechi-
ſches Princip, ſo ſind in dem Apoſtelfürſten Petrus,
auf den ſich die römiſche Kirche zurückführt und in dem
mit Chriſtus ſo innig verbundenen, ihn ſo hoch faſſenden,
und ſo gewichtvoll auch mit der Pflege ſeiner Mutter be-
trauten Johannes, leicht die den beiden erſten dieſer
Momente entſprechenden Perſönlichkeiten zu erkennen. Das
dritte ſtellt ſich in jeder Beziehung in dem nicht nur von
flammendem Eifer getriebenen, ſondern auch gebildeten
und geiſtreichen, nicht nur jüdiſch-gelehrten, ſondern auch
mit griechiſcher Literatur bekannten Paulus heraus.
F.
Bibliſche und kirchliche Rechtfertigungsgründe in Be-
ziehung auf die dieſer Schrift eigene Auffaſſung
des Heidenthums.
Für Diejenigen, welche glauben ſollten, man thue dem
Heidenthume zu viel Ehre an, wenn man ſo viele poſitive
Beziehungen zu bibliſchen, chriſtlichen und kirchlichen Din-
gen darin finde, wie hier geſchehen iſt, ſei ſchließlich noch
Folgendes bemerkt.
Durch die von uns dem Heidenthum, namentlich dem
den Culminationspunkt ſeines Culturprozeſſes bildenden
Griechen- und Römerthum, zuerkannte Stellung und Be-
deutung wird das Chriſtenthum nebſt ſeiner altteſtament-
lichen Grundlage und kirchlichen Fortbildung ſo wenig de-
gradirt und in Schatten geſtellt, daß dadurch im Gegen-
theil erſt ſeine ganze Würde und Hoheit vor Augen tritt,
indem ſich ergibt, wie die Größe und Herrlichkeit der edel-
ſten und berühmteſten Nationen des Alterthums nur dazu
beſtimmt war und gedient hat, eine Vorſtufe und Vorbe-
reitung deſſelben auf Seiten des Heidenthums zu ſein.
Das Römerthum hatte die Aufgabe, der Kirche, die an
ſeine Stelle treten ſollte, einen irdiſchen und weltlichen
Grund und Boden zu bereiten, worüber auch ein von uns
nachgewieſenes myſtiſches Bewußtſein in ihm ſelbſt exiſtirte.
Das Griechenthum hatte keine ſo unmittelbare und prak-
tiſche Beziehung zum Chriſtenthum; deſto näher aber ſtand
es ihm in ideeller Beziehung; es erzeugte aus ſich auf
mythologiſchem und poetiſchem Wege ein ChriſtenthumEhriſtenthum der
Idee, wie namentlich in ſeinem bewundernswürdigen He-
raklesmythus, enthielt auch ſchon eine Art von Trinität,
die, insbeſondere was die Darſtellung des Geiſtes betrifft,
der augenſcheinlichſten Analogien und merkwürdigſten Züge
voll. Aber es fehlte das Chriſtenthum der thatſächlichen
Wahrheit und Wirklichkeit, wie es erſt in und durch Chri-
ſtus, als dem nicht bloß mythologiſch und poetiſch vorge-
ſtellten, ſondern wahrhaften Gottmenſchen und Heiland, er-
ſchienen iſt. Auf dieſes reale Chriſtenthum als ſolches,
weiſt und führt direkt und ausdrücklich der meſſianiſche
Prophetismus des alten Teſtaments hin; und das iſt der
charakteriſtiſche Unterſchied deſſelben von dem ſinnreichen Phan-
taſieſpiele des Griechenthums, das hiebei ſtehen bleibt und
nicht, wie das prophetiſche Judenthum, über ſich hinaus auf
das Zukünftige geht.
Die Sache ſtellt ſich alſo in der Kürze ſo. Das Hei-
denthum producirt die mythologiſch ausgeprägte und poe-
tiſch gehandhabte Idee und begnügt ſich damit; der alt-
teſtamentliche Prophetismus will und verkündet die Wirk-
lichkeit, die kommen ſoll, deren die Welt bedarf und deren
Mangel von ihm ſo ſchmerzlich empfunden wird, und Chri-
ſtus endlich iſt dieſe Wirklichkeit. Auf dieſe Weiſe wird
man ſich die Sache wohl immer gefallen laſſen dürfen.
