Ernſt Dronke .
Polizei-Geſchichten .
Polizei-Geſchichten
von
Ernſt Dronke .
Leipzig
Verlag von Carl B. Lorck
1846 .
Seinen Freunden in Berlin
gewidmet
von dem Verfaſſer .
Inhalt .
-
Seite .
1. Armuth und Verbrechen. [ ]1
2. Polizeiliche Eheſcheidung . [ ]47
3. Die Suͤnderin . [ ]67
4. Die Rechtsfrage . [ ]95
5. Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde . [ ]117
6. Vom heimathloſen Vaterland . [ ]141
7. Das Unvermeidliche . [ ]153
A rmuth und V erbrechen .
„ Unter den Verbrechern ſelbſt giebt es Angeber von
Profeſſion , die ſogenannten Vigilanten . Dieſe Vigi¬
lanten ſind faſt ohne Ausnahme fruͤher beſtrafte Ver¬
brecher , welche gewoͤhnlich gar keine oder nur eine
ſcheinbare Beſchaͤftigung haben und als Spione im
Dienſt der Polizei ſtehen . “ —
Der ( Berliner ) Publiziſt , Juni 1845 ,
Nr. 6 , S. 179 .
I n dem Kriminalgefaͤngniß zu B. erhaͤngte ſich vor
einiger Zeit ein Gefangner , der nach den Ausſagen
des Arztes und des Gefaͤngniß-Inſpektors an Schwer¬
muth gelitten hatte . Die Geſchichte dieſes Ungluͤckli¬
chen , welche wir dem Leſer hier erzaͤhlen , iſt ein voll¬
kommen wahres Ereigniß , und die folgenden Einzel¬
heiten , wobei wir nur die Namen verſchweigen , werden
vielleicht bei Manchem die Erinnerung an die handeln¬
den Perſonen erwecken .
Fritz Schenk war ein Tiſchler .
Er hatte als Geſelle lange Zeit bei einem der groͤ¬
ßern Meiſter in B. gearbeitet , und ſtand im Rufe
eines ordentlichen Menſchen und fleißigen und geſchick¬
ten Arbeiters . Da er fuͤr Niemand weiter zu ſorgen
hatte , ſo reichte ſein Verdienſt eben zu ſeinen nothwen¬
digen Beduͤrfniſſen aus , und nicht minder wie bei dem
Meiſter wegen ſeiner Brauchbarkeit , ſtand er bei den
andern Geſellen wegen ſeines Frohſinns in Gunſt .
1 *
Armuth und Verbrechen.
Eines Abends war Fritz aus der Werkſtatt auf die
dunkle Straße getreten , als eine Karoſſe , die an einem
andern Wagen voruͤberfuhr , ihn ſtreifte und zu Boden
warf . Er erhob ſich zwar alſogleich wieder , fuͤhlte aber ,
daß ſein rechter Arm ploͤtzlich erſchlafft war . Der Herr
in der Karoſſe ließ bei dem Schrei , den der Handwer¬
ker unwillkuͤhrlich ausgeſtoßen hatte , halten und erkun¬
digte ſich , ob er Schaden genommen . Auch der Mei¬
ſter und die uͤbrigen Geſellen kamen herzu , und als
ſie den Verwundeten in die Werkſtatt fuͤhrten , ergab
ſich , daß er den Arm zweimal gebrochen hatte . Der
vornehme Beſitzer der Karoſſe ließ ſeine Boͤrſe zuruͤck ,
um die erſten Koſten der Heilung zu decken , und auf
die Bemerkung des Meiſters , daß Schenk der tuͤchtigſte
ſeiner Arbeiter ſei , verſprach er noch weitere Sorge fuͤr
ihn zu tragen .
Schenk wurde in das Stadt-Krankenhaus gebracht ,
wo die langwierige Behandlung den an Thaͤtigkeit ge¬
woͤhnten Arbeiter geiſtig und koͤrperlich ziemlich bedruͤckte .
Der Verurſacher ſeines Ungluͤcks bezahlte die Koſten
Armuth und Verbrechen.
ſeiner Pflege , bekuͤmmerte ſich aber nicht weiter um
ihn , und nachdem Schenk endlich als geheilt entlaſſen
worden war , glaubte er ſeiner Verpflichtung gaͤnzlich
quitt zu ſein . — Als Schenk zu ſeinem Meiſter zu¬
ruͤckkehrte , fand ſich , daß es mit der Arbeit keineswegs
mehr ſo wie fruͤher fortging . In dem Arm war eine
große Schwaͤche zuruͤckgeblieben , und war er auch nicht
gerade gelaͤhmt und arbeitsunfaͤhig geworden , ſo ver¬
mochte er doch nicht ſo anhaltend und ſchnell zu arbei¬
ten , wie ehedem . Er ſah , daß die Mitgeſellen ihn ,
der ſonſt ſtolz auf ſeine Arbeit war , uͤberfluͤgelten . Er
wurde mißgeſtimmt und ſein Fleiß und ſeine Sorgſam¬
keit erlahmten mit der Luſt zur Arbeit . Dazu kam ,
daß auch ſeine Verhaͤltniſſe eine neue Geſtaltung be¬
kommen hatten .
In dem Stadt-Krankenhaus hatte Schenk ein jun¬
ges Maͤdchen , das ſeine Erziehung im Waiſenhaus
genoſſen , zur Waͤrterin gehabt . In der leeren Ein¬
ſamkeit dieſer Stunden war ſie ſein troͤſtender Engel
geweſen , ſie hatte ihn mit frommem , ſchweſterlichem
Eifer gepflegt , und der junge Arbeiter fuͤhlte ſich durch
ihr ſittſames Weſen maͤchtig zu ihr hingezogen . Als
er die Anſtalt verließ , war ihm der Umgang bereits
Armuth und Verbrechen.
zur nothwendigen Gewohnheit geworden . Er benutzte
Sonntags ſeine freien Stunden regelmaͤßig , um ſie zu
beſuchen , und die junge Waͤrterin verhehlte nicht , daß
ſie ihn mit Vergnuͤgen kommen ſah . Die Theilnahme ,
welche ſie Anfangs fuͤr den Kranken gefuͤhlt hatte ,
machte einem innigeren Gefuͤhl Platz , und als Fritz
ſeinen Heirathsantrag vorbrachte , hatte ihr Herz ihm
laͤngſt ſchon das Verſprechen der Treue gegeben .
Schenk hoffte dazumal noch , daß die Schwaͤche
des Armes ſich allmaͤhlig durch Wiedergewoͤhnung an
die Arbeit verlieren wuͤrde , und dann haͤtten ihn ja
ſeine Erſparniſſe , ſeine Geſchicklichkeit und ſein zu dem
Ziel verdoppelter Eifer vielleicht bald in den Stand
ſetzen koͤnnen , eine eigne Werkſtatt anzulegen . Aber
das Uebel verzog ſich nicht , und eine duͤſtere Niederge¬
ſchlagenheit bemaͤchtigte ſich des Ungluͤcklichen . Seine
treue Verlobte verbarg ihren eignen Kummer uͤber ſein
Mißgeſchick und ſuchte ihn zu troͤſten und ſo viel als
moͤglich mit Hoffnungen zu troͤſten , an die ſie ſelbſt
nicht glaubte . Schenk konnte nicht anders glauben ,
als daß ihm unter ſolchen Verhaͤltniſſen eine truͤbe
Zukunft bevorſtand .
Der Meiſter mußte jedesmal in den ſtillen Mona¬
Armuth und Verbrechen.
ten , wo es weniger Arbeit gab , einige ſeiner Arbeiter
entlaſſen . So lange Schenk im Beſitz ſeiner vollen
Kraft und Thaͤtigkeit war , hatte er nicht noͤthig gehabt ,
um ſein Unterkommen beſorgt zu ſein , jetzt machten
ihn tuͤchtigere Arbeiter ſeinem Meiſter entbehrlich . Der
Mann war nicht hart gegen ihn geweſen . Er hatte
Schenk von fruͤher als einen brauchbaren , ordentlichen
und willigen Arbeiter ſchaͤtzen gelernt und wollte ihn
wegen ſeines Ungluͤckes nicht von ſich ſtoßen . So lange
er noch die Hoffnung hatte , daß der ſchwache Arm des
Geſellen ſich an die Arbeit gewoͤhnen wuͤrde , hatte er
Nachſicht und Geduld mit ihm gehabt . Als ſich jedoch
dieſe Hoffnung verlor , vermochte er nichts mehr fuͤr
Schenks Zukunft zu thun . Er ſtellte ihn in die zweite
Klaſſe der Arbeiter , gab ihm nur geringere Arbeit ,
welche weniger Sorgfalt und Kraft erforderte , und be¬
ſchraͤnkte demgemaͤß ſeinen fruͤhern Lohn . Schenk ver¬
lor dabei die Luſt und Liebe zur Arbeit , denn er fuͤhlte
ſich unverſchuldeter Weiſe gedruͤckt . Der Meiſter machte
ihm jetzt zum erſtenmal Vorwuͤrfe wegen Nachlaͤſſigkeit
und wies ihn zu groͤßerem Eifer an . Allein Schenk
war uͤberhaupt nicht mehr der alte . Seine Lage hatte
ihn finſter und muͤrriſch gemacht , und die Ermahnun¬
Armuth und Verbrechen.
gen des Meiſters fanden ſtatt der gehofften Willfaͤhrig¬
keit einen verſchloſſenen , widerſpenſtigen Trotz . So
kam es denn , daß bei der naͤchſten ſtillen Zeit der
Tiſchler unter andern Geſellen auch Schenk von dem
Meiſter entlaſſen und arbeitslos wurde .
Nach mehreren vergeblichen Verſuchen , bei andern
Meiſtern ein Unterkommen zu finden , entſchloß ſich
Schenk , ſeine Lage jenem reichen Manne zu offenbaren ,
der die erſte Urſache ſeines Ungluͤcks war . Er hoffte
im Stillen , daß ihm jener den Grundſtein zu einem
ſelbſtſtaͤndigen Erwerb legen wuͤrde . Eine mittelmaͤßige
Summe reichte hin , ihm eine Werkſtatt zu gruͤnden .
Dann wollte er ſich Geſellen halten , und wenn er auch
ſelbſt nicht viel zu arbeiten vermochte , ſo konnte er doch
durch ſein Geſchick und ſeine Erfahrung die Arbeit lei¬
ten . Damit , ſo hoffte er , waͤre ihm eine ertraͤgliche
Exiſtenz geſchafft geweſen , auf die hin er alsdann zu
heirathen gedachte .
Der vornehme Herr hoͤrte ihn gelaſſen an . Er
ſchien wohl zu fuͤhlen , daß er allein der eigentliche
Armuth und Verbrechen.
Quell des Mißgeſchicks des Arbeiters war , betrachtete
aber ſeine Vermittlung als eine Sache der bloßen Mild¬
thaͤtigkeit . Schenk wurde auf den folgenden Tag zu¬
ruͤckbeſtellt , und als er ſich zur beſtimmten Stunde
einfand , haͤndigte ihm der Kaſſirer im Namen ſeines
Herrn eine kleine Summe Geldes ein . Als Geſchenk
zur augenblicklichen Unterſtuͤtzung war die Summe nicht
unbedeutend , allein um Schenk , wie er gehofft hatte ,
in Stand zu ſetzen , ſich eine Zukunft zu gruͤnden , haͤtte
es vielleicht des Doppelten bedurft . Schenk war daher
angewieſen , das Geld allmaͤhlig zu verzehren .
Der Arme , der nach qualvollem vergeblichem Muͤhen
rettungslos im Jammer ſeines Elends ſitzt und taͤglich
die Gluͤcklichen im Glanz ihres ererbten Reichthums
ſieht , giebt ſich gewoͤhnlich den thoͤrichten Hoffnungen
auf den unwahrſcheinlichſten , entfernteſt liegenden Zufall
hin , welche die kaltbluͤtigen reichen Spekulanten wahn¬
ſinnig nennen werden . Wenn der Arme ſeine letzte Hoff¬
nung auf eine Nummer des Bankhalters ſetzt , ſo ſchilt
ihn die geſunde Vernunft einen veraͤchtlichen Thoren ,
indem ſie ihm das Betruͤgeriſche und Unmoraliſche des
Spiels auseinanderſetzt . Der reiche Kaufmann , der in
einer Handelskriſe ſeinen ganzen Beſitz verliert , wird ge¬
Armuth und Verbrechen.
woͤhnlich nur bedauert . Im Grunde aber laͤuft Alles
auf daſſelbe hinaus . In einer Welt , wo der Beſitz das
Hoͤchſte iſt , ſpekulirt und ſpielt Jeder , je nach ſeinem
Vermoͤgen , und die geſunde Vernunft deſſen , was man
ehrlichen Handel nennt , iſt nicht minder auf Betrug und
Immoralitaͤt gebaut , als die Thorheit des Hazardſpiels .
Als Schenk ſein Geld allmaͤhlig verſchwinden ſah ,
gab er ſich den unbeſtimmteſten Hoffnungen hin . Die
Hoffnung verließ ihn nicht , aber er wußte eigentlich nicht ,
worauf er hoffte . Einmal wollte er ſein Gluͤck im Spiel
verſuchen , aber der Gedanke , daß er von dem Reſt ſeines
Geldes noch ſo und ſo viel Tage leben koͤnne , waͤhrend
er hier vielleicht das Ganze auf einmal einbuͤßen wuͤrde ,
hielt ihn wieder zuruͤck . Es war ihm immer , als wiſſe
er feſt , daß ſich dieſe Lage doch noch aͤndern werde .
Wenn er uͤber die Straße ging , ſo blickte er immer
rechts und links auf das Pflaſter , als ob er etwas Ver¬
lorenes ſuche . Dieſe Hoffnung war unſinnig , nicht wahr ?
Es war auch keine Hoffnung mehr , es war eine bewußt¬
loſe Traͤumerei , da ihm die Wirklichkeit nichts mehr bot .
Bei einem beſtimmten Lebensziel haͤtte er auch nicht
noͤthig gehabt , auf einen unbeſtimmten Zufall zu war¬
ten . Der Anblick der vornehmen ſorgenloſen Vergnuͤg¬
Armuth und Verbrechen.
linge verurſachte ihm ein Gefuͤhl zorniger Bitterkeit , und
er fragte ſich jedesmal , was er denn gethan , daß er im
Elend ſchmachten muͤſſe , und was wohl jene gethan ,
daß ſie aufgeſpeicherte Reichthuͤmer verſchwelgen duͤrften ?
Wenn ein Reicher ſeine goldgeſpickte Boͤrſe zog , blieb er
unwillkuͤhrlich ſtehn , und ſein Blick haftete begierig auf
den glaͤnzenden Muͤnzen . Er dachte , daß dieſe Summe
vielleicht hinreichen wuͤrde , ihm eine zufriedene Zukunft
zu begruͤnden , und eine leiſe Stimme fuͤgte in ſeinem
Innern hinzu : ein vorſichtiger Griff in ſolch eines Man¬
nes Taſche , und du biſt gerettet . Als er ſich zum
erſtenmal auf dieſem Gedanken ertappte , rannte er er¬
ſchrocken , gleichſam um dem eignen Innern zu entflie¬
hen , von dannen . Aber die Verſuchung begann bald
darauf wieder damit , daß ſie ihm einredete : wenn Einer
jener Leute ſolch eine Boͤrſe verliert , ſo wirſt du ſie doch
aufheben und behalten ; Jenen ruinirt ſie nicht und dich
rettet ſie . Dann durchwogten und kreuzten ſich die Ge¬
danken weiter ; der Begriff des fremden Gutes verlor
ſich allmaͤhlig in ihm , und wenn er darauf zuruͤckkam ,
ſo wußte er ihn mit der Antwort zu bekaͤmpfen , daß er
eben ſo viel Recht zum Leben wie jeder Andere habe ,
und daß ſein Elend eben ſo unverſchuldet , wie der er¬
Armuth und Verbrechen.
erbte Reichthum der Vornehmen unverdient ſei . Zuletzt
kam immer jener erſte Gedanke zuruͤck , und wenn er
ihn noch nicht ausfuͤhrte , ſo geſchah es aus Furcht vor
der Entdeckung und — weil er im Augenblick noch
einen ganz kleinen Reſt der erhaltenen Unterſtuͤtzung
beſaß , weil die Noth ihn noch nicht gewaltſam dazu
trieb . In ſeinem Innern war Schenk laͤngſt zum Ver¬
brecher geworden , bevor und ohne daß er ſelbſt wußte .
Eines Tages wurde Schenk in dem Hauſe , wo er
in Schlafſtelle lag , zu einem Manne beſchieden , um
eine Unebenheit am Fußboden auszuhobeln . Als er ſeine
Arbeit beendigt hatte und ſich vom Boden erhob , war
der Beſitzer des Zimmers auf einen Augenblick hinaus¬
gegangen . Schenk ſah mit einer Art aͤngſtlicher Neu¬
gierde umher , waͤhrend er die Ruͤckkehr des Mannes
erwartete . Da bemerkte er dicht am Ofen auf dem
Boden eine Brieftaſche . Daneben ſtand ein Stuhl ,
uͤber den einige Kleider gebreitet lagen ; augenſcheinlich
war die Brieftaſche aus einem der Kleidungsſtuͤcke ge¬
fallen . Schenk lauſchte einen Moment mit bangem
Armuth und Verbrechen.
Zoͤgern , ob Niemand komme . Es war Alles ſtill , und
aͤngſtlich vorſichtig hob er die Brieftaſche auf . Als er
ſie eben geoͤffnet hatte , und nur den Rand einiges Pa¬
piergeldes ſah , nahte ſich von Außen der Schritt des
Herrn . Schenk wollte die Brieftaſche raſch wieder zu¬
ſammenklappen , aber die zitternde Haſt ließ ihn im
Augenblick das kleine Schloͤßchen nicht finden , und mit
einem ploͤtzlichen Entſchluß ſchob er ſie unter ſeinen Rock
auf die Bruſt . Als der Mann eintrat , klopfte ſein
Herz heftig gegen das lederne Etui ; es war , als woll¬
ten die Schlaͤge das geraubte Gut von dort wegdraͤn¬
gen . Waͤhrend ihm der Eigenthuͤmer den Lohn fuͤr die
Tiſchlerarbeit auf den Tiſch zaͤhlte , ſtand er in fiebern¬
der Angſt vor Entdeckung und die Sohlen brannten
ihm , den Ort ſeines Vergehens endlich verlaſſen zu
koͤnnen .
Zu Hauſe fand er , daß die Brieftaſche nur eine
Kleinigkeit an Geld enthielt . Er vermochte jedoch nicht ,
daruͤber zu rechnen , ſeine Gedanken waren einzig mit
ſeiner boͤſen That beſchaͤftigt . Die Folgen blieben auch
nicht aus .
Als der Beſitzer den Verluſt ſeiner Brieftaſche be¬
merkte , ſtieg in ihm ſogleich der Verdacht gegen den
Armuth und Verbrechen.
Handwerker auf , da er ſich des verlegnen und zweideu¬
tigen Benehmens deſſelben erinnerte . Der Polizei-
Kommiſſair , der alsbald herbeigeholt wurde , begab ſich
nach der Kammer Schenks , und ſein erſter Blick traf
gleich den Gegenſtand der Nachforſchung . Der Ungluͤck¬
liche hatte , von ſeinem Gewiſſen gefoltert , gar nicht
daran gedacht , ſeinen Raub zu verbergen .
Schenk wurde alsbald verhaftet und ſpaͤter zu ſechs¬
woͤchentlicher Einſperrung verurtheilt .
Hatte in ihm ſchon das boͤſe Bewußtſein ſeiner
That die bitterſten Gefuͤhle erweckt , ſo wurde er waͤh¬
rend ſeiner Haft vollends von tiefſter Beſchaͤmung und
Reue ergriffen . Die Genoſſen , welche er hier fand ,
waren meiſt alte , mit Verbrechen vertrautere Gefangene ,
die den ſcheuen , in ſich gekehrten Neuling mit der
Jauche ihres Spottes uͤbergoſſen . Schenk fuͤhlte , wie
ſein Herz bei den rohen Spaͤßen ſeiner in Suͤnde er¬
zogenen Gefaͤhrten ſich zuſammenzog . Er gedachte mit
Entſetzen , wie doch er auch denſelben Weg dieſer Un¬
gluͤcklichen bereits betreten habe , und die Zukunft , die
er hier vor ſich ſah , erfuͤllte ihn mit verzweifelnder Angſt .
Der einzige Troſt , der ihn noch aufrecht hielt , war ſeine
Geliebte . Dies arme Weſen hing mit ruͤhrender Treue
Armuth und Verbrechen.
an ihm , und ſtatt ihn in ſeinem Elend zu verlaſſen ,
hatte ſie ſich mit doppelter Hingebung an ihn ange¬
ſchloſſen . Ihr Herz blutete uͤber das Vergehen und die
beſchaͤmende Lage ihres Geliebten , aber ſie duldete ſchwei¬
gend , ohne einen Laut der Klage zu aͤußern . Sie machte
ihm keine Vorwuͤrfe , ſie redete ihm nie von ihrem Kum¬
mer , ſie hoffte nur durch ihre Liebe ihn auf eine andere
Bahn zu fuͤhren . Schenk wurde tief ergriffen von dem
ſtummen Leiden dieſer treuen Seele , und in ſtillen
Stunden ſagte er ſich oft , daß er noch einmal Alles
aufbieten wolle , um ſich ein ehrliches Leben zu ſichern ,
und wenn ihm dies nicht gelaͤnge , lieber vom Leben
als von der Ehrlichkeit zu laſſen .
Die Sonne des Gluͤcks ſchien noch einmal uͤber den
beiden Liebenden aufgehen zu wollen .
Schenk erhielt unmittelbar nach ſeiner Freilaſſung
die Nachricht , daß eine alte Verwandte , deren er ſich
kaum erinnerte , geſtorben ſei und ihm ein paar Hundert
Thaler hinterlaſſen habe . In dem befriedigenden Stolz
des Gefuͤhls , ſeine Vorſaͤtze nun ausfuͤhren zu koͤnnen ,
Armuth und Verbrechen.
eilte er zu ſeiner Verlobten , und mit Thraͤnen freudiger
Hoffnung verſprach er ihr jetzt , das Gluͤck ihres Lebens
durch kein Vergehen mehr zu truͤben .
Schenk hatte kurz vorher , ehe ihn der Unfall mit
ſeinem Arme traf , den Meiſterbrief erhalten , und war
Anfangs , weil ihm die Mittel zu einem ſelbſtſtaͤndigen
Geſchaͤft fehlten , ſpaͤter , weil ihn auch ſein Gebrechen
hinderte , noch bei ſeinem erſten Meiſter geblieben . Jetzt
wurde eine Werkſtatt eingerichtet , mehrere Geſellen wur¬
den geworben , und als die Arbeit in Schwung gekom¬
men war , fand endlich auch die Vereinigung der beiden
Liebesleute ſtatt .
Eine Zeit lang ging das Geſchaͤft ganz gut . Die
Geſellen waren tuͤchtige Arbeiter , Schenk verſtand dem
Gewerk wohl vorzuſtehen , und da es im Ganzen genug
zu thun gab , ſo war auch der Verdienſt leidlich vor¬
theilhaft . Schenks Frau fuͤhlte ſich Mutter , und dies
neue Band der Vereinigten erhoͤhte das friedliche Gluͤck
ihres Heerdes .
Allmaͤhlig aber ſtellten ſich einzelne Sorgen ein .
Die Leute , welche bei Schenk arbeiten ließen , be¬
zahlten nicht immer ſogleich , und Schenk konnte ſich
die Kundſchaft bei den vornehmen Leuten nicht dadurch
Armuth und Verbrechen.
verderben , daß er alſogleich ſein Geld verlangte . Doch
mußte er ſelbſt ſeine Geſellen und das Material zur
Arbeit regelmaͤßig bezahlen . Schenk war daher genoͤ¬
thigt , hin und wieder Schulden zu machen . Die un¬
regelmaͤßigen Einnahmen ließen ihn nicht zur ordentli¬
chen Einrichtung kommen , und es kam oͤfters vor , daß
er das Geld , ſtatt damit die kleinen Schulden zu be¬
zahlen , in die Wirthſchaft verwenden mußte . So wurde
er allmaͤhlig immer verſchuldeter , ohne es eigentlich ſelbſt
ganz zu bemerken .
Als ſeine Frau in die Wochen kam , war eben wie¬
der ſtille Zeit unter den Tiſchlern eingetreten , und Schenk
haͤtte bei den geringen Beſtellungen zwei ſeiner Geſellen
entlaſſen koͤnnen . Aber die geſteigerten Beduͤrfniſſe
zwangen ihn zu verdoppelter Anſtrengung , und ſtatt die
Arbeit der Zeit gemaͤß beſchraͤnken zu koͤnnen , war er
genoͤthigt , dieſelbe auf eigne Gefahr fortzufuͤhren und
zu erweitern . Schenk arbeitete , was ſonſt nie geſchehen
war , oͤfters bis in die ſpaͤte Nacht . Jeden Sonnabend
Abend fuhr er dann mit den verfertigten Moͤbeln zu
den Haͤndlern , um ihnen ſeine Waaren zum ſchnellen
Verkauf anzubieten . Sonnabends war die Zeit , wo er
durchaus Geld einnehmen mußte . An dieſem Tage
2
Armuth und Verbrechen.
erhielten die Geſellen ihren Lohn , ohne den ſie die Ar¬
beit eingeſtellt haben wuͤrden , und gleichzeitig mußten
auch die Bretterhaͤndler bezahlt werden , da ſie ebenfalls
mit der Bezahlung nicht laͤnger als eine Woche warte¬
ten und Schenk ohne ſie kein Material zur Arbeit ge¬
funden haben wuͤrde . So hatte er die doppelte Sorge ,
einmal ſeine Waaren regelmaͤßig bis zum Ende der
Woche zu vollenden , und dann ſie auch noch an den
Mann zu bringen . Die Moͤbelhaͤndler , welche die Lage
der kleinen Meiſter ſehr wohl kennen , nahmen die An¬
erbietungen Schenks gewoͤhnlich nicht ſehr freundlich auf .
Sie zeigten ihm ihre reichgefuͤllten Magazine , klagten
uͤber ſchlechten Abſatz und Verdienſt , und meinten , daß
ſie , ohne ſich zu ruiniren , nicht noch mehr Kapital in
ihr Geſchaͤft verwenden koͤnnten . Zuletzt boten ſie ihm
auf ſeine Waare einen ſo geringen Preis , daß Schenk
trotz der draͤngenden Noth weiter ging . Aber je laͤnger
er umherzog , deſto mehr ſchwanden ſeine Hoffnungen .
Die anderen Haͤndler beobachteten daſſelbe Verfahren ,
Manche boten ihm noch geringere Summen , und Schenk
war zuletzt genoͤthigt , ſeine Waare fuͤr einen Spottpreis
wegzugeben . Bezahlte er dann ſeine Geſellen und die
Bretterhaͤndler , ſo blieb ihm kaum ſo viel , um das
Armuth und Verbrechen.
unumgaͤnglich Nothwendige fuͤr die Wirthſchaft zu be¬
ſchaffen .
Auf dieſe Weiſe kam das Hausweſen immer mehr
zuruͤck . Die Frau kraͤnkelte und vermochte ihres Zu¬
ſtandes wegen nicht mehr auf Ordnung zu ſehen , die
Geſellen wurden laß oder arbeiteten wenigſtens nicht
wie fruͤher mit Eifer und Liebe , der Hausmann , Baͤcker ,
Schuhmacher und andere kleine Glaͤubiger draͤngten all¬
maͤhlig ernſtlicher , und Schenk ſelbſt verfiel durch all
dieſen Jammer in duͤſtere Stumpfheit . Seine Seele
erlag nach dem kurzen Traum des Gluͤckes nur um ſo
ſchneller dem Druck der hoffnungsloſen Armuth , es ward
wuͤſt und leer in ihm , und ſelbſt ſein Aeußeres fiel ab
in Elend .
In einer ſtillen Nacht kniete der Mann vor einem
aͤrmlichen Bett , und ſeine heißen Thraͤnen rollten auf
die abgemagerte Hand ſeines bleichen Weibes . Neben
ihr regte es ſich , und ein hinfaͤlliges neugebornes Kind
erwachte eben aus ſeinem erſten Schlafe . Der Hand¬
werker ſah mit einem ſtarren Blick der Verzweiflung
durch ſeine Thraͤnen auf das kleine welke Geſchoͤpf .
„ Was wird dein Schickſal ſein , du unſchuldig
Weſen ! “ grollte er bitter in ſich hinein . „ Was haſt
2 *
Armuth und Verbrechen.
du gethan , daß du geſchaffen werden mußteſt ? In
Armuth geboren , in Noth und Elend zu leben , in
Suͤnde vielleicht zu ſterben ! Was willſt Du in der
Welt ? Wahrlich , es waͤre beſſer , ich toͤdtete Dich in
Deinem friedlichen Schlummer , bevor ihn das Bewußt¬
ſein Deines verfluchten Lebens zerſtoͤrt ! “ —
Als die Arbeit dergeſtalt zu erlahmen begann , daß
Schenk von dem Erloͤs kaum noch die Geſellen bezah¬
len konnte , mußte er ſich endlich dazu entſchließen , einen
derſelben zu entlaſſen . Es war dies der Anfang eines
immer groͤßeren Verfalls . Die Arbeit wurde jetzt ge¬
ringer und demgemaͤß auch der Verdienſt des Meiſters
ſchmaͤler . Die Kraͤnklichkeit der Woͤchnerin , die ſtaͤr¬
kender Nahrung bedurfte , verlangte groͤßere Ausgaben ,
und da Schenk Alles auf ſie verwendete , oft ohne daß
ſie das Opfer ſelbſt bemerkte , ſo mußten die uͤbrigen
Verpflichtungen zuruͤckſtehen . Demzufolge kuͤndigte ihm
zunaͤchſt der Hausmann , der ſeit laͤngerer Zeit keine
Miethe erhalten hatte , die Wohnung auf , und Schenk
Armuth und Verbrechen.
mußte noch zufrieden ſein , daß ihm nicht ſein kleines
Beſitzthum an Zahlungs Statt zuruͤckgehalten wurde .
Sie bezogen jetzt eine aͤrmlich kleine Wohnung .
Schenk arbeitete nur noch mit einem einzigen Geſellen
und die Werkſtatt bildete zugleich Wohn- und Schlaf¬
ſtube . Die kraͤnkliche Frau und das hinfaͤllige Kind
litten indeß nicht lange unter dem Geraͤuſch der Arbeit ,
denn ein halbes Jahr darauf ſtand dieſelbe ganz ſtill .
Schenks Verdienſt bei der angeſtrengteſten Thaͤtigkeit
war jetzt ſo gering geworden , daß er damit nicht einmal
die nothwendigſten Exiſtenzmittel beſtreiten konnte . Einige
Vorſchuͤſſe bei dem Bretterhaͤndler und der Ruͤckſtand
des Geſellenlohnes ſetzten ihn bald außer Brot .
Eine Zeitlang lief Schenk umher , um bei Andern
Arbeit zu ſuchen , aber wie er auch flehte und ſeine
verzweiflungsvolle Noth ſchilderte , ſein Bemuͤhen blieb
ohne Erfolg . Sein fruͤherer Meiſter , an den er ſich
mit der Bitte wendete , ihm nur irgend eine geringe
und grobe Arbeit zu geben , ließ ihn am haͤrteſten an .
„ Wenn es blos auf Euren ſchwachen Arm an¬
kaͤme , “ ſagte er , „ da wollte ich ſchon Nachſicht ha¬
ben . Aber Ihr habt bereits einen Diebſtahl began¬
Armuth und Verbrechen.
gen und einen ſolchen Menſchen , der mir vielleicht meine
Geſellen noch verfuͤhrt , kann ich nicht brauchen . “ —
Schenk trieb ſich in duͤſterer Verzweiflung umher .
Zuweilen erhielt er irgend eine zufaͤllige Beſchaͤftigung ,
einen Auftrag zum Laſttragen oder auch auf Tagelohn .
Den kleinen Verdienſt brachte er dann ſeinem Weib
und Kinde , fuͤr ſich ſelbſt — erbettelte er das Brot .
Er ſank moraliſch und phyſiſch tiefer und tiefer in's
Elend . Und dennoch , bei all dieſem Jammer , den ihm
das ſtumme Leid ſeines abgezehrten , zerlumpten Weibes
und ſeines ſiechenden Kindes verurſachte , bei all der
graͤßlichen Verzweiflung und all dem heißen , bittern Groll
gegen die Gerechtigkeit der menſchlichen Geſellſchaft , die
ihn zu dieſem unverſchuldeten Loos verfluchte , dennoch
lebte er dies Leben drei lange Jahre lang . Drei Jahre !
Wie iſt doch die Zeit ein ſchlechtes Maaß fuͤr ein Men¬
ſchenleben ! Dem Reichen verfliegt in Luſt und Freuden
die Zeit ſo ſchnell , daß er am Sterbebett nicht weiß ,
wo ſie geblieben iſt ; aber dem Ungluͤcklichen war ſie
eine qualvolle Ewigkeit .
Armuth und Verbrechen.
Eines Tages ging Schenk langſam in ſtumpfem
Bruͤten durch die Gaſſen . Seine Frau , das arme lie¬
bende , duldende Geſchoͤpf , die nie uͤber ihr Loos murrte
oder nur ſeufzte , hatte ihm am Tage vorher ſagen muͤſ¬
ſen , daß ſie nicht das Geringſte mehr zum Eſſen im
Hauſe habe . Das Kind war lange krank geweſen und
hatte jetzt vom Arzt eine Pflege verordnet bekommen ,
die die Armen ſeit Langem nicht mehr kannten . End¬
lich aber hatte der Hausmann Schenk beim Ausgehen
angehalten , und ihm barſch ins Geſicht geſagt : daß er
mit der ruͤckſtaͤndigen Miethe fuͤr die letzten drei Viertel¬
jahre nicht laͤnger warten koͤnne ; wenn er daher am
folgenden Tage das Geld nicht erhalte , ſo muͤſſe er die
Familie aus dem Hauſe weiſen und ſich an ihrem Ge¬
raͤth bezahlt zu machen ſuchen . Das letztere war fuͤr
den Ungluͤcklichen die graͤßlichſte Drohung . Er hatte
nach und nach die einigermaßen entbehrlichen Stuͤcke
aus ſeiner Wirthſchaft in den Zeiten der hoͤchſten Noth
verſetzt , und beſaß nur noch ebenſoviel , um mit Weib
und Kind nicht auf dem harten Boden ſchlafen zu muͤſ¬
ſen . Wurde ihm auch das noch entriſſen , ſo konnten
ſie zuſammen elend in der Straße ſterben .
Schenk ging aus , ohne zu wiſſen , wohin , und ohne
Armuth und Verbrechen.
Gedanken , wie er diesmal die augenblickliche Noth ab¬
wenden koͤnne . Wer ihn jetzt ſah , erkannte in ihm
den fruͤher fleißigen und ordentlichen Arbeiter nicht mehr .
Sein Aeußeres trug den Stempel der ſchauderhafteſten
Verwahrloſung , die Kleider ſchlotterten ihm ſchmutzig
und zerlumpt am Leibe herab , ſeine tiefliegenden Augen
waren glanzlos und ſtumpf , ſein Haar wirr und ſtrup¬
pig , und ſein Geſicht zeugte von Entbehrungen und
graͤßlichem Elend . An der Ecke zweier Straßen blieb
er einige Augenblicke vor der Ladenthuͤr eines eleganten
Fleiſcherladens ſtehen . Waͤhrend er mit heimlicher Luͤ¬
ſternheit die verlockenden , reinlichen Fleiſchwaaren be¬
trachtete und an ſeine Armen daheim dachte , ſtieg eine
ploͤtzliche Verſuchung in ihm auf . Die Thuͤr war offen
und der Laden leer . Sein Herz pochte in Unentſchloſ¬
ſenheit , aber er wandte ſich weg , und ſchritt langſam
die Straße weiter .
In dieſem Augenblick war ein Mann fluͤchtig an
ihm voruͤber geſtreift . Einige Schritte weiter blieb der¬
ſelbe ploͤtzlich ſtehen , gleich als ob Schenks Geſicht eine
Erinnerung in ihm hervorgerufen , und blickte ihm nach .
Als er uͤber die Perſon Schenks im Reinen zu ſein
ſchien , kehrte er um , und Schenk ward durch einen
Armuth und Verbrechen.
Schlag auf ſeine Schulter aus ſeinen truͤbſinnigen Ge¬
danken aufgeſchreckt .
„ Guten Tag , Fritz Schenk ! Kennſt Du mich nicht
mehr ? “ —
Der Angeredete ſtarrte zu dem Andern in ſtumpfer
Gleichguͤltigkeit auf . Der Mann , der vor ihm ſtand ,
war eine hohe breitſchulterige Figur , ziemlich fein und
modern gekleidet , und von einem auffallenden und er¬
zwungen vornehmen Weſen . Damit ſtand freilich der
Ausdruck ſeines Geſichts in keiner Uebereinſtimmung ,
denn ſeine von einem dichten rothen Bart umzogenen
Zuͤge waren der Typus der niedrigſten Gemeinheit .
Dieſer Menſch hieß Wilhelm Fiſcher , hatte wegen Raub¬
anfalls auf offener Heerſtraße und verſchiedener Diebe¬
reien mehrere Jahre im Zuchthaus und Gefaͤngniß ge¬
ſeſſen , und kannte Schenk aus der Zeit ſeiner Haft .
Fiſcher hatte ſeitdem ſeinem fruͤhern Treiben Valet ge¬
ſagt , und einen Erwerbszweig ergriffen , bei dem er ſich
augenſcheinlich ganz wohl befand . Er war , nachdem
er zuletzt aus dem Gefaͤngniß entlaſſen worden , zu dem
Polizeichef gegangen , hatte ihm vorgeſtellt , daß er von
ſeinem bisherigen Leben abſtehen wolle , und gebeten , in
irgend einer Weiſe verwendet zu werden . Der Polizei¬
Armuth und Verbrechen.
rath , der in Fiſchers ausgebreiteter Diebsbekanntſchaft
ein treffliches Mittel zur Entdeckung manches Verbre¬
chens erblickte , hatte ihn in ſeine Dienſte genommen
und ihm den Auftrag gegeben , ſeine fruͤheren Bekannt¬
ſchaften fortzuſetzen , und wenn er einen Anſchlag er¬
fuͤhre , ihn davon in Kenntniß zu ſetzen . Das war ge¬
genwaͤrtig die eigentliche Stellung Fiſchers . Dieſer Elende
begnuͤgte ſich jedoch keineswegs damit , die Abſichten
und Thaten ſeiner ehemaligen Genoſſen zu belauſchen ,
ſondern , um ſeinem Chef oͤftere Beweiſe ſeiner Thaͤtig¬
keit geben zu koͤnnen und ſich in den Augen deſſelben
hervorzuthun , ſpornte er auch ſelbſt die Unſchluͤſſigen
an und machte ihnen nicht ſelten ſogar die Anſchlaͤge ,
um die er ſie nachher verrieth .
„ Nun ? Was ſtarrſt Du mich an ? “ ſagte er
zu dem Handwerker . „ Kennſt Du Will Fiſcher nicht
mehr ? Thuſt ja , als haͤtten wir nicht zuſammen
da — “
„ Nun , Will Fiſcher , “ erwiderte Schenk duͤſter ,
„und was willſt Du von mir ! “ —
„ Was ich von Dir will , Du Tropf ? Dich fragen ,
wie es Dir geht , nichts weiter . Und ich habe ein
Recht dazu , denn ich bin ein alter Bekannter , und
Armuth und Verbrechen.
Du ſiehſt nicht aus , als ob Du einen Freundſchafts¬
dienſt zuruͤckſtoßen wuͤrdeſt . “
„ Ja , es geht mir ſchlecht genug ! “ murmelte
dumpf der Ungluͤckliche . „ Keine Arbeit und kein Ver¬
dienſt mehr , Gott weiß , wie das enden wird . Ich
habe ſeit vorgeſtern nichts mehr gegeſſen ! “ —
„ Komm mit , “ ſagte der Andere mit rauhem Mit¬
leid . „ Ich weiß da in der Naͤhe einen Ort fuͤr unſer
Einen , wo Du Dich fuͤttern kannſt . “ —
Schenk folgte ihm mechaniſch , ohne ein Wort zu
ſagen . Ploͤtzlich aber blieb er ſtehen , ſein Auge belebte
ſich , wie von einem gluͤcklichen Gedanken beſeelt , und
er hielt ſeinen Gefaͤhrten am Arm feſt , indem er ihn
aͤngſtlich forſchend betrachtete .
„ Will Fiſcher , “ ſagte er mit bangem Ton , „ es
geht Dir gut , ich ſehe Dir es an . Du meinſt es
auch gut mit mir , denn Du willſt mir eben zu eſſen
geben . Hilf mir daher ganz — wenn Du kannſt , leihe
mir zehn Thaler . Ich muß morgen meine ruͤckſtaͤndige
Miethe bezahlen , oder ich werde mit meiner Frau und
einem kranken Kinde nackt und bloß auf die Straße
geſtoßen . Ich bin verloren , Will , wenn Du mir nicht
hilfſt ! “ —
Armuth und Verbrechen.
Will Fiſcher verzog ſein Geſicht zu einem ſonderba¬
ren Laͤcheln und druͤckte ſeine Haͤnde feſt in die Taſchen .
„ So , “ ſagte er , „ Du brauchſt morgen zehn Thaler
— mußt ſie haben , wie man ſo ſagt — unter jeder
Bedingung . “ —
„ Ja , ich muß ſie haben , unter jeder Bedingung .
Ich weiß nicht , was ich ſonſt thun wuͤrde , aber den
Jammer daheim wuͤrd' ich nicht erleben ! Zehn Tha¬
ler , Will — es iſt ja nicht ſo viel , und uns kann es
jetzt retten . Gott wird es dir lohnen , Will ! “ —
„ Ja , Gott wird es mir lohnen und der Teufel
den Segen druͤber ſprechen . Ich koͤnnte nachher ſehen ,
wie ich 's wieder einbraͤchte , und fuͤr Dich waͤr 's auch
nur auf ein paar Tage . Uebrigens laß uns jetzt nur
nach der Kneipe gehen , da koͤnnen wir weiter davon
ſprechen . Ich habe zwar ſelbſt das Geld nicht , viel¬
leicht laͤßt ſich aber noch anderer Rath ſchaffen . “ —
Sie ſchritten wieder fort . Will Fiſcher fuͤhrte den
Handwerker durch mehrere kleine Nebenſtraßen , bis ſie
zuletzt vor dem Schlußgebaͤude einer engen Sackgaſſe
ankamen .
„ Das da iſt ein neues Bureau ! “ ſagte er , auf
das Kneipenſchild uͤber einer Kellerwohnung zeigend . „ Es
Armuth und Verbrechen.
kommen oft tuͤchtige Kerle hieher , weil der Wirth ehr¬
lich iſt und immer einen geheimen Weg hinten uͤber
das Waſſer bauen kann . Wenn Du mich einmal
ſuchſt , ſo komme nur Abends in dieſen Fuchsbau . “ —
Sie traten die Stufen hinunter in den Keller , wo
Fiſcher bekannt zu ſein ſchien . Waͤhrend er mit dem
Wirth , dem Hehler der hier verkehrenden Diebsbande ,
im Winkel ein leiſes und angelegentliches Geſpraͤch
fuͤhrte , hatte ein Maͤdchen Brot , Kaͤſe und Brannt¬
wein gebracht . Schenk goß die beiden Glaͤſer mit jaͤher
Haſt hinunter und begann gierig das Eſſen zu ver¬
zehren .
„ Nun , das muß ich ſagen , “ lachte Will Fiſcher ,
wieder herantretend , „ dein Appetit wenigſtens hat bei
Deinem Leben nicht gelitten . “ —
Schenk nahm ſchweigend den Reſt des Eſſens ,
wickelte ihn in ein Stuͤck Papier und ſteckte das Ganze
ſorgfaͤltig in ſeine Taſche .
„ Ich werde das meiner Frau bringen , “ ſagte er
dann halb vor ſich hin . „ Sie wartet ſchon den gan¬
zen Morgen , und es iſt doch etwas . “ —
„ Deine Frau ! So , ſo . Sagteſt es ja auch zu¬
Armuth und Verbrechen.
vor ſchon . Kenn' ich ſie vielleicht ? Etwa eine Be¬
kanntſchaft von damals , als wir zuſammen — “
Schenk warf einen zornigen Blick auf ſeinen Nach¬
bar und ſtieß das leere Glas heftig auf den Tiſch .
„ Nun , ereifre Dich nicht ! “ beguͤtigte der Andere
ſogleich . „ War nur neugierig , wie es eigentlich mit
Dir ausſieht , ſeit wir auseinander gekommen ſind . “ —
„ Wie im Himmel ſieht's bei uns aus , wie im
Himmel , Will , “ erwiderte Schenk mit wilder Bit¬
terkeit , „ wir eſſen nicht und trinken nicht . Es iſt ein
herrliches Leben , man genießt die ganze Schoͤpfung ,
man hoͤrt die Voͤgel ſingen , man hat im Sommer die
ſchoͤne Natur , im Winter das praͤchtige Eis , und braucht
fuͤr Alles das gar Nichts zu bezahlen . Ich erinnere
mich , daß der Pfaffe mir fruͤher ſagte , es ſei eine
Gnade Gottes , daß wir geſchaffen wuͤrden und leben
duͤrften . Ich wollte das lange nicht einſehen , aber es
iſt doch wahr , es liegt nur an dem Einzelnen ſelbſt ,
wenn er ſich das Leben verkuͤmmert . Das Leben iſt
doch umſonſt , wozu ſich da plagen und Sorgen ma¬
chen ? Es koͤmmt am Ende doch auf Eins heraus , ob
man auf ſeidenen Kiſſen oder allmaͤhlig Hungers ge¬
ſtorben iſt . “ —
Armuth und Verbrechen.
„ Ich verſtehe nicht , was Du da ſagſt , “ antwor¬
tete Will Fiſcher . „ Aber wenn Du ſchon verzweifelſt ,
ſo thuſt Du Unrecht . Ich weiß eben was fuͤr Dich ,
was Dich auf lange Zeit herausreißen kann . “ —
„ Will ! “ rief der Handwerker ploͤtzlich erregt .
„ Laß mich los und mach' keine Flauſen . Kennſt
Du das Landhaus druͤben in Ch *** ? “
„ Ich habe einmal darin gearbeitet . “ —
„ Deſto beſſer . Es wollten ein paar tuͤchtige Kerle
heut Nacht Beſuch drin machen , aber der Wirth er¬
zaͤhlt mir , daß ſie's verſchieben muͤſſen , weil ihrer zu
wenig ſind . Wenn Du dabei ſein willſt , kannſt Du
Dein Schaͤfchen ſcheeren und Deine Familie ins Trockne
bringen . “ —
Schenk ſah ſeinen Nachbar mit einem feſten Blick
an und ſagte dann langſam :
„ Stehlen alſo . Ich hatte noch nicht daran gedacht ,
und es liegt doch ſo nahe . Ich glaube , ich habe nicht
einmal Muth dazu . “ —
Der Polizeiagent ſchenkte die Glaͤſer voll und erwi¬
derte veraͤchtlich :
„ Es gehoͤrt freilich weniger Muth dazu , mit Frau
Armuth und Verbrechen.
und Kind zu verhungern . Uebrigens haͤtten ſie Dich
vielleicht nur zur Wache gebraucht . “ —
„ Wenn ich ſagte , daß mir der Muth fehlte , “
verſetzte Schenk , „ ſo meine ich , daß ich nicht die Kraft
hatte , den Gedanken zum Stehlen zu faſſen . Es iſt
wahrhaftig weit gekommen . Und doch iſt es wahr , das
Einzige bliebe mir noch uͤbrig . Ich werde mir's uͤber¬
legen , Will . “ —
Mit dieſen Worten erhob er ſich , fuͤhlte in die
Taſche , ob er das Eſſen auch noch habe , und wendete
ſich nach der Thuͤre .
„ Wenn Du mir Beſcheid bringen willſt , “ rief
Fiſcher ihm nach , „ ſo weißt Du , wo Du mich heut
Abend findeſt . “ —
Schenk wanderte in truͤbſinnigem Bruͤten durch die
engen und ſchmutzigen Gaſſen des „ ſchlechten Viertels , “
jener Hoͤhlen des Elends und des Verbrechens , wo die
aus den Kreiſen der herrſchenden Geſellſchaft verſtoßene
Armuth den Fluch ihres Daſeins verbirgt .
Armuth und Verbrechen.
In einer niedrigen , baufaͤlligen Huͤtte kletterte Schenk
eine Stiege hinauf , und befand ſich hier — unter dem
Dache — in der Behauſung der Seinen . Bei dem
Geraͤuſch , welches ſein Eintreten verurſachte , erhob in der
Ecke eine Frau ihren Kopf von dem Bettchen eines Kin¬
des , wo ſie deſſen fieberhaften Schlaf belauſcht hatte .
Die Kleidung dieſer Frau war mehr als aͤrmlich , und in
den leidenden von Gram entſtellten Zuͤgen ihres Geſichts
waren auch die letzten Spuren ihrer fruͤheren Anmuth
verloren . Das Ausſehen des Zimmers ſtimmte traurig
mit dem Ausdruck der Bewohner uͤberein . Die Moͤbel
beſtanden außer dem Bettchen des Kindes in einem Stuhl ,
einer Kommode , welche zugleich die Stelle des Tiſches
verſah , einem alten Kaſten , welcher ſtatt eines zwei¬
ten Stuhls ebenfalls zum Sitz benutzt wurde , und
einer einzigen Lagerſtaͤtte : einem Strohſack , uͤber den
eine Decke gebreitet war . Auf dem Ofen des Zimmers
wurde gekocht , — wenn es etwas zu kochen gab , und
in dieſem gluͤcklichen Falle wurde die ohnedies dum¬
pfige Atmoſphaͤre des feuchten , an den Waͤnden ſchim¬
melnden Raumes vollends ſchwuͤl und ungeſund . Und
doch waͤren die Ungluͤcklichen auch in dieſen Raͤumen
zufrieden geweſen , haͤtten ſie nur ſich und ihr krankes
3
Armuth und Verbrechen.
Kind vor der graͤßlichen Qual des Hungers ſchuͤtzen
koͤnnen :
Bei dem fragenden Blick , den das matte glanzloſe
Auge ſeiner Frau auf ihn heftete , zog der Handwerker
das Eſſen aus der Taſche und reichte ihr daſſelbe ſchwei¬
gend hin .
„ Du haſt irgend eine Arbeit bekommen ? “ ſagte ſie
lebhaft .
Schenk hatte ſich auf den alten Kaſten geſetzt und
die Haͤnde uͤber das Knie gekreuzt . Ohne nur aufzu¬
blicken , erwiederte er nachlaͤſſig :
„ Nein . Ich habe das von einem Bekannten aus
meiner Gefaͤngnißzeit gekriegt . “ —
Die Frau hielt ploͤtzlich mit Eſſen inne , und blickte
erſchrocken bei dieſen Worten nach ihrem Manne hin .
„ Fritz ! “ rief ſie mit aͤngſtlichem Ausdruck , „ Du haſt
doch nicht — “
„ Geſtohlen , willſt Du ſagen ? “ antwortete Schenk
mit erzwungenem Lachen , als die Frau inne hielt . „ Noch
nicht , mein Schatz , noch nicht . Nur eine Gelegenheit
dazu hat er mir angegeben . “ —
„ Gott ſteh ' uns bei , Fritz ! Wie kannſt Du nur
Armuth und Verbrechen.
ſolche Gedanken haben ! Denkſt Du nicht an uns , an
das arme Kind — “
„ Eben drum , eben drum ! Grade weil ich an Euch
denke , “ ſagte der Mann ſich erhebend und durch's Zim¬
mer ſchreitend . „ Ich weiß auch wahrhaftig nicht , wes¬
halb wir uns davor zu ſcheuen brauchten . Wir haben
ebenſoviel Recht zu leben , als die Andern , und wenn ſie
uns unſer Leben ſtehlen , ſo duͤrfen wir 's doch wieder
ſtehlen ! “ —
„ Fritz , um Gotteswillen , fuͤhr' keine ſo laͤſterlichen
Reden im Mund ! Es iſt eine Pruͤfung , die uns der
Herr aufgelegt , wir muͤſſen ausharren ! “ —
„ Ja , unſer ganzes Leben iſt eine Pruͤfung , und wir
ſind nur dazu geboren , daß ſich der Herrgott droben an
unſerm Todeskampf erluſtiren kann . Drum ſind auch
die reichen Faullenzer geſchaffen , fuͤr die die armen Leute
ſchaffen und rackern muͤſſen , ohne ſelber was davon zu
haben . Die Reichen betruͤgen die Armen , und betruͤgen
ſich dann im Handel und Wandel wieder untereinander .
Der Jammer muß ſich von oben recht komiſch an¬
ſehen . “ —
„ Gott verzeih ' Dir die Suͤnde , Mann ! “ rief die
entſetzte Frau .
3 *
Armuth und Verbrechen.
Schenk , der fortwaͤhrend im Zimmer auf- und nie¬
derging , ſchlug eine grimmige Lache auf .
„ Freilich , freilich ! Die Suͤnde iſt nur fuͤr uns .
Wenn unſer Einer ſtiehlt oder betruͤgt , dann iſt's Suͤnde ;
wenn Einem aber der Kaufmann ſchlechte Waare auf¬
luͤgt , wenn die Kinder der Reichen unſere Kinder um
das Gluͤck des Lebens beſtehlen , dann iſt's Recht und
Ordnung . Wir muͤſſen ſuchen reich zu werden , um nach
Recht und Ordnung ſtehlen und betruͤgen zu koͤnnen , ſo
lange aber muͤſſen wir 's heimlich thun . “ —
„ Keinen Biſſen eſſe ich von Deinem Suͤndenbrot ! “
rief die Frau , indem ſie das Eſſen , welches ſie bis dahin
in der Hand gehalten , von ſich warf .
Schenk ging eine Zeitlang ſchweigend durch 's Zimmer .
Als er endlich ſah , wie ſeine Frau das Geſicht in die
Haͤnde verborgen hatte und leiſe in ſich hineinweinte , trat
er an ſie heran , und ſagte milder :
„ Sei ruhig , mein Weib ! Achte nicht auf das , was
ich Dir geſagt habe , die Noth giebt Einem ſolch ' ver¬
ruͤckte Gedanken ein . “ —
„ Willſt Du mir verſprechen , Dir ſolch ſuͤndhaftes
Zeug aus dem Sinne zu ſchlagen , und Dich nicht wie¬
Armuth und Verbrechen.
der mir dem elenden Diebspack einzulaſſen ? “ fragte die
Frau , indem ſie ihm ihre thraͤnenbenetzte Hand reichte .
„ Ich will Dir verſprechen , immer nur an Dich und
unſer armes Kind zu denken , “ erwiederte Schenk , ihr die
dargebotene Hand druͤckend . „ Ich will mich noch einmal
an jenen reichen Mann wenden , durch den wir eigentlich
ſo in's Ungluͤck gekommen ſind . Vielleicht erbarmt er
ſich , wenn ich ihm unſeren Jammer ſchildere . Du weißt ,
daß wir morgen den Miethsmann bezahlen muͤſſen , wenn
wir das kranke Kind nicht einem elenden Ende ausſetzen
wollen . “ —
In dieſem Augenblick erwachte die arme Kleine .
Schenk , der ſchon ſeine Muͤtze aufgeſetzt hatte , naͤherte
ſich wieder dem Bettchen , und druͤckte einen Kuß auf
die fiebergluͤhenden Lippen des Kindes .
„ Und doch wird Dein Ende Elend ſein ! “ grollte er
in ſeinem Innern . „ Warum hab' ich Dich nicht bei der
Geburt getoͤdtet , bevor mein Herz Dich lieben lernte ?! “
Dann verſuchte er nochmals die geaͤngſtigte Frau zu
troͤſten , — hatte er ſelbſt wohl Troſt ? Der Anblick
ihres wehmuͤthig reſignirten Leidens preßte ihm faſt das
Herz ab , und ſchon ſeit langer Zeit ſuchte er ſich , ſo oft
es ging , von den Seinen zu entfernen , die ihm nur das
Armuth und Verbrechen.
Bild ſeines Jammers waren . Aber er kuͤßte ſeine Frau
innig und ſagte beim Weggehn mit feſter Ruhe :
„ Es wird wohl noch gut werden ! “ —
Bei dem reichen Manne mußte Schenk diesmal ge¬
raume Zeit in der Hausflur ſtehen . Die gallonirten Be¬
dienten kamen mit ſilbernen Schuͤſſeln aus den Zimmern ,
und ſtrichen an ihm voruͤber , indem ſie ihn aus dem
Wege gehn hießen oder gar veraͤchtlich zur Seite ſtießen .
Anfangs hatten ſie ihn , ſeines ſchmutzigen und zerſchliſſe¬
nen Aeußern wegen , fortjagen wollen , zumal der Herr
noch bei Tiſche ſaß , aber Schenk behauptete , dringlich
mit dem Herrn ſprechen zu muͤſſen , und wollte lieber
unter der beleidigenden Behandlung des Bedientenvolks
ausharren , als ſich ſeiner letzten Hoffnung begeben .
Nach Verlauf von anderthalb Stunden endlich ward
er in einen Vorſaal gewieſen , wo er abermals eine Vier¬
telſtunde wartete . Er betrachtete mit ausdrucksloſem
Blick ein Gemaͤlde , waͤhrend ſeine Gedanken , ermuͤdet
und abgeſpannt , fern von dem Ort und dem Zweck ſei¬
nes Beſuches waren . Als er aber im Nebenzimmer den
Armuth und Verbrechen.
Tritt des Herrn vernahm , ſchlug ſein Herz ploͤtzlich hoͤher ,
und die Erinnerung an Frau und Kind richtete ſeine
Sinne wieder ganz auf den einen Punkt , die Entſchei¬
dung ſeiner naͤchſten Zukunft .
Der gnaͤdige Herr zeigte ein ziemlich geroͤthetes und
aufgeregtes Geſicht , und ſchien im Ganzen guter Laune
zu ſein . Schenk trug ihm ſeine Verhaͤltniſſe mit zager ,
verlegener Stimme vor , und bat ihn ſchließlich um eine
Unterſtuͤtzung von fuͤnfzehn Thalern .
„ Ihr ſeid ein Taugenichts , Schenk , “ ſagte der gnaͤ¬
dige Herr , ſich die Zaͤhne ſtochernd . „ Ihr habt keine
Luſt zur Arbeit , ſonſt wuͤrde es Euch nicht ſo gehen ,
wie Ihr ſagt . Euch Geld geben , hieße Euch im Muͤ¬
ßiggang beſtaͤrken , und man wuͤrde Euch zuletzt gar nicht
mehr loswerden . “ —
„ Ach , gnaͤdiger Herr , wenn mir die Leute nur Ar¬
beit geben wollten , daß wir nothduͤrftig davon leben koͤnn¬
ten , wie gern wollt' ich ſchaffen von fruͤh bis in die
Nacht ! “ erwiederte der Handwerker mit feuchtem Auge .
„Verſuchen Sie es mit mir , gnaͤdiger Herr ! Geben
Sie mir Arbeit , wie Sie wollen , ſchicken Sie mich auf
Botengaͤnge , laſſen Sie mich Holz hacken und Waſſer
Armuth und Verbrechen.
tragen , ich will Ihnen das Geld wieder abarbeiten , und
gewiß , Sie ſollen mit meinem Fleiß zufrieden ſein ! “ —
„ Ja , ich kenne das ! Als ich Euch damals das Geld
gab , damit Ihr Euch herausreißen koͤnntet , da habt Ihr ,
ſtatt zu arbeiten , das Geld durchgebracht und ſeid nach¬
her wegen Diebſtahl eingeſperrt worden . Das waͤre das
Richtige , Euch in's Haus zu nehmen und Sachen von
Werth anzuvertrauen ! “ —
„ Gnaͤdiger Herr ! “ ſagte der Handwerker verletzt .
„ Ah , Ihr wollt den Gekraͤnkten ſpielen ! Das ver¬
lohnte ſich der Muͤhe ! Ihr werdet das wohl ſchon oͤf¬
ters gehoͤrt haben , und ich verdenke es den Leuten gar
nicht , wenn ſie einem Taugenichts , wie Ihr ſeid , keine
Arbeit geben . “ —
„ Gnaͤdiger Herr , “ erwiederte Schenk , ſich aufrichtend ,
„haͤtte ich immer den vollen Gebrauch meines geſunden
Armes gehabt , ſo waͤre ich vielleicht nicht in die Noth
verfallen , die mich zu dem Verbrechen verleitete ! “ —
„ So ! Ihr glaubt wohl ein Recht auf meine Unter¬
ſtuͤtzung zu haben ? “ rief der vornehme Mann . „ Da
ſeid Ihr aber im Irrthum . Ich habe Euch pflegen und
kuriren laſſen , und noch Geld obendrein zu einem ehrli¬
chen Geſchaͤft gegeben . Damit Baſta ! Eure Halunke¬
Armuth und Verbrechen.
reien zu unterſtuͤtzen , habe ich wahrlich nicht noͤthig . Jetzt
ſcheert Euch Eurer Wege ! “ —
„ Sie haben gar keine Verpflichtung gegen mich —
ich weiß das , “ ſagte Schenk ploͤtzlich , uͤber die Wendung
erſchreckt , „ ich wollte ja nur ſagen , daß ich vor meinem
Ungluͤck zufrieden und ehrlich gelebt habe , und daß ich
gewiß wieder ſo leben wuͤrde , wenn ich ausreichende Ar¬
beit haͤtte . Ich wollte Sie ja nur bitten , gnaͤdiger
Herr — “
„ Nichts da ! Ich habe es ſchon einmal gethan und
es hat nichts bei Euch geholfen , ſo wuͤrde es auch jetzt
nichts helfen . In ein paar Tagen waͤret Ihr wieder ſo
weit , und wuͤrdet wieder mit Betteleien kommen . Es
iſt beſſer , daß Ihr Euch von vornherein daran gewoͤhnt ,
ſelbſt zu ſorgen und zu arbeiten , ſtatt daß Ihr durch
Unterſtuͤtzungen , die doch einmal aufhoͤren muͤſſen , im
Faullenzen beſtaͤrkt und fuͤr die Zukunft verdorben wer¬
det ! “ —
„ Gnaͤdiger Herr , nur dies eine Mal noch ! Haben
Sie Erbarmen mit meiner Familie ! “—
„ Ich gebe Euch mein Wort , daß ich nichts mehr
fuͤr Euch thue , macht , daß Ihr fortkommt ! “ ſagte der
Gnaͤdige ſtreng .
Armuth und Verbrechen.
„ Meine Familie , Herr ! Mein Weib und mein
krankes Kind ! “ —
„ Ich habe auch Familie und kann mich fuͤr Euch
nicht aufreiben ! 's iſt auch zu Eurem eignen Beſten .
Ihr werdet arbeiten lernen ! — Macht fort , macht fort !
Ich ſag' Euch , ich geb' Euch nichts ! “ —
„ Sie ſind Schuld , wenn wir elendiglich verderben ,
gnaͤdiger Herr ! “ rief der Handwerker in Verzweiflung .
„ Wollt Ihr Euch gleich zum Henker ſcheeren , Ha¬
lunke , oder ſoll ich Euch hinauswerfen laſſen ? — Wird 's
noch nicht bald ? “ —
Schenk ſtand wie eingewurzelt , den verzweiflungs¬
vollen Blick flehentlich auf den reichen Mann gerichtet ,
die Haͤnde krampfhaft in einander gefaltet . Erſt als der
erbitterte Herr mit Heftigkeit an der Klingel riß , wendete
er ſich langſam nach der Thuͤr und ſchritt hinaus auf
die Straße .
„ Daß Ihr mir dieſen Kerl nicht wieder hereinlaßt ,
wenn er wieder kommt ! “ ſagte der Gnaͤdige zu ſeinem
Bedienten .
Aber Schenk kam nicht wieder . Draußen vor dem
Hauſe des Reichen ſtand er einen Augenblick ſtill und
Armuth und Verbrechen.
murmelte in kochender Wuth , waͤhrend er drohend die
geballte Fauſt in die Hoͤhe reckte :
„ Moͤge mein Blut uͤber Dich kommen , Du un¬
barmherziger Hund ! Moͤge der Jammer meines Weibes
und meines unſchuldigen Kindes auf den Seelen der
Deinen brennen , und Dein verfluchtes Geſchlecht in der¬
ſelben Noth und Verzweiflung verderben laſſen ! “ —
Dann wendete er ſich ab und ſchritt weiter , ſchnell
und entſchloſſen , nach der Schenke , wo , wie er wußte ,
Will Fiſcher ihn erwartete .
Am andern Morgen erzaͤhlte man ſich allenthalben
von einer Diebsbande , die bei einem frechen , naͤchtlichen
Einbruch von der Polizei ertappt und aufgehoben worden
ſei . Schenks Frau aͤngſtigte ſich noch nicht daruͤber , daß
ihr Mann die Nacht uͤber ausgeblieben war , denn er
hatte ſich oͤfters , um ſein haͤusliches Leid nicht zu ſehn ,
in einer Kneipe eine Streu geſucht . Am Nachmittag
aber kam der Hausmann , kuͤndigte ihr in brutalen Wor¬
ten das Schickſal ihres Mannes an und ſagte , daß ſie
Armuth und Verbrechen.
jetzt , wo ſie ihm allein gar keine Garantie mehr biete ,
ungeſaͤumt ausziehen muͤſſe . Dann ließ er ſie mit ihrer
Verzweiflung allein .
Den Nachmittag uͤber blieb die Aermſte noch in die¬
ſer Staͤtte des Jammers zuruͤck . Sie ſaß vor dem Bett
ihres Kindes , ſtumm und in ſich gekehrt . Kein Laut
der Klage entſchluͤpfte ihren Lippen , ihre Augen waren
trocken , aber ihr Blick brannte auf die Zuͤge ihrer ſchlum¬
mernden Kleinen . Am Abend , als die Dunkelheit tiefer
hereingebrochen war , hing ſie ihren Mantel um , nahm
das Kind in den Arm und ſchritt durch die Gaſſen . Als
ſie am Quai angekommen war , machte ſie Halt und
zog ihr Kind noch einmal aus der Verhuͤllung des Man¬
tels hervor . Das ſchwankende Licht einer entfernten La¬
terne fiel auf die Zuͤge der ſchlummernden Kleinen , und
blitzte wieder in den perlenden Thraͤnen , die jetzt heiß aus
den Augen der Mutter rollten . Sie kuͤßte die kleinen
Zuͤge mehrmals feſt und innig , und ihre Lippen bewegten
ſich , wie zum Gebet . Als das Kind ſich dann leiſe zu
bewegen begann , machte ſie eine raſche Bewegung und
ſprang mit ihm in den Fluß . — —
Schenk vernahm von dem Ende der Seinen nichts .
Da ſein Inquirent ein ausfuͤhrliches Geſtaͤndniß , nament¬
Armut und Verbrechen.
lich in Bezug weiterer Mitſchuldigen , zu erlangen hoffte ,
ſo wurde er in einſamem , ſtrengem Gewahrſam gehalten ,
und ſo konnte ihn das Ausbleiben ſeiner Frau nicht wun¬
dern . Aber der Gedanke an ſie , die Huͤlfloſe , Verzwei¬
felnde , nagte graͤßlich in ſeinem Innern . Zuweilen ergriff
ihn eine ploͤtzliche Angſt , daß er haͤtte aufſchreien oder
weit , weit fortlaufen moͤgen , dann wieder verfiel er in
den tiefſten Truͤbſinn . In einer Nacht fuhr er aus einem
Traum auf . Die Angſt jagte ihn ruhelos im Zimmer
umher , und die hoffnungsloſe Verzweiflung ſeiner Lage
ließ ihn ſeinem Zuſtande ein Ende machen . Er ſtieg auf
einen Stuhl in der Naͤhe des Fenſters , band ſein Hals¬
tuch um den Hals , knuͤpfte dann die Enden feſt an die
Gitterſtaͤbe des Fenſters und ſtieß den Stuhl unter ſich
mit dem Fuße fort .
Als am Morgen der Gefangenwaͤrter eintrat , hatte
die gequaͤlte Seele Ruhe gefunden .
Nachdem in jener Nacht des Einbruchs die Diebe
gluͤcklich eingefangen waren , hatte ſich Will Fiſcher , im
Armuth und Verbrechen.
Voraus eines gnaͤdigen Empfanges gewiß , ſeinem Chef
praͤſentirt .
„ Ihr ſeid ein brauchbarer Mann , Fiſcher , “ ſagte der
Polizeirath , indem er ihm den Lohn auszahlte . „ Dient
mir ſo fort , und es ſoll Euer Schade nicht ſein . “ —
Polizeiliche Eheſcheidung .
„ Schließlich wird darauf aufmerkſam gemacht , daß , wenn
ſich ein Inlaͤnder im Auslande ohne die , mit kreis¬
amtlicher Beglaubigung verſehene , Zuſtimmung des
Stadtrathes ſeiner Heimath verheirathet , die ihm
angetraute Auslaͤnderin und die mit ihr erzeugten
Kinder ein Heimathsrecht in hieſigen Landen nicht
anzuſprechen haben . “ —
Aus den Kurfuͤrſtl . Heſſ. Heimathſcheinen .
„ Die Eigenſchaft als Preuße geht verloren : — —4 ) bei
einer preußiſchen Unterthanin durch deren Verheira¬
thung an einen Auslaͤnder . “ —
Preuß. Geſetzſammlung ; Geſ. v. 31 . Dez , 1842 ,
Nr. 2320 , §. 15 .