Daß aber die Heiden in der That nicht ſo ganz ohne
Licht und Gott geweſen, wie eine Anſicht will, die billig
als veraltet gilt, läßt ſich auch aus bibliſchen Schriftſtel-
lern und Kirchenvätern beweiſen. So ſagt der Apoſtel
Paulus Röm. 1, 19: „Die Erkenntniß Gottes iſt un-
ter den Menſchen offenbar; denn Gott offenbarte ſich ihnen,
da ſeine anſchaulichen Eigenſchaften ſeit der Weltſchöpfung
in ſeinen Werken durch Nachdenken erkannt werden; es
gibt ſich ihnen ſeine ewige Macht und Göttlichkeit kund,
ſo daß ſie keine Entſchuldigung haben.“ Noch merkwür-
diger iſt, was er in der Apoſtelgeſchichte 17, 27 f. den
Athenienſern vorträgt, indem er nicht nur eine alle Men-
ſchen betreffende, wenn auch aus ſubjektiven Gründen un-
erkannte und undeutliche Nähe des Göttlichen und eine
weſentliche, ſchon im Urſprunge des Menſchen begründete
Beziehung deſſelben zu Gott ausſpricht, ſondern dabei auch
auf heidniſche Autoren hinweiſ’t, welche daſſelbe geäußert.
„. . . . . Die Menſchen ſollten Gott ſuchen, ob ſie ihn
etwa taſtend fühlten und fänden, wiewohl er nicht ferne
von einem Jeden unter uns, denn in ihm leben, weben
und ſind wir; wie auch einige von eueren Dichtern geſagt
haben: Denn deſſen Geſchlecht auch ſind wir.“ Im Jo-
hanneiſchen Evangelium 1, 1 ff. iſt von dem göttlichen Lo-
gos, als einem in der Welt vorhandenen, ſich allgemein
darbietenden geiſtigen Lichte die Rede, das der Menſch fähig
ſei, in ſich aufzunehmen, wenn es auch nicht von Allen
wirklich aufgenommen werde. „In dem Logos war das
Leben und das Leben war das Licht der Menſchen.“ —
„Er iſt das wahre Licht, welches jeglichen Menſchen er-
leuchtet, der in die Welt kommt“, welche Stelle ſo oft
angeführt und benützt worden iſt und unter Anderem auch
eine ſo große Bedeutung in der Lehre der Quäker von dem
„inneren Lichte“ erhalten hat. Barclaii apolog. theolog. christ. London 1729. S. 126. Hic lo-
cus nobis ita favet, ut a quibusdam Quakerorum textus nun- Ebendaſelbſt 5, 17 ſagt
Chriſtus: „Mein Vater wirket bis jetzo und ſo wirke auch
ich.“ Nach dem alexandriniſchen Clemens war es der
nachher menſchgewordene Logos, der von Anfang der Welt
an gute Menſchen theils durch die Propheten, theils durch
die griechiſche Philoſophie, theils durch andere Anſtalten
zur Erkenntniß der Wahrheit und zur Ausübung der Tu-
gend geleitet hat. Wir tragen nach Clemens das Eben-
bild des Logos in uns: του Θεου τα λογικα πλασματα
ἡμεις; und tief eingeſenkt in unſer Weſen beſteht von An-
fang her zwiſchen Gott und uns ein gewiſſer magiſcher
Zuſammenhang, der Beide zu einanderzieht: το φιλτρον
ενδον εστιν εν τῳ ανϑρωπῳ, τουϑ̕ ὁπερ εμφυσμα
λεγεται Θεου. Und ſo haben alle Menſchen Funken des
Göttlichen, einen Ausfluß des göttlichen Lichtes in ſich,
eine Weſensbeſtimmung, die ſich nie ganz verläugnen läßt
und in Folge deren der Menſch bei aller Geſunkenheit
ſelbſt ohne klares Bewußtſein wieder zu Gott und Wahr-
heit hingetrieben wird. Clemens erkennt auch im gefalle-
nen Menſchen noch die Anlage und Empfänglichkeit für
das Wahre und Gute an, die nur des Unterrichtes warte,
um ſich ſelbſtthätig dafür zu entſcheiden. Was die grie-
chiſche Philoſophie betrifft, ſo glaubt er, ſie ſei in ihrer
Art eben ſo ſehr eine Vorbereitung auf Chriſtus geweſen,
als das moſaiſche Geſetz. Durch den Ausſpruch 1. Cor.
1, 22: „Die Juden begehren Zeichen, die Griechen verlan-
gen Weisheit“, ſieht er ſich veranlaßt, die Heiden ſelig zu
preiſen, die nicht geſehen und dennoch geglaubt. Er ver-
gleicht das Judenthum ſehr geiſtreich und merkwürdig mit
Hagar, welche geboren habe, aber ausgeſtoßen worden ſei;
die Philoſophie mit Sara, welche lange unfruchtbar ge-
cupetur. Luculenter enim nostram propositionem demonstrat, ut vix
consequentia vel deductione egeat.
blieben, dann aber dennoch den Sohn des Hauſes zur Welt
gebracht, indem auch jene ſterile Weisheit endlich empfan-
gen und Kinder der Verheißung geboren habe.