„ W ie ich Euch ſage , Frau Gevatterin ! Wie ich Euch
ſage . Hat die graͤulichſten , gotteslaͤſterlichſten Dinge dru¬
cken laſſen , glaubt weder an Gott , noch den Teufel ,
noch den Koͤnig ! “ —
„ Gott ſteh ' uns bei , Frau Gevatterin ! “ —
„ Wie ich Euch ſage . Und heute Morgen iſt der
Kommiſſair gekommen mit vier Gensd'armen , hat ihm
alle ſeine Briefſchaften verſiegelt , und ihn nach der Vogtei
gefuͤhrt . “ —
„ Was man nicht erlebt in dieſen Zeiten ! Dieſer
ſtille , magere Menſch mit dem Waſſerſuppengeſicht , —
ei , Du mein Gott , wer haͤtt 's von dem gedacht , daß
er einmal mit der Polizei zu thun kriegte ! —
„ Hab 's immer geſagt , Frau Gevatterin , ſind Heim¬
tuͤcker , die Kerle . Jetzt ſieht man's . Ein Kommiſſai
mit vier Gensd'armen , und am hellen Tage durch die
Stadt gefuͤhrt ! “ —
4
Polizeiliche Eheſcheidung.
„ Ach , und die arme junge Frau mit ihren drei
Kindern ! Um die thut 's mir leid , Gott verzeih mir's ,
nicht um den Mann , nicht im Geringſten . Aber es
war ſo eine liebe , gute Frau , trug ſich immer ſo nett
und war ſo freundlich — Herr , mein Gott , was wird
das fuͤr ein Schlag fuͤr die arme Frau geweſen ſein ! “—
„ Iſt aber ſelbſt Schuld daran , Frau Gevatterin ,
warum hat ſie ſich mit ſo Einem eingelaſſen . Das Li¬
teratenvolk iſt gar nichts werth . Aus aller Herren Laͤn¬
dern werden ſie weggejagt , laufen in der Fremde herum ,
oder werden eingeſperrt . Alle Wochen ſteht ſo eine Ge¬
ſchichte in der Zeitung , und erſt neulich hab' ich geleſen ,
daß ſie Einen auf ſieben Jahre nach Magdeburg auf
die Feſtung gebracht haben . “ —
„ Ei Du mein Gott , Frau Gevatterin ! Auf ſieben
Jahre , das iſt ja graͤulich ! “ —
„ Ja , und die Zeitungen ſind immer voll von ſolchen
Sachen . Die Polizei iſt ihnen immer auf den Hacken ,
was kann da Gutes an den Leuten ſein ? Nicht einen
Dreier geb' ich auf ſolch' einen Kerl . “ —
Polizeiliche Eheſcheidung.
Das Geſpraͤch , welches wir die beiden Weiber auf
der Gaſſe in K. eben fuͤhren hoͤrten , bezog ſich auf einen
jungen Mann , Namens Paul . Derſelbe hatte fruͤher
dem Studium der Theologie obgelegen und ſeine Pruͤ¬
fungen mit glaͤnzendem Erfolg beſtanden . Von der
Kandidatur aber war er durch das Konſiſtorium in ſeiner
Heimath zuruͤckgewieſen worden , weil die in ſeiner Probe¬
predigt ausgeſprochenen Grundſaͤtze als der herrſchenden
Richtung zuwiderlaufend erachtet wurden . Paul hatte
von Haus aus nur ein kleines Vermoͤgen beſeſſen , und
dies war durch ſeine Studien faſt gaͤnzlich erſchoͤpft . Als
ihm daher durch das Konſiſtorium die Ausſicht auf eine
Anſtellung abgeſchnitten ward , mußte er ſich eine andere
Exiſtenz zu begruͤnden ſuchen . Er verließ zunaͤchſt ſeine
Heimath und begab ſich nach K. , wo er Gelegenheit
fand , ſeine Thaͤtigkeit auf literariſche Arbeiten zu ver¬
wenden . Nach einem Jahre heirathete er hier ein jun¬
ges , liebenswuͤrdiges Maͤdchen aus den ſogenannten gebil¬
deten Staͤnden , der aus ihren einſt gluͤcklichen Verhaͤlt¬
niſſen nur ein geringes Kapital geblieben war . Indeß
verſchaffte dies und die Thaͤtigkeit Pauls den beiden Gat¬
ten eine hinlaͤnglich ruhige Exiſtenz und ihr beſcheidenes
Gluͤck ward lange durch nichts getruͤbt . Thereſe ſchenkte
4 *
Polizeiliche Eheſcheidung.
ihrem Gatten im Laufe der Zeit drei Kinder . Sie war
eine ſchlanke huͤbſche Blondine , voll ſittſamer , natuͤrlicher
Liebenswuͤrdigkeit , die durch ihr einfaches Weſen Alle , die
ihr nahe kamen , feſſeln mußte . Ihren Gatten liebte ſie
mit unausſprechlicher Hingebung , und die Kinder , auf
welche Beide ihre ganze Sorgfalt wendeten , befeſtigten das
innige Band des Paares immer mehr . Um dieſe Zeit
erregte eine Arbeit Pauls — in welcher Art , iſt hier
gleichguͤltig — die Aufmerkſamkeit der Polizei . Ganz
wie oben die beiden Weiber erzaͤhlten , trat eines Morgens
ein Polizeibeamter mit vier Gensd'armen in Pauls Woh¬
nung , durchſtoͤberte , obgleich Paul ſich zu dem quaͤſtio¬
nirten Artikel bekannt hatte , alle Papiere deſſelben , ſteckte
Briefe und Manuſcripte ein und fuͤhrte Paul mit ſich
fort . Thereſe gerieth dabei in die entſetzlichſte Angſt .
Mit Thraͤnen der Verzweiflung fiel ſie dem Beamten zu
Fuͤßen und beſchwor ihn , jede Garantie zu verlangen
und ihr nur den Gatten zu laſſen . Der Kommiſſair
hob ſie artig auf und ſagte , daß er nur das Werkzeug
einer hoͤhern Macht ſei .
„ Uebrigens , “ meinte er beruhigend , „ wuͤrde die Sache
wohl nicht viel zu bedeuten haben . “ —
In der That wurden auch die Beſorgniſſe Thereſens
Polizeiliche Eheſcheidung.
— wenigſtens fuͤr den Augenblick — bald zerſtreut , denn
nach Verlauf von einigen Stunden kehrte Paul von der
Polizei zu ſeiner Gattin zuruͤck .
Paul war ein Auslaͤnder , ein Deutſcher naͤmlich . Als
er ſich in K. verheirathet hatte , war er um Ertheilung
des Buͤrgerrechts eingekommen , die Polizei aber hatte ihm
den Beſcheid gegeben , daß man gegen ſeinen Aufenthalt
in K. zwar nichts habe , ihm aber das Buͤrgerrecht vor¬
laͤufig nicht ertheilen koͤnne . Da die Gemeinden zur
Aufnahme von Auslaͤndern nicht verpflichtet ſind , ſo hatte
ſich Paul damals bei dieſem Beſcheide begnuͤgen muͤſſen .
Als er jetzt nach der Polizei gebracht wurde , nahm man
einfach ein Protokoll uͤber ſeine Verhaͤltniſſe auf ; ſein
Antrag : wenn irgend etwas gegen ihn vorliege , ihn zur
gerichtlichen Verantwortung zu ziehen , ward nicht beach¬
tet . Das Warum ? mag der ſcharfſinnige Leſer ſelbſt
errathen . Statt deſſen aber erhielt Paul nach einigen
Tagen die polizeiliche Weiſung , Stadt und Land zu ver¬
laſſen .
Polizeiliche Eheſcheidung.
Eine polizeiliche Ausweiſung hat viel fuͤr ſich . Es
bedarf dazu weder eines richterlichen Erkenntniſſes , noch
einer geſetzlichen Vorlage , und doch erreicht man ſeinen
Zweck zuweilen vollſtaͤndiger , als durch eine voruͤbergehende
Haft . Der Fluͤchtige , der nicht weiß , wohin er ſein
Haupt legen ſoll , gewinnt ſelten Zeit zu ſogenannten
Mißliebigkeiten . Faßt er dann auch in der Fremde Fuß ,
ſo hat er doch bald den richtigen Blick fuͤr die Verhaͤlt¬
niſſe ſeiner Heimath verloren , und iſt mindeſtens fuͤr die
lokalen Ereigniſſe der Gegend unſchaͤdlich gemacht , aus
der man ihn vertrieben hat . In neueſter Zeit hat man
denn auch die mannigfachen Vorzuͤge ſolcher Maßnahmen
wohl eingeſehen , und in gewiſſen Laͤndern breitet man
dieſe Erfahrung auch dahin aus , daß man mißliebige
Beamte von einer Stadt zur andern verſetzt , ohne ſie zu
Athem kommen zu laſſen .
Als Paul die polizeiliche Ausweiſung aus Stadt und
Land erhielt , antwortete er in einem Anflug von Humor ,
er wuͤrde binnen 5 Minuten dem Befehl nachgekommen
ſein . Er traf zu Hauſe noch einige Vorkehrungen , troͤ¬
ſtete ſeine weinende Frau mit der Hoffnung , daß ſie bald
wieder vereinigt ſein wuͤrden , und begab ſich uͤber die
Grenze nach der Reſidenzſtadt des benachbarten Landes .
Polizeiliche Eheſcheidung.
Aber der Empfang war hier nicht der erwartete . Wer
einmal von der Polizei gezeichnet worden iſt , kann einer
ſteten Aufmerkſamkeit von kleinlichen , berichtluſtigen Po¬
lizeiſeelen gewiß ſein , denn wenn man irgend in deutſchen
Verhaͤltniſſen Einigkeit ſuchen duͤrfte , ſo waͤre es in denen
der Polizei . Paul wurde abermals verwieſen , oder erhielt
vielmehr von vornherein keine Erlaubniß zum Aufenthalt .
Ein Grund wurde ihm fuͤr dieſe Maßnahme nicht ange¬
geben , aber man gab ihm zu verſtehen , daß es wegen ſeiner
Verweiſung in K. geſchehe ; man wollte der Moͤglichkeit
vorbeugen , in eine aͤhnliche Nothwendigkeit verſetzt zu
werden . Das nennt man eine Praͤventivmaßregel . Paul
wollte zwar die Richtigkeit einer ſolchen nicht einſehen ,
und meinte , daß man demgemaͤß auch Jeden auf die
bloße Moͤglichkeit hin , er koͤnne einmal wahnſinnig wer¬
den , in ein Irrenhaus ſperren duͤrfe , eine Sache , die
doch noch nicht erhoͤrt ſei : die Polizei aber geſtattete ihm ,
auswaͤrts daruͤber nachzudenken , und transportirte ihn uͤber
die Grenze . Dieſe Geſchichte wiederholte ſich noch ein¬
mal , und wenn Paul nicht noch einige dreißig Mal aus¬
gewieſen wurde , ſo lag das einzig darin , daß er endlich
die Gelegenheit dazu vermied . Sein Gemuͤth wurde all¬
maͤhlig furchtbar erbittert , und es laͤßt ſich ſchwer be¬
Polizeiliche Eheſcheidung.
ſchreiben , was in der Bruſt des Fluͤchtlings vorging ,
waͤhrend er ſo gehetzt von Stadt zu Stadt zog . Aber
er bedurfte der Ruhe , und wiewohl es ihm gar ſauer
erſchien , beſchloß er doch zuletzt , ſich wieder in ſeine Hei¬
math zu begeben , deren Verhaͤltniſſen er entfremdet wor¬
den war . Er begab ſich alſo nach — Kurheſſen .
Kurheſſen iſt ein ſchoͤnes , deutſches Land . Es ſind
viel brave Leute da geſtorben , wie z. B. der Buͤrger¬
meiſter Schomburg , viele auch nicht , wie die im vori¬
gen Jahrhundert nach Amerika verſendeten Soldaten . In
Kurheſſen iſt Herr von Haſſenpflug Miniſter geweſen , und
Sylveſter Jordan nicht geboren .
Als Paul in dieſem Lande angekommen war , miethete
er ſich eine Wohnung , und ſchrieb ſeiner Frau , daß ſie
ihre Sachen ordnen und ihm mit den Kindem nach¬
kommen moͤge . Thereſe wurde von ihren Einrichtungen
faſt zwei Monate zuruͤckgehalten , da der Verkauf ihrer
Moͤbeln , die Vermiethung der Wohnung und aͤhnliche
Anordnungen ihr viel zu ſchaffen machten . Als ſie bei
Polizeiliche Eheſcheidung.
ihrem Gatten eintraf , war der Herbſt eben angebrochen .
Hier wurden die Anſtalten indeß ſchneller beſorgt und die
wiedervereinigten Gatten begannen bald ihre Trennung in
der freudigen Zuverſicht auf eine ruhige Zukunft zu ver¬
ſchmerzen . Aber das Ungluͤck , wenn es einmal ein Opfer
erkoren , laͤßt ſich ſo leicht nicht von der Spur bringen .
In Pauls Vaterſtadt befand ſich unter den Ge¬
meindevorſtaͤnden ein Mann , mit dem Paul zuſammen
die Schule und Univerſitaͤt beſucht hatte . Die beiden
Geſpielen waren einander fruͤh entfremdet worden . Paul
hatte ſich von Anfang an mit ausſchließlichem Ernſt ſei¬
nen Studien zugewendet , waͤhrend der lebhafte Konrad
den Freudenbecher des ungebundenen Studentenlebens bis
auf die Hefe genoß . Sie ſahen ſich dazumal ſchon ſel¬
ten . Ein tieferes Mißverhaͤltniß entſtand aber , als Paul
in Folge eines Zuſammentreffens mit einem andern Stu¬
denten ſich weigerte , „ loszugehen . “ Konrad hielt ihn von
da an fuͤr einen Feigling und Heimtuͤcker , und wenn ſich
die fruͤheren Jugendgeſpielen auf der Straße begegneten ,
gingen ſie ſtumm an einander voruͤber . Spaͤter verloren
ſie ſich aus den Augen . Paul ſiedelte nach K. , waͤhrend
Konrad in Staatsdienſte trat . Er hatte in der Reſidenz
einen maͤchtigen Verwandten , deſſen Protektion ihn eine
Polizeiliche Eheſcheidung.
ſchnelle Karriere machen ließ . Gegenwaͤrtig bekleidete er
das oberſte Gemeindeamt in ſeiner Vaterſtadt , und galt
hier ſeiner perſoͤnlichen Stellung , wie ſeines weitern Ein¬
fluſſes wegen fuͤr den angeſehenſten Mann . Als Paul
jetzt zuruͤckkehrte , war der alte Groll zwar im Laufe der
Zeit ziemlich verdampft , aber eine leiſe Mißachtung war
doch in Konrads Herzen gegen den „ Heimtuͤcker “ geblie¬
ben . Da Paul keinen Schritt that , um ſich dem ehe¬
maligen Kameraden zu naͤhern , vielmehr als er Konrads
Stimmung erkannte , ſich in kalte , fremde Gleichguͤltig¬
keit zuruͤckzog , ſo ſtieg in Konrad bald auch eine gewiſſe
Eiferſucht auf ſein buͤrgerliches Anſehen auf , und er
wuͤnſchte im Stillen eine Gelegenheit herbei , den zwei¬
deutigen Kaltſinn Pauls durch einen Beweis ſeiner Macht
zu beugen . Dieſe Gelegenheit wurde ihm , Dank einigen
kleinen Beamtenſeelen , ganz unerwartet ſchnell gegeben .
Eines Morgens erhielt Paul eine Zuſchrift der ſtaͤdti¬
ſchen Polizei , worin er aufgefordert wurde , einen Hei¬
mathſchein fuͤr ſeine Frau und Kinder beizubringen , indem
man ihnen nur gegen einen ſolchen Nachweis den Auf¬
Polizeiliche Eheſcheidung.
enthalt geſtatten duͤrfe . Paul war ziemlich entruͤſtet uͤber
dieſe fortgeſetzte „ Plackerei , “ wie er meinte . Er ſchrieb
an die Behoͤrde zuruͤck , daß er ſelbſt Heimathrechte am
Ort beſitze , und daß es fuͤr ſeine Frau und Kinder wohl
weiter keiner Nachweiſe beduͤrfe . Nach Verlauf einiger
Tage erhielt er eine neue Zuſchrift , die ihn belehrte , daß
ſeine im Auslande ihm angetraute Gattin und deren
Kinder kein Heimathrecht am Ort haͤtten ; daß man ihnen
den Aufenthalt nicht verweigern wolle , aber zuvoͤrderſt
ihre Heimath kennen muͤſſe , damit ſie bei eintretender
Verarmung nicht der Gemeinde zur Laſt fielen . Paul
begann nun einzuſehen , von welcher Seite betrieben werde ,
und wendete ſich mit einer ausfuͤhrlichen Beſchwerde an
das Miniſterium . Es waͤhrte einige Wochen , bevor er
von dieſem beſchieden wurde , und als er die Entſchließung
erhielt , erfuhr er , daß ſeine Beſchwerde fuͤr unbegruͤndet
befunden worden ſei .
„ Seine Frau und Kinder , “ hieß es , „ haͤtten geſetzlich
ein Heimathrecht in den kurheſſiſchen Landen nicht anzu¬
ſprechen , und da die Gemeinden zur Aufnahme von
Auslaͤndern nicht verpflichtet ſeien , ſo koͤnne ſich der Mi¬
niſter auch nicht fuͤr ermaͤchtigt halten , die Entſchließung
der ... Behoͤrde in irgend einer Weiſe abzuaͤndern . “
Polizeiliche Eheſcheidung.
Gleichzeitig aber mit dieſer Beſcheidung Pauls traf
auch ein Schreiben an die Polizeibehoͤrde ein , wonach
dieſe angewieſen wurde , Pauls Gattin und Kinder , wel¬
chen von der Gemeinde die Aufnahme verſagt worden
ſei , ſofort nach ihrer Heimath zu verweiſen . Vielleicht
hatten die harten Worte in Pauls Beſchwerde dieſe ſchnelle
Maßnahme hervorgerufen , — wenigſtens meinte der Po¬
lizeibeamte , der den Befehl an Paul uͤberbrachte , daß es
wohl anders ausgefallen waͤre , wenn Paul , ſtatt ſich zu
beſchweren , bittend eingekommen waͤre . Selbſt Konrad
war von dieſer Wendung uͤberraſcht . Da er von Natur
nicht boshaft war , hatte er an einen ſolchen Ausgang
nicht gedacht . Seine Abſicht war vielmehr einzig die ge¬
weſen , Paul ſeine Macht fuͤhlen zu laſſen und ihm eine
Art Ergebenheit abzuzwingen . Paul empfing die Nach¬
richt ſtumm und ſchweigend . Er ließ Thereſen nur ihre
noͤthigſten Sachen ordnen , und geleitete ſie und die Kin¬
der noch bis zur Grenze .
So waren alſo die beiden Eheleute durch einen poli¬
zeilichen Machtſpruch geſchieden . Paul blieb zuruͤck , in
Polizeiliche Eheſcheidung.
ſeinem Innern voll tiefen , bitteren Grolles uͤber die Mi¬
ſere der deutſchen Heimathverhaͤltniſſe ; Thereſe reiſte nach
K. , bangen und geknickten Herzens uͤber ihr Schickſal und
die Trennung von ihrem Gatten . Ihr ahnte im Stil¬
len , daß ſie einander nicht wiederſehen wuͤrden . In K.
wurde ihre Stimmung truͤber und krankhafter . Ihr
ſcheues Herz zog ſich vor jeder Beruͤhrung mit Menſchen
zuſammen , der Gram nagte an ihrem Lebensmark , und
das junge bluͤhende Geſchoͤpf begann langſam und elend
hinzuſiechen . Zu allem Ungluͤck war durch die mehrfachen
Reiſen und Einrichtungen der groͤßte Theil ihres Vermoͤ¬
gens erſchoͤpft worden . Paul muͤhte und quaͤlte ſich
zwar , aber es wollte doch nichts recht gelingen . Die
ſtille , friedliche Ordnung war jetzt nicht herzuſtellen , wie
auch Paul mit neuen Hoffnungen auf eine gluͤcklichere
Zukunft in der Fremde ſie aufzurichten ſuchte ; es erkrank¬
ten zudem zwei von den Kindern , und Thereſe , ſelbſt
leidend , konnte nun ihrem Hausweſen vollends nicht mehr ,
wie fruͤher , ordnend und ſorgend vorſtehen . Da traf ſie
zerſchmetternd der letzte Schlag , die Trauerpoſt von Pauls
Tode .
In Pauls Gemuͤth hatte ſich ſeit der Trennung von
Thereſen und den Kindern immer mehr und mehr der
Polizeiliche Eheſcheidung.
verbiſſene Grimm gehaͤuft . Sein frommer , haͤuslicher
Friede war ihm geraubt , ſein ſtiller Heerd mit der heiligen ,
abgeſchiedenen Ruhe der Liebe zerſtoͤrt , was Wunder , daß
da der Haß gegen ſeine Verfolger wie Unkraut aus den
Truͤmmern ſeines Gluͤcks emporwucherte ? Eines Tages
ließ ſich Paul in Geſellſchaft einiger Freunde an einem
oͤffentlichen Ort ſehr heftig uͤber gewiſſe Verhaͤltniſſe aus .
An einem benachbarten Tiſch ſaß ein Lieutenant , deſſen
eben ausgezahlte Gage ihm eine beſondere Wuͤrde zu ver¬
leihen ſchien . Bei den Worten Pauls erhob er ſich , und
an die Geſellſchaft herantretend forderte er Paul auf , ſeine
Ausdruͤcke zuruͤckzunehmen , oder ihm dafuͤr Satisfaction
zu geben . Paul antwortete ihm , daß er gar nicht zu
ihm oder uͤber ihn geſprochen , alſo ihm gegenuͤber auch
nichts zuruͤckzunehmen habe ; von Satisfaction koͤnne aus
demſelben Grunde keine Rede ſein , weshalb er ſich eine
andere Gelegenheit zur Auszeichnung ſuchen moͤge . Der
trunkene Lieutenant riß hierauf , in einem herzerhebenden
Anfall ritterlicher Treue gegen den Landesherrn , den De¬
gen aus der Scheide , und mit dem Ausruf : „ Blut muß
es abwaſchen ! “ verſetzte er Paul einen tiefen Stich in
den Oberſchenkel . Wie er ſpaͤter ausſagte , hatte er Paul
keineswegs zu toͤdten beabſichtigt , da er ihn in dieſem
Polizeiliche Eheſcheidung.
Fall wohl durch die Bruſt geſtoßen haben wuͤrde ; viel¬
mehr ſei es nur ſeine Abſicht geweſen , ihn zu verwunden ,
und durch das Blut ſeine verletzte Standesehre wieder
herzuſtellen . Der Degen aber hatte eine Roͤhre zerſchmet¬
tert , und Paul ſtarb unter großen Schmerzen und ge¬
foltert von dem Gedanken an Frau und Kinder noch in
der folgenden Nacht .
Den Eindruck ſchildern zu wollen , den dieſe Nach¬
richt auf Thereſen machte , iſt mir nicht moͤglich . Als
ſie aus ihrem beſinnungsloſen Zuſtand erwachte , erfuhr
ſie , daß ſie faſt zwei Monate krank , in fremder Pflege ,
darniedergelegen hatte . Die Erinnerung an die Veranlaſ¬
ſung haͤtte ſie beinahe von Neuem auf's Krankenlager
geworfen , und ihre Auszehrung nahm ſeitdem einen ſchnel¬
leren Gang an . Nur der Gedanke an ihre Kinder hielt
ſie ſo weit noch aufrecht , daß ſie ſich muͤhſam in ihrem
Hausweſen dahinſchleppen konnte . Aber das Hausweſen
ſelbſt kam immer mehr zuruͤck . Es fehlte das Band des
zufriedenen , wenn auch noch ſo beſcheidenen Gluͤckes ,
welches das Ganze in Ordnung und ſchaffender Luſt zu¬
ſammenhaͤlt , und allmaͤhlig ging auch der kleine Reſt
ihres fruͤheren Vermoͤgens , der durch die Krankheit noch
mehr geſchmaͤlert worden war , gaͤnzlich zur Neige . Thereſe
Polizeiliche Eheſcheidung.
duldete und zoͤgerte in ungewiſſer , zager Erwartung lange
Zeit ; als ſie aber keinen anderen Ausweg ſah , wendete
ſie ſich , um Unterſtuͤtzung bittend , an — die Armendi¬
rektion . Hier ſtieß ſie auf neue Schwierigkeiten .
Der Gemeindevorſtand beſtritt ihre Heimathrechte am
Ort , da ſie nach den Geſetzen des Landes durch ihre
Verheirathung an einen Auslaͤnder derſelben verluſtig ge¬
gangen ſei . Es wurde daher erſt mit den Heimathbe¬
hoͤrden ihres verſtorbenen Mannes eine ausfuͤhrliche Kor¬
reſpondenz eroͤffnet , ihr ſelbſt aber , auf ihr wiederholtes
dringendes Erſuchen , einſtweilen und ein fuͤr alle Mal
eine ſo kleine Summe Geldes gereicht , daß die Familie
kaum zwei Wochen davon zu leben hatte .
Waͤhrend deſſen hatte ſich auch ein fruͤherer Bekann¬
ter Pauls der Frau angenommen und durch eine Kol¬
lekte fuͤr ſie eine neue Summe zuſammengebracht . Das
Geſchenk war als augenblicklicher Nothbehelf recht anſehn¬
lich , aber zur Sicherung eines beſſern zukuͤnftigen Looſes
reichte es entfernt nicht aus , und nach einigen Wochen
mußte die Lage der Ungluͤcklichen wieder dieſelbe ſein .
Thereſe ſcheute ſich ihre Wohlthaͤter abermals anzuſpre¬
chen , und nur ſpaͤt auf mehrfache Verſuche , nachdem
ihre bitterliche Noth erſt gepruͤft und konſtatirt worden
Polizeiliche Eheſcheidung.
war , erhielt ſie von der Armendirektion von Neuem eine
kleine , mehr als duͤrftige Unterſtuͤtzung .
Das iſt das ewige Geſchick des Armen . Die Wohl¬
thaͤtigkeit iſt nur eine Grauſamkeit , die ihn im Elend
erhaͤlt und durch das Gefuͤhl ſeiner huͤlfloſen , jedem Ver¬
ſuch eigner Erhebung trotzenden Abhaͤngigkeit entwuͤrdigt
und demoraliſirt .
Einige Zeit ſpaͤter treffen wir jene beiden Weiber wie¬
der , deren Geſpraͤch wir oben ſchon einmal belauſchten .
Sie ſtehen vor einer Hausthuͤr und ſchauen dem ſchwar¬
zen Leichenwagen nach , der einfach und ohne Geleit die
Straße hinabfaͤhrt .
„ Gott habe ſie ſelig ! “ ſagt die Eine . „ Es war doch
eine brave Frau , und es thut mir wahrhaftig leid um
die armen Kinder . Sie haben eine gute und rechtſchaffene
Mutter verloren . “ —
„ Ja , Gott verzeih ' ihr . Sie hat den dummen
Streich , daß ſie den confiscirten Buͤchermacher geheirathet ,
ſchwer genug gebuͤßt ! Was aber die Kinder betrifft , nun
ſo iſt ja das eine ſchon verſorgt , und die beiden andern
werden wohl auch noch unterkommen . “
5
Polizeiliche Eheſcheidung.
„ Ja , das aͤlteſte hat der Schuhmacher im Keller
dort zu ſich genommen , die andern ſind in's Waiſenhaus
gebracht worden . “ —
„ Das hat lange genug gedauert . Der Magiſtrat
wollte nichts davon wiſſen , weil der Mann ein herge¬
laufener Menſch war , und bei ihm zu Hauſe wollten ſie
auch nichts damit zu thun haben . Alſo jetzt ſind ſie
doch hier im Waiſenhaus untergebracht . “ —
„ Ja , die Stadt hat zuletzt fuͤr Alles aufkommen
muͤſſen , auch fuͤr das Begraͤbniß der Frau . Nun , Gott
hab' ſie ſelig ! “ —
So war es . Die Kinder im Waiſenhaus und in
fremder Pflege , die Mutter auf oͤffentliche Koſten begra¬
ben , und der Vater — nun , gute Nacht !
Das iſt ſo eine Geſchichte aus der deutſchen „ Heimath “ .
Die Sünderin .
„ Fremde Geſellen oder Dienſtboten ſind , wenn ſie in drei
Tagen nach ihrer Ankunft keinen Dienſt finden oder
nach ihrer Entlaſſung aus dem Dienſt ſich drei Tage
arbeitslos umhertreiben , ſofort aus der Stadt zu
verweiſen . “ —
Polizeireglement einer norddeutſchen Reſidenz .
5 *
S ie war noch immer ſehr ſchoͤn . In ihrem Antlitz
lag der Ausdruck jener madonnenhaften , jungfraͤulichen
Unſchuld , mit der die chriſtliche Mythe ihre Gottesmutter
ausmalt , jenes goͤttliche , erdenvergeſſende Gluͤck , das wir
zuweilen den jungen Muͤttern den Reiz der maͤdchenhaf¬
ten Reinheit bewahren ſehen . Ihr Auge , ihr ſchoͤnes ,
großes , waſſerblaues Auge , war von einer himmliſchen
Sanftmuth . Die langen Wimpern hingen daruͤber , wie
Trauerweiden uͤber dem Bild der Himmelsſterne in dem
friedlichen , hellklaren Spiegel eines See 's , und das weiche ,
blonde Seidenhaar ſaͤumte mit ſeinen Wogen ihre ruhige
Stirn , wie ſilberne Wolken den verklaͤrten , traͤumenden
Himmel . Ihre Wangen , wie zwei Purpurbluͤthen , ſtrahl¬
ten den goldenen Glanz des friſchen Lenzhauches . Ihre
Geſtalt war ſchlank , ihre Bewegungen faſt ſchwebend ,
ihr Haupt ſinnend , wie von wogenden Traͤumen gewiegt :
ſie glich einer Waſſerlilie , die auf den Wellen ſchaukelnd ,
Die Suͤnderin.
vergeſſend dahingetrieben wird . Sie war noch immer
ſchoͤn , jungfraͤulich ſchoͤn , die ſiebzehnjaͤhrige , verlaſſene
Mutter .
Und ihre Mutterſchaft ! Wie verklaͤrte dies ſuͤße
Gefuͤhl ihr ganzes Weſen ! Wie ſtrahlte ihr Auge , wie
leuchtete der Ausdruck aller ihrer Zuͤge frohlockend in dem
Widerſcheine ihrer Mutterliebe ! Wenn ſie daſtand , das
weiße , fromme Geſicht uͤber die Wiege ihres Kindes ge¬
beugt , und ihr klopfendes Herz den Athem des Schlum¬
mers belauſchte , eine weiße Statue im Ebenmaaß der
vollendeten reinen Schoͤnheit , Sorge und ſeliges Gluͤck
in ihren Mienen : welch koͤſtliches Bild gewaͤhrte ſie da !
Und wie liebte ſie auch ihr Kind ! Es waͤre ihr Tod
geweſen , haͤtte ſie es verlieren ſollen .
„ Aber wer ſollte es mir auch nehmen ? “ ſagte ſie
unſchuldig laͤchelnd . „ Es giebt ja ſo Vielerlei auf der
Welt , warum gerade das , das Einzige , was ich habe ?
Ja ! Es waͤre mein Tod , wenn ich das verlieren
ſollte ! “ —
Die Suͤnderin.
Mathilde war aus einer kleinen Provinzialſtadt un¬
weit der Reſidenz . Ihr Vater , ein armer Handwerker ,
mußte ſich ſein kuͤmmerlich Leben ſauer werden laſſen ,
denn die Familie war ſtark und der Verdienſt von ſeiner
fleißigen Haͤnde Arbeit gering . Mathilde , als die Ael¬
teſte unter den Kindern , mußte zuerſt verſorgt werden ,
— was man naͤmlich bei Armen ſo verſorgen heißt .
Sobald ſie in die Jahre kommen , wo ſie einigermaßen
Arbeit erhalten koͤnnen , werden ſie außer dem Hauſe bei
Fremden in Dienſt oder Lehre gegeben . Alsdann fallen
ſie den Aeltern nicht mehr zur „ Laſt , “ und die Aeltern
glauben ſie hinlaͤnglich verſorgt zu wiſſen , wenn ſie keine
Nahrungsſorgen mehr um dieſelben haben . Mathilde
ſollte daher in Dienſt gehen . Aber in der kleinen Stadt
giebt es keinen bedeutenden Lohn ; in der Reſidenz iſt es
beſſer , da wird ſie gut gehalten und kann ſich etwas er¬
ſparen , ja vielleicht ihr Gluͤck machen , — auch iſt ſie
da entfernter von Hauſe . Mathilde wurde alſo nach
der Reſidenz geſchickt .
Hier fand ſie denn bald einen Dienſt in einer
Schenkwirthſchaft . Sie war fleißig , willig und treu , und
erwarb ſich ſchnell die Zufriedenheit ihrer Dienſtherr¬
ſchaft . Die Gaͤſte waren nicht minder zufrieden mit der
Die Suͤnderin.
jungen , ſchmucken Kellnerin . Sie kamen oͤfter , und es
kamen auch Andere regelmaͤßiger , die ſonſt nur zufaͤllig
gekommen waren . Der Wirth wußte das zu ſchaͤtzen ,
und hielt das Maͤdchen faſt wie ſein eigenes Kind . Sie
fuͤhlte ſich ſehr zufrieden und gluͤcklich .
Ihr Geſchaͤft machte es nothwendig , daß ſie ſich mit
den Gaͤſten hin und wieder unterhalten mußte . Wenn
ſie ihnen die Getraͤnke brachte , wurde ſie gewoͤhnlich in's
Geſpraͤch gezogen , und die jungen Leute fuͤllten ihr Ohr
mit luſtigen Geſchichten und einſchmeichelnden Reden .
Unter ihnen war Einer , auf den ſie vorzugsweiſe den
offenſten Eindruck machte . Er war ſtiller und geſetzter ,
als die Andern , ſeine Worte klangen ſo einfach und na¬
tuͤrlich , und ſeine Augen blickten ſo treuherzig , er ſchien
eine reine bruͤderliche Theilnahme fuͤr ſie zu empfinden .
Er ſprach ihr nie von Liebe , und ſie ſelbſt dachte nicht
daran . Sie fand ein unſchuldiges , faſt unbewußtes Ge¬
fallen an ihm , ihre Seele traͤumte von keiner Gefahr .
Sie ſaß wohl oͤfter und laͤnger bei ihm , als bei den
Andern , aber geſchah es nicht unwillkuͤhrlich ? Kam er
nicht meiſt gerade zu ſolchen Stunden , wo das Lokal
weniger beſucht , wo ſie geringer beſchaͤftigt war ? Sie
hoͤrte ihm gern zu , aber ſprach er nicht ſo ruhig und
Die Suͤnderin.
unverfaͤnglich ? Es ſchien das Verhaͤltniß von zwei reinen ,
lange verbundenen Freundesſeelen .
Da kam der Fruͤhling . Die Luͤfte wurden wolluͤſtig
warm , die Baͤume ſchlugen aus , die ganze Natur war
in einer weichen , wallenden Gaͤhrung . Das ſechzehn¬
jaͤhrige Maͤdchen gerieth jetzt zum erſtenmal in eine ſelt¬
ſame Atmoſphaͤre . Es ging etwas in ihr vor , und ſie
wußte nicht , was . Sie hatte ein Sehnen , einen unbe¬
wußten Drang , den ſie nicht zu ſtillen wußte , ihre Glie¬
der dehnten ſich , ihre Augen ſahen mit ſtaunendem Be¬
gehren hinaus , es war ihr , als waͤre Alles anders , ver¬
aͤndert , doppelt geworden , gegen fruͤher . An einem Sonn¬
tage , wo ſie die Erlaubniß auszugehen bekommen hatte ,
begleitete ſie ihr Freund hinaus in's Freie . Sie hoͤrte
ihm heute mit andern Empfindungen zu , wie ſonſt . Ihr
Herz war erfuͤllt von einem unerklaͤrlichen Gefuͤhl , es
war ihr ſo eng und ſo weit , ſie meinte faſt zu erſticken ,
und ſie ſchloß ſich feſter an ihren Begleiter an . Auch
ſeine Worte waren anders , wie ehedem . Es klang ein
Ton durch , den ſie noch nicht gehoͤrt hatte , und der ſie
mit einer neuen Regung bis in's Herz durchbebte . Auf
dem Heimweg war es dunkel geworden . Als ſie den
Park vor dem Stadtthore erreicht hatten , ſetzten ſie ſich
Die Suͤnderin.
an dem Ufer eines See 's unter das junge duftige Gruͤn
des Laubes . Die Nacht war ſo ſchoͤn . Am Himmel
funkelten die Sterne , und ihr Licht zitterte blitzend auf
dem ſtillen Spiegel des See 's , die naͤchtigen Gebuͤſche
rauſchten , die Bluͤthen hauchten einen wolluͤſtigen Duft ,
und eine Nachtigall ſchlug aus der Ferne leiſe , ſchmel¬
zende Liebeſtoͤne . Das Maͤdchen ſaß in verzehrender ,
traͤumeriſcher Gluth , ihre Seele war ein flammendes ,
ſchwelgeriſches Gebet . Der junge Mann ſchlug ſeinen
Arm um ihren Leib , ſeine Worte toͤnten weich und ver¬
lockend in ihr Ohr , und als er einen Kuß , den erſten
brennenden Kuß , auf ihre durſtigen Lippen druͤckte , durch¬
zuckte ein banges und doch ſo ſuͤßes , ſchwellendes Zagen
ihr ganzes Weſen . Sie ſchmiegte ſich inniger und
doch zitternd an ihn an . Das dunkle Laub rauſchte
maͤchtiger , die weißen Blaͤtter fielen feucht und tro¬
pfend auf ihre warmen Schultern , eine Sternſchnuppe
fuhr durch den naͤchtigen Himmel und ihr Widerſchein
ſpruͤhte funkelnd uͤber den leichtbewegten Spiegel des
See 's .
Als die ſilberne Mondſcheibe am Himmel auftauchte ,
ordnete das Maͤdchen bang und bewegt ihr feuchtes Haar .
Sie war gefallen , eine Suͤnderin , — und aus Liebe ?
Die Suͤnderin.
Nein . Sie liebte ihn gar nicht . Es lag einmal in ihrer
Natur , wer kann was dafuͤr ? —
Nach einigen Wochen fand ſie ſich allein . Er war
fortgezogen — nach ſeiner fernen Heimath . Nicht ein¬
mal Lebewohl hatte er ihr geſagt , — ob aus Schmerz
oder Scham , ich weiß es nicht . Aber er hatte ſie ver¬
laſſen , fuͤr immer verlaſſen , und — Andere haͤtten es
vielleicht ebenſo gemacht . Es iſt auch einerlei .
Sie hatte ihn nie geliebt , und ſeit ihrem Fall ſogar
verabſcheut . Daher vermißte ſie ihn jetzt nur wenig .
Sie hatte ihn zuletzt gleichguͤltig , ja mit mißtrauiſchem
Haß betrachtet , und als er , der dies veraͤnderte Beneh¬
men ihrem tiefen Schamgefuͤhl zuſchrieb , ſie zu troͤſten
verſuchte , hatte ſie ihm voll Ekel den Ruͤcken gedreht .
Jetzt war er fort , und die Zeit verrollte ihr wieder
im alten Gleis . Sie war ruhig und ſtill , ſie dachte
nicht mehr an ihn . Aber bald zeigten ſich die Folgen
ihres Fehltritts , und ein neues Gefuͤhl bemaͤchtigte ſich
ihres ganzen Weſens .
Die Suͤnderin.
Als die Wirthsleute den Zuſtand des Maͤdchens be¬
merkten , waren ſie bemuͤht , ihr denſelben ſo ertraͤglich
wie moͤglich zu machen . Sie erkannten ſehr wohl , wel¬
chen Schatz fuͤr ihre Wirthſchaft ſie in dem jungen ,
ſchoͤnen und thaͤtigen Maͤdchen beſaßen , und ſie hofften
mit Zuverſicht , daß Mathilde nach ihrer Entbindung das
Kind in fremde Pflege geben und in die Wirthſchaft zu¬
ruͤckkehren werde . Sie behielten ſie daher ſo lange im
Hauſe , als es irgend anging , erließen ihr allmaͤhlig jeden
anſtrengenden Dienſt und pflegten ſie mit der groͤßten
Aufmerkſamkeit und Ruͤckſicht . Als die Zeit ſo weit
vorgeruͤckt war , wurde ſie einer alten Frau in Pflege ge¬
geben , um hier in Ruhe ihre Entbindung abzuwarten .
Bald darauf gebar ſie ein Maͤdchen . Das Kind
war ſtark und geſund , und auch die Mutter erholte ſich
ſchnell , ſo daß ihre fruͤhere Herrſchaft ſie bald wieder zu
beſitzen hoffen konnte . Aber Mathilde war gaͤnzlich um¬
gewandelt . Es war , als haͤtte in ihrem Innern eine
Gluth geſchlummert , die ſich jetzt in vollen Flammen
an einem einzigen Gegenſtand verzehrte . Ihr keuſches
Herz war ploͤtzlich und deſto maͤchtiger in heißer Liebe er¬
wacht , und mit aller Kraft und Leidenſchaft derſelben
umſchloß ſie ihr Kind . Sie betrachtete lachend und
Die Suͤnderin.
weinend in Freude die kleinen Zuͤge ihres Ebenbildes ,
kaum wagte ſie aus liebender Beſorgniß daſſelbe zu kuͤſſen
und zu liebkoſen , ihre ſelige Luſt nahm all ihr Denken
und Sinnen gefangen . Umſonſt ſuchte ihre fruͤhere Herr¬
ſchaft ſie zur Ruͤckkehr zu bewegen , umſonſt ſtellten ſie
ihr vor , daß ſie ja nicht im Stande ſei , ihren Unterhalt
zu gewinnen : ſie wollte ſich nicht von ihrem Kinde tren¬
nen , und nichts vermochte ſie abzuhalten , ihm ſelbſt die
Bruſt zu reichen . Ihre Zukunft kuͤmmerte ſie nicht ,—
was wuͤrde denn auch ihre Zukunft ohne ihr Kind ſein ?
Als ſie zu der Frau gezogen war , hatte ſie eine
kleine Summe mitgebracht , die ſie ſich aus Erſparniſſen
und Weihnacht- und Neujahrgeſchenken geſammelt hatte .
Da außerdem die Koſten ihrer Entbindung von den
Wirthsleuten bezahlt worden waren , ſo war ſie fuͤr's
Erſte im Stande , bei der Frau noch eine Zeitlang ihren
Aufenthalt nehmen zu koͤnnen . So blieb ſie denn auch
volle drei Monate hier , einzig und allein fuͤr die Pflege
ihres Kindes beſorgt . Endlich aber ſchwand auch der
letzte Reſt ihres kleinen Beſitzes . Sie theilte dies offen
ihrer Wirthin mit , und dieſe , welche ſie nun nicht laͤn¬
ger behalten wollte , gab ihr den Rath , ſich zu einer ihrer
Nachbarinnen , einer alten Waͤſcherin , zu begeben , wel¬
Die Suͤnderin.
cher ſie dann Huͤlfe bei der Arbeit leiſten ſolle . Nach
einigen Unterhandlungen zeigte ſich die Waͤſcherin auch
dazu erboͤtig und Mathilde zog noch am ſelbigen Tage
mit ihren Habſeligkeiten in die Wohnung derſelben .
Ihre neue Wirthin war freundlich und zuvorkommend
gegen ſie . Es war eine kleine , aͤltliche Frau von eben
nicht einnehmenden Zuͤgen , aber Mathilde fuͤhlte den
mißtrauiſchen Widerwillen , den ihr die Alte beim erſten
Anblick einfloͤßte , bald wieder vor ihrem gutmuͤthigen Ge¬
ſchwaͤtz und ihrer hilfreichen Aufmerkſamkeit fuͤr das Kind
verſchwinden . Die Alte ſchaffte und ſorgte fuͤr ſie auf
die beſte Weiſe . Nur uͤber die Arbeit und den Verdienſt
klagte ſie beſtaͤndig , und allerdings bemerkte Mathilde ,
daß die Alte eben keine Beſchaͤftigung hatte . Da ſuchte
ſie der Alten Troſt und Muth , zuzuſprechen , ſie , deren
eigne Lage doch ſelbſt der Huͤlfe ſo beduͤrftig war , —
allein fuͤr was hat ein gluͤckliches Mutterherz keinen
Troſt ? Da ſie jung , geſchickt und arbeitſam war , ſo
erbot ſie ſich , um ſich der Wirthin ebenfalls huͤlfreich zu
zeigen , fuͤr fremde Leute Naͤh- oder Stickarbeit zu ma¬
Die Suͤnderin.
chen , falls ſie dergleichen Auftraͤge erhalten koͤnnte . Die
Alte war damit zufrieden , meinte aber doch gleich , daß
das auch ſehr ungewiß ſei .
Mittlerweile waren die erſten Tage dieſer neuen Ein¬
richtung verfloſſen . Da gegen Ende der Woche kam
eines Morgens die Alte ganz beſtuͤrzt in Mathildens
Kammer , und ſagte , der Polizeikommiſſair ſei unten und
verlange mit ihr zu ſprechen . Mathilde erſchrak , ohne
eigentlich zu wiſſen , warum , aber der bloße Name der
Polizei genuͤgt bei den Armen und Huͤlfloſen , um auch
dem unſchuldigſten , reinſten Gemuͤth Angſt und Entſetzen
einzujagen . Sie warf ein Tuch uͤber , bat die Alte bei
dem Kinde zu bleiben , und eilte mit einem in bebender
Ahnung klopfenden Herzen hinunter zu dem Mann , in
deſſen Haͤnden ihre ganze Zukunft lag .
Der Polizeikommiſſair ſchien beim erſten Anblick von
dem Ausdruck ihrer kindlichen Zuͤge , auf welchen ſich
Scham und ſpannende Beſorgniß malten , und von ihrem
ganzen ſittſamen Weſen uͤberraſcht zu ſein . Aber eine
lange Erfahrung hatte ihn mißtrauiſch gegen das guͤn¬
ſtige Vorurtheil eines ſolchen erſten Eindruckes gemacht ,
und gleichſam um ſein Gefuͤhl zu bewaͤltigen , wurde ſeine
Stimme noch rauher und muͤrriſcher als ſonſt .
Die Suͤnderin.
Er begann mit der Vorhaltung , daß ſie nun ſchon
laͤngere Zeit , als dies die Polizeivorſchriften geſtatteten ,
hier bei der Alten wohne , ohne ſich einen neuen Dienſt
zu verſchaffen , und fragte dann ziemlich grob : was ſie
denn treibe ? was ſie uͤberhaupt hier wolle ?
Mathilde erzaͤhlte ihm mit befangener Stimme , auf
welche Weiſe ſie zu der Alten gekommen ſei , und wie
ſie ihr die Koſten ihres Aufenthalts durch haͤusliche Ar¬
beit und Huͤlfleiſtung beim Waſchen erſetzen wolle .
„ Das ſind faule Fiſche ! “ erwiderte der Polizeibeamte
barſch . „ Die Alte hat ſelbſt nichts zu leben und die
Waͤſcherei iſt nur ſo ein fauler Vorwand . Die Vettel
hat ſchon zweimal im Arbeitshaus geſeſſen , und wenn
ſie nicht hier geboren und heimiſch waͤre , wuͤrden wir ſie
ſchon laͤngſt wegtransportirt haben . “ —
Mathilde erſchrak heftig uͤber dieſe Worte . Mit zit¬
ternder Stimme erzaͤhlte ſie nun , wie ſie fruͤher in Kon¬
dition geſtanden , und zeigte das Zeugniß ihrer Wirths¬
herrſchaft uͤber ihre tadelloſe , treue und redliche Fuͤhrung .
„ Sie ſelbſt wollten mich gern wieder zu ſich nehmen , “
ſagte ſie feſter in ihrem Selbſtbewußtſein , „ aber ich wollte
es nicht eingehen , weil ich mich dann haͤtte von meinem
Kinde trennen muͤſſen . “ —
Die Suͤnderin.
Der Polizeibeamte ſchien allmaͤhlig doch von der ruͤh¬
renden , ſo ganz mit der Welt unbekannten Einfachheit
der jungen Mutter erweicht zu werden , und fragte
milder :
„ Aber koͤnnen Sie denn von dem Vater des Kindes
keine Unterſtuͤtzung bekommen , denn Sie ſehen doch ein ,
daß Sie irgend eine Unterhaltsquelle haben muͤſſen ? “—
Daran hatte ſie nicht gedacht , ſie wußte gar nicht
einmal , wo der Vater war . Was konnte ſie das bisher
auch kuͤmmern ?
„ Das iſt ſchlimm , mein Kind ! “ ſagte der Beamte
theilnehmend . „ Wenn Sie keine Erwerbsquelle nachzu¬
weiſen vermoͤgen , ſo iſt anzunehmen , daß Sie und Ihr
Kind demnaͤchſt der Gemeinde zur Laſt fallen werden ,
und meine Inſtruktionen lauten beſtimmt dahin , Sie
ſchon in drei Tagen , falls Sie bis dahin keinen Dienſt¬
ſchein beibringen , nach Ihrer Heimath zu verweiſen . Es
iſt daher das Beſte , was ich Ihnen nur rathen kann ,
daß Sie Ihr Kind in Pflege geben und ſich wieder eine
Stelle ſuchen . — Kommen Sie dann zu mir , damit ich
Ihnen den Schein ausſtelle . “ —
Mit dieſen Worten begab er ſich fort , Mathilden in
der toͤdtlichſten Verzweiflung ihrer rathloſen Seele zuruͤck¬
6
Die Suͤnderin.
laſſend . Sie ſollte ihr Kind fremden Leuten uͤberlaſſen ,
— jetzt , wo ſie es taͤglich lieber gewonnen hatte — Leu¬
ten , die kein Intereſſe an ihm nehmen — die ſein zar¬
tes Leben vielleicht durch ſchlechte Behandlung einer un¬
gluͤcklichen Zukunft oder gar dem Tode ausſetzen wuͤrden !
Wie haͤtte ſie das uͤber ſich vermocht ? Und doch —
wenn ſie ſich nicht dazu entſchloß , was hatte ſie ſelbſt
zu erwarten ? Der Gedanke an ihre Eltern erfuͤllte ſie
zum erſtenmal , mit Entſetzen , — und wuͤrde ihr , der
verachteten , von der Welt verſtoßenen Suͤnderin nicht
auch das vaͤterliche Haus verſchloſſen ſein ? Wer ver¬
mochte ihr einen Ausweg aus dieſer Bedraͤngniß zu
zeigen ?
Sie machte der Alten die bitterſten Vorwuͤrfe und
gab ihr Schuld , ſie in dieſe Lage gebracht zu haben .
Die Waͤſcherin aber erwiederte ihr gelaſſen :
„ Das iſt ein Ungluͤck , fuͤr das Niemand etwas kann ,
und das Ihnen vielleicht ebenſowohl uͤberall anders paſ¬
ſirt waͤre . Aber nicht uͤberall ſonſt haͤtte man Sie auf¬
genommen , wie ich es gethan habe , und Sie ſollten nur
ſtill ſchweigen , und mir dankbar ſein . “ —
Das Maͤdchen mußte das wohl einſehen , denn ſie
ſchwieg und ſank truͤbſinnig auf einen Stuhl .
Die Suͤnderin.
„ Uebrigens nehmen Sie ſich das nicht ſo zu Herzen ,
und beruhigen Sie ſich nur , “ troͤſtete die Alte weiter .
„Vorlaͤufig moͤgen Sie immer noch bei mir bleiben , es
wird ſich wohl noch ein Ausweg finden . “ —
Was fuͤr ein Ausweg ? Mathilde blieb den Tag
uͤber duͤſter auf ihrer kleinen , einſamen Kammer , und
uͤberlegte und ſann hin und her , was ſie beginnen ſollte ,
aber ihr Denken war all umſonſt . Von Zeit zu Zeit
nahm ſie ihr Kind auf , und kuͤßte und herzte es mit
der Heftigkeit ihrer ſchmerzlich aufgeregten Gefuͤhle . Es
war , als ob in dem Verſuch , ſie von ihm zu trennen ,
ihre Mutterliebe nur feſtere Wurzeln geſchlagen haͤtte .
Dazwiſchen rollten ihre heißen Thraͤnen wie feurige Tro¬
pfen ihres gequaͤlten Herzens auf die Wangen der Klei¬
nen . Nur wenn das Kind ſchlief , ging ſie in ruheloſer
Angſt auf und nieder und rang ihre Haͤnde in rathloſer
Verzweiflung .
Am Abend kam die Alte wieder auf die Kammer des
Maͤdchens . Das Gemach war dunkel , nur von den Stra¬
ßenlaternen und den Lichtern der gegenuͤberliegenden Haͤuſer
ſchwamm ein weiches Daͤmmerlicht durch das Fenſter . Ma¬
thilde lag mit aufgeloͤſ'tem Haar , den Kopf in die Hand
geſtuͤtzt und halbaufgerichtet auf dem Bett , und bewachte
6 *
Die Suͤnderin.
den Schlaf ihres Kindes . Die Alte ſetzte ſich vor das
Bett und ſprach lange mit fluͤſternder Stimme zu dem
Maͤdchen . Ploͤtzlich fuhr Mathilde in die Hoͤhe , als ob
ſie eine Viper geſtochen , und richtete einen funkelnden
Blick auf die Redende . Die Alte aber beruhigte ſie
wieder , und der fluͤſternde Ton ihrer Stimme , wie ihre
Geberden konnten von angelegentlicher Theilnahme zeugen .
Sie ſprach ſehr lange und augenſcheinlich uͤber ſehr wich¬
tige Gegenſtaͤnde mit ihr . Zuweilen ſchien es , als ob
von einem drohenden Geſpenſt der Zukunft die Rede
waͤre , denn Mathilde rang die Haͤnde und leiſe , nur
halbunterdruͤckte Seufzer drangen aus ihrer Bruſt ; dann
wieder ſchien die Alte Verſprechungen und lockende Aus¬
ſichten fuͤr das Schickſal des Kindes auszumalen , Ma¬
thilde beugte ſich mit einem ſchmerzlichen Laͤcheln uͤber
die Wiege und bewegte die Lippen , wie in ſchwerem ,
druͤckendem Traum . Die Alte ließ mit ihrer leiſen Zu¬
ſprache nicht nach , und es mußte ſich um einen entſchei¬
denden Entſchluß handeln , uͤber welchen die junge Mut¬
ter aber ſchwankend , mit ſteigender krampfhafter Erre¬
gung hin und her kaͤmpfte . Mehrmals hatte ſie die Alte
ſchon mit heftigen Bewegungen von ſich gewieſen , dann
wieder heftete ſich ihr Auge mit wehmuͤthigem Ausdruck
Die Suͤnderin.
auf die dunkle Wiege des Kindes . Zuletzt gab ſie der
Alten nickend ein bejahendes Zeichen , und ſank auf das
Lager zuruͤck , indem ſie wie verzweifelnd ihr Geſicht in
die Kiſſen vergrub .
Nunmehr verließ die Alte mit einem triumphirenden
Wohlbehagen die Kammer . Nach Verlauf von einiger
Zeit kehrte ſie zuruͤck , in jeder Hand ein brennendes Licht
haltend . Hinter ihr folgte ein Mann , in einen Mantel
gehuͤllt , den ſie alsdann mit Mathilden allein ließ .
Von dieſer Zeit an war die Alte noch weit aufmerk¬
ſamer gegen das Maͤdchen , und behandelte ſie faſt mit
Unterwuͤrfigkeit . Der Polizeikommiſſair ließ nichts von
ſich hoͤren ; wie die Alte ſagte , weil ſie ihn herumgekriegt
haͤtte . Daß ſie aber Mathilden als weggezogen abgemeldet ,
verſchwieg ſie derſelben . Bei alledem verduͤſterte ſich Ma¬
thildens Sinn von Tag zu Tage , und vergebens ſuchte
die Alte durch theilnehmende Pflege fuͤr das Kind und
Gefaͤlligkeiten und Zuvorkommenheiten aller Art ein Zei¬
chen der Zufriedenheit oder nur beifaͤlligen Gefuͤhls zu
entlocken . Sie ſchien von Allem nichts zu bemerken und
Die Suͤnderin.
blieb verſchloſſen und ſchweigſam in ſich gekehrt . Sie
widerſetzte ſich auch den Zumuthungen der Alten nicht
mehr , und wenn , wie es jetzt oͤfter geſchah , am Abend
fremde Maͤnner ins Haus kamen , ſo gehorchte ſie ihr
mit kalter , ſtumpfer Gleichguͤltigkeit . Faſt ſchien es ſo¬
gar , als ob ſelbſt die Gefuͤhle fuͤr das Kind in ihr nach¬
gelaſſen haͤtten . Sie ſelbſt war es geweſen , die zuerſt
vorgeſchlagen hatte , die Wiege in das Gemach der Alten
zu ſetzen , und ſie ſah nur eben ſo oft danach , als es
durchaus nothwendig war . Sie vermied es beinahe , ſich
demſelben zu naͤhern , wenn ſie es aber that , geſchah es
mit einer Art zagender Scheu ; Ihre Hand zitterte , indem
ſie es aufnahm , ſie liebkoſ'te es nicht wie ehedem , und
ihr Auge haftete nur fluͤchtig und nie ohne eine ſchmerz¬
liche Wallung auf ihm . Dazu begann ihr Aeußeres leiſe
zu verfallen . Die Alte , welche dies mit Beſorgniß be¬
merkte , ſuchte ihr auf plumpe , faſt rohe Weiſe die zit¬
ternden Gefuͤhle ihrer zweifelnden Seele zu nehmen , aber
Mathilde wies ſie mit gleichguͤltiger , reſignirter Ruhe
zuruͤck . Ueber ihr ganzes Weſen lagerte ſich allmaͤhlig
eine krankhafte , toͤdtliche Erſtarrung , unter der nur ſelten ,
wie das Leuchten eines todten Vulkans , die ſchmerzliche ,
ſchneidende Bewegung ihres Herzens hervorbrach .
Die Suͤnderin.
So waren ungefaͤhr ſechs Wochen verfloſſen , als es
eines Abends wieder an der Wohnung klingelte . Die
Alte oͤffnete und ſtatt eines vielleicht erwarteten Andern
trat der Polizeikommiſſair herein . Bei dieſem unerwar¬
teten Beſuch entſchluͤpfte der Alten ein Laut des Schre¬
ckens , den Mathilde drin im Zimmer vernahm , der Po¬
lizeibeamte aber ſchob ſie bei Seite und ſchritt raſch in
das Gemach .
Mathilde hatte in der Ecke des Sopha's geſeſſen ,
allein , mit ihren duͤſtern Gedanken beſchaͤftigt , als ſie der
Ausruf der Alten daraus weckte . Als ſie jetzt empor¬
blickte und dieſen Mann vor ſich ſah , deſſen unheilver¬
kuͤndende Naͤhe ſie mehr noch fuͤrchtete , als die bittere
Selbſtverachtung ihrer eignen Seele , da ſtiegen ploͤtzlich
wie drohende Geſpenſter die Bilder ihrer muthmaßlichen
Zukunft vor ihren Augen auf . Sie haßte dieſen Mann ,
ſie hatte ihm oft heimlich und gluͤhend geflucht , wenn
ihre Gedanken oder Traͤume ihr denſelben gezeigt hatten :
denn von ſeinem erſten Erſcheinen ſchrieb ſich ihr gegen¬
waͤrtiges , tiefes Elend her . Jetzt aber ſchwanden alle
andern Gefuͤhle , und ſie ſah in ihm nur den Vorboten
neuen Unheils fuͤr ihr eigenes und ihres Kindes Leben .
„ Da ſieht man alſo die ſaubere Wirthſchaft ! “ ſagte
Die Suͤnderin.
der Polizeibeamte . „ Auf dieſe Weiſe alſo iſt das Juͤng¬
ferchen ausgezogen ! Nun , ſie ſoll heut Abend noch ein
Quartier beziehen , wo ſie ſicherer aufgehoben iſt , als
hier ! “ —
Mathilde zitterte bei dieſen Worten wie ein Espen¬
laub . Sie ſuchte ihm mit bangen , verzagten Worten
klar zu machen , daß die Alte ſie dadurch hierbehalten ,
daß ſie den Beamten zur Nachſicht zu bewegen verſpro¬
chen habe . Der Kommiſſair aber erwiederte hohnlachend :
„ Die waͤre die Rechte , die Polizei zu etwas zu be¬
wegen ! Nein , mein Puͤppchen , ich kenne Sie jetzt .
Ich habe Ihr damals den Rath gegeben , ſich ehrliche
Arbeit zu ſuchen , habe Ihr auch , weil mich Ihr un¬
ſchuldiges Geſicht betrog , noch ein paar Tage dazu be¬
willigt , aber Sie hat nicht arbeiten wollen , und hat
ſich lieber auf ein bequemes , liederliches Leben geworfen .
Die Geſchichte hat jetzt ausgeſpielt . Im Korrektionshaus
wird Sie ſchon arbeiten lernen , wenn Sie auch nicht
will . Fuͤr 's Erſte aber wird Sie eine Nacht oder zwei
im Polizeigefaͤngniß zubringen muͤſſen . “ —
Mathilde war wie vernichtet . Umſonſt flehte ſie ihn
um Erbarmen ihres unſchuldigen Kindes wegen an , um¬
Die Suͤnderin.
ſonſt verſprach ſie Alles zu thun , was er von ihr ver¬
langte ; der Beamte blieb diesmal unerbittlich .
„ Wenn es Ihr Ernſt mit ſolchen Verſprechen waͤre , “
ſagte er achſelzuckend , „ ſo haͤtte Sie laͤngſt meine War¬
nung befolgt . Jetzt iſt es zu ſpaͤt ; man kennt ja auch
ſolche Verſprechen der Angſt . — Alſo marſch ! Raſch
zurechtgemacht , ich habe keine Zeit , laͤnger auf Ihr La¬
mentiren zu hoͤren . Nehm' Sie Ihren Mantel , damit
wir vorwaͤrts kommen ! “ —
Als Mathilde zuletzt einſah , daß Nichts ſie mehr
von dieſem , fuͤr ſie entſetzlichen Loos retten koͤnne , riß
ſie ploͤtzlich in einer Art Wahnſinn das Kind aus der
Wiege und rief , indem ſie mit der einen Hand das Kind
in die Hoͤhe hielt und mit der andern auf den Polizei¬
beamten zeigte :
„ Sieh , das iſt der Mann , der Dein und Deiner
Mutter Verderben zu verantworten hat ! “ —
Einen Augenblick ſchien der Kommiſſair von dem
verzweiflungsvollen Ton dieſer Worte beſtuͤrzt und ergrif¬
fen zu ſein , dann aber ſchoß ihm die Gluth des Zornes
ins Geſicht und er gab der Tochter der Proſtitution eine
ſchallende Ohrfeige .
Die Suͤnderin,
Als Mathilde nach einer graͤßlich durchwachten Nacht
in's Verhoͤr genommen und aus dem Polizeigefaͤngniß
nach dem Arbeitshaus transportirt worden war , wurde
ſie hier in einen großen Saal gewieſen , wo ſie in Ge¬
meinſchaft mit einer großen Menge von Frauen und
Maͤdchen arbeiten mußte . Das Bewußtſein ihrer ſchimpf¬
lichen Lage , die tiefe Niedergeſchlagenheit , welche ſich ihrer
ſchon waͤhrend ihres letzten , langen Elends bemaͤchtigt
hatte , die Gedanken an ihre troſtloſe Zukunft , die jetzt
auch durch den bittern Entſchluß der Trennung von ihrem
Kinde wohl ſchwerlich mehr zu beſſern ſein wuͤrde , Alles
das verſetzte ihr Gemuͤth nach der erſten Raſerei der
Verzweiflung in eine tiefe , ſtarre Stumpfheit . Die Ge¬
ſellſchaft , in die man ſie hier gewieſen , hatte ſie mit der
Theilnahme Gleichgeſinnter begruͤßt . Mathilde hatte ſich
Anfangs ihre Geſchichte entlocken laſſen ; einige hatten ſie
daruͤber ausgelacht , andere ihr ein Mittel geſagt , durch
welches ſie einer polizeilichen Ausweiſung trotzen koͤnne .
Mathilde erſchrak bis in das Innerſte ihrer Seele . Sie
wandte ſich von da an mit um ſo groͤßerm Ekel von
ihren Genoſſinnen ab , als ſie ſich zu ihrem Entſetzen
geſtehen mußte , daß ſie ſelbſt bereits den Weg zu dieſem
Ende betreten habe . Schweigend und gleichguͤltig ließ ſie
Die Suͤnderin.
die Spottreden und gemeinen Spaͤße derſelben uͤber ſich
ergehn . Sie betete im Stillen heiß um ihren baldigen
Tod . Zu welchem Leben war ſie auch jetzt berufen ?
Der Tod war ihre einzige Rettung .
Nach ſechs Wochen wurde ſie aus der Anſtalt ent¬
laſſen , nachdem man ihr bemerkt , daß ſie ſich binnen
drei Tagen aus der Stadt zu entfernen habe .
Sie nahm ihr Kind in den Arm und rannte hinaus ,
ohne zu wiſſen wohin . Draußen vor der Thuͤr ſtanden
mehrere Weiber , die ſie anredeten und ihr Anerbietungen
machten , aber ſie ſtieß ſie zuruͤck und eilte , wie von
Furien gepeitſcht , von dannen . Den Tag uͤber durchirrte
ſie ſo , ruhelos , ohne Zweck die Stadt , bis ſie am Abend
endlich erſchoͤpft und ermattet an einer Hausſchwelle nie¬
derſank .
Die Nacht war bitterlich kalt , die Sterne zitterten
in der ſcharfen Luft , und ein ſchneidender Wind fegte
uͤber die oͤden Gaſſen . Das Maͤdchen ſaß zuſammen¬
gekauert auf den kalten Steinen , ohne ſich zu ruͤhren .
Auch das Kind war merkwuͤrdig ſtill . Sie hielt es auf
dem Schooß und hatte wie zum Schutz ihre Arme dar¬
uͤber gebreitet , in die Arme wieder hatte ſie ihren Kopf
vergraben . Mehrere Voruͤbergehende , dicht in ihre Maͤn¬
Die Suͤnderin.
tel gehuͤllt , blieben vor ihr ſtehen . Da ſie aber auf ihre
Anrede keine Antwort erhielten , gingen ſie wieder weiter .
Endlich gegen Morgen wurde die Nachtwache auf die
ſtille , zuſammengekauerte Geſtalt aufmerkſam und richtete
ſie empor . Die Mutter lag halberſtarrt , in einer tiefen
Ohnmacht , und wurde ſogleich ins Krankenhaus geſchafft .
Das Kind war todt .
Am Abend des dritten Tages ſtand der Oberarzt
vor einem Bett in dem großen Krankenſaal . In einem
Lehnſeſſel ſaß ein Waͤrter , der in dem Augenblick , wo der
Arzt nicht mehr zu ihm ſprach , eingeſchlafen war . Es
war unheimlich ſtill in dieſer Wohnung des Jammers .
Von der Decke verbreitete eine Ampel ihr duͤſteres Licht
uͤber die lange Reihe von Krankenbetten , die ſich an bei¬
den Seiten des Saals hinzogen , die Uhr pickte einfoͤrmig
wie ein Todtenvogel die Minuten der Lebenden ab , und
dazwiſchen toͤnte zuweilen ein dumpfer Schmerzenslaut
oder ein aͤngſtliches Roͤcheln von den Lagerſtaͤtten .
Der Arzt ſtand noch vor Mathildens Bett , die hier
Die Suͤnderin.
eben im Verſcheiden lag . Sie hatte waͤhrend ihrem
Krankenlager nichts zu ſich genommen , und obwohl ſie
vollkommen bewußtlos war , immer mit großer Hartnaͤckig¬
keit die Zaͤhne zuſammengebiſſen , wenn man ihr Arznei
einfloͤßen wollte . Ihr Aeußeres war zum Erſchrecken
eingefallen , ihre Zuͤge kaum mehr zu erkennen . Jetzt
hatte ihre Erloͤſungsſtunde geſchlagen , ihr Roͤcheln wurde
unterbrochner , dann auf einmal war es ſtill . Sie war
todt . Der Arzt ſah nach der Uhr , ſchrieb dann einige
Worte auf einen Zettel und weckte den Waͤrter .
„ Da liegt der Todtenſchein , “ ſagte er , indem er
haſtig den Mantel umwarf , „ Ihr werdet ihn morgen
fruͤh beſorgen . “ —
Der Waͤrter war aufgeſtanden und horchte , bis drau¬
ßen auf dem Korridor die ſchnellen Schritte des forteilen¬
den Arztes verhallt waren . Dann reckte er ſich und
ſagte gaͤhnend :
„ Nicht eine Stunde ruhigen Schlafs goͤnnen ſie
Einem , koͤnnten die Leute nicht ebenſowohl am Tag ſter¬
ben ? — Ach , es iſt das Maͤdchen , welches ſie vor drei
Tagen erſt herbrachten , “ fuͤgte er hinzu , auf den Todten¬
ſchein blickend . „ Nun , es iſt gut , daß ſie todt iſt , ſie
haͤtte doch kein ſelig Ende genommen . Fuͤr der Art
Die Suͤnderin.
Leute iſt der Tod das Beſte , denn im Leben nimmt ſich
Keiner ihrer an , und ſolch Leben , — nun , ſie hat 's auch
ſelbſt wohl eingeſehen ! “ —
Damit zog er die Decke uͤber die Leiche , und ſetzte
ſich wieder in den Lehnſtuhl , um weiter zu ſchlafen .
Die Rechtsfrage .
„ Beſchwerden uͤber polizeiliche Verfuͤgungen jeder Art ,
auch wenn ſie die Geſetzmaͤßigkeit derſelben betreffen ,
gehoͤren vor die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde . “ —
Preuß. Geſetzſammlung , Geſ. v. 11. Mai 1842 .