Aehnliche Erklärungen finden ſich auch bei Auguſtin
und Juſtinus Martyr. Der Letztere ſagt: „Was die
Weiſen und Geſetzgeber des Alterthums jemals Wahres,
Schönes, Rechtes gelehrt und geboten haben, das ſchöpf-
ten ſie aus derſelben Weisheit, welche jedem Menſchen
leuchtet und ſpricht, der in die Welt kommt“ u. ſ. w.
Der Keim der Vernünftigkeit, die vernünftige Anlage iſt
nach Juſtinus von dem Logos, als der göttlichen Ver-
nunft, allen Seelen eingepflanzt worden, und dadurch,
folgert er, iſt unter Anregung von außen eine gewiſſe
Gotteserkenntniß auch im Heidenthume möglich geweſen.
Er trägt kein Bedenken, diejenigen, welche jene Anlagen
dankbar entwickelten und benützten, für Verehrer des Lo-
gos und darum auch für Chriſten zu erklären, wie ei-
nen Heraklit und Sokrates.Vergl. Clem. Alex. Paedag. I. 5. Cohort. c. 6. Strom. I. 5.
Juſtin. Mart. Apol. I. 46. II. 10. Münſcher, Dogmengeſchichte,
Marburg 1848, II. S. 221. III. S. 255. Möhler, Patrologie,
Regensburg 1840. I. S. 219 f. Mit den dogmati-
ſchen Beſtimmungen der Reformatoren des 16. Jahrhun-
derts und der proteſtantiſchen Orthodoxie, welche den ge-
fallenen Menſchen ganz in den Abgrund der Finſterniß
und Bosheit verſinken läßt und ihm die Fähigkeit, das
Göttliche und Gute zu erkennen und zu wollen, mit der
Wurzel ausreißt, reimt ſich eine ſolche Anſicht vom Hei-
denthum allerdings nicht; jene Beſtimmungen ſind aber
nicht nur unkatholiſch, ſondern auch im evidenteſten Wi-
derſpruche mit der h. Schrift, und wenn das Menſchliche
vor dem Eintritte der chriſtlichen Erlöſung und Wiederge-
burt ſo abſolut verfinſtert und verderbt, ſo völlig diabo-
liſirt ſein ſoll, ſo iſt es auch gar nicht zu faſſen, wie die
Heiden, ja die Menſchen überhaupt, im Stande geweſen,
das chriſtliche Heil in ſich aufzunehmen.„Der Menſch, der alle Verwandtſchaft und alles Ebenbildliche mit Gott
verloren hätte, wäre nicht einmal mehr fähig, Gottes Einwirkung zur
Vollziehung der Wiedergeburt aufzunehmen, da die göttliche Thätigkeit
ſo wenig Anklang mehr finden würde, als in einem vernunftloſen
Thiere.“ Möhler, Symbolik, Mainz und Wien, 1838 S. 108. Nur
die Annahme einer abſoluten inneren Neuſchöpfung kann dieſe Einwen-
dung beſeitigen, womit aber die Identität der Perſon verloren geht. Bekannt iſt
Göthe’s Ausſpruch, der auch hieher gezogen werden kann.
„Wär’ nicht das Auge ſonnenhaft,
Die Sonne könnt’ es nicht erblicken!
Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken!“
Vom Standpunkte des Katholicismus aus erfreut ſich
die natürliche und außerchriſtliche Vernunft und Sittlich-
keit einer weit größeren Anerkennung. Wenn die refor-
matoriſche Orthodoxie nicht nur die Vernunft, ſondern auch
das Wort Gottes, an welches ſie ſich ſo vorzugsweiſe zu
halten vorgibt und welches hier ſo deutlich ſpricht, für
Nichts achtet, um auch die letzte Spur des Guten im Geiſt
und Herzen des Menſchen zu vertilgen, ſo ſteht dagegen
der Katholicismus ganz auf dem Standpunkte der Bibel
und des älteſten Kirchenthums, und hat daher auch ein
weit anerkennenderes Verhältniß zu den dem Chriſtenthum
analogen Erſcheinungen im Heidenthum. Wir haben ſchon
oben gelegentlich auf ein bekanntes katholiſches Buch, auf
Möhler’s „Symbolik“ verwieſen, wo uns eine in dieſem
Sinne gehaltene Betrachtung über das Heidenthum begeg-
net, wo auf Chineſen, Perſer, Indier hingewieſen und
die indiſche Incarnationslehre in eine wenigſtens entfernte
Beziehung zum Chriſtenthume geſetzt wird. Möhler lobt
auch die Quäker ihrer univerſelleren Anſicht über das Hei-
denthum wegen, wiewohl er ihnen den Vorwurf macht,
daß ſie den charakteriſtiſchen Unterſchied zwiſchen den chriſt-
lichen und unchriſtlichen Zeiten verwiſchten. „Die Art“,
ſagt er, „wie die Quäker die beſſeren vorchriſtlichen Er-
ſcheinungen auf dem Gebiete der Sittlichkeit und Religion
betrachten, verräth ein ſehr zartes Gefühl.“ Und ebenſo
weiterhin: „Die Anſicht der Quäker von dem Verhältniſſe
der Heiden zu Gott iſt allerdings weit zarter, als die lu-
theriſche und reformirte; es liegt ihr eine unbefangenere
und reinere Wahrnehmung der Erſcheinungen in der nicht-
chriſtlichen Welt zu Grunde.“ Ferner wird berichtet: „Die
Quäker laſſen auf eine ſehr merkwürdige Weiſe gleich nach
Adams Fall die erlöſende Thätigkeit eintreten. Gott ver-
heißt nicht bloß einen künftigen Erretter, er lenkt nicht
nur die allgemeinen und beſonderen Schickſale der Völker
und Menſchen, um ſie auf den großen Tag des menſchge-
wordenen Gottes vorzubereiten; er begnügt ſich auch nicht,
unter allen Völkern weiſe Männer, Lehrer ihrer Zeitge-
noſſen in Wort und That, große Geſetzgeber und Regen-
ten zu erwecken. Von dem Logos, der in der Mitte der
Geſchichte perſönlich erſcheint, geht durch alle Zeiten hin-
durch ein ſchöpferiſches Lebensprincip, wie vom Mittelpunkt
eines Kreiſes nach allen Theilen der Peripherie Strahlen
ausgeſandt werden. Der Geiſteshauch Chriſti geht vor-
und rückwärts und läßt Nichts unberührt. Von dem „in-
neren Lichte“, der Quäker, dieſem von Chriſtus ausgehen-
den, durch alle Dimenſionen des Raumes und der Zeit
waltenden Lebensprincip, um welches ſich Alles dreht, was
ſie ſinnen und denken, und auf welches Alles fromm und
ehrfurchtsvoll bezogen wird, zeugen, wie ſie annehmen,
auch die alten Philoſophen und Lehrer der Völker; es zeu-
gen von ihm alle höheren Beſtrebungen, die ſich in der
Weltgeſchichte finden.Möhler, Symbolik S. 496. 522. 554.
Auch aus Möhler’s Patrologie ſind Stellen zu ci-
tiren. So wenn von Juſtin, dem Märtyrer, gerühmt
wird, daß er die beſſeren Erſcheinungen im Heidenthume
nicht mißkannte, auch in dieſen eine gewiſſe Gotteserkennt-
niß für möglich hielt und diejenigen, welche eine ſolche
ausgebildet, ſogar für Chriſten erklärte. „Dieſes unbe-
fangen und frei ausgeſprochen zu haben“, heißt es, „muß
bei dem ſchroffen Gegenſatze der damaligen chriſtlichen Welt
zu der heidniſchen als ein ſehr großes Verdienſt bezeichnet
werden; denn man war nur zu ſehr geneigt, alles Nicht-
chriſtliche und vom auserwählten Volke der Juden nicht
Stammende als Sünde abzuweiſen u. ſ. w.Möhler, Patrologie I. S. 219 f. Man wird
ferner bei Dieringer unter dem Titel: „Die göttliche
Zubereitung für die Erlöſung“S. deſſen Lehrbuch der katholiſchen Dogmatik. Mainz 1847. S. 322. Alles bemerkt finden,
was zu unſerer Rechtfertigung nöthig zu ſein ſcheint. Es