„ D as iſt ja eine empoͤrende Nichtswuͤrdigkeit ! “ rief die
Dame vom Hauſe . „ Und der Handwerker hatte wirklich
gar nicht einmal etwas begangen ? “ —
„ Ich habe ihn ſelbſt vor der Amputation befragt , “
ſagte der junge Arzt , „ und mit ſeiner Erzaͤhlung ſtim¬
men auch die Ausſagen von Augenzeugen uͤberein . Er
war am Nachmittag mit ſeiner Geliebten in einem oͤf¬
fentlichen Garten geweſen , hatte ſie bei einbrechender Nacht
noch bis an ihre Hausthuͤr geleitet , und trat dann ſeinen
Heimweg an . Vielleicht aus Freude uͤber den frohen Tag
und in Gedanken an die Liebſte , von denen ſein Herz
voll war , ſuchte er ſchneller aus dem Gewuͤhl der Gaſ¬
ſen nach ſeiner ſtillen Kammer zu gelangen und fing an
zu laufen . In der Friedrichsſtraße iſt er eben an einem
Schenklokale voruͤber gekommen , als hinter ihm ein Menſch
aus dem Hauſe ſpringt , quer uͤber die Straße rennt ,
und ohne daß der Handwerker ihn nur geſehen , in einer
7
Die Rechtsfrage.
Nebengaſſe verſchwindet . Gleich darauf ſtuͤrzt ein Ande¬
rer , ein Gensd'arme , aus der Kneipe , ſieht eine Strecke
weiter unſern Handwerker laufen , und eilt ihm mit zor¬
nigem Eifer nach . Der Mann iſt nicht wenig beſtuͤrzt ,
als er ſich ploͤtzlich durch eine brutale Fauſt aus ſeinen
Traͤumereien geſchreckt fuͤhlt . Er ſucht den Waͤchter der
oͤffentlichen Ruhe umſonſt zu belehren , daß er im Irr¬
thum iſt , die Fauſt deſſelben laͤßt ſeine Gurgel nicht los ,
ſondern ſchuͤttelt ihn nur deſto derber , und Schimpfwoͤrter
und Drohungen , ihn auf das Stadtgefaͤngniß zu ſchlep¬
pen , ſchallen in ſein Ohr . Dem Handwerker wird das
zuletzt zu arg . Er ſtoͤßt den Arm des Gensd'armen
kraͤftig zuruͤck und ſeßt ſich zur Wehr . Da zieht dieſer
denn ſeine Waffe , und kaum hat der Handwerker Zeit ,
ſeinen Kopf mit dem Arm zu ſchuͤtzen , ſo fallen auch
ſchon raſch nacheinander zwei ſcharfe Hiebe auf ihn her¬
ab . Der Arm iſt ihm geſtern abgenommen worden , aber
der Oberarzt in der Klinik meinte gleich , daß er die Am¬
putation ſchwerlich uͤberſtehen wuͤrde , und ſo wie ich ihn
heute bei der Inſpektion fand , wird er allem Voraus¬
ſehen nach den morgenden Tag nicht mehr erleben . Viel¬
leicht waͤhrend wir ſprechen , iſt er todt . “ —
„ Abſcheulich ! Entſetzlich ! “ rief die Dame wieder .
Die Rechtsfrage.
„Wer iſt da noch ſicher , von einem Polizeidiener nicht
im eignen Hauſe umgebracht zu werden ? Aber hoffent¬
lich giebt es noch Gerechtigkeit im Lande ! Apropos ,
Herr Kriminalrath , was wird wohl mit dem Gensd'armen
geſchehen ? “ —
Der Kriminalrath hatte mit dem Loͤffel tiefſinnig den
Inhalt ſeiner Theetaſſe unterſucht , indem er den zergehen¬
den Zucker bald auf die Oberflaͤche brachte , bald wieder
in das Getraͤnk verſenkte . Jetzt erhob er halb das Haupt ,
und ſah uͤber die Glaͤſer ſeiner Brille zu der Fragen¬
den auf .
„ Wenig oder Nichts ! “ antwortete er ruhig .
„ Der Kriminalrath will damit nur ſagen , “ nahm
in dem allgemein entſtehenden Laͤrm ein junger Maler
das Wort , daß man hoͤheren Orts den Amtseifer immer
gern ſieht , und auch ſeine Uebertreibungen mit Ruͤckſicht
auf die veranlaſſende Pflichttreue ſtets gnaͤdig zu beur¬
theilen weiß . Es iſt ja bekannt , daß die uniformirten
Helden des dreißigjaͤhrigen Friedens , wenn ſie ihre Schutz¬
waffe gegen die beſchirmten Unterthanen in Anwendung
gebracht und pro forma ein Urtheil von einigen Mona¬
ten Feſtungshaft erhalten haben , ſpaͤter deſto ſicherer auf
Avancement rechnen koͤnnen . Auch weiß ich von einer
7 *
Die Rechtsfrage.
ganz aͤhnlichen Polizeigeſchichte zu erzaͤhlen . In einer
kurheſſiſchen Stadt hatte ein Polizeidiener einem betrun¬
kenen Bauer das Rauchen auf der Straße unterſagt ,
dieſer dagegen , dem ein ſolches Verbot wahrſcheinlich neu
und willkuͤhrlich erſchien , Gegeneroͤrterungen gemacht . Der
von Natur ſehr jaͤhzornige Beamte wurde durch den
Widerſtand und die vielleicht nicht ſehr hoͤflichen Ausdruͤcke
des betrunkenen Landmannes bald in die groͤßte Wuth
verſetzt , er zog ſeine Waffe vom Leder , und richtete den
wehrloſen Mann dergeſtalt zu , daß derſelbe nach einigen
Tagen elend aus dem Leben ſchied . Nach langer Unter¬
ſuchung wurde der Polizeidiener zu anderthalbjaͤhriger Ge¬
faͤngnißſtrafe verurtheilt . Als er aber ſeine Haft antreten
ſollte , erklaͤrte die Polizeidirektion , daß er einer der brauch¬
barſten Leute ſei , den man vorlaͤufig nicht entbehren
koͤnne . Die Strafe wurde auch ſuspendirt , und er hat
ſie bis auf den heutigen Tag noch nicht abgeſeſſen . Dafuͤr
wurde er jedoch einige Zeit ſpaͤter zum Polizeiſergeanten
erhoben , und erhielt die ausſchließliche Bewachung des
gefangenen Profeſſor Jordan , die er mit beſonderem Eifer
gefuͤhrt haben ſoll . Der Menſch heißt Schmidt und lebt
noch jetzt als Sergeant in Marburg . “ —
„ Wenn ich ſagte , daß dem Gensd'armen , der den
Die Rechtsfrage.
Schneider verwundete , wenig oder nichts geſchehen wuͤrde ,
mein junger Brauſekopf , “ bemerkte der Kriminalrath , „ ſo
konnte dieſe Antwort nur der Rechtsfrage gelten . Der
Gensd'arme hat einen in ſeinen Augen ſchuldigen Men¬
ſchen verhaften wollen , dieſer ihm dagegen Widerſtand
geleiſtet und ihn vielleicht auch gereizt ; er iſt daher im
vollen Rechte , wenn er von der Gewalt ſeiner Waffe
Gebrauch macht . “ —
„ Aber der Gensd' arme hatte ja in dieſem Fall gar
nicht das Recht , den Handwerker zu verhaften ! “ rief die
Frau vom Hauſe wieder . „ Der Handwerker war ja gar
nicht der Schuldige ! “ —
„ Einerlei , meine Gnaͤdige , “ ſagte der Kriminalrath .
„Er iſt in jedem Fall der adminiſtrativen Gewalt zu
Gehorſam verpflichtet . War er wirklich unſchuldig , ſo
konnte er deſto eher in der ſichern Erwartung , alsbald
wieder in Freiheit geſetzt zu werden , dem Gensd'armen
folgen . “ —
„ Ja , nachdem er unter dem Jauchzen der verſam¬
melten Menge verhaftet worden , haͤtte man ihn ſpaͤter
ganz im Stillen wieder freigelaſſen ! “ warf der Arzt mit
einem geringſchaͤtzigen Seitenblick ein . „ Welche Satis¬
faktion wird dem unſchuldigen , rechtlichen Mann , dem
Die Rechtsfrage.
durch die oͤffentliche Verhaftung ein Brandmal aufgedruͤckt
iſt , wohl je zu Theil ? Kann ihm eine Klage , ſelbſt
wenn er ſie gewinnt , die Schmach , vor den Augen
des Publikums ſo behandelt worden zu ſein , vergeſſen
machen ? “ —
„ Und — und — erlauben Sie mir noch den Ein¬
wurf auf Ihre Behauptung , “ ſagte die Dame ungedul¬
dig , indem ſie mit dem Zeigefinger ihrer kleinen Hand
befehlend auf den Tiſch klopfte und ihren Lockenkopf zu¬
ruͤckwarf . „ Sie bemerkten , daß man in jedem Falle der
adminiſtrativen Gewalt zu Gehorſam verpflichtet ſei ; mei¬
nen Sie das auch fuͤr den Fall , daß ein Polizeibeamter
etwas durchaus Ungehoͤriges verlangt , z. B. Jemanden
ins Waſſer zu ſpringen befiehlt ? Wie dann , Herr
Kriminalrath ? “ —
Der Kriminalrath legte den Theeloͤffel zur Seite und
ſchob ſeine Brille hoͤher unter die Augen .
„ Der Staatsbuͤrger , “ begann er bedaͤchtig , „ iſt ſeiner
Obrigkeit und jedem ihrer vollſtreckenden Werkzeuge Ge¬
horſam ſchuldig , und es ſteht ihm ein Urtheil , ob der
Befehl vielleicht ungehoͤrig ſei , gar nicht zu . Sie werden
mir wenigſtens einraͤumen , daß es der Polizei im entge¬
gengeſetzten Falle gar nicht moͤglich ſein wuͤrde , einen in
Die Rechtsfrage.
der That dringend Verdaͤchtigen oder in ihren Augen
uͤberfuͤhrten Verbrecher zu verhaften , indem alsdann jeder
auf ſeine Unſchuld oder die Ungehoͤrigkeit der Maßregel
hin ſich widerſetzen wuͤrde . “ —
„ Aber , Herr Kriminalrath — “
„ Erlauben Sie , meine Gnaͤdige , daß ich das geſetz¬
liche Verhaͤltniß erſt auseinanderſetze , dann werden ſich
Einwuͤrfe und Fragen am einfachſten erledigen laſſen . Es
kommt hier doch nur auf die Rechtsfrage an , wieweit
die geſetzliche Macht der Polizei reicht , und welche ge¬
ſetzlichen Mittel Ihnen dawider zuſtehen . Ob Sie gegen
die Geſetze ſelbſt Einwendungen zu haben glauben , iſt
eine andere Sache . — Ich ſagte , daß Jeder der exekuti¬
ven Gewalt Folge leiſten muͤſſe . Die Unterſuchung , ob
die einzelnen Maßregeln ungehoͤrig waren , faͤllt der vor¬
geſetzten Behoͤrde anheim , an welche ſich der in ſeinem
Recht vermeintlich Gekraͤnkte oder Unſchuldige mit einer
Beſchwerde zu wenden hat . Ihre Bemerkung daher ,
mein junger Brauſekopf , “ wendete er ſich an den jungen
Maler , „ daß naͤmlich eine Klage , ſelbſt wenn er ſie ge¬
winne , dem unſchuldig Verletzten keine Satiſfaktion ge¬
waͤhren koͤnne , war diesmal nicht am Ort , denn eine
Klage ſteht demſelben gar nicht zu , wuͤrde vielmehr von
Die Rechtsfrage.
jedem Gericht zuruͤckgewieſen worden ſein . Sein Rechts¬
weg iſt der der Beſchwerde an die vorgeſetzte Behoͤrde des
veranlaſſenden Beamten — “
„ Die alsdann die Beſchwerde dem Angeklagten ſelbſt
zuſtellt , damit er ſage , ob ſich die Sache auch ganz ſo
verhalte , “ rief der Arzt lachend , „ und das Reſultat iſt
bei der natuͤrlichen , unpartheiiſchen Darſtellung des Be¬
klagten , dem ſeine Vorgeſetzten ja vollen Glauben ſchen¬
ken , leicht vorauszuſehen ! “ —
„ Da in unſerm Falle eine bloße Verwechſelung vor¬
lag , “ fuhr der Kriminalrath fort , „ indem der Gensd'arme
den Schneider fuͤr den entlaufenen Schuldigen hielt , ſo
zweifle ich allerdings nicht , daß der Schneider , wenn er
ſich haͤtte verhaften laſſen , mit einer Beſchwerde gar
nichts , auch nicht einen Verweis an den Gensd’armen
erreicht haben wuͤrde . Haͤtte der Gensd'arme den Hand¬
werker bei einem perſoͤnlichen Zuſammentreffen und nicht
bei Ausuͤbung ſeines Amtes verletzt , ſo haͤtte dem Hand¬
werker der ordentliche Rechtsweg gegen ihn als Privat¬
beleidiger offen geſtanden . Hier aber ſchuͤtzt denſelben ſeine
amtliche Funktion . “ —
„ Eine ſchoͤne Unterſcheidung ! “ bemerkte der neben
ihm ſitzende rheiniſche Maler .
Die Rechtsfrage.
„ Eine Klage gegen die exekutiven Behoͤrden iſt nur
in dem einzigen Fall ſtatthaft , daß Jemand einen Scha¬
den an Beſitz und Eigenthum nachweiſen kann , der ihm
durch eine außerordentliche Maßnahme erwachſen iſt . “ —
„ Eine außerordentliche , d. h. geſetzlich nicht zu recht¬
fertigende , “ ſagte der Arzt zu der Dame des Hauſes ge¬
wendet halblaut . Dieſe aber gab ihm ein Zeichen , an
ſich zu halten , und ſah auf den Kriminalrath , der immer
unbeirrt fortfuhr .
„ Dieſen Fall naͤmlich hat das Geſetz beſonders vor¬
geſehen , indem es dem Benachtheiligten ausdruͤcklich eine
Entſchaͤdigungsklage gegen die Polizeibehoͤrde zugeſteht ;
doch iſt dabei von einer Rehabilitation in die fruͤhern
Rechte nicht die Rede . Wenn es daher z. B. vorkommt ,
daß die Polizeibehoͤrde Leute aus Orten , wo ſie geſetzlich
ein Heimathsrecht beſitzen , dennoch fortweiſt , wie dies
zuweilen hoͤherer Ruͤckſichten halber in Univerſitaͤtsſtaͤdten
geſchieht : ſo haben dieſe Leute allerdings eine Entſchaͤdi¬
gungsklage auf den ihnen dadurch zugefuͤgten Nachtheil
am Eigenthum , nicht aber auf Wiedereinſetzung in ihre
Rechte . Dieſe letztere waͤre wiederum nur der Gegen¬
ſtand einer Beſchwerde an die vorgeſetzte adminiſtrative
Behoͤrde , die dann nach Berichterſtattung der Unterbehoͤrde
Die Rechtsfrage.
entſcheidet , ob zu jener außerordentlichen Maßregel Ver¬
anlaſſung war , oder nicht . “ —
„ Das iſt aber doch mindeſtens eine Inkonſequenz der
Geſetze , “ bemerkte eine Dame aus der Geſellſchaft . „ Das
richterliche Erkenntniß erkennt den von einer ſolchen außer¬
ordentlichen Maßregel Betroffenen den Rechtsanſpruch auf
Entſchaͤdigung zu , ſpricht alſo damit ihre Schuldloſigkeit
aus , denn Verbrechern wuͤrde man keinen Anſpruch we¬
gen des durch ihre Strafe erlittenen Schadens zuerken¬
nen : gleichzeitig aber geſtatten die Geſetze der Polizeibe¬
hoͤrde , die Leute trotzdem als Verbrecher zu behandeln
und trotz der richterlichen Ehrenerklaͤrung doch die Ma߬
regel gegen ſie durchzufuͤhren . “ —
„ Dies betrifft wieder die Frage , ob die Geſetze aus¬
reichend ſind , mein Fraͤulein , “ erwiederte der Kriminal¬
rath unbeirrt , „ waͤhrend es hier nur auf die Feſtſtellung
deſſen ankommt , was die Polizei und ihre Beamten
ohne Verletzung der Geſetze ausuͤben koͤnnen . — Ich
ſagte , daß jeder Staatsbuͤrger der adminiſtrativen Gewalt
Folge zu leiſten habe , daß ihm wegen vermeintlich ihm
zugefuͤgten Unrechts der Weg der Beſchwerde , und nur
wegen erlittenen Verluſtes die Entſchaͤdigungsklage gegen
die Polizei zuſtehe . Widerſetzt er ſich aber , ſo hat die
Die Rechtsfrage.
Behoͤrde ſowie der exekutive Beamte das Recht , gewalt¬
ſam gegen ihn zu verfahren , und er ſelbſt hat ſich durch
ſeine Widerſetzlichkeit jedenfalls einer ſtrafbaren Handlung
ſchuldig gemacht . Daruͤber , ob die Maßregel der Be¬
hoͤrde oder des Beamten , welche die Widerſetzlichkeit her¬
vorrief , gerechtfertigt oder ungerecht war , hat nur die
vorgeſetzte Behoͤrde zu entſcheiden , und die Beamten ſind
Niemanden ſonſt daruͤber verantwortlich , als eben nur
ihrer vorgeſetzten Behoͤrde . Die Widerſetzlichkeit bleibt in
jedem Fall ſtrafbar . “ —
„ So werden Sie uns demgemaͤß jetzt wohl ausein¬
anderſetzen , “ bemerkte die Frau vom Hauſe wieder , „ wie
das Verhaͤltniß in dem von mir gedachten Falle ſein
wuͤrde , wenn naͤmlich ein Polizeibeamter von Jemanden
verlangte , daß er ins Waſſer ſpringen ſolle ? “ —
„ Ich wollte ſoeben darauf kommen , gnaͤdige Frau , “
antwortete der Kriminalrath nach einigem Nachdenken .
„ Der einzelne Beamte hat unzweifelhaft das Recht , ge¬
gen Jedermann , weß Standes er auch immer iſt , einzu¬
ſchreiten . Er kann den Niedrigſten , wie den Hoͤchſten
Nachts aus ſeinem Bette holen und ins Gefaͤngniß
transportiren . “ —
„ Bei uns nicht ! “ rief hier der Rheinlaͤnder .
Die Rechtsfrage.
„ Es iſt wahr , bei Ihnen kann er es nur am Tage , “
fuͤgte der Kriminalrath laͤchelnd hinzu , „ uͤberall aber iſt
er von ſeinem Schritt nur ſeinen Vorgeſetzten Rechen¬
ſchaft ſchuldig und bis dahin kann er , wie geſagt , von
Jedermann Folgſamkeit verlangen . “ —
Hier machte der Redner eine kleine Pauſe , waͤhrend
welcher ihn die ganze Geſellſchaft erwartungsvoll an¬
blickte .
„ Ich glaube daher , “ fuhr er wieder fort , „ ja , —
da das Geſetz keine Ausnahme ſtatuirt , ſo muß man als
gewiß annehmen , daß der Unterthan jedem Organ der
adminiſtrativen Gewalt Folge leiſten muß , ſelbſt wenn es
von ihm verlangt , ins Waſſer zu ſpringen . Das iſt
nach Wortlaut des Geſetzes ganz gewiß . Ertrinkt er bei
dieſem Experiment , ſo haben ſeine Erben nur alsdann
ein Klagerecht , wenn ſie erweislich durch den Tod ihres
Erblaſſers einen Schaden erlitten haben ; im Uebrigen iſt
der Polizeibeamte uͤber ſeinen Befehl an den Ertrunkenen
geſetzlich nur ſeinen Vorgeſetzten Erklaͤrung ſchuldig . Es
iſt in dieſem Fall nicht zu bezweifeln , daß der Beamte ,
der ſo eigenmaͤchtig und unverantwortlich handelte , von
ſeinen Vorgeſetzten fallen gelaſſen wuͤrde , wahrſcheinlich
ſogar , daß man ihn den Gerichten uͤbergaͤbe ; auch be¬
Die Rechtsfrage.
zweifle ich nicht , daß man Ihnen im vorkommenden
Falle die Weigerung , ſolchem Befehl Folge zu leiſten ,
gewiß ungeahndet hingehen ließe : allein ſtreng geſetzlich
betrachtet , muͤſſen Sie ihm gehorchen . “ —
Die Geſellſchaft ſprach nunmehr uͤber dieſen Gegen¬
ſtand mit großer Lebhaftigkeit hin und wieder . Die
Meiſten kamen darin uͤberein , daß ſolchergeſtalt der Po¬
lizei die Ausuͤbung großer Willkuͤhr zuſtehe ; daß es gar
nicht darauf ankomme , ob ſie vielleicht in Wirklichkeit
keinen ſo ſchreienden Mißbrauch davon mache , wie das
letzte Beiſpiel meine , daß es aber ſchlimm genug ſei ,
daß ſolch ein Mißbrauch uͤberhaupt nur Statt finden
koͤnne .
Der Kriminalrath hatte an dieſer Diſkuſſion keinen
Antheil genommen , als ihn jetzt die Wirthin durch eine
Frage ins Geſpraͤch zog .
„ Es laͤßt ſich nicht leugnen , “ ſagte er am Schluß
einer ſehr gelehrten Erklaͤrung uͤber das Weſen der Po¬
lizei , „ daß bei den gegenwaͤrtigen Verhaͤltniſſen dem ein¬
zelnen Beamten ſehr viel Eigenmaͤchtigkeit und willkuͤhr¬
liche Handhabung ſeiner Gewalt uͤberlaſſen iſt . Auch
geſtehe ich , daß es ſchlimm und mit den Rechtsbegriffen
Die Rechtsfrage.
nicht ganz vereinbar erſcheint , wenn dieſe Gewalt der
Polizeibehoͤrde ſo wenig normirt iſt , daß ſich ein Mi߬
brauch oder eine Ueberſchreitung derſelben , und alſo auch
eine geſetzliche Verantwortung , faſt gar nicht beſtimmen
laſſen . Allein bei den gegebenen Verhaͤltniſſen muß man
ſich nun einmal mit dem Vertrauen behelfen , daß die
Polizei behoͤrde außerordentliche , oder wenn Sie ſo wol¬
len : willkuͤhrliche und eigenmaͤchtige Maßregeln nicht ohne
dringende Veranlaſſung ausuͤben wird , dagegen wenn
ſolche vielleicht von ihren Beamten ausgeuͤbt werden ſoll¬
ten , dies zu ahnden weiß . Die Polizei iſt eine Sicher¬
heitsbehoͤrde , und als ſolcher muß man ihr das Recht zu
außerordentlichen Maßregeln einraͤumen , die vielleicht den
ſtrengen Rechtsbegriffen nicht gemaͤß , aber zur Aufrecht¬
haltung der oͤffentlichen Ordnung nothwendig ſind . Das
iſt jedoch keine Willkuͤhr , ſondern eben Nothwendigkeit der
Sicherheitsbehoͤrde . “ —
„ Was man ſo oͤffentliche Ordnung heißt ! “ erwiederte
der junge Arzt . „ In einer Geſellſchaft freilich , welche
die Ungleichheit und die Gegenſaͤtze zur Bedingung ihres
harmoniſchen Ganzen macht , ſind Sicherheitsbehoͤrden zur
Aufrechthaltung dieſer Ordnung nothwendig ; es koͤnnte
ja ſonſt den privilegirten Unterdruͤckten und Verhungernden
Die Rechtsfrage.
einmal einfallen , das Privilegium der Herren und Eigen¬
thuͤmer unſicher zu machen und die Unordnung der
Gleichheit einzufuͤhren . So lange Sie von der heutigen
Geſellſchaft ausgehen , haben Sie hierin vollkommen Recht ,
Herr Kriminalrath , und Sie werden dann gewiß auch ſo
konſequent ſein , die groͤßte Despotie als die groͤßte Ga¬
rantie der Sicherheit der oͤffentlichen Ordnung anzuerken¬
nen . — Wenn Sie aber der Polizei durchaus den Be¬
griff der Willkuͤhr nicht zugeſtehen wollen , ſo thun Sie
doch Unrecht . Sie ſagen , die Behoͤrden ſelbſt wuͤrden
nur bei dringenden Veranlaſſungen , alſo zur Sicherung
der bekannten oͤffentlichen Ordnung , ſogenannte außeror¬
dentliche , mit den menſchlichen und richterlichen Rechts¬
begriffen nicht ganz uͤbereinſtimmende Maßregeln in An¬
wendung bringen . Allein wer entſcheidet denn uͤber die
Veranlaſſung und ihre Dringlichkeit ? Giebt es beſtim¬
mende Geſetze hieruͤber ? Oder iſt die Berufung der drin¬
genden Veranlaſſung und hoͤherer Ruͤckſichten nicht viel¬
mehr der Willkuͤhr der Polizei uͤberlaſſen , welche eben
nur ſich ſelbſt verantwortlich iſt ? Sie vertrauen ferner ,
daß die Polizeibehoͤrde dagegen wohl außerordentliche Ma߬
regeln , die ein einzelner Beamter eigenmaͤchtig ausgeuͤbt ,
ahnden werde . Wer aber entſcheidet uͤber die Eigen¬
Die Rechtsfrage.
maͤchtigkeit , die Unbefugtheit ſeiner Maßnahme ? Der
Beamte iſt nur ſeiner Behoͤrde gegenuͤber , alſo den Po¬
lizeibegriffen gemaͤß , die ihn ſelbſt leiten , verantwortlich ;
es faͤllt daher auch hier wieder den unbegrenzten Polizei¬
begriffen und der Willkuͤhr der Polizei die Beſtimmung
anheim , ob der Beamte ſeine außerordentliche Maßregel
aus unbefugter Eigenmaͤchtigkeit oder aus dringender Ver¬
anlaſſung ausgeuͤbt hat . — Uebrigens weiß ich auch nicht ,
warum die Polizei nicht willkuͤhrlich handeln ſollte .
Sie iſt , wie Sie ſelbſt ſagten , eine Sicherheitsbe¬
hoͤrde , ſie ſteht nicht auf dem Rechts- oder Geſetzes-
Boden ; darum kann man ihr keinen Vorwurf aus der
Handhabung ihrer Unrechtmaͤßigkeit und Ungeſetzlichkeit
machen . “ —
„ So vertheidigen Sie alſo die Einrichtung der Po¬
lizei ? “ ſagte die Frau vom Hauſe .
„ Da ſchieben Sie mir , weil ich mit dem Einen
nicht einverſtanden bin , die entgegengeſetzte , kontradikto¬
riſche Meinung unter , gnaͤdige Frau . Ich tadelte , daß
man der Polizei aus ihrer Willkuͤhr einen Vorwurf
machte , deshalb aber bin ich noch kein Freund des Po¬
lizeiverfahrens . “ —
„ Unſer Aller Ziel muß ein geordneter Rechtszuſtand
Die Rechtsfrage.
ſein , worin die Rechte des Einzelnen moͤglichſt ge¬
ſchuͤtzt ſind , “ ſagte der Kriminalrath . „ Mag man nun
auch zugeben , daß in unſern Verhaͤltniſſen der Willkuͤhr
ein allerdings großer Spielraum gegoͤnnt iſt , was ſich
aber durch Feſtſtellung engerer Geſetze z. B. nach Art
der engliſchen Habeas-corpus -Akte aͤndern ließe : ſo
muß man andererſeits bedenken , daß ein ganz vollkom¬
mener Schutz doch nie zu erreichen iſt . Die Polizei iſt
ein nothwendiges Uebel . Ohne ſie waͤre es nicht moͤg¬
lich , einen Verbrecher vor das Geſetz und zur Strafe zu
ziehen , und wenn auch einmal , was ſich ſelbſt durch den
geordnetſten Rechtszuſtand nicht ganz vermeiden laͤßt , aus
Irrthum oder Verſehen einem Unſchuldigen zu nahe ge¬
treten wird , ſo muß er ſich dann mit der gerichtlichen
Anerkennung ſeiner Unſchuld und dem Gedanken troͤſten ,
daß er ohne die Wachſamkeit dieſer Behoͤrde ſelbſt keinen
Schutz ſeiner Rechte haben wuͤrde . “ —
„ Sie wollen das Huͤhnerauge beſchneiden , waͤhrend
es darauf ankommt , das brandige Bein abzunehmen , “
ſagte der Arzt . „ Die Polizei iſt ein nothwendiges Uebel ,
aber nothwendig nur in unſerer heutigen Geſellſchaft .
Statt daher die Nothwendigkeit aufzuheben , indem Sie
die Bedingung der heutigen Geſellſchaft aufheben , wollen
8
Die Rechtsfrage.
Sie nur das Uebel verkleinern , indem Sie ſeiner Wirkung
engere Grenzen ſetzen . Suchen Sie die Vorausſetzung
der Polizei : das Verbrechen , und die Vorausſetzung des
Verbrechens : die Ungleichheit der Erziehung und aͤußeren
Verhaͤltniſſe in Ihrer unebenen Geſellſchaft , mit Einem
Wort heben Sie die Armuth auf , und Sie brauchen
keine Willkuͤhr der Polizei laͤnger zu fuͤrchten . — Ueber¬
haupt verſtehe ich die Ausdruͤcke Geſetz und Strafe
nicht . Beide ſetzen Unordnung und Unnatur in der Ge¬
ſellſchaft voraus ; in einem harmoniſch organiſirten Ganzen
ſind Geſetz und Strafe uͤberfluͤſſig . “ —
Hier wurde die Unterhaltung durch den Eintritt eines
Neuankommenden unterbrochen . Es war der Oberarzt
der Klinik . Als er Platz genommen hatte und die Haus¬
frau ihm Vorwuͤrfe uͤber die Verzoͤgerung ſeines Kom¬
mens machte , ſagte er :
„ Ich bitte um Verzeihung , allein ich mußte mich
nothwendig noch nach der Klinik begeben , um nach dem
Schneidergeſellen zu ſehen , den der Gensd'arme verwundet
hatte . Es iſt des Zeugniſſes wegen . “ —
„ Und wie haben Sie ihn gefunden ? — Wir ſpra¬
chen ſoeben davon , “ ſagte die Dame .
Die Rechtsfrage.
„ Er iſt todt , “ erwiderte der Doktor ruhig .
In der Geſellſchaft entſtand eine tiefe , ſtille Pauſe ,
nur einigen Damen entſchluͤpfte ein leiſer Ausruf mitlei¬
diger Theilnahme . Der Oberarzt ruͤhrte gleichguͤltig mit
dem Loͤffel in ſeiner Theetaſſe .
„ Das Maͤdel , ſeine Geliebte , war da und weinte ,
weil ſie nicht zu ihm gelaſſen wurde . Es ging aber
auch nicht an . Er hatte ſein Bewußtſein bis zum
letzten Augenblick . Der arme Teufel ! Er iſt recht
muthig geſtorben , nur das Schickſal ſeiner alten blin¬
den Mutter und ſeiner Liebſten lag ihm ſehr im
Sinn ! “ —
Die
vorgeſetzte Dienſtbehörde .
I n dem Salon war wieder der gewoͤhnliche Kreis von
Hausfreunden verſammelt . Der Kriminalrath ſaß auf
ſeinem alten Platz und wiegte ſich in dem gemaͤchlichen
Lehnſeſſel , der ſtets fuͤr ihn beſonders hingeruͤckt wurde .
Mehrmals ſchon hatte er ſich in Erwartung der kom¬
menden Dinge forſchend umgeſehen ; da es ihm indeß zu
lange zu wahren ſchien , nahm er jetzt wie in der Zer¬
ſtreuung ein Stuͤck Kuchen vom Tiſch , und verzehrte es
mit gedankenvoller Miene . Die Hausfrau ſtand ſeit¬
waͤrts an einem Nebentiſch und war eben mit Eingießen
des Thees beſchaͤftigt , waͤhrend die Maͤdchen die Taſſen
herumreichten . Nur der junge Arzt fehlte .
„ Es iſt recht Schade , daß unſer Doktor nun an
unſern kleinen Zuſammenkuͤnften keinen Theil mehr neh¬
men kann , “ ſagte die Hausfrau zu den Gaͤſten gewen¬
det . „ Er war ein vielſeitig gebildeter junger Mann , und
wußte der Unterhaltung durch ſeine eigenthuͤmlichen , aber
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
gruͤndlichen Anſichten ein doppeltes Intereſſe zu ver¬
leihen . “ —
Der Kriminalrath tauchte eben ein Stuͤck Kuchen in
ſeine Taſſe und ſagte achſelzuckend :
„ In der That , ſeine Anſichten waren zuweilen ſehr
eigenthuͤmlich . Sie haben ihm auch ſein jetziges Geſchick
zugezogen . “ —
„ Es mag immer noch Vielen eigenthuͤmlich ſcheinen , “
ſagte der Maler , „ wenn Jemand mit den herrſchenden
Grundſaͤtzen im Widerſpruch ſteht . Aber die Geſchichte
kann uns uͤberall zeigen , daß der ſogenannte beſchraͤnkte
Unterthanenverſtand doch zuletzt immer uͤber die privilegirte
Weisheit den Siegespreis davongetragen hat , ſowohl den
Preis der Vernunft als den des thatſaͤchlichen Kampfes . “—
„ Daß Jemand im Widerſpruch mit den herrſchenden
Anſichten ſteht , kann kein Vorwurf fuͤr ihn ſein , zumal
wenn ſeine Ueberzeugung aus wahrer Kritik der Verhaͤlt¬
niſſe hervorgegangen iſt , “ bemerkte der Angegriffene .
„Wenn er aber als Einzelner auch aͤußerlich in offenen ,
ſchroffen Widerſpruch und Kampf mit ihnen tritt , ſo
kann man das wohl eine Thorheit nennen . “ —
„ Wenn es ſeine wahre Ueberzeugung iſt , ſo muß er
auch damit ans Licht treten und ſie vertheidigen duͤrfen .
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
Der Muth einer Meinung iſt immer achtungswerth , und
das Biſchen Verfolgung trifft ſeine Sache nicht . —
Wenn Sie es aber fuͤr Thorheit erachten , daß er allein
mit der Wahrheit beim Volke durchzudringen hofft , ſo
moͤgen Sie Recht haben . Die Wahrheit ſelbſt iſt den
Leuten gleichguͤltig , ja ſie fuͤrchten ſich ſogar davor . Bei
der Erziehung ſchon ſuchen die Aeltern ihre Kinder aͤngſt¬
lich vor ſolchen Meinungen zu huͤten , die ſie doch in
ihrem Innern als die einzig auf Wahrheit beruhenden
erkennen , blos weil dieſelben mit den herrſchenden An¬
ſichten in Widerſpruch ſtehen . Dieſe Feigheit iſt die noth¬
wendige Folge gewiſſer demoraliſirenden Einrichtungen .
Wo die Wahrheit aber wirklich mit den Maſſen durch¬
gedrungen iſt , waren es immer nur andere aͤußere Ver¬
haͤltniſſe , die den Kampf veranlaßten . Fuͤr die bloße
Wahrheit tritt ſelten ein Volk , am wenigſten das unſre ,
thaͤtlich in die Schranken . “ —
„ Da ſieht man die echten Politiker , “ ſagte die
Hausfrau , ſich an den Tiſch ſetzend . „ Kaum hat man
den Ruͤcken gewendet , ſo liegen ſie auch ſchon in
Hader . “
„ Und wir Andern haben noch gar nicht einmal er¬
fahren , was denn dem Doktor geſchehen iſt , und wes¬
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
halb er an der Geſellſchaft keinen Theil mehr nehmen
koͤnnte ? “ bemerkte eine junge Dame .