wird daſelbſt auf den Grund der Offenbarung hin im All-
gemeinen ſo viel beſtimmt, daß Gott nicht unterlaſſen habe,
auch die heidniſchen Völker auf die Ankunft und Wirk-
ſamkeit des Erlöſers vorzubereiten. Es heißt namentlich
S. 324: „Der göttliche Logos, wie er die äußeren Offen-
barungen des alten Bundes vermittelte, hat auch die übri-
gen Völker auf ſeine Ankunft im Fleiſche vorbereitet. Dieſe
von der Schrift angedeutete und in der kirchlichen Litera-
tur ſo oft vorgetragene Wahrheit gründet ſich auf die
fortwährende univerſelle Wirkſamkeit des Sohnes. Daher
behauptet auch der h. Hilarius mit Recht, das Heil
der heidniſchen Völkerſchaften habe ſchon in den Zeiten des
Geſetzes angehoben; denn der Erſtgeborene des Vaters habe
nicht nur Iſrael, ſondern auch die Geſammtheit der Völker
der Leitung ſeiner Engel unterworfen.“Hilar. Tract. in Pſ. LXVII. No. 27. II. No. 31. Vergl. daſelbſt
S. 310 f.: „Die Offenbarungsurkunden pflegen die Sen-
dung des Erlöſers im Zuſammenhange mit dem ſchon
Dageweſenen, von Gott ſelbſt Veranſtalteten darzuſtellen;
es fehlt auch nicht an Hinweiſungen, daß die propädeutiſche
Wirkſamkeit Gottes ſich nicht auf den engen Kreis des
jüdiſchen Volkes eingeſchloſſen habe, ſo daß diejenigen Vä-
ter, welche eine univerſelle Wirkſamkeit des göttlichen Logos
vor dem Zeitpunkte der Incarnation und zwar zum Be-
hufe der Vorbereitung auf die Fülle der Zeiten behauptenHier iſt eine Reihe von Citaten angebracht.,
jedenfalls den Geiſt der Offenbarung auf ihrer Seite ha-
ben; nicht zu gedenken, daß die Vorſtellung, die Zeit von
Adam bis Chriſtus ſei als die Periode der durch Gott vor-
bereiteten Erlöſung zu betrachten, als die Ueberzeugung
der Kirche ſelbſt anzuſehen iſt.“ Hören wir weiter, wie ſich
Laſaulx in ſeiner Abhandlung „über das Studium der
griechiſchen und römiſchen Alterthümer“ erklärt: „Selbſt
in der Religion iſt zwiſchen der griechiſch-römiſchen und
der jüdiſch-chriſtlichen ein viel tieferer Zuſammenhang, als
gewöhnlich angenommen wird. Es ſind, wie es ſcheint,
dieſelben der menſchlichen Natur eingeborenen Ideen, die
allen Religionen zu Grunde liegen und klarer oder trüber,
offener oder verhüllter, überall hervortreten. Nicht bloß
das Judenthum, auch das Heidenthum bildete
eine Vorſtufe des Chriſtenthums. Weit entfernt,
daß der religiöſe Cultus des griechiſchen und römiſchen
Alterthums in keinem Zuſammenhange mit unſerem Cul-
tus ſtände, bietet gerade er die intereſſanteſten Parallelen
8
für jeden denkenden Menſchen dar; denn unzählige Ge-
bräuche unſerer Religion ſind uns hiſtoriſch aus jener über-
kommen. Der Cultus der Griechen und Römer
enthält, wie ihre ganze Bildung, mehr ächt
und urſprünglich Menſchliches, als irgend ein
anderer volksthümlicher Gottesdienſt. Das
Chriſtenthum wollte von Anfang an als Weltkirche nicht
bloß die Juden, ſondern alle Völker umfaſſen; von den
Juden verworfen, wandte es ſich vorzugsweiſe zu den Hei-
den und wählte zu ſeinem Centrum Rom. Es nahm
darum auch keinen Anſtand, ſich alles ächt Menſch-
liche aller Völker zu aſſimiliren, was es um ſo leich-
ter durfte, als die Schrift ausdrücklich behauptet, daß der
mit ſeiner Lehre identiſche Stifter des Chriſtenthums ſo
alt, ja älter als die Welt, ſei, und, vorhergeſehen im Plane
der göttlichen Providenz, aller menſchlichen Entwicklung
von der Welt her zu Grunde liege. Und in der That,
wenn der Logos ſeit Grundlegung der Welt der Vermittler
zwiſchen Gott und Welt und der Menſch nach ſeinem
Bilde geſchaffen iſt, ſo iſt alles rein Menſch-
liche, als ſolches, auch chriſtlich, und die Kirche
hat, indem ſie ſich daſſelbe angeeignet, nur ihr Eigenthum,
nur die unter die Völker vertheilte, ihr gehörige Wahrheit an
ſich gezogen.“ Aus ſolchen Ausſprüchen mögen die mit ſo
großen Vorurtheilen gegen den Katholicismus erfüllten
Proteſtanten erkennen, was in ihm vorgeht, und in wie
mächtigem Vorſchreiten derſelbe begriffen iſt. Auch Prof.