„ Der Doktor , “ ſagte die Hausfrau , „ war mit eini¬
gen ſeiner Bekannten an einem oͤffentlichen Ort , und
man ſprach daruͤber , daß der Gensd'arme ohne Strafe
ausgegangen ſei , der juͤngſt den Schneider in der Fried¬
richsſtraße auf den Tod verwundet hatte . Die Aeußerun¬
gen des Doktors muͤſſen nicht eben ſehr vorſichtig gewe¬
ſen ſein , denn in Folge einer Denunciation wurde er zur
polizeilichen Unterſuchung gezogen und aus der Stadt
verwieſen . “ —
„ Da man ihm Form Rechtens nichts anhaben konnte , “
ſagte der Maler .
„ Alſo der Gensd'arme iſt wirklich leer ausgegangen ? “
fragte der Referendar , ein Verwandter der Hausfrau ,
welcher auf Beſuch in der Reſidenz war .
„ Und der arme Doktor hat wirklich die Stadt ver¬
laſſen muͤſſen ? “ fuͤgte theilnehmend die junge Dame
hinzu .
„ Der Gensd'arme iſt leer ausgegangen , wenigſtens
ohne Strafe , wie es vielleicht Manche erwartet h at ten ;
denn das Polizei-Praͤſidium war der Anſicht , daß ihm
gegen einen Verhafteten , der ihm thaͤtlichen Widerſtand
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
leiſtete und ihn inſultirte , die Anwendung ſeiner Gewalt
zugeſtanden habe , alſo ein Vergehen von ſeiner Seite
nicht vorliege , “ erwiderte der Kriminalrath wohlgefaͤllig ,
„ganz wie ich die Sache von vornherein betrachtete . Und
der Doktor hat vorgeſtern die Stadt verlaſſen muͤſſen ,
obwohl er ſich ſehr auf ſein Indigenat und ſeine Rechte
als Landeskind berief . Indeß eine polizeiliche Ver¬
fuͤgung — “
„ Hat mit Rechten nichts zu ſchaffen , “ bemerkte der
Maler .
„ Die Polizeibehoͤrde muß jedoch diesmal wohl ganz
beſtimmte Gruͤnde gehabt haben , “ ſagte der Kriminal¬
rath , „ denn der Doktor hat auf ſeine Beſchwerde beim
Miniſterium den Beſcheid bekommen , daß es bei der
Verfuͤgung der Polizeibehoͤrde ſein Bewenden haben
muͤſſe . “ —
„ Man weiß ja , was eine Beſchwerde in dem Laby¬
rinth unſerer Bureau-Wege erreichen kann , wo ein Drit¬
ter bei einem Beamten gegen einen Beamten , bei der
Polizei gegen die Polizei Schutz ſucht , “ warf der Maler
ein “ „ Ueberdies ſcheinen die Gruͤnde bei des Doktors
Ausweiſung nicht ſehr dringend geweſen zu ſein , denn
der Polizeidirektor ſagte ihm , daß man das Dekret , wohl
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
zuruͤckgenommen haͤtte , wenn er ſtatt auf ſein Recht als
Landeskind zu pochen , beſcheiden um Ruͤcknahme der
Verfuͤgung nachgeſucht haͤtte : ſo aber haͤtte man zeigen
muͤſſen , daß man die einmal erlaſſene Verfuͤgung auch
durchzufuͤhren vermoͤge . Was aber den Gensd'armen
betrifft , ſo weiß ich aus zuverlaͤſſiger Quelle , daß derſelbe
von ſeiner vorgeſetzten Dienſtbehoͤrde einen Verweis erhal¬
ten , ſich kuͤnftighin vorzuſehen . Man muß alſo doch
ſein Verhalten nicht ſo ganz in der Ordnung gefunden
haben . “ —
„ Bei dem Weg der Beſchwerde moͤgen die Bethei¬
ligten allerdings oft zu keinem genuͤgenden Ziel kommen , “
ſagte der Referendar aus der Provinz , „ aber die vorge¬
ſetzten Behoͤrden ſind auch oft , ohne ihr Wiſſen , bloß
durch die beſtehenden Einrichtungen der Gefahr ausgeſetzt ,
Partei fuͤr ihre Unterbeamten nehmen zu muͤſſen . Ich
habe erſt kuͤrzlich in meiner Heimath einen ſehr eklatan¬
ten Fall dieſer Art erfahren . “ —
Der Kriminalrath ſah den Sprechenden mit einem
ſonderbar fragenden Blick an , die Geſellſchaft aber ver¬
langte neugierig die Geſchichte zu hoͤren . Die Stuͤhle
wurden naͤher um den Tiſch geruͤckt , die Hausfrau fuͤllte
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
noch einmal Thee nach , und der Referendar begann nun¬
mehr ſeine Erzaͤhlung .
„ In dem Hauſe , wo ich ſeit meiner Beſchaͤftigung
beim *** Gericht wohne , lebte unten im Erdgeſchoß auch
ein armer Schuſter , eigentlich wohl nur ein Flickſchuſter
zu nennen , denn er hatte wenig anderes als Flickarbeit
fuͤr ſeine Kunden zu beſorgen . Ich war beim Ein- und
A us gehen ſchon auf ihn aufmerkſam geworden , da ich
ihn bei ſeinem hoͤchſt kuͤmmerlichen Verdienſt immer ſin¬
gend und guter Dinge fand ; ſpaͤter erbot er ſich mir zur
Aufwartung , und ſo wurde ich genauer mit ihm bekannt .
Es war eine drollige humoriſtiſche Figur , mit einem
uͤberraſchend ſchlagenden Witz begabt , und dabei von un¬
gemeiner Lernbegierde . Ich unterhielt mich gewoͤhnlich
jeden Morgen laͤngere Zeit mit ihm , eigentlich um mich
an ſeinen Spaͤßen und ſeiner ganzen drolligen Weiſe zu
ergetzen , aber ich mußte bald auch ſeinen wißbegierigen
Ernſt bewundern , und geſtehe , daß mich dieſer arme
Teufel aus dem Volk manchmal durch ſeine Fragen in
Verlegenheit geſetzt hat . Dabei hatte er einen ſo richti¬
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
gen Urtheilsſinn , wie ich ihn ſelten unter ſolchen Leuten
gefunden habe . Ich bin uͤberzeugt , daß der Menſch zu
hoͤchſt Bedeutendem berufen war , aber ſeine Armuth
feſſelte ihn in den Koth der Geſellſchaft und ließ ſeine
Gaben unbenutzt verderben .
Eines Morgens trat Schwind , ſo hieß der Schuſter ,
mit ſehr verlegener Miene in mein Zimmer , nachdem er
den Tag vorher ausgeblieben war . Statt wie ſonſt mir
ſogleich ſeine Neuigkeiten aufzutiſchen , nahm er nach kur¬
zem Gruß die Kleider , und begab ſich mit auffallender
Schweigſamkeit auf den Korridor , von wo ich bald das
Geraͤuſch ſeiner eifrigen Buͤrſte vernahm . Als er wieder
hereinkam , hing er die Sachen an ihren gewoͤhnlichen
Ort , und machte ſich , da ich von meiner Arbeit nicht
aufblickte , noch einen Vorwand der Beſchaͤftigung .
„ Der Herr Doktor haben ſich wohl gewundert , “
ſagte er endlich , daß ich geſtern morgen nicht zur Auf¬
wartung gekommen bin . Aber wahrhaftig , ich war nicht
Schuld daran , daß ich die Nacht auf der Polizei geſeſſen
habe . “ —
Dieſe Einleitung ſetzte mich in neugierige Verwunde¬
rung , denn ich kannte Schwind als einen ordentlichen
ruhigen Menſchen . Ich ſchob meine Akten zur Seite
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
und fragte , indem ich mich im Stuhl zu ihm hin¬
kehrte :
„ Was , Schwind ! Ihr habt auf der Polizei ge¬
ſeſſen ? Alſo trinkt Ihr auch , das hab' ich fruͤher noch
nicht an Euch gekannt , denn wahrſcheinlich habt Ihr in
der Trunkenheit Skandal oder Schlaͤgerei angefangen , daß
man Euch ſo untergebracht hat ? “ —
„ Gott bewahre , Herr Doktor ! “ ſagte der arme
Teufel erſchreckt . „ Sie werden gewiß ſelbſt ſagen , daß
ich gar nichts Beſonderes gethan habe . — Sehen Sie ,
vorgeſtern Morgen bekomme ich einen Brief aus der
naͤchſten Ortſchaft , worin mir mein Bruder ſchreibt , daß
ich ihm entgegenkommen ſolle , und auch drei Thaler in
die Taſche ſtecken moͤge , damit er die am Stadtthor vor¬
zeigen koͤnne . Nun muͤſſen Sie wiſſen , Herr Doktor ,
daß mein Bruder ſeit zwei und einem halben Jahr auf
der Wanderſchaft iſt und wir uns in der Zeit nicht ge¬
ſehen haben . Ich nehme alſo drei Thaler und gehe
meinem Bruder entgegen . Auf dem Ruͤckweg gebe ich
ihm nun das Geld , welches er am Thor vorzeigt , und
als wir ſo in die Stadt gekommen ſind , giebt er mir
das Geld wieder , denn er iſt ein tuͤchtiger gelernter Geſelle
und braucht um ein Unterkommen nicht beſorgt zu ſein . “—
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
„ Wozu muß er denn am Thor drei Thaler vorzei¬
gen , “ fragte ich den Schuſter , „ das iſt eine Beſtim¬
mung , die ich noch nicht kenne . “ —
„ Das iſt ſo eine Vorſchrift in unſerm Lande , “ ant¬
wortete mir Schwind . „ Jeder wandernde Handwerks¬
burſch muß am Thor drei Thaler vorzeigen , oder er wird
gar nicht in die Stadt gelaſſen und muß wieder um¬
kehren . “ —
„ Wahrſcheinlich um zu verhuͤten , daß ein Geſelle ,
der keine Arbeit findet , der Gemeinde zur Laſt faͤllt . “ —
„ Ich glaube wohl , “ ſagte der Schuſter . „ Aber es
iſt doch eine ſchlechte Einrichtung . Wenn ein armer
Handwerksburſch , der keine drei Thaler beſitzt , an eine
Stadt kommt , wo er ſicherlich ein Verdienſt finden kann ,
ſo wird er zuruͤckgewieſen . Heißt das nicht den Armen
auf Koſten der Reichen das Brod verkuͤrzen ? Und wenn
ſie ihm ſo ſein Unterkommen verwehren , wie ſorgen ſie
wohl weiter fuͤr ihn ? Er muß denſelben Weg , auf dem
er gekommen iſt , zuruͤck machen , ohne Geld , ohne Ver¬
dienſt , und das Betteln iſt ihm auch verboten . Nir¬
gends nehmm ſie ihn auf . Auf dieſe Art kann er zehn¬
mal verhungem , ehe er es einmal zu etwas bringt , oder
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
er muß ſich durch Luͤgen und Kniffe zu helfen ſuchen ;
er wird ja dazu gezwungen . Die meiſten thun das denn
auch . Entweder geben ſie einem Bauer , der in die
Stadt faͤhrt , ihren Ranzen , Stock und Hut in Ver¬
wahrung , und gehen wie Tageloͤhner hinein ; oder wenn
mehrere zuſammen ſind , ſo geben ſie Einem ihr geſamm¬
tes Geld , damit dieſer zuerſt in die Stadt geht , auf der
Herberge ſeine Sachen ablegt , und den draußen War¬
tenden das Geld zuruͤckbringt . So koͤmmt denn Einer
nach dem Andern hinein . “ —
„ Und die Leute ſind immer ſo ehrlich , und bringen
das Geld zuruͤck ? “ fragte ich den Handwerker . „ Es
macht ſich nie Einer mit dem Geld fort , und laͤßt die
Andern ſitzen ? “ —
„ Das kommt wohl nie vor , “ antwortete Schwind
mit dem Ausdruck ehrlicher Ueberraſchtheit . „ Die Leute
ſind durch die Gleichheit ihres Looſes faſt an Gemeinleben
gewoͤhnt , und da betruͤgt nie Einer den Andern . Ich
habe wenigſtens nie davon gehoͤrt . “ —
„ Aber wie haͤngt das nun mit Eurer Verhaftung
zuſammen ? “ —
„ Ja , ſehen Sie alſo , Herr Doktor , nachdem wir
in die Stadt gekommen waren , begleitete ich meinen
9
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
Bruder auf die Herberge : denn wenn man einander ſo
lange nicht geſehen hat , ſo will man auch wieder einmal
ein Glas zuſammen trinken . In der Herberge waren
nun mehrere andere Handwerksburſchen zugegen , die ſich
ebenfalls in die Stadt hatten ſchmuggeln muͤſſen , und
als wir uns zu ihnen ſetzten , erzaͤhlte mein Bruder ihnen
ſeine Einfahrt , und wie das ſo iſt , wurde daruͤber wei¬
ter geſprochen . “ —
„ Das heißt , es wurde daruͤber weidlich losgezogen ? “—
„ Nicht viel , Herr Doktor . Mein Bruder und ich
hatten uns auch mehr uͤber andere Sachen zu unterhal¬
ten . Nun ſaß da aber auch ein Kerl , dem ich von
vornherein nicht traute , ein Fleiſchergeſell hier aus unſerer
Gaſſe , ein grundliederlicher Menſch , den ich mir dadurch
verfeindet habe , daß ich ihm einmal abſchlug , ohne Be¬
zahlung ein Paar Stiefel zu beſohlen . Der hat nun
wahrſcheinlich die Geſchichte mit meinem Bruder , ſo wie
er ſie gehoͤrt hatte , auf der Polizei angezeigt , denn ich
kriegte am Nachmittag eine Vorladung vor den Revier¬
kommiſſarius , zu dem ſie auch ſchon meinen Bruder ge¬
holt hatte . Der Kommiſſarius fuhr mich gleich mit
groben Worten an , wie ich mich unterſtehen koͤnne , den
Leuten bei Umgehung der Polizei-Vorſchriften behuͤlflich
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
zu ſein ? Ob ich nicht wiſſe , daß ein Handwerksburſch ,
der ohne Geld herumvagabondire , die Stadt nicht be¬
treten duͤrfe ? Ich wußte nun nicht , daß mein Bruder ,
der die drei Thaler nicht mehr ausweiſen konnte , die
Sache ſchon eingeſtanden hatte , und ſagte : daß das
nicht wahr ſei , ich haͤtte ihm kein Geld geliehen . Da
zog mich der Kommiſſarius beim Rockkragen vor meinen
Bruder hin , und rief dieſem zu , er ſolle doch dem Luͤg¬
ner noch einmal die Wahrheit erzaͤhlen . Wie ich das
hoͤrte , geſtand ich denn , daß ich meinem Bruder aller¬
dings drei Thaler geliehen , daß mir das aber meiner An¬
ſicht nach Niemand verwehren koͤnne , und daß es mich
nichts angehe , wozu er das Geld brauche . Nun fuhr
der Kommiſſarius erſt recht auf mich ein , und ſagte
zuletzt :
„ „ Solches Lumpengeſindel glaubt auch noch die Po¬
lizei an der Naſe herumfuͤhren zu koͤnnen . “ “
„ Da lief mir denn auch die Galle uͤber . Ich ſagte ,
daß ich mir ſolche Ausdruͤcke verbitte , oder mir ſchon auf
andere Weiſe Recht verſchaffen wolle . Das machte ihn
noch groͤber , und wie das ſo geht , gab ein Wort das
andere . Zuletzt ließ er uns Beide durch ſeinen Sergean¬
ten nach dem Polizeigefaͤngniß bringen . Sehen Sie ,
9 *
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
Herr Doktor , das iſt in Wahrheit die ganze Geſchichte ,
um derentwillen ich geſtern nicht gekommen bin , und
Sie werden gewiß ſelbſt ſagen , daß ich unſchuldig daran
war . Aber ich werde mir das auch nicht gefallen
laſſen . “ —
„ Wahrſcheinlich wird Euch jedoch nichts Anderes
uͤbrig bleiben ! “ ſagte ich dem Schuſter auf dieſen zornigen
Epilog ſeiner Erzaͤhlung . „ Die Nacht auf dem Ge¬
faͤngniß wird Euch Niemand abnehmen . “ —
„ Aber ich will doch ſehen , ob ich dafuͤr eingeſperrt
werden kann , weil ich meinem Bruder drei Thaler leihe ! “
eiferte er weiter . „ Und wiſſen will ich , ob der Kom¬
miſſarius das Recht hat , ehrliche Arbeiter Lumpengeſindel
zu tituliren ! Geſtern Mittag erſt ließen ſie uns aus
dem Loch und nahmen im Polizeihaus ein Protokoll
uͤber uns auf . Dann brachten ſie meinen Bruder aus
der Stadt , — das mag vielleicht in der Ordnung ſein , aber
mich mußten ſie freilaſſen ; ich lief gleich zu Ihnen , um
Sie zu bitten , mir eine Klagſchrift aufzuſehen . Da
Sie nicht zu Hauſe waren , ging ich zu dem Studenten
im Hintergebaͤude , den ich auch bediene , und der hat
mir denn eine Beſchwerdeſchrift an das Polizeidirektorium
aufgeſetzt . “ —
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
Ich war der Anſicht , daß er ſeine Beſchwerde beſſer
bei ſich behalten haͤtte , aber Schwind antwortete , er
wolle ſich ſein Recht nicht nehmen laſſen , und brauche
ſich darin vor Niemanden zu fuͤrchten . Ueberdies war
die Vorſtellung auch bereits abgegangen .
Da mich die Sache intereſſirte , ſo erkundigte ich mich
nach einigen Tagen bei einem meiner Bekannten danach ,
welcher auf der Polizei arbeitete . Hier vernahm ich
ſchon , daß der Kommiſſarius bei ſeinem Vorgeſetzten in
ſehr gutem Anſehen ſtehe , und daß bisher gegen denſelben
noch keine Beſchwerde laut geworden ſei . Es war daher
mit Gewißheit anzunehmen , daß ſich der Polizeidirektor
in dieſer erſten Beſchwerde , wenn ſie nicht auf gar zu
graͤuliche Veranlaſſung gegruͤndet war , ſeines Unterbeam¬
ten annehmen werde .
Und das geſchah denn auch .
Der Polizeidirektor gab dem Kommiſſarius ſelbſt die
Beſchwerde , und befragte ihn bloß uͤber die Veranlaſſung
der Sache . Der Kommiſſarius erklaͤrte darauf , daß er
die beiden Handwerker zur Vernehmung nach der Polizei
transportirt habe , weil der Eine die polizeilichen Vor¬
ſchriften beim Eintritt in die Stadt umgangen , und der
Andere ihm dabei behuͤlflich geweſen ſei . Ob er den
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
Ausdruck „ Lumpengeſindel “ gebraucht , wiſſe er nicht ;
indeß ſei es gar nicht anders moͤglich , als daß Einem bei
ſolchen Leuten , die in uͤberwieſenen und theilweiſe geſtaͤn¬
digen Vergehen noch die duͤmmſten Luͤgen und Kniffe
verſuchten und freche Reden fuͤhrten , endlich auch einmal
das Maaß der Geduld uͤberlaufe .
Mit dieſer Erklaͤrung war die Sache fuͤr den Poli¬
zeidirektor hinlaͤnglich eroͤrtert . Schwind wurde nach eini¬
gen Tagen auf das Polizeiamt geladen , und erhielt hier
einen Verweis uͤber die Frechheit , mit der er nach ſeinem
ungeſetzlichen Betragen noch Beſchwerde fuͤhren wollte .
Als er darauf zu repliciren verſuchte , warf ihn der Po¬
lizeiaktuar zur Thuͤr hinaus .
Dies war das foͤrmliche Reſultat ſeiner Beſchwerde .
Nebenbei aber hatte er ſich auch den Polizei-Kommiſſa¬
rius perſoͤnlich verfeindet , und dieſer wartete nur auf
eine Gelegenheit , um den Schuſter fuͤr ſeine Reſpektlo¬
ſigkeit buͤßen zu laſſen .
Mittlerweile hatte ſich Schwind's Bruder im Lande
herum von Ort zu Ort gewendet . Ein paar Mal war
er auch von Meiſtern in Arbeit genommen worden , allein
der Verdienſt war im Ganzen ſehr gering , und es gefiel
ihm daſelbſt uͤberhaupt nicht . Er ſchrieb daher wiederum
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
an ſeinen Bruder , und bat ihn um das noͤthige Geld ,
damit er jetzt zuruͤckkehren koͤnne . Schwind ſchickte ihm
drei Thaler und ſchrieb ihm dabei , daß er ihm dieſelben
ſchenke .
Somit zog der Handwerksburſch wieder nach der
Stadt , in der ſichern Vorausſetzung , daß man ihm nun¬
mehr nichts weiter anhaben werde . Er war jedoch kaum
zwei Tage am Ort , als der Kommiſſarius , der davon
Nachricht erhielt , ihn verhaftete und als einen Widerſetz¬
lichen , der trotz polizeilicher Ausweiſung wieder zuruͤckge¬
kehrt ſei , nach dem Polizeigefaͤngniß ablieferte . Hier blieb
er acht Tage . Dann aber wurde er trotz ſeiner Vor¬
ſtellung , daß er jetzt den vorſchriftmaͤßigen Anforderungen
genuͤgen koͤnne , aus der Stadt geſchafft und zugleich bei ge¬
ſchaͤrfter Gefaͤngnißſtrafe verwarnt , je wieder zuruͤckzukehren .
Schwind erzaͤhlte mir dieſe neue Wendung der Dinge
mit eben nicht gelinden Ausdruͤcken gegen den Polizei-
Kommiſſarius , und bat mich im Namen ſeines Bruders ,
eine Beſchwerde an das Polizeidirektorium zu entwerfen .
Obwohl ich mir von ſolchem Beſchwerdeweg gleich zu An¬
fang wenig Erfolg verſprach , ſo erfuͤllte ich doch Schwinds
Bitte um ſo mehr , als meiner Anſicht nach die ſchon
beſtehenden Verhaͤltniſſe nicht wohl verſchlimmert werden
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
konnten . Die neue Eingabe ging ab , und kam in erſter
Inſtanz an den Polizeidirektor . Dieſer aber hatte bereits
das erſte Verfahren des Kommiſſarius gegen Schwinds
Bruder gutgeheißen , und war daher hier gewiſſermaßen
zur Parteinahme gezwungen .
Ich vernahm ſpaͤter , daß der Polizeidirektor den
Kommiſſarius habe zu ſich kommen laſſen und ihm uͤber
ſein Verfahren einen Verweis gegeben habe . Die Be¬
ſchwerde Schwinds aber wurde nichtsdeſtoweniger als
unbegruͤndet zuruͤckgewieſen und das Verfahren gegen den
Handwerksburſchen beſtaͤtigt . Das iſt nicht ſelten der
Verlauf des Beſchwerdeganges . Das erſte Mal wird
die vorgeſetzte Behoͤrde regelmaͤßig ihren Unterbeamten in
Schutz nehmen , indem der Beſchwerdefuͤhrer ihr ferner
ſteht ; beim zweitenmal iſt ſie dann ſchon ſelbſt als Par¬
tei betheiligt .
Schwind remonſtrirte diesmal nach der Reſidenz an
das Miniſterium . Nachdem ſeine Beſchwerde hier einige
Zeit gelegen , wurde ſie der Polizeidirektion unſerer Stadt
zur Berichterſtattung eingeſchickt . Der Polizeidirektor ließ
nun wieder den Bericht des Kommiſſarius zu Protokoll
nehmen , um darauf ſeinen eignen letzten Beſcheid zu er¬
gaͤnzen . Daß hierbei die Angelegenheit Schwinds in kein
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
eben guͤnſtiges Licht treten konnte , war wohl natuͤrlich ,
denn jetzt war nicht mehr der Kommiſſarius allein der
Beklagte , ſondern der Polizeidirektor hatte ſelbſt ſeine
letzterlaſſene Entſcheidung zu juſtificiren . Als die Ent¬
ſchließung des Miniſteriums endlich einlief , war ſie denn
auch , wie dies nur zu erwarten ſtand , eine abweiſende .
Von nun an ſaß der Kommiſſarius dem armen
Schuſter mehr als je auf dem Nacken . Sei es , daß
er wirklich einzelne Veranlaſſungen dazu fand , ſei es ,
daß er nach der letzten Wendung die Stimmung ſeines
Vorgeſetzten nicht mehr fuͤrchten zu muͤſſen glaubte ,
kurz , die kleinen Quaͤlereien nahmen kein Ende . Die
ſchoͤnſte Gelegenheit aber bot ihm in kurzer Zeit eine
Veraͤnderung in Schwinds Verhaͤltniſſen .
Schwind hatte bis vor einem halben Jahre ſeine
alte Mutter bei ſich ernaͤhrt , die ihm dafuͤr das Haus¬
weſen beſorgte . Als die alte Frau dann geſtorben war ,
hatte er ein halbes Jahr lang allein gewohnt , aber ſeine
Junggeſellen-Wirthſchaft behagte ihm nicht mehr , und er
wollte ſich nun eine Hausfrau nehmen . Hierzu mußte
er den Anforderungen genuͤgen , welche bei Geſtattung
der Niederlaſſung gemacht werden . Schwind war in
unſerem Lande geboren , ſein Heimathsort lag nur wenige
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
Meilen von der Stadt entfernt , und er hatte daher nur
noch den Nachweis ſelbſtſtaͤndigen Erwerbes zu fuͤhren .
Der Kommiſſarius , welchem die Aufnahme dieſer Ver¬
haͤltniſſe oblag , ließ auch die Angaben des Schuſters zu
Protokoll nehmen , und ſchickte die Papiere an die Poli¬
zeidirektion . Nach Verlauf von drei Wochen lief von
hier der Beſcheid ein .
Schwind war nur Flickſchuſter , das heißt , er durfte ,
da er nicht Meiſter geworden , keine neuen vollſtaͤndigen
Arbeiten uͤbernehmen , es ſei denn im Dienſt anderer
Meiſter . Indem in dem Beſcheid der Polizeidirektion
dies Verhaͤltniß hervorgehoben wurde , hieß es unter An¬
ziehung eines Geſetzes , wonach zur Niederlaſſung der
Nachweis ſelbſtſtaͤndigen Lebenserwerbes erforderlich ,
und einer Polizeiverordnung , wonach der Nachweis von
bloßen Arbeits kraͤften in dieſer Beziehung nicht ausrei¬
chend ſein ſollte , alsdann weiter :
daß demgemaͤß im vorliegenden Falle der Nachweis
ſelbſtſtaͤndigen Erwerbes nicht als gefuͤhrt angenom¬
men werden koͤnne , vielmehr der Vermuthung
Raum gegeben ſei , Supplikant werde mit ſeiner
Familie fruͤher oder ſpaͤter der Gemeinde zur Laſt
fallen , und es muͤſſe ſeinem Geſuch um Geſtattung
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
der Niederlaſſung behufs Begruͤndung eines Haus¬
haltes die Genehmigung verweigert werden .
Schwind war durch den Ausgang ſeiner erſten Be¬
ſchwerde von jedem neuen derartigen Verſuch zuruͤckge¬
kommen , und nahm dieſen Beſcheid ſtillſchweigend hin .
Um allen weiteren Plackereien zu entgehen , wendete er
ſich nach ſeiner Vaterſtadt , begann hier wieder ſein Ge¬
ſchaͤft , und verheirathete ſich bald darauf . Aber es wollte
hier mit dem Auskommen nicht recht gehn , ſei es nun ,
daß in dem kleinen Orte uͤberhaupt zu wenig zu verdienen
war , ſei es , daß die Vergroͤßerung ſeines Haushaltes durch
Frau und Kinder allmaͤhlig zu bedeutende Koſten erheiſchte .
Als ich mich nach ein paar Jahren zufaͤllig nach ihm er¬
kundigte , hoͤrte ich , daß der ſonſt ſo aufgeweckte , joviale
Menſch durch ſein Ungluͤck gaͤnzlich veraͤndert und herab¬
gekommen ſei . Zuletzt , als er ſich gar nicht mehr zu
helfen wußte , verkaufte er den Reſt ſeiner Habe , ſchloß ſich
einer Auswanderungs-Geſellſchaft an , und iſt jetzt vor eini¬
gen Wochen mit Frau und Kindern nach Amerika geſegelt . “
„ Und in Amerika wird der arme Teufel auch keine
Seide ſpinnen ! “ ſagte die Hausfrau , als der Referendar
ſeine Erzaͤhlung beendigt hatte .
Die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde.
„ Schwerlich , gnaͤdige Frau ! “ fuͤgte der Erzaͤhler hin¬
zu , „ Es wird dem Einzelnen ſchon ſo ſchwer , ſich in
der Fremde eine Stellung zu erringen , eine arme Familie
aber geht dem traurigſten Loos entgegen . Und doch ha¬
ben ſie dort noch mehr Hoffnung , als hier , von wo ſie
nur die Verzweiflung vertreibt . Man kann das Aus¬
wandern nie abſolut verdammen , denn man weiß nicht ,
gegen welche ungluͤcklichen Verhaͤltniſſe die Armen in ihrer
Heimath vergebens angekaͤmpft haben koͤnnen , und der
ungluͤcklichen demoraliſirenden Verhaͤltniſſe haben wir in
der ſchoͤnen Heimath ſo viele . “ —
„ Ja , dieſer arme Schuſter iſt auch ein Opfer ſolcher
Verhaͤltniſſe geworden , “ ſagte die Hausfrau . „ Was
meinen Sie , Herr Kriminalrath ? “ —
Der Kriminalrath zuckte die Achſeln .
„ Die Geſchichte mag ſich ſo verhalten , “ ſagte er
gleichguͤltig . „ Es laͤßt ſich aber wohl auch nicht ver¬
meiden , daß hin und wieder vielleicht Jemanden Unrecht
geſchieht , und ſelbſt die vorgeſetzten Behoͤrden nicht im
Stande ſind , die Verhaͤltniſſe richtig zu erkennen . Das
iſt weiter nichts Außerordentliches , und mag wohl oͤfter
vorfallen , als man es ſo erfaͤhrt . “ —
Vom
heimathloſen Vaterland .
J ohann Heinrich Ludwig Hanemann wurde im Jahre
1803 in Hoya geboren , ſiedelte in einem Alter von
5 Jahren nach dem hannoͤverſchen Staͤdtchen Wunſtorf
im Amt Blumenau , wo er bis zu ſeiner Konfirmation
verblieb , und begab ſich dann , als er das Baͤckergeſchaͤft
erlernt , im Jahre 1819 nach Hamburg .
In Hamburg diente Hanemann im Ganzen zwei
Meiſtern , dem einen 9 3/4 Jahre , dem andern 3 Jahre ,
hatte zwar inzwiſchen auch ſeiner Militairpflicht in Han¬
nover zu genuͤgen , kehrte aber bei jeder Beurlaubung
nach Hamburg zu ſeinem Geſchaͤft zuruͤck . Im Jahre
1832 , nach mehr als zehnjaͤhrigem Aufenthalt in Ham¬
burg , welcher Zeitraum nach den damaligen Geſetzen
zur Heimathsberechtigung genuͤgte , verließ er ſeinen zwei¬
ten Meiſter , weil er ſich verheirathen und , zu unbemit¬
telt , um Baͤckermeiſter zu werden , ein Kommiſſionsge¬
ſchaͤft anfangen wollte .
Vom heimathloſen Vaterland.
Hierzu mußte er das Hamburger Buͤrgerrecht ge¬
winnen .
Da er die noͤthigen Legitimationen nicht zur Hand
hatte und wahrſcheinlich die Koſten der Herbeiſchaffung
ſcheute , ſo ließ er ſich von einem Freunde bereden , die
Papiere ſeines ſo eben verſtorbenen Bruders als die ſei¬
nigen auszugeben .
Auf dieſe Papiere hin erhielt er das Hamburger
Buͤrgerrecht .
Die Sache aber wurde verrathen , Hanemann zur
Unterſuchung gezogen und auf Befehl des Senats poli¬
zeilich verhoͤrt , jedoch von der Wedde wie von der Poli¬
zei geſchont . Dagegen erkannte der Senat unterm
29. Auguſt 1832 gegen ihn : daß ihm der Buͤrgerbrief
abzunehmen , er des Buͤrgerrechts verluſtig , des Gebiets
verwieſen , im Fall der Ruͤckkehr mit ſchaͤrfſter Strafe
zu belegen , und ſofort von der Polizei aus der Stadt
zu ſchaffen ſei .
Hanemann begab ſich hierauf nach Hameln , holte
ſeinen Militairfreiſchein , beſorgte ſich ſeinen Geburtſchein
und erhielt auch ein Wanderbuch als Baͤckergeſelle . Dann
kehrte er in der Hoffnung , daß ihm auf dieſe ſeine ,
Vom heimathloſen Vaterland.
richtigen Papiere das Buͤrgerrecht nicht verweigert werden
koͤnne , nach Hamburg zuruͤck .
In Hamburg angekommen wurde er ſofort arretirt
und
geſchloſſen
nach Hannover transportirt .
In Hannover verbot man ihm ebenfalls den Auf¬
enthalt , und zwar weil er durch Erlangung des Ham¬
burger Buͤrgerrechts ſeiner Heimathsangehoͤrigkeit in Han¬
nover verluſtig gegangen war .
Hanemann begab ſich nunmehr nach Altona und
gewann hier auf ſeine richtigen Papiere das Buͤrgerrecht .
Zur Betreibung ſeines nunmehrigen Geſchaͤfts mußte
er ſich zuweilen nach Hamburg begeben . Auf einer die¬
ſer Touren wurde er , am 6. Maͤrz 1833 , von der Ham¬
burger Polizei arretirt und beſtraft ; das zweite Mal , am
26. Maͤrz , arretirt , beſtraft und nach Altona transpor¬
tirt . Bei dieſer Gelegenheit erfuhr die Altonaer Behoͤrde
ſeine Faͤlſchung in Hamburg , und Hanemann wurde in
Folge deſſen von dem Oberpraͤſidenten wegen unzeitigen
Verſchweigens fruͤherer Verhaͤltniſſe mit Ohrfeigen rega¬
lirt . Spaͤter indeſſen erhielt er auf Verwendung deſſel¬
ben die Erlaubniß , Hamburg bei Tage beſuchen zu
10
Vom heimathloſen Vaterland.
duͤrfen , ohne daß man ihm dabei naͤchtliche Raſt be¬
willigte .