Sepp zu München iſt in dieſe Reihe von Autoren zu
ſtellen. Derſelbe hat ein Werk geſchrieben unter dem Titel:
„Das Heidenthum und deſſen Bedeutung für das Chriſten-
thum,“ Regensburg 1853, und mit dem Motto von De
Maiſtre: „Wer wird uns die Mythologie von der
Seite erklären, daß in ihr alle chriſtlichen Wahrheiten
vorbildlich erfüllt erſcheinen?“ Ich faſſe aus der Einlei-
tung dieſes Buches folgende Stellen heraus. Es werden
Aeußerungen und Verfahrungsweiſen von Chriſtus, Pe-
trus und Paulus angeführt und dann bemerkt: „Dies
mag uns die Augen öffnen, daß die Naturreligion und
Myſterienlehre der Heiden doch nicht ſo gänzlich diaboliſch
war, ſondern vielmehr reine Elemente ſymboliſcher Wahr-
heit in ſich trug.“ S. 7. „Die Mythologien der Völker
ſind wirkliche Religionsſyſteme, wenn auch nicht rein wahre.
Andererſeits war aber auch der Moſaismus mit ſeinen
Blutopfern und ſeinem Ceremoniendienſt zu keiner Zeit
die vollendete Wahrheit, ſondern nur eine vorbildliche Re-
ligion.“ S. 8 f. „Das Chriſtenthum knüpfte zuerſt an
die moſaiſche Offenbarung an; aber auch im Heidenthume
haben ſich zerſtreute Funken der göttlichen Wahrheit erhal-
ten, welche Zeugniß von dem wahren Lichte geben, das
von Anfang an in die Geſchichte geſchienen hat und in
der Fülle der Zeiten vollends offenbar werden ſollte zur
Erleuchtung der Völker.“ S. 10. „Chriſtus iſt der Er-
löſer von Anbeginn, nicht bloß der Juden; er iſt der Hei-
land der Welt.“ S. 10. „Den Juden war ſogar geboten,
die Götter nicht zu läſtern, und daß ſie 2. Moſ. 22,
28. wirklich in dem Sinne verſtanden, zeigt die Paraphraſe
des Philo und Joſ. Flavius: Ein fremdes Weſen,
welches für göttlich gehalten wird, ſollſt du nicht verächt-
lich behandeln.“ S. 11. „Das Heidenthum ſteht in einer
durchgreifenden Analogie zum Chriſtenthum und war nichts
weniger als gottlos. Man höre Bekenntniſſe, wie die von
Horat. Carm. II. 6., Valer. Maximus I. 8., Plu-
tarch Marcell. 4. 5., und erſtaune über die Gläubigkeit
der alten Welt! Das eigentliche Heidenthum
ſteht dem Chriſtenthum unendlich näher, als
der moderne Proteſtantismus und der abge-
8*
ſtandene Katholicismus; denn dort war wohl Vie-
les verfehlt und mißverſtanden, bei der jetzt dominirenden
Freigeiſterei und anmaßlichen Aufklärung aber iſt die
Grundlage falſch. Den Heiden war es mit ihrer Religion
heiliger Ernſt; ſie zerſtörten nicht die Fundamente der
Glaubens- und Sittenlehre, ſondern entſtellten nur die
Wahrheit und geriethen auf dieſe Weiſe in Irrthümer;
unſere Zeit iſt an ſich gottlos.“ S. 13Daß ihr euch Heiden nennet, hör’ ich ſagen.
Wißt, Jene ſah’n den Gott im Sturm der Meere;
Den Gott im Donner und im Sonnenwagen.
Ihr aber möchtet mit dem ehrnen Speere
In Trümmer jedes Götterbild zerſchlagen;
So bleibt euch nur die ungeheure Leere.
Geibel.. Es folgen
ſpecielle hiſtoriſche Nachweiſe in Beziehung auf die Fröm-
migkeit der Heiden und ihren Abſcheu vor Irreligiöſität
und Frivolität. Es wird gezeigt, welche, vom chriſtlichen
Standpunkte aus betrachtet, achtungswerthe und ehrenvolle
Rolle die Heiden im Evangelium ſpielen. „Einer der
evangeliſchen Geſchichtſchreiber, Lucas, iſt ein geborener
Heide. Endlich ſo wie das Evangelium durch die Apoſtel
außer Paläſtina verkündigt wird, gewahren wir ſogleich,
daß das ganze Heidenthum eine Anlage zum Chriſtenthum
hat, und eine Vorſchule dazu bildet.“ S. 15. „Chri-
ſtus iſt der Inhalt aller religiöſen Mythen;
er iſt der Oedipus der Mythologie und muß
als ſolcher erkannt werden.“ S. 20. „Es iſt mit
der Menſchengeſchichte nicht, wie mit dem Gewebe der Pe-
nelope, ſo daß, was an einem Völkertage gewebt worden,
die darauf folgende Nacht wieder auflöste und die An-
ſtrengung erfolglos bliebe; auch iſt die Erde nicht nur als
der Kirchhof untergegangener Völker und dahingeſchiedener
großer Männer zu betrachten. Die geiſtigen Errungen-
ſchaften derſelben wollen vielmehr als zuſammenhängende
Ringe einer einzigen großen Kette der Entwicklung erkannt
und in fortlaufender Scala bis zum Hochaltar des Chri-
ſtenthums hinan verfolgt ſein.“ S. 20 f. „Die Welt-
weisheit der alten Zeit iſt nur die Vorſchule
der chriſtlichen Gottesweisheit. Das eben macht
die Katholicität und den beſeligenden Charakter des Chri-
ſtenthums aus, daß Alle, die früher ihr Heil wirkten, dies
nur kraft des Zuſammenhanges der mythologiſch ſymboli-
ſchen Religionen mit der Offenbarung im neuen Bunde
vermochten. Das Chriſtenthum iſt keineswegs ſo unange-
meldet in die Welt getreten; es hat die Gemüther nicht
unvorbereitet getroffen. Die Verheißung des Erlö-
ſers, die den gefallenen Stammeltern gewor-
den, bildete die frohe Botſchaft, an welche auch
die Heidenwelt gewieſen war und die ſie ſelbſt
in der tiefſten Verſunkenheit noch feſtgehalten
hat.“ — — — „Chriſtus, das Licht der Welt, iſt zu-
gleich das Licht der Weltgeſchichte, nicht bloß das Ziel und
Ende der hebräiſchen Volksgeſchichte.“ S. 24. „Das
Chriſtenthum hat in ſeinem innerſten Kerne
nicht bloß den Moſaismus und deſſen Pro-
phezieen, ſondern auch die Mannigfaltigkeit
der Mythologien zu ſeiner Vorausſetzung. Es
hat nicht bloß das heidniſche Weſen, es hat auch das Ju-
denthum überwunden. Es handelt ſich hier nicht um eine
Beeinträchtigung, ſondern um eine ungewöhnliche Erweite-
rung der chriſtlichen Erkenntniß; nicht um Entkräftung,
ſondern um hundertfältige Bekräftigung der Offenbarungs-
wahrheiten.“ — — — „Wir lernen die göttliche Heils-
ökonomie bei den Juden kennen; warum ſollten wir nicht
auch Verlangen tragen, die Erbarmung, die Gott der Hei-
denwelt zugewendet, und die Wege kennen zu lernen, die
er ſie wandeln ließ, bis ſie des Heiles ungleich zahlreicher
theilhaftig werden ſollten, als die Kinder Abrahams!“ —
— — „Das Heidenthum als reine Dämono-
logie und direkten Widerſpruch gegen alle
Offenbarungswahrheit aufzufaſſen, iſt weder
hiſtoriſch, noch auch evangeliſch.“ S. 25. „Wir
kehren die Behauptung: alle Religion ſei
Mythologie, gerade um, und erklären vielmehr:
alle Mythologie iſt Religion und hat ihr
Endziel in Chriſtus.“ — — — „Die Kirchenleh-
rer — ein Clemens, Origenes, Juſtin, und zum
Theil Auguſtin, ſo wie noch Boethius, — fühlten
von Anfang den Beruf und ſtellten ſich die Aufgabe, das
Chriſtenthum mit der Philoſophie und den vorangegangenen
Religionen der Völker in ein ſyſtematiſches Verhältniß zu
ſetzen; und die Gegenwart, die dies ignorirte und davon
Umgang nahm, hat die Erfahrung gemacht, wie man Chri-
ſtus für die Mythologie in Anſpruch genommen — gleichſam
zur Strafe dafür, daß man verſäumte, die Mythologie
wiſſenſchaftlich für das Chriſtenthum zu erobern.“ S. 35.