Vom 7. Mai 1833 bis zum 19. Februar 1839
lebte er nunmehr unbehelligt in Altona vom Weinkom¬
miſſionsgeſchaͤft , machte dann eine Reiſe nach Oporto
und verlobte ſich bei ſeiner Ruͤckkehr mit einer Hambur¬
gerin , welche eine Schenkwirthſchaft fuͤhrte . Zwei Mo¬
nate lang lebte er mit ihr in freiem Verhaͤltniß . Er
wohnte bei ihr , half ihr in der Wirthſchaft und benahm
ſich uͤberhaupt ſo , wie es ſein Verhaͤltniß zu rechtfertigen
ſchien . Eines Tages , als er ſie fuͤr untreu hielt , mi߬
handelte er ſie in ihrer Schenkwirthſchaft betrunkener
Weiſe ſo ſehr , daß ſie ihr Lokal verließ . Hanemann
blieb , wie er es bei ſonſtigem Ausgehen ſeiner Braut ge¬
wohnt war , in der Wirthſchaft zuruͤck , und als einige
Gaͤſte Geld gewechſelt verlangten , erbrach er die verſchloſ¬
ſene Kaſſe . Darauf wurde er auf Veranlaſſung des
Kurators ſeiner Braut arretirt und zur Unterſuchung ge¬
zogen . Die Hamburger Polizei lieferte ihn nach Altona
ab , indem ſie ihn dem dortigen Oberpraͤſidium zur Ab¬
nahme ſeines Buͤrgerrechts empfahl , und das Altonaer
Oberpraͤſidium
nahm ihm ſein Altonaer Buͤrgerrecht ab ,
Vom heimathloſen Vaterland.
unter dem Vorgeben , daß er daſſelbe ( vor ſieben Jahren )
durch Verſchweigen ſeiner fruͤhern Hamburger Erlebniſſe
erſchlichen habe , und verwies ihn des Gebietes .
Obwohl er von Altona aus in dem Zeitraum von
1832–1840 wiederholt nach Hamburg gekommen und
wegen uͤbertretener Verweiſung verſchiedentlich und mit
geſchaͤrfter Gefaͤngnißſtrafe beſtraft worden war , wußte ſich
Hanemann doch , als er jetzt Altona verlaſſen mußte ,
nirgends anders hin als nach Hamburg zu wenden . Allein
ſchon am 28. April 1840 ward er arretirt und in
achttaͤgige Zuchthausſtrafe
verurtheilt . Dann blieb er bis zum 21. Juli 1841
uͤberſehen in Hamburg , wurde wieder arretirt , zu ſechs¬
woͤchiger Zuchthausſtrafe
abwechſelnd mit Tretmuͤhle
verurtheilt und nach uͤberſtandener Strafe am 3. Sep¬
tember 1841 nach Altona abgeliefert . Die Altonaer
Behoͤrde transportirte ihn wieder nach Hamburg zuruͤck ,
wo er ſogleich ins Gefaͤngniß geſetzt wurde . Darauf
unterhandelte die Hamburgiſche Behoͤrde wegen Aufnahme
Hanemanns mit der zu Hoya und Wunſtorf im Han¬
noͤverſchen , aber vergeblich , dann transportirte ſie ihn am
12. Januar 1842 uͤber die Grenze nach Altona . Von
10 *
Vom heimathloſen Vaterland.
Altona wurde er auf dieſelbe Weiſe wieder nach Hamburg
zuruͤckgebracht , hier auf acht Tage
abwechſelnd mit Tretmuͤhle
ins Zuchthaus geſetzt und am 22. Januar 1842 aus
dem Gebiete gejagt . Da man ihn durchaus nirgends
aufnehmen wollte , kehrte er nothgedrungen nach Ham¬
burg zuruͤck , ward am 3. Februar abermals arretirt und
ins Detentionshaus geſperrt . Hier blieb er bis zum
19. Maͤrz , wo er entlaſſen und diesmal nach der Han¬
noͤverſchen Grenze transportirt wurde . In Stade ange¬
kommen wurde er ebenfalls arretirt und auf Unterhand¬
lungen und Anfragen der Stader und Hamburgiſchen
Behoͤrden erging von dem koͤniglichen Miniſterium in
Hannover unterm 29. Maͤrz der Befehl , den Hanemann
auf demſelben Wege , worauf er gekommen , zuruͤckzu¬
ſchaffen . Hanemann wandte ſich nun nach Altona , wurde
aber daſelbſt am 25. April arretirt , mit
fuͤnfundzwanzig Stockſchlaͤgen
beſtraft und nach dem Hamburgiſchen Gebiet tranſpor¬
tirt . Hier wurde er ſofort wieder arretirt , worauf der
Senat am 27. April beſchloß , ihn uͤber See zu ſchaffen ,
ſonſt aber die fruͤhere Verfuͤgung vom 12. Januar 1842
Vom heimathloſen Vaterland.
ferner in Ausuͤbung zu bringen , naͤmlich die Ruͤckkehr
Hanemanns immer ſchaͤrfer zu beſtrafen .
Da aber trat die große Hamburgiſche Brandkata¬
ſtrophe ein . Hanemann wurde aus dem Gefaͤngniß ent¬
laſſen und wirkte mehrere Tage und Naͤchte mit der aͤu¬
ßerſten Anſtrengung beim Loͤſchen des Feuers . Aber
ſchon am 12. Mai ward er wieder eingeſperrt und trotz
der Fuͤrſprache des Polizeichefs mit Zuchthausſtrafe be¬
legt , dann aber am 22. Juni nach der oͤſtlichen Grenze
des Koͤnigreiches Hannover transportirt . Von hier kehrte
er wieder nach Hamburg zuruͤck und lebte daſelbſt einige
Zeit unbemerkt , bis er Krankheitshalber am 19. Sep¬
tember 1842 ins allgemeine Krankenhaus kam . In
demſelben blieb er bis zum 13. Maͤrz 1843 . Zwei
Tage nach ſeiner Entlaſſung wurde er arretirt und dann
wieder nach der oͤſtlichen Grenze des Koͤnigreichs Hanno¬
ver transportirt . Die Behoͤrde in Winſen ſchaffte ihn
jedoch unter Bezugnahme auf den Beſchluß des koͤniglich
Hannoͤverſchen Miniſterii vom 29. Maͤrz wieder nach
Hamburg zuruͤck . Hier wurde er ſofort wieder einge¬
ſperrt , und
bis zum 1 . Juli 1844 ununterbrochen
in Arreſt gehalten . Dann ſetzte man ihn unter der
Vom heimathloſen Vaterland.
Verpflichtung , daß er Hamburg binnen 8 Tagen ver¬
laſſe , endlich in Freiheit .
Allein Hanemann , ohne zu wiſſen , wohin er ſich
wenden ſolle , blieb nochmals uͤber die geſtattete Friſt in
Hamburg . Am 14. Auguſt wurde er wieder arretirt ,
zu vierzehntaͤgigem Gefaͤngniß
abwechſelnd bei Waſſer und Brod
verurteilt und Ende Septembers uͤber die Grenze trans¬
portirt .
Waͤhrend ſeiner letzten Haft hatte ſich Hanemanns
ein bekannter , geachteter Advokat in Hamburg angenom¬
men , und ihm eine Supplik an die „ hohe deutſche Bun¬
desverſammlung “ in Betreff unterthaͤnigſt nachgeſuchter
Ermittelung einer Heimath in ſeinem deutſchen Vaterland
concipirt . Aus dieſer Supplik , welche das Kieler Korre¬
ſpondenzblatt in ſeiner Nummer 74 vom Jahre 1845
im Auszuge mittheilte , haben wir die Erlebniſſe Hane¬
manns hieraus wahrheits- und faſt wortgetreu entnommen .
Hanemann , der ohnedies nicht wußte , wo er ſein
Haupt derweile niederlegen ſolle , wollte nunmehr ſeine
Angelegenheit perſoͤnlich vor der deutſchen Bundesverſamm¬
lung fuͤhren . Die Hamburgiſchen Behoͤrden verweigerten
ihm aber zu dieſem Zweck den Reiſepaß , worauf ihm
Vom heimathloſen Vaterland.
denn der Koncipient jener Supplik eine Privat-Legitimation
ausfertigte , und fuͤr ſeine eigne Perſon die deutſchen
Behoͤrden erſuchte , den Inhaber der betreffenden Supplik
aus den in ihr enthaltenen Gruͤnden ſchuͤtzen und frei
und ungehindert gen Frankfurt an den deutſchen Bun¬
destag reiſen laſſen zu wollen .
Auf dieſe Weiſe kam der heimathloſe Deutſche auch
wirklich bis an ſein Ziel , und fand auf Verwendung in
Frankfurt ein vorlaͤufiges Domizil .
Dagegen fand ſeine Angelegenheit in Frankfurt ſchlech¬
tes Gedeihen . Man ſchickte ihn von Einem zum An¬
dern , Keiner aber wußte ihm mehr als eine unbeſtimmte
Ausſicht zu geben . Hanemann kehrte daher endlich nach
Hamburg zuruͤck .
Hier wurde er abermals arretirt .
Der Verwendung ſeines Advokaten gelang es , ihm
unter der Verpflichtung , daß er Hamburg ſofort verlaſſe ,
ſeine „ Freiheit “ zu verſchaffen , und mit einer neuen Le¬
gitimation deſſelben begab ſich Hanemann wiederum nach
Frankfurt , um noch einmal den deutſchen Bundestag um
Ermittelung eines Stuͤckchens Heimath in ſeinem großen
deutſchen „ Vaterland “ zu erſuchen .
Ob der heimathloſe , gemißhandelte Deutſche diesmal
Vom heimathloſen Vaterland.
bis an den Bundestag gedrungen , ob der Bundestag
einen Staat ermittelt hat , dem dieſer deutſche Unter ¬
than angehoͤrt , ob endlich ein ſolchermaßen ermittelter
Staat ihn auch wirklich aufgenommen — wir wiſſen es
nicht . Das aber wiſſen wir , daß der adminiſtrative
Krieg , den drei deutſche Bundesſtaaten auf ſolche Weiſe
gegen einen „ beſchirmten deutſchen Unterthan “ gefuͤhrt
haben , dieſer hartnaͤckige nicht geſchlichtete Krieg uͤber einen
ſo leicht beizulegenden Streitpunkt einen merkwuͤrdigen
Maaßſtab fuͤr die groͤßeren Verhaͤltniſſe des deutſchen
„ Vaterlandes “ abgeben koͤnnte , — wenn es uͤberhaupt
eines ſolchen beduͤrfte .
Das Unvermeidliche .
„ N ein , da magſt Du Einwuͤrfe und Entſchuldigungen
vorſuchen , ſo viele Du willſt , “ ſagte Arthur zu ſeinem
Kommilitonen und Stubenkameraden Eduard , „ das laͤßt
ſich weder rechtfertigen , noch entſchuldigen . Wenn ſich
Jemand an Mitgliedern der Behoͤrde , weil ſie ihn be¬
ſtrafen mußten , eigenmaͤchtig vergreift , ſo iſt das nichts
weiter , als Rache , und jede Rache iſt gemein und ver¬
aͤchtlich . “ —
„ Ich habe das auch keineswegs zu rechtfertigen ge¬
ſucht , “ erwiederte Eduard . „ Ich behaupte nur , daß er¬
littenes Unrecht in jedem Menſchen , ſei er auch der
ſanftmuͤthigſte der Welt , Haß gegen den erregt , von dem
ihm das Unrecht zugefuͤgt worden . Widerfaͤhrt es ihm
jedoch oͤfter , oder leidet er nachhaltig unter dem einen
Schlag , ſo wird ſich ſein erbittertes , von Haß erfuͤlltes
Gemuͤth zuletzt in einer Rachethat Luft machen . Das
iſt nur zu ſehr erklaͤrlich , und die , welche ihn dazu trie¬
ben , haben ſich allein die Folgen zuzuſchreiben . “ —
Das Unvermeidliche.
„ Wenn ihm wirklich Unrecht widerfahren iſt , “ ver¬
ſetzte Arthur , „ ſo kann er ſich deſto eher in dem Be¬
wußtſein ſeiner Unſchuld troͤſten . Durch einen eigenmaͤch¬
tigen Racheakt aber wird er ſeine Sache nur in ein
zweifelhaftes Licht ſtellen . “ —
„ Das ſind Phraſen , mein Lieber ! “ ſagte der Andere .
„Erlittenes Unrecht kraͤnkt am tiefſten , es verwindet das
kein Menſch ſo leicht . Im Gegentheil moͤchte ein Rache¬
akt weit eher auf die Unſchuld des fruͤher Verletzten
ſchließen laſſen ; denn im Bewußtſein ſeiner ſelbſtverſchul¬
deten Strafe wird er gewiß in ſeinem Innern weniger
Veranlaſſung zu Haß und Rache gegen den Vollſtrecker
finden , er wird vielmehr Beſchaͤmung oder im ſchlimm¬
ſten Fall Zorn uͤber ſein Mißgeſchick fuͤhlen . Deine
Moralbegriffe oder die Strafbeſtimmungen des Geſetzes
koͤnnen keinen Maßſtab fuͤr eine ſolche pſychologiſch be¬
gruͤndete That abgeben . Sie laͤßt ſich dagegen auch
ebenſo wenig entſchuldigen ; aber der Trieb liegt nun ein¬
mal in der Menſchennatur . “ —
„ Wenn Du die Sache nicht zu vertheidigen ver¬
magſt , “ rief Arthur , „ ſo iſt das ein ſchlechter Einwurf
mit dem Suͤndenbock der Menſchennatur . Es muß jeder
ſo viel Kraft in ſich haben , den Trieb , den er nicht
Das Unvermeidliche.
rechtfertigen kann , zu unterdruͤcken , oder er iſt ein feiger
Schwaͤchling . “ —
„ Das nimmt ſich im Prinzip recht ſchoͤn aus , “
meinte Eduard , „ aber ich bin uͤberzeugt , daß Dich ſelbſt
fortgeſetztes Unrecht erbittert machen und Deine Moral¬
geſetze vergeſſen laſſen wuͤrde . “ —
„ Nimmermehr ! “ rief Arthur unmuthig . „ Nie
wuͤrde ich aus Leichtſinn mir ſelbſt den Troſt der Ge¬
wiſſensreinheit zu nichte machen ! Ich halte das unter
allen Umſtaͤnden fuͤr ſchwach und veraͤchtlich ! “ —
Arthur war der Sohn eines Univerſitaͤtslehrers in *** ,
ſtudirte aber ſeit einem Jahre ungefaͤhr Theologie in B. ,
weil die Fakultaͤt hier renommirtere Lehrer als in ***
zaͤhlte . Arthur war ſo zu ſagen ein Prinzips-Menſch .
Er hatte ſich ſeinem Studium mit einem , in dieſen
Jahren ſeltenen Eifer hingegeben , und von Natur ſchon
ernſt und tieferem Denken zugeneigt , war auch ſein aͤuße¬
res Leben von dem Einfluß ſeiner geiſtigen Thaͤtigkeit er¬
griffen worden . Er hatte ſich nach ſeiner Philoſophie
Das Unvermeidliche.
vollkommen ein Syſtem , eine genaue Bahn ſeines Wan¬
dels konſtruirt und unterwarf engherzig jede , auch die
kleinſte ſeiner Handlungen der Analogie dieſes Prinzips .
Im Laufe der Zeit wurde ihm dieſe Pedanterie zur an¬
dern Natur . Es ging ihm nichts uͤber ein Prinzip und
er trieb die Konſequenz ſo weit , daß er lieber prinzipielle
Schlechtigkeit gelten laſſen , als den Leichtſinn und Wan¬
kelmuth jugendlicher Sorgloſigkeit entſchuldigen wollte .
„ Hat Jemand den Muth und die Konſequenz , aus
Prinzip ſchlecht zu ſein , “ ſagte er , „ ſo kann ich ihn
noch achten , wenn ich auch ſeine Gruͤnde vielleicht ver¬
werfen muß . Die Schwaͤche aber , die ſich von jedem
aͤußeren Hauche ihre Richtung geben laͤßt , darf ich nur
verachten . “ —
Mit dieſen Grundſaͤtzen mußte Arthur auf der Uni¬
verſitaͤt natuͤrlich ſehr vereinſamt ſtehen . Seine Kommi¬
litonen kuͤmmerten ſich nicht um ihn , oder verſpotteten
ihn als einen verruͤckten Pedanten . Nur Eduard hielt
es mit ihm , weniger jedoch aus Uebereinſtimmung , als
vielmehr durch langjaͤhrige Gewohnheit mit ihm vertraut .
Sie hatten ſich ſchon auf der Schule , welche ſie zuſam¬
men beſuchten , feſt an einander angeſchloſſen , und ſo
verſchieden ſie auch im Grunde von einander waren , ſo
Das Unvermeidliche.
hatte doch die Gewohnheit , taͤglich beiſammen zu ſein ,
zu tiefe Wurzeln in ihnen Beiden geſchlagen , als daß
Eduard nicht Arthurs Entſchluß haͤtte folgen und mit
ihm die Univerſitaͤt B. beziehen ſollen . Bei der immer
beſtimmteren Richtung Arthurs und dem leichten Sinn
Eduards kam es denn oͤfters zwiſchen den beiden Freun¬
den zu Debatten , aber dabei blieb es auch . Jeder that
nach wie vor das Seine , und ihr Verhaͤltniß litt nicht
im Mindeſten darunter .
So waren ſie einſt auf das obige Geſpraͤch gekom¬
men , als Eduard eben mit großem Gelaͤchter einen an
einem Nachtwaͤchter veruͤbten Streich erzaͤhlt hatte . Der
Nachtwaͤchter naͤmlich hatte einige Tage zuvor die An¬
zeige gemacht , daß an dem Schilderhaͤuschen , in welchem
er nach jedesmaliger Runde ſich aufhielt , mehrmals und
immer nur , wenn er eben drinnen ſtand , auf eine furcht¬
bare Weiſe gepoltert und geruͤttelt worden ſei , ohne daß
er der Ruheſtoͤrer habe habhaft werden koͤnnen . Das
letzte Mal jedoch habe er drei Studenten davon laufen
und in ein beſtimmtes Haus einkehren ſehen , aus wel¬
chem dann in der Nacht Niemand mehr herausgekom¬
men ſei . In Folge deſſen waren die drei , in jenem
Hauſe wohnhaften Studenten auf das Univerſitaͤtsgericht
Das Unvermeidliche.
citirt , und da ſie ein Alibi zur Zeit des Schabernacks
nicht nachweiſen konnten , wegen ruheſtoͤrenden Laͤrmens
in zweitaͤgige Karzerſtrafe verurtheilt worden . Dieſe in¬
deß hatten das Ungluͤck in der That gar nicht angerich¬
tet und beſchloſſen daher , ſich an dem unvorſichtigen
Nachtwaͤchter gebuͤhrend zu raͤchen . Mitten in der Nacht ,
als die Gaſſen oͤde und ruhig lagen und der Nachtwaͤch¬
ter aller Berechnung nach von ſeiner Runde wieder zuruͤck
ſein mußte , oͤffnete ſich die Hausthuͤr und die drei Stu¬
denten mit noch einem vierten , den ſie ins Geheimniß
gezogen , traten auf die Straße . Sie trugen ein großes
Bret , welches genau auf den Eingang des Schilderhaͤus¬
chens gepaßt war , und deſſen vier Ecken bereits Loͤcher
zum Einſchlagen von Naͤgeln enthielten . Einige Schritte
vor dem Stand des Nachtwaͤchters machten ſie Halt ,
und Einer unterſuchte zuerſt vorſichtig das Terrain . Bald
kehrte er mit der Botſchaft zuruͤck , daß der Nachtwaͤch¬
ter in ſeinem Wachthaͤuschen ſchlafe . Darauf zogen ſie
leiſe heran , lehnten das Bret an den Eingang der hoͤl¬
zernen Bude , und — eins , zwei , drei ! — ſchlugen ſie
mit ein paar Hammerſchlaͤgen die Naͤgel ein . Der
Nachtwaͤchter war eingenagelt und wurde trotz ſeines
Polterns und dumpfen Murrens erſt am Morgen und
Das Unvermeidliche.
nicht ohne große Umſtaͤnde von den Nachbarn erloͤſt .
Die Studenten aber hatten ſich mit ſtolzer Genugthuung
und ungefaͤhrdet nach Hauſe begeben .
Mit dieſer Erzaͤhlung hatte Eduard denn einen hef¬
tigen Ausfall von Arthurs prinzipieller Kritik hervorgeru¬
fen . Arthur ließ ſich , wie gewoͤhnlich , weniger uͤber den
Vorfall ſelbſt aus , er betrachtete nicht den muthwilligen
Streich , ſondern ſprach mit großem Ernſt uͤber die Mo¬
tive und verdammte ſie als Rachethat . Im Laufe des
Geſpraͤchs wurde denn auch bald die eigentliche Sache
vergeſſen , und Beide fuͤhrten nun den Streit uͤber das
Prinzip der perſoͤnlichen Rache , wobei , wie wir geſehen
haben , Arthur zuletzt auf das konſequente Reſultat kam ,
daß er nie , auch bei ſyſtematiſch fortgeſetzter Unbill , dem
Gekraͤnkten die Rache zugeſtehe .
Es ſchien aber faſt , als wolle das Schickſal an ihm
erproben , wie weit ein Prinzip Macht uͤber die Men¬
ſchennatur ausuͤben koͤnne , denn jenes Thema ſollte ver¬
haͤngnißvoll in ſein Leben eingreifen .
11
Das Unvermeidliche.
Es hatten zu dieſer Zeit eben die demagogiſchen Un¬
terſuchungen begonnen , und wie man weiß , kam dazumal
mancher angeſehene , hochgeachtete Mann heute in poli¬
zeilichen Geruch , der geſtern noch in Amt und Wuͤrden
ſtand . Viele hatten geſtern noch ihre Angehoͤrigen unbe¬
fangen und heiter verlaſſen , um ſie erſt nach Jahren
ergraut und morſch aus den Gefaͤngniſſen ſteigen zu ſehen .
Auf aͤhnliche Weiſe wurde Arthur bald nach jener
Unterredung durch einen Brief ſeiner Mutter furchtbar
uͤberraſcht , die ihm tiefergriffen die Gefangennahme ſeines
Vaters mittheilte . Der junge Mann ordnete ſogleich
ſeine Angelegenheiten und eilte in duͤſtern Ahnungen nach
Hauſe . Hier fand er ſeine Mutter auf dem Kranken¬
lager . Sie war von Natur ſchon ſchwaͤchlich und ner¬
voͤſen Anfaͤllen unterworfen geweſen , und die Aerzte wa¬
ren in letzter Zeit mehrmals fuͤr ihr Leben beſorgt ; jetzt
hatte die Gemuͤthsbewegung bei ihres Gatten Schickſal
ſie niedergeworfen und ein ſchleichendes Fieber untergrub
ihr Daſein . Arthur widmete ihrer Pflege ſeine ganze
Aufmerkſamkeit , aber er konnte doch den geknickten Le¬
benstrieb nicht wieder aufrichten . Die Kranke wurde
allmaͤhlig immer hinfaͤlliger und ſchwaͤcher und fuͤhlte
zuletzt ſelbſt ihre Aufloͤſung nahen . Da richteten ſich
Das Unvermeidliche.
denn ihre letzten Gedanken und Kraͤfte mit der ganzen
gluͤhenden Sehnſucht einer ſchmerzlich ſcheidenden Seele
auf den Mann , an deſſen Seite ihre fluͤchtige Lebens¬
bluͤthe gerankt hatte . Sie rang in verzweifelnder An¬
ſtrengung mit dem Weh eines qualvollen Scheidens , und
ihr brechendes Herz wollte ſich wenigſtens in einem Ab¬
ſchied noch von dem , der ihr Schutz und Stuͤtze gewe¬
ſen , den letzten ſtaͤrkenden Troſt ſuchen . Arthur that
alle Schritte , ihren heißen Wunſch zu erfuͤllen , aber —
es war die erſte Pruͤfung ſeiner Menſchennatur ! — ſeine
Bemuͤhungen blieben fruchtlos .
Beim Beginn der demagogiſchen Unterſuchungen hatte
man einen neuen Inſtruktions-Richter nach *** geſandt ,
dem ein ſeltſamer Ruf vorangegangen war . Herr W.
war Juſtizbeamter in einem kleinen Provinzialſtaͤdtchen
geweſen und ſollte als ſolcher ſich einer Aktenfaͤlſchung
ſchuldig gemacht haben . Gewiß iſt , daß auf Grund der
daruͤber umlaufenden Geruͤchte eine Unterſuchung gegen
ihn eingeleitet wurde , im Lauf welcher einer ſeiner Unter¬
beamten ſich das Leben nahm . Kurz darauf begann
die Jagd auf die ſogenannten Demagogen und es wur¬
den in dieſe Angelegenheiten mehrere bedeutende , zur
Oppoſition gehoͤrige Maͤnner verwickelt . Zur ſelben Zeit
11 *
Das Unvermeidliche.
begab ſich Herr W. nach der Reſidenz , angeblich um
wegen des gegen ihn verhaͤngten Verfahrens perſoͤnlich
eine Vorſtellung zu machen , wie das Geruͤcht jedoch
ſagte : um uͤber die Demagogen-Unterſuchung Winke
und Mittheilungen zu geben . Das Reſultat ſeines Be¬
ſuchs in der Reſidenz war , daß die Unterſuchung gegen
ihn niedergeſchlagen , er ſelbſt als Inſtruktions-Richter
und Polizeidirektor nach *** geſendet und ihm die Un¬
terſuchung in Sachen der demagogiſchen Umtriebe daſelbſt
uͤbertragen wurde . In dieſer Funktion bewies er denn
bald den thaͤtigſten Eifer . Die Gefangenen wurden mit
der groͤßten Strenge behandelt , abwechſelnd bald in haͤu¬
fige , lang anhaltende Verhoͤre genommen , bald wieder
erſt nach unendlichen Zwiſchenraͤumen ; es wurden ihnen
die gleichguͤltigſten , harmloſeſten Briefe zur Erlaͤuterung
und Rechtfertigung von einzelnen , unbezuͤglichen Stellen
vorgelegt , andere Papiere dagegen , auf welche ſie ſich
beriefen , vorenthalten , und die peinliche Bewachung ihrer
Perſon ging ſo weit , daß ein Offiziant zugegen ſein
mußte , wenn der Barbier ſie bediente . Dabei ſprach
ſich die oͤffentliche Meinung dahin aus , daß es gerade
die der Regierung mißliebigen fruͤheren Opponenten ſeien ,
gegen welche W. am ſtrengſten verfahre .
Das Unvermeidliche.
An dieſen Mann wendete ſich Arthur zuerſt mit der
Bitte , ſeinen Vater auf einige Zeit zu der ſterbenden
Mutter zu laſſen . W. war ein großer hagerer Mann
mit einem langen , ſcharf markirten Geſicht . In ſeinen
Zuͤgen lag eine todtenaͤhnliche kalte Starrheit , welche
durch die graue Geſichtsfarbe , die ſeltſamen Falten um
Augen und Mund und den faſt glaͤſernen Blick noch
erhoͤht wurde . Als ihm Arthur ſein Anliegen vorbrachte ,
betrachtete er ihn mit ſeinem eiſigen glanzloſen Blick , daß
dem jungen Mann faſt vor ihm graute , und ſagte ruhig
und ohne Ausdruck , daß er dem Gefangenen eine ſolche
Verguͤnſtigung waͤhrend der Unterſuchung nicht geſtatten
koͤnne . Umſonſt bat nun Arthur , daß man den Vater
wenigſtens auf kurze Stunden zu der Kranken laſſen
und jedesmal unter Bewachung bis ins Haus und wie¬
der zuruͤck geleiten moͤge . Der Beamte erhob ſich wie
verabſchiedend von ſeinem Stuhl und antwortete mit der¬
ſelben langſamen Eintoͤnigkeit , daß er das weder geſtatten
koͤnne noch wolle .
Arthur fuͤhlte unter dem kalten , ſtarr auf ihm ru¬
henden Blick einen gaͤhrenden Zorn in ſich wach werden ,
aber der Gedanke an ſeine Mutter bewaͤltigte ihn wieder ,
Das Unvermeidliche.
und er ſagte mit groͤßerer Lebhaftigkeit , indem er bewegt
einen Schritt naͤher trat :
„ Sie haben auch Kinder ! Sie wiſſen , welches Leid
in dem Gedanken iſt , aus dem Kreis der Seinen zu
ſcheiden ! Um Ihrer Kinder willen denn : goͤnnen Sie
einem Vater den Troſt , die Seinen noch einmal , bevor
er zu ſpaͤt kommt , wiederſehn zu duͤrfen ! Goͤnnen Sie
einer Mutter , wenigſtens im Kreis der Ihren zu ſterben ,
damit Sie nicht ſelbſt in der Todesſtunde verlaſſen ſein
moͤgen ! “ —
Ueber die Zuͤge des Beamten zuckte eine ſeltſame
Regung . Die Welt ſagte , daß dieſer ſtarre , egoiſtiſche
Mann dennoch einen Reſt menſchlicher Gefuͤhle habe ,
daß er an ſeinen Kindern mit einer Liebe haͤnge , die man
in dieſem hartherzigen , verſchloſſenen Sinn nicht ahne .
Man wollte zuweilen ein Bild haͤuslicher Gluͤckſeligkeit
hier geſehen haben , in welchem der tyranniſche , freund¬
loſe Beamte mit dem Ausdruck weiblicher Innigkeit im
Kreis ſeiner Kinder geſeſſen , — und doch gab ihm wie¬
derum das Geruͤcht Schuld an dem Tod ſeiner Frau .
Sei es nun wirklich , daß die bewegten Worte Arthurs
eine Saite in ſeinem Innern beruͤhrt hatten , ſei es , daß
er den Bittenden nur eine kurze Hoffnung faſſen laſſen
Das Unvermeidliche.
wollte , um ſie deſto grauſamer vernichten zu koͤnnen :
einen Augenblick ſchien es , als ob er bewegt werde . Aber
ſein Auge nahm ſogleich wieder ſeine ausdrucksloſe Kaͤlte
an und er ſagte einfoͤrmig ruhig :
„ Ich bedaure , Ihnen keine andere Antwort geben
zu koͤnnen , und will Sie nicht Ihrer Zeit berauben , die
Sie vielleicht zu weiteren Schritten benutzen werden . “—
Arthur ging . Er wendete ſich zunaͤchſt mit ſeinem
Geſuch an das Obergericht , erhielt aber zur Antwort ,
daß daſſelbe in dieſem Falle , bevor nicht die Unterſu¬
chungsakten geſchloſſen waren , inkompetent ſei ; man
muͤſſe es ihm uͤberlaſſen , ſich an das Miniſterium zu
wenden . Ehe er aber von dieſem einen Entſcheid ein¬
holen konnte , war ſeine Mutter bereits verſchieden .
Ihre letzten Augenblicke waren voll bitterer Schmer¬
zen geweſen und Arthur litt unausſprechlich dabei . Die
Kranke hatte bis zum Todeskampf ihre volle Beſinnung
behalten , und in der Qual des Sterbens rief ſie umſonſt
den Namen ihres Gatten . Bei jedem Geraͤuſch wende¬
ten ſich ihre brechenden Augen nach der Thuͤr , ihre zit¬
ternden Haͤnde taſteten zuletzt noch ſuchend auf der Decke ,
um die Hand des Erſehnten zu druͤcken , und aus ihrem
Das Unvermeidliche.
Roͤcheln noch klang wehmuͤthig klagend ſein Name . Sie
ſtarb , ohne ihn wiedergeſehn zu haben .
Vor ihrer Beerdigung ſchrieb Arthur an ſeinen Va¬
ter . Er wußte zwar wohl , daß derſelbe nicht zum Grab¬
geleite kommen werde , aber er hoffte , daß er vielleicht
aus dem Fenſter ſeines Kerkers herabſchauen werde . Als
der Trauerzug an den grauen Mauern des Gefaͤngniſſes
voruͤberkam , ſah Arthur hinauf nach dem kleinen vergit¬
terten Loch , hinter dem , wie er wußte , ſein Vater ſaß .
Aber es ließ ſich nichts blicken . Die Fenſter in ſolchen
Kerkern ſind ſehr hoch , faſt an der Decke ; und wenn
auch der Gefangene bis dahinan ſpringen koͤnnte , ſo ver¬
mag er doch an dem abſchuͤſſigen Fenſterbret keinen An¬
halt zu finden .
Spaͤter erfuhr Arthur , daß ſein Vater den Brief zu
jener Zeit noch gar nicht empfangen , daß der Unterſu¬
chungs-Richter denſelben vielmehr im Verhoͤr zu dem
Verſuch benutzt habe , dem Gefangnen ein Geſtaͤndniß
abzulocken .
Das Unvermeidliche.
In Arthurs Seele war tief und unvergeßlich das
Bild ſeiner ſterbenden Mutter eingegraben , und bei allen
Schritten , in allen Traͤumen ſtand vor ſeinem Geiſte
jener erſchuͤtternde Anblick , wo ſie ringend , im Tode
noch nach ihrem Gatten geſeufzt hatte . Aber auch eben
ſo tief und unvergeßlich ſtand daneben das Andenken an
den Mann , der ihr den letzten , ſtillen Troſt ihrer Sterbe¬
ſtunde mit boshaftem Frevelmuth geraubt hatte . Er
ſuchte umſonſt dies geiſterhafte , ſtarre Bild mit den ge¬
ſpenſtiſchen Augen und den unheimlichen Falten aus ſei¬
nem Innern zu verwiſchen , immer wieder glaubte er den
grauenhaften , glanzloſen Blick auf ſich gerichtet zu ſehen
und die Dolchſtiche der langſamen eintoͤnigen Worte zu
vernehmen . Der Haß gegen dieſen Mann ſtieg in ihm ,
je mehr er ſich von ihm losreißen wollte .
„ Wenn ich ihn ſterben ſehen koͤnnte , einſam , verlaſ¬
ſen , verflucht ſterben , in wilder Qual , tauſendfach groͤ¬
ßer als die meiner ungluͤcklichen Mutter ! “ ſagte er oͤfter
bei ſich . „ Wenn ich ihn ſehen koͤnnte im Todeskampf , wie
er vergebens wimmernd die Haͤnde ausſtreckte , wie ihn
kein liebender Mund troͤſtete , keine zitternde Hand auf¬
richtete , und er im Angſtſchweiß ſeiner verzweifelnden
Seele allein , in wahnſinniger Einſamkeit daniederſaͤnke .
Das Unvermeidliche.
das koͤnnte mich troͤſten , ja , ich glaube , dann koͤnnte ich
wieder lachen , aus Herzensgrund lachen , daß ihm im
Tode die Ohren gellen ſollten ! “ —
Mit dieſen Gedanken ſteigerte er ſelbſt ſeinen lodern¬
den Ingrimm bis zum heißen Rachedurſt .
„ Aber nein , “ ſagte er dann weiter , „ wie koͤnnte ich
noch auf eine ſolche Gerechtigkeit des Schickſals hoffen ,
das meine Mutter ſo enden ließ ! Ich muß ſie ſelbſt
raͤchen ! Ich muß ſinnen und denken , wie ich ihn am
empfindlichſten treffen kann , wie ich ihm das Liebſte ent¬
reißen kann , damit er einſam und verzweifelnd unter¬
gehe ! “ —
Das waren ſeine Gedanken . Die Leute , welche ihn
ſo ſahen , wie er bleich und tiefſinnig in den Daͤmmer¬
ſtunden die Stadt durchſtrich und nur zuweilen vor dem
Gefaͤngniß ſtehen blieb , um ſtarren Blicks nach einem
kleinen , vergitterten Fenſter da droben zu ſchauen , ſchuͤt¬
telten mitleidig die Koͤpfe und meinten , daß das Schick¬
ſal des Vaters außer der Mutter noch ein anderes Opfer
getroffen habe .
Das Unvermeidliche.
Der Inquiſitionsrichter W. hatte vier Kinder .