„Der Logosbegriff des Johannes und Paulus läßt ſich
eigentlich nur in Verbindung mit der heidniſchen Philo-
ſophie zur Genüge würdigen und hiſtoriſch entwickeln.“
S. 5 f. So kommen denn auch in dem eigentlichen Werke
die merkwürdigſten Aeußerungen und Combinationen vor,
worauf ich hier ohne unverhältnißmäßige Breite und Aus-
führung nicht näher eingehen kann. Eine ſehr merkwür-
dige und in Beziehung auf die hier angeregten Punkte
wichtige Schrift iſt auch die von Dechamps, „Le libre
examen de la vérité de la foi,“ worin ſich der fromme
Verfaſſer, ein berühmter Redemptoriſt zu Brüſſel, über die
Kräfte der natürlichen Vernunft überhaupt und über das
im Heidenthum vorkommende Licht der Wahrheit insbe-
ſondere in einer ſehr befriedigenden und erfreulichen Weiſe
erklärt. Wir haben oben eines Ausſpruches von Goethe
gedacht: „Wär’ nicht das Auge ſonnenhaft, die Sonne
könnt’ es nicht erblicken“ u. ſ. w. Ganz ſo ſagt De-
champs: „Wäre die Wahrheit nicht in uns, woran ſoll-
ten wir die Wahrheit erkennen außer uns! Wenn wir
nur das als wahr anerkennen dürfen, was wir als
ſolches erkannt haben, ſo geſchieht es offenbar darum,
weil wir eine Regel in uns haben, woran wir es erken-
nen; und dieſe Regel heißt die Vernunft.“ Auf die
Lehre, daß der Menſch nach dem Ebenbilde Gottes ge-
ſchaffen, gründet Dechamps den Satz, daß der Menſch
in ſich alle Wahrheit trage, nehmlich ebenbildlich, ſo wie
ſie Gott urbildlich in ſich trägt.Vergl. die Bemerkungen meines hochverehrten Freundes, Herrn Dom-
capitulars und Profeſſors der Theologie Dr. Heinrich zu Mainz, der
ſich in der Vorrede zu ſeiner Ueberſetzung des genannten Werkes S.
XIII. f. in entſprechender Weiſe vernehmen läßt. Er verwirft die An-
nahme, daß man in Sachen der Religion nur glauben und auf den
Gebrauch der Vernunft verzichten müſſe, und fügt hinzu: „Die katho-
liſche Kirche und mit ihr die ganze große und geſunde Theologie und
Philoſophie, die ſich von der Zeit der Kirchenväter bis auf den heuti-
gen Tag ſtets gleich geblieben, hat mit aller Entſchiedenheit jenes Vor-
urtheil verworfen und den von Gott gegründeten Einklang zwiſchen
Vernunft und Offenbarung, Glauben und Wiſſenſchaft behauptet.
Demgemäß hat ſie allezeit, wie die Rechte des Glaubens, ſo auch die
der menſchlichen Vernunft vertheidigt, und es wird die Zeit kom-
men, ja ſie iſt ſchon da, wo die Kirche den Beruf hat,
nicht bloß den Glauben, ſondern auch Vernunft und
Philoſophie, gegenüber einem troſtloſen Scepticismus
und geiſtleugnenden Materialismus einerſeits, und
einem falſchen Myſticismus andererſeits zu retten.“ Er bezeichnet es fer-
ner als einen Irrthum, zu glauben, die wahre Religion
ſei in einem gewiſſen Zeitalter in einen Winkel der Erde
verbannt geweſen. „Gott hatte ſeine Heiligen,
ſeine Prieſter, ſeine Kinder überall. Hiob war
ein Araber; Melchiſedek, dieſes erhabenſte Vorbild des
Prieſterthums Chriſti, ein Chanaaniter; die h. Schrift
führt unter den Königen Aegyptens, Aſſyriens, Perſiens
und Griechenlands mehrere an, welche den wahren Gott
bekannten; das Volk von Ninive that Buße auf den Ruf
des Propheten; und von einem Römer, dem Centurio
Cornelius, redet der Apoſtelfürſt, da er ſagt: In
Wahrheit, ich erfahre, daß Gott die Perſon nicht anſieht,
ſondern in jedem Volke, wer ihn fürchtet und Recht
thut, der iſt ihm angenehm. Apoſtelg. 10, 34.“Die ausgehobenen Stellen finden ſich S. 178. 179 f. 227 ff. der Be-
arbeitung von Heinrich, die unter dem Titel: „Die Wahrheit und
Vernünftigkeit des Glaubens“ Mainz 1857, erſchienen iſt. Vergl.
ebendaſelbſt S. 716 f. Be-
merkenswerth dürfte endlich auch eine Stelle in dem be-
kannten Kirchengeſange: dies irae ſein, wo David und
Sibylla zuſammen als prophetiſche Autoritäten aufge-
führt werdenTeste David cum Sibylla, wie David und Sybilla zeugen., ſomit ein Antheil an ächter Offenbarung
auch dem Heidenthum zuerkannt iſt.
Hiemit glauben wir getroſt abſchließen und wenigſtens
der katholiſchen Kirche gegenüber ohne alle Beſorgniß eines
die hier dargelegten Auffaſſungen und Darſtellungen tref-
fenden Anſtandes und Tadels ſein zu können.