Die beiden aͤlteſten Soͤhne ſtudirten eben auf der Univer¬
ſitaͤt , die ſich am Orte befand , der dritte beſuchte noch
die Schule , und das juͤngſte Kind , ein Maͤdchen Na¬
mens Charlotte , ſollte in Kuͤrze nach einer Penſionsan¬
ſtalt gegeben werden . Die beiden Studenten galten in
der Stadt als flotte Geſellen . Sie waren in eine Ver¬
bindung eingetreten , machten allen in ſolchem Fall noth¬
wendigen Luxus und „ Ulk “ mit , und renommirten auf
Menſur , Kneipe und ſonſtigen Gelegenheiten beſtens fuͤr
ihr Corps . Sie waren , was man ſo ein paar „ Haͤhne “
nennt , und ſtanden bei Philiſtern , Weibern und Kom¬
militonen wohl angeſchrieben .
Eines Abends kamen ſie in trunkenem Zuſtande von
ihrer Kneipe und ſtießen dicht vor der Thuͤr taumelnd
auf eine in einen Mantel gehuͤllte Geſtalt . Mit bar¬
ſchen Worten forderte der Fremde ſie auf , ihm aus dem
Wege zu gehen , die beiden Studenten aber lachten und
hielten ihn feſt , um ihm ins Geſicht zu ſehen . Der
Unbekannte ſtieß ſie heftig zuruͤck , es fielen Beleidigungen
und die Studenten begannen zu Thaͤtlichkeiten zu greifen .
Der Fremde trat nun einen Schritt zuruͤck und ver¬
langte Genugthuung fuͤr dieſen Schimpf , die Beleidiger
Das Unvermeidliche.
gaben ihm ihre Namen und Arthur — denn er war es
— ihnen den ſeinigen .
Am andern Morgen ging Arthur zu ſeinem Freunde
Eduard , der ſeit einigen Tagen in die Ferien gekommen
war , ihn aber aus Schonung fuͤr ſeine Lage nicht gleich
hatte beſuchen wollen . Eduard erſchrak uͤber das bleiche
Ausſehen ſeines Freundes , aber wie wurde er erſt in
Erſtaunen geſetzt , als Arthur ihm den Zweck ſeines Be¬
ſuchs erzaͤhlte !
„ Du hatteſt in unſerm Streit uͤber Konſequenz und
Prinzip vollkommen Recht , mein Freund , “ erwiderte
Arthur auf den Ausruf der Verwunderung . „ Ja , das
abſolute Prinzip iſt ſchlecht wie jeder Abſolutismus . Die
Menſchennatur ſchuͤttelt ihr Joch doch zuletzt ab , —
wenn ſie erſt bis zum Erſticken darunter gelitten hat , “
fuͤgte er langſam hinzu .
„ Aber wenn Du Dich auch zum Duell entſchloſſen
haſt , weshalb waͤhleſt Du nicht gewoͤhnliche Waffen ?
Mir ſcheint wenigſtens , daß kein beſonderer Grund zur
Ausnahme vorliegt . “ —
„ Ich kann nicht ſchlagen , “ erwiederte Arthur . „ Es
waͤre Thorheit gegen dieſe Leute . “ —
„ Und kannſt Du denn ſchießen ? “ fragte Eduard
Das Unvermeidliche.
noch immer erſtaunt . Arthur laͤchelte mit beſondrem
Ausdruck und ſagte :
„ Ich habe es in letzter Zeit einigermaßen geuͤbt . “ —
Die Studenten waren ebenfalls erſtaunt uͤber die
Art der Forderung , nahmen dieſelbe aber doch an . Es
wurde verabredet , am folgenden Morgen nach einem ge¬
eigneten Platz zu fahren , und — falls Arthur nicht
ſchon in dem erſten Duell verwundet wuͤrde — beide
nach einander abzumachen .
Am andern Morgen trafen ſich die Parteien zur
beſtimmten Stunde . Beide gruͤßten ſich mit hoͤflicher
Gleichguͤltigkeit und nach kurzer Verhandlung uͤber die
uͤblichen Foͤrmlichkeiten und Bedingungen maßen die Se¬
kundanten die Diſtanzen ab . Arthur erſchien an dieſem
Tage aufgeraͤumter als ſonſt . Er hatte ſich auf der
Hinfahrt ſehr lebhaft und heiter mit Eduard und ſeinem
Arzt unterhalten , ſo daß Eduard , der von Arthurs Ge¬
muͤthsſtimmung nichts wußte , die beſte Hoffnung fuͤr
die Wiederkehr ſeiner Ruhe und Geſundheit faßte . Die
beiden Studenten waren gleichguͤltig und ruhig , ſie ord¬
neten ſelbſt einige Vorbereitungen an , und benahmen
ſich uͤberhaupt wie Leute , denen dergleichen nichts Neues
mehr iſt . Zuerſt trat der aͤltere Bruder auf die Menſur .
Das Unvermeidliche.
Die Sekundanten fragten noch einmal , ob die Parteien
ihre Sache nicht auf friedliche Weiſe beilegen wollten ,
als ſie aber von keiner Seite Antwort erhielten , wieder¬
holten ſie ihnen die Bedingungen des Duells : nach dem
gegebenen Zeichen konnte Jeder im Kommando ſchritt¬
weiſe vorruͤcken bis an die Barriere des in der Mitte
abgeſteckten Raumes , dazwiſchen aber blieb es ihm uͤber¬
laſſen , ſtehen zu bleiben und zu ſchießen , wann er wollte .
Darauf wurde das Zeichen gegeben .
Beide ruͤckten vor . Nach dem erſten Schritt blieb
der Student ſtehen , zielte und ſchoß . Arthur ruͤckte un¬
geſtoͤrt weiter , ſein Gegner hatte gefehlt . Der Unpar¬
teiiſche ſah die beiden Sekundanten an , und zaͤhlte
langſamer , und die Sekundanten blickten in banger Neu¬
gierde auf Arthur . Es war Jedem , als muͤßte derſelbe
nun doch auch ſtill ſtehen und ſchießen . Aber Arthur
ſchritt im Takt des Zaͤhlens ruhig weiter — bis an die
Barri è re . Dann erhob er erſt die Piſtole und zielte .
Der aufwirbelnde Rauch ließ ihn im erſten Augen¬
blick das Reſultat ſeines Schuſſes nicht erkennen , aber
die herbeiſpringenden Zeugen ließen ihn nicht lange daruͤ¬
ber in Zweifel . Die Kugel war in den Unterleib ge¬
drungen und hatte wahrſcheinlich die Eingeweide verletzt .
Das Unvermeidliche.
Auch ließ das geringe Blut , welches aus der Wunde
floß , auf eine gefaͤhrliche innere Blutung ſchließen . Der
Arzt legte ſogleich einen erſten Verband an , deutete aber
zugleich an , daß dem Anſcheine nach wenig Hoffnung
vorhanden ſei .
Der juͤngere Bruder erklaͤrte jetzt , bleich und entſetzt
uͤber dieſen Ausgang , daß er ſeine Sache ein anderes
Mal ausmachen wolle . Arthur hatte waͤhrend der
Anſtalten um den Verwundeten , ſeine Piſtole in der
Hand , ſtill und ruhig an einem Baum geſtanden . Bei
dieſer Erklaͤrung trat er vor und ſagte ſpoͤttiſch :
„ Ein ander Mal ? Da werde ich nach gegenwaͤrti¬
gem Vorfall wohl auf der Feſtung ſitzen . Wenn Sie
jedoch heute die verſprochene Satisfaktion nicht geben
wollen , ſo mag es auch gut ſein . “ —
Der Andere ergriff jetzt krampfhaft die Piſtole des
Verwundeten und forderte ſeinen Sekundanten mit auf¬
geregter Stimme auf , zu laden . Dann traten die Beiden
unter denſelben Bedingungen auf die Menſur , Arthur
kaltbluͤtig und gefaßt , ſein Gegner bleich , mit geſchloſſe¬
nen Lippen und vor Wuth zitternder Hand . Beide Geg¬
ner ſchritten diesmal im Kommando auf einander los ,
langſam , bis an die Barri è re . Hier ſtanden ſie nur
Das Unvermeidliche.
fuͤnf Schritte von einander entfernt . Jeder richtete den
Blick forſchend auf den Andern , und die Waffen ſenkten
ſich gleichzeitig in die Schlußlage . Einen Moment lang
ſahen die Zeugen mit aͤngſtlicher Spannung ſie alſo ver¬
derblich ſich gegenuͤber ſtehen , den Einen kalt , mit feſtem ,
ſicherem Blick , den Andern blaß , mit loderndem Auge ;
— dann ſpruͤhten die Blitze zwiſchen ihnen , und Beide
wankten getroffen zuruͤck . Arthur hatte den Schuß in
den Oberarm erhalten , von wo ſich die Kugel , ohne einen
Knochen zu verletzen , in den Ruͤcken gedraͤngt hatte .
Bei W. war die Kugel mitten durch die Bruſt ge¬
gangen .
Eine Stunde darauf lief die Nachricht von dieſem
Vorfall durch die ganze Stadt . Der juͤngere W. war
bereits auf dem Platze verſchieden , der aͤltere ſtarb noch
in der folgenden Nacht in den Armen ſeines verzweifeln¬
den Vaters . Gegen Arthur wurde eine Kriminalunter¬
ſuchung eingeleitet , deren Ergebniß war , daß er nach
ſeiner vollſtaͤndigen Geneſung auf fuͤnf Jahre nach der
Feſtung kam .
Das Unvermeidliche.
In einem Verlauf von fuͤnf Jahren aͤndert ſich
Vieles , und derjenige , welcher nach einem ſolchen Zeit¬
raum , ohne Verbindungen unterhalten zu haben , in ſeine
Heimath zuruͤckkehrt , ſucht Manches vergebens , was er
einſt bluͤhend und hoffnungsvoll verlaſſen , und findet
eben ſo viel Neues , dem er fremd iſt .
Auch Arthur empfand die ganze Bitterkeit dieſes
Eindrucks , als er ſich einſam und fremd nach fuͤnf Jah¬
ren in ſeiner Heimathſtadt wiederfand . Sein Vater war
im Gefaͤngniß geſtorben . Sein und der Seinigen Schick¬
ſal hatte die geiſtige Kraft des ſonſt ſo ſtarken Mannes
gebrochen , und die Krankheit ſeiner Seele ſowie der
Aufenthalt in dem feuchten , dumpfigen Kerker auch den
Nerv ſeines Lebens zernagt . Die Aerzte , die er ganz
zuletzt erſt erhalten , hatten aufs Eindringlichſte freie Be¬
wegung und Veraͤnderung ſeines Aufenthalts verordnet ,
aber der Inſtruktions-Richter wollte davon nichts wiſſen .
Als es den Bemuͤhungen der Aerzte dennoch gelang , vom
Obergericht den Befehl zu erwirken , daß der Gefangene
in ſeinem eigenen Hauſe bewacht werden ſolle : mußte der
Unterſuchungs-Richter zwar der Weiſung fuͤr den Augen¬
blick Folge leiſten , allein er ſendete ſogleich einen Bericht
an das Miniſterium , in Folge deſſen der Direktor des
12
Das Unvermeidliche.
Obergerichts aus *** verſetzt wurde und der Gefangene
wieder ſeinen Kerker beziehen mußte . Hier ſtarb er bald
darauf , ohne daß es in ſeiner Sache zu einem Urtheil
gekommen waͤre , und Arthur war eine Waiſe . Auch
ſeinen Freund Eduard fand er nicht mehr . Der bluͤ¬
hende Juͤngling war das Opfer eines hitzigen Nervenfie¬
bers geworden , als er eben ſein Staatsexamen in glaͤn¬
zender Auszeichnung beſtanden hatte . Arthur fuͤhlte ſich
einſam und unſaͤglich verlaſſen , und heimathlos in dem
lebendigen veraͤnderten Treiben dieſer Todtenſtadt ſeines
Gluͤcks ; — aber in ſeinem Innern lebte noch Ein Ge¬
danke mit ungebrochner Kraft , Ein Gedanke , der in der
Zeit ſeiner langen Truͤbſal eher geſtaͤrkt worden war .
An einem der erſten Tage nach ſeiner Heimath be¬
ſuchte er das Grab ſeiner Mutter . Die Daͤmmerung
war hereingebrochen , als er auf den Kirchhof kam , und
er hatte einige Zeit zu thun , bis er unter den vielen
alten und neuen Graͤbern das geſuchte fand . Lange ,
lange ſaß er hier auf dem Huͤgel , die Stunden verflogen
ihm in ſeinen Traͤumen und Erinnerungen , ohne daß er
es bemerkte . Endlich erhob er ſich und pfluͤckte eine
wilde Blume ; dann wollte er ſich entfernen . Es war
aber noch Jemand zugegen , augenſcheinlich in aͤhnlichen
Das Unvermeidliche.
Gefuͤhlen , denn wenige Schritte weiter erhob ſich jetzt von
einem andern Huͤgel ebenfalls eine Geſtalt . Beide hatten
einander in ihren Trauergedanken nicht wahrgenommen ,
obwohl nur ein einziger Grabhuͤgel ſie trennte . Arthur
bog um das Grab ſeiner Mutter , der Andere um deu den
Huͤgel , an dem er geſeſſen , und ſo gewahrte jetzt Jeder
in der Dunkelheit die fremde Geſtalt . In dieſem Au¬
genblick trat ploͤtzlich der Mond aus einer Wolke und
beleuchtete ihre Geſichter , — Beide fuhren vor einander
zuruͤck . Der zweite war der Polizeidirektor W .
Arthur betrachtete ihn mit einem lodernden Blick ,
der aus dem bleichen , abgezehrten Geſicht geſpenſtiſch
funkelte , und ſein Herz pochte und kochte in gaͤhrender
Aufregung .
„ Moͤgeſt Du in der Sterbeſtunde einſam und ver¬
laſſen , in der Angſt des Wahnſinns verenden ! “ rief er
mit gellendem Ton .
Der Polizeidirektor hatte ihn mit ſtarrem ent¬
ſetztem Ausdruck , als ob er ein Geſpenſt ſehe , betrach¬
tet . Seine Hand zeigte auf das eben verlaſſene Grab ,
waͤhrend ſein Auge wie gebannt auf das funkelnde Auge
des Gegners ſchaute , und er ſtieß mit zitternder Stimme
das Wort der Verzweiflung aus :
12 *
Das Unvermeidliche.
„ Moͤrder ! “ —
Arthur lachte in gellendem , haͤßlichem Ton . Dann
trat er einen Schritt auf ihn zu und murmelte duͤſter
in das verzerrte Geſicht des Mannes :
„ Mein Vater und meine Mutter ſind in Fluch und
Elend geſtorben , Du haſt mich zur Waiſe gemacht !
Dein Ende wird im Fluch der Menſchen und im Elend
der wahnſinnigen Verzweiflung ſein ! “ —
Der Mann wich zuruͤck , wie vor dem Hauch eines
Peſtkranken , und er ſtuͤtzte ſich auf das Kreuz ſeines
aͤlteſten Sohnes .
„ Noch haſt Du zwei Kinder , noch wankſt Du nicht
wie ich als freudloſes Geſpenſt durch das Leben , aber—“
fuͤgte Arthur mit drohend erhobenem Arm hinzu , „ wir
ſehen uns wieder , und Du wirſt noch einſamer , noch
verlaſſener ſterben , als meine Mutter — verſtehſt Du ,
als meine Mutter — einſam , ganz einſam , verlaſſen
in Deinem Fluch ! “ —
Mit dieſen Worten ſtrich Arthur an ihm voruͤber ,
und der Mann ſank bleich und entſetzt auf den Grab¬
huͤgel ſeiner Kinder . Als er ſich wieder erhob , war er
allein , aber in ſeinen Ohren gellten die Worte :
„ Wir ſehen uns wieder ! “ —
Das Unvermeidliche.
Der dritte Sohn des Polizeidirektors hatte waͤhrend
Arthurs Gefangenſchaft ſeine Studien angetreten und
vollendet , und ſtand als Praktikant beim Landgericht
in *** . Er war uͤberdies ſeit Kurzem mit einem lie¬
benswuͤrdigen Maͤdchen aus einer der angeſehenſten und
reichſten Familien der Univerſitaͤtsſtadt verlobt , und ar¬
beitete mit um ſo groͤßerer Energie zu ſeinem letzten
Examen .
Eines Tages kam Heinrich , ſo hieß der junge W. ,
in einer ungewoͤhnlichen Stimmung zu Tiſch . Er war
zerſtreut und nachdenkend , und antwortete mehrmals auf
die Fragen ſeines Vaters in ganz verkehrter Weiſe . Als
der letztere ihn darauf aufmerkſam machte , nahm er ſich
zwar zuſammen und ſprach eine Zeitlang mit großer
Lebendigkeit uͤber gleichguͤltige Dinge , aber man konnte
doch das Gewaltſame , Gezwungene ſeiner Weiſe wohl
bemerken , und bald verſank er auch wieder in ſeine fruͤ¬
here Starrheit . Auf das eindringliche Befragen ſeines
Vaters erzaͤhlte er denn , daß er am geſtrigen Abend , als
er ſeine Braut ins Theater gefuͤhrt , im Gedraͤnge mit
dem jungen Arthur zuſammengetroffen und von dieſem
im Beiſein mehrerer Offiziere und juͤngeren Beamten
beleidigt worden ſei . Die geſellſchaftlichen Anſichten er¬
Das Unvermeidliche.
warteten in dieſem Fall eine Ausgleichung durch Waffen ,
aber nach dem Vorfall mit ſeinen aͤlteren Bruͤdern habe
er nicht nur einen Abſcheu vor jedem Duell , ſondern es
graue ihm namentlich auch vor Arthur , und er wiſſe
nicht , was er thun ſolle .
Der Vater erſchrak bei dieſer Erzaͤhlung und ver¬
langte mit beſorgten , aͤngſtlichen Worten ſeinem Sohn
das Ehrenwort ab , daß er ſich mit Arthur unter keiner
Bedingung in ein Duell einlaſſen wolle . Heinrich ſuchte
ihn uͤber ſein Benehmen zu beruhigen , aber der Vater
beſtand auf einem foͤrmlichen Verſprechen , und bewegt
von der zitternden Beſorgniß deſſelben gab Heinrich zuletzt
das verlangte Ehrenwort .
Aber der Vater war deſſenungeachtet noch nicht voͤl¬
lig beruhigt , und machte hinter dem Ruͤcken des Soh¬
nes von dem Vorfall Anzeige . In Folge deſſen erhielt
Heinrich von ſeinem Vorgeſetzten die Verwarnung , ſich
von dem kontrahirten Duell zuruͤckzuziehen oder ſeiner
Entfernung vom Gericht entgegenzuſehen . Arthur aber
erhielt 8 Tage Gefaͤngniß .
Heinrich war zwar mit dieſem Verfahren ſeines Va¬
ters , das er einen Mißbrauch des Vertrauens nannte ,
nicht einverſtanden , aber er mußte doch die Veranlaſſung
Das Unvermeidliche.
liebender Bekuͤmmerniß entſchuldigen und war eigentlich
auch im Grunde froh , den unheimlichen Gegner los zu
ſein . Er beſuchte mit ungetheilter Freude wieder ſeine
Braut , und als ihn dieſelbe mit zaͤrtlicher Beſorgniß um
den Ausgang jenes Zuſammentreffens im Theater be¬
fragte , ſagte er , ihr die Hand druͤckend und doch
halb verlegen :
„ Es iſt abgemacht ! “ —
Das junge Maͤdchen laͤchelte und kuͤßte ihn in freu¬
digerem Stolz . Sie hatte die Worte ihres Geliebten in
anderer Weiſe aufgefaßt , und — in den Augen junger
Maͤdchen erhaͤlt ja ein Mann durch das Anſehen der
Tapferkeit hoͤheren Reiz .
Aber ſie wurde bald in ihren Traͤumen enttaͤuſcht .
Nach einiger Zeit bemerkte ſie , daß ihr Braͤutigam
von ſeinen Bekannten augenſcheinlich gemieden wurde .
Man wich ihm an allen oͤffentlichen Orten aus , gruͤßte
ihn foͤrmlich kalt oder auch gar nicht , es wurde geziſchelt ,
wenn ſie kamen , und ſie ſelbſt , fruͤher die geſuchteſte
Taͤnzerin , blieb jetzt auf den Baͤllen ſitzen . Sie ſuchte
vergebens den Grund dieſes Benehmens zu erforſchen ,
endlich aber belehrte ſie eine ihrer Freundinnen daruͤber .
„ Dein Verlobter hat ſich geweigert , ſich zu ſchlagen ,
Das Unvermeidliche.
und den Forderer — angezeigt ! “ ſagte ihr dieſelbe . „ Seine
Freunde halten das fuͤr infam und haben beſchloſſen ,
nicht mehr mit ihm umzugehen . “ —
Darunter mußte ſie nun auch leiden ! Sie fuͤhlte
ſich doppelt verletzt , um ihrer ſelbſt willen und um ihres
Verlobten willen , um den ſie ſich ja ſo gern und lange
beneidet geſehen hatte . Sie ſagte ihm nichts davon , aber
ihr Benehmen wurde allmaͤhlig kuͤhler , und ſie ſchlug es
mehrmals aus , mit ihm oͤffentliche Orte zu beſuchen .
Auch Heinrich litt unter dieſen Verhaͤltniſſen entſetz¬
lich . Er ſuchte ſich vergebens bei ſeinen Bekannten zu
rechtfertigen . Einige nahmen ihn kalt , andere gar nicht
auf , die mildeſten ſagten :
„ So etwas theilt man ſeinem Vater nicht mit , —
wenigſtens nicht ohne eine Abſicht . “ —
Als er ſah , daß er auf dieſe Weiſe nichts ausrich¬
tete , ſuchte er ſein Anſehen gewaltſam wieder zu gewin¬
nen . Er ſetzte ſich an einem oͤffentlichen Ort zu mehre¬
ren , ihm fruͤher befreundeten Offizieren , und als ſich
dieſelben ſogleich erhoben und an einem andern Tiſche
Platz nahmen , forderte er ſie ſaͤmmtlich . Dieſe aber
verweigerten ihm die Satisfaktion : „ weil ſie ſich keiner
Denunciation ausſetzen wollten . “ — Heinrich ſah ſich ,
Das Unvermeidliche.
ausgeſtoßen von aller Geſellſchaft , in der peinlichſten Lage
und machte nunmehr ſeinem Vater die bitterlichſten Vor¬
wuͤrfe . Der alte W. , ſelbſt bedruͤckt und beſorgt durch
den duͤſteren Unmuth ſeines Sohnes , ſuchte ihn mit
ſchwachen Worten zu troͤſten , und kam , ohne ihm davon
Mittheilung zu machen , um Heinrichs Verſetzung zu
einem andern Gericht ein . Dort , ſo dachte er , wiſſe
man nichts davon , und mittlerweile werde in *** wohl
Gras uͤber die Geſchichte wachſen , daß er ſpaͤter doch
zuruͤckkehren koͤnne .
Aber es war bereits zu ſpaͤt damit .
Heinrichs Braut hatte dieſen Zuſtand auf die Laͤnge
nicht ertragen koͤnnen . Sie liebte ihren Verlobten wohl ,
ſie hatte ſelbſt bei jenem Auftritt im Theater fuͤr ihn
gezittert , und ihn am Abend beſorgt gefragt : ob er ſich
doch nicht etwa ſchlagen wolle . Aber im Geheimen hatte
ſie doch gewuͤnſcht , daß er ihr eine ſiegreiche Probe ſei¬
ner Tapferkeit geben moͤge . Sie hatte in der Univerſi¬
taͤtsſtadt taͤglich von Duellen gehoͤrt , und Intereſſe an
den benarbten , immer froͤhlichen Studenten genommen :
mußte ihr nicht die Handlungsweiſe ihres Verlobten wie
ein Akt ſeltener , vereinzelter Feigheit erſcheinen ? Und
wenn ſie ſich auch ſelbſt daruͤber hinwegſetzte , welche
Das Unvermeidliche.
Rolle ſpielte ſie an der Seite dieſes Mannes , der ſeine
eigne Ehre nicht einmal zu wahren wußte ? War ſie
nicht zugleich mit ihm geflohen und verſtoßen von Allen ?
Das Verhaͤltniß wurde immer lockerer , bis ſie es zu¬
letzt ganz loͤſte . Sie verließ ihn .
Dieſer Schlag ſtuͤrzte Heinrich vollends in die tiefſte
Verzweiflung . Verachtet von ſeinen Freunden , verſtoßen
aus der Geſellſchaft , verlaſſen von ſeiner Geliebten , —
was blieb da noch vom Leben ? Mehrere Tage lang
verſchloß er ſich in ſein Zimmer und kaͤmpfte mit duͤ¬
ſtern , verzweiflungsvollen Gedanken . In der Nacht vom
dritten auf den vierten Tag nach Empfang des Scheide¬
briefs hallte ein Schuß in ſeinem Zimmer und ſchreckte
die Hausbewohner aus dem Schlaf . Als ſie ſeine Thuͤr
erbrachen , fanden ſie ihn im Blut ſchwimmend . Er
hatte ſich eine Kugel durchs Herz geſchoſſen .
Der Polizeidirektor W. war nach dieſem neuen
Ungluͤcksfall in ſeiner Familie von einer heftigen Krank¬
heit ergriffen worden , uͤber deren Verlauf in der Stadt
ſehr ſeltſame Geruͤchte umliefen . Daß er bei ſeiner
Das Unvermeidliche.
Rekonvalescenz um Entlaſſung von ſeinem Amte nach¬
ſuchte , diente gerade dazu , dieſen Geruͤchten noch einen
beſondern Halt zu leihen . Arthur war kurz nach dem
Vorfall abgereiſt , Niemand wußte wohin . Da er we¬
nige Bekannte beſaß und ſich auch von dieſen Wenigen
in der letzten Zeit ferner gehalten hatte , ſo kuͤmmerte
ſich auch Keiner darum und bald war er vergeſſen .
Von ſeinen vier Kindern war dem Polizeidirektor
W. jetzt nur eines , ſeine Tochter Charlotte geblieben ,
welche ſich zur Zeit in einer rheiniſchen Penſionsanſtalt
befand . Als er wieder ſo weit hergeſtellt und auch auf
ſein wiederholtes Verlangen aus dem Staatsdienſt ent¬
laſſen worden war , reiſte er zuerſt dorthin .
Er traf ſein letztes Kind wohlbehalten und zur reifen
bluͤhenden Jungfrau entfaltet . Mit der ganzen heißen
Liebe ſeines verwundeten Vaterherzens umſchloß er das
ſchlanke , ſchoͤne Maͤdchen , und waͤhrend die Thraͤnen des
freudigen Wiederſehens mit denen einer ſchmerzlichen Er¬
innerung ſich miſchten , rief er in ſeinem bangen Sinn :
„ Nein ! dieſen einzigen , letzten Troſt kann Er mir
nicht rauben wollen ! “ —
Er fuͤhlte , wie er dies liebliche Weſen jetzt mehr
liebe , als er je geliebt , aber immer tauchte dazwiſchen
Das Unvermeidliche.
ein truͤber , aͤngſtlicher Gedanke auf . Er konnte dieſe
haͤßliche Ahnung nicht los werden .
Nach nochmaliger Ruͤckſprache mit den Vorſtehern
der Anſtalt , die des Lobes uͤber Charlotten voll waren ,
beſchloß er nach dem Bade zu reiſen , welches ihm die
Aerzte verordnet hatten . Spaͤter , wenn die Saiſon vor¬
uͤber war , wollte er zuruͤckkehren und ſeine Tochter mit
ſich nehmen .
Als er in den Wagen ſtieg , war eben vor dem
Gaſthof eine große Menge Volks verſammelt , welche
der Einzug einer Truppe Kunſtreiter in das Staͤdtchen
aus ihren Haͤuſern gelockt hatte . Der Wagen mußte
des Gedraͤnges wegen noch einige Augenblicke halten ,
und der Reiſende betrachtete mit neugieriger Theilnahme
den bunten Zug . Vor allen lenkte ein junger Reiter
die Augen der Menge auf ſich . Er tummelte ſein Pferd
mit ungewoͤhnlicher Grazie und Kraft , ſein ſchlanker ,
wohlgebauter Koͤrper ſchien mit dem ſchnaubenden Schim¬
mel , den er faſt ohne Zuͤgel beherrſchte , in Eins ver¬
wachſen zu ſein , und ſein glaͤnzendes ſchwarzes Auge
uͤberflog ſtolz die bewundernde Menge . Auch der Reiſende
ſchien aus ſeinem Wagen die maͤnnliche Schoͤnheit des
Reiterjuͤnglings mit ſichtlichem Wohlgefallen zu betrachten .
Das Unvermeidliche.
Ploͤtzlich aber fuhr er zuruͤck .
Es war ihm , als habe er unter der Volksmenge
zwei funkelnde Augen auf ſich gerichtet geſehen , einen
Blick , der ihm grauenvoll in ewiger Erinnerung ſtand .
Als er aber wieder hinſah , bemerkte er nur einige Wei¬
ber , welche dem eben um die Ecke biegenden Zug noch
nachblickten .
„ Es iſt Nichts ! “ ſagte er bei ſich . „ Wie ſollte Er
auch hieherkommen ? Es war ein Traum meines un¬
ruhigen Herzens ! “ —
In dieſem Augenblick zogen auch die Pferde an , und
der Wagen rollte fort .
In einem kleinen Provinzialſtaͤdtchen iſt die Ankunft
einer Reitertruppe wohl geeignet , das ganze Intereſſe des
Publikums in Anſpruch zu nehmen . Gewiß war dies
wenigſtens in A. der Fall , und in den erſten Tagen
hoͤrte man an allen Orten von keinem andem Gegen¬
ſtande mehr ſprechen . Namentlich aber gab der junge Rei¬
ter , der ſchon beim Einzug Aller Augen ſo gefeſſelt hatte ,
die meiſte Veranlaſſung zu ſchwaͤrmeriſcher Theilnahme .
Das Unvermeidliche.
Auch die Penſionsanſtalt , in der Charlotte ſich be¬
fand , ſah ſich durch das allgemeine Intereſſe bald genoͤ¬
thigt , ihre Zoͤglinge jene Vorſtellungen beſuchen zu laſſen .
Das ſchoͤne , junge Maͤdchen hatte laͤngſt in dem Staͤdt¬
chen die Aufmerkſamkeit der jungen Leute erregt , und
wenn ſie ſich an oͤffentlichen Orten zeigte , ſo war man
gewohnt , die Blicke und Lorgnetten vorzugsweiſe nach ihr
gerichtet zu ſehen . Aber ſie ſchien das nie zu bemerken ,
und auch diesmal war ſie einzig mit der Vorſtellung be¬
ſchaͤftigt .
Als der junge Aurelio , wie der Kunſtreiter genannt
wurde , den Circus betrat , begruͤßte ihn der laute Bei¬
fall als das beſte Mitglied der Geſellſchaft . Charlotte
betrachtete den ſchoͤnen kraͤftigen Juͤngling mit ſtiller
Theilnahme , ihre Augen folgten ihm in erhoͤhter Bewun¬
derung , als er ſo leicht , ſo keck auf ſeinem praͤchtigen
Schimmel ſtehend dahinflog , und ihr Herz ſchlug hoͤher
in aͤngſtlicher Spannung , wenn er ſeine verwegne Kunſt
in tollkuͤhnem Stolz auf eine allzugefaͤhrliche Probe zu
ſtellen ſchien . Auch Aurelio ſchien bald in dem Kreis
der Zuſchauer die ſchoͤnſte Blume herausgefunden zu ha¬
ben . Sein ſchwarzes , glaͤnzendes Auge haftete zuweilen
brennend auf dem lieblichen Geſicht des Maͤdchens , und
Das Unvermeidliche.
ſein Pferd hielt wie zufaͤllig faſt immer in der Gegend ,
wo ſie ſaß . Er ritt an dieſem Abend noch ausgezeich¬
neter , als zuvor , und erntete den reichlichſten Beifall ,
der faſt nicht enden wollte . Charlotte hatte kein Zeichen
der Befriedigung gegeben , doch verbeugte er ſich zuerſt
nach ihrer Gegend hin und ſie bemerkte wohl , wie ſein
Auge unter den dunklen Locken groß und leuchtend auf
ſie gerichtet war .
Bei der folgenden Vorſtellung der Truppe war ſie
nicht zugegen , aber zum Beſuch der zweiten hatte ſie die
Erlaubniß der Vorſteher zu erhalten gewußt . Als Au¬
relio vortrat , uͤberflog ſein Auge die Verſammlung , als
ob er etwas ſuche , dann , als ſeine Augen denen Char¬
lottens begegneten , verbeugte er ſich noch einmal wie
zum Dank . Mit einem raſchen Sprung ſtand er auf
ſeinem Pferd . Seine Augen ſpruͤhten von gluͤhender
Luſt , immer gewaltiger trieb er ſein Pferd mit Zurufen
an , und der Triumph ſeiner Kunſt erreichte heute ſeinen
Gipfel . So verwegen und doch ſo ſchoͤn und ſo ge¬
wandt hatte man ihn noch nicht reiten ſehen . Es war
als ob ein inneres Gluͤck ihn zu den tollkuͤhnſten Lau¬
nen treibe . Auch ſein Aeußeres erſchien heute ſchoͤner
und glaͤnzender als ſonſt . Ein reiches , geſchmackvolles
Das Unvermeidliche.
Kleid lag ſchwellend um den ſchlanken Wuchs der Huͤf¬
ten und die elaſtiſchen Tricots auf Armen und Beinen
ließen das Spiel der kraͤftigen Muskeln erkennen . Der
Hals war entbloͤßt , die glaͤnzenden Locken umſchloß ein
praͤchtiges Stirnband , das im Widerſchein der Lichter ſich
tauſendfach brach und blitzte . So ſtand er auf ſeinem
Pferde wie ein junger Siegesgott , die Siegesfreude lachte
aus ſeinen bluͤhenden Zuͤgen und ſein dunkles Auge leuch¬
tete dahinter hervor wie der Stolz des Herrſchers . Char¬
lotte zitterte , wenn ſie dies ſtolze Auge in den ihrigen
brennen fuͤhlte .
Bei einem der letzten Manoͤvres ſtuͤrzte Aurelio ganz
in der Naͤhe Charlottens vom Pferde . Charlotten ent¬
fuhr ein leichter Schrei . Der Reiter aber hatte ſich im
Augenblick wieder erhoben , und ſchwang ſich im vollen
Lauf auf das Pferd . Die Luft erzitterte nun von
Beifallsruf . Waͤhrend er ſich verbeugte , warf er einen
Blick auf Charlotten , als er an ihr vorbeiritt , und legte
die Hand aufs Herz , als ob er ihr fuͤr die Angſt ihrer
verrathenen Theilnahme danken wolle . Das Maͤdchen
aber erroͤthete bis an die Schlaͤfe .
Beim Hinausgehen aus dem Circus draͤngte ſich ein
Menſch zwiſchen ihr und den Begleitern hindurch , und
Das Unvermeidliche.
druͤckte ihr leiſe die Hand . Charlotte glaubte den Ba¬
jazzo der Truppe erkannt zu haben . Zugleich fuͤhlte ſie ,
daß ſie etwas in der Hand halte , — als ſie hinſah , be¬
merkte ſie ein zuſammengefaltetes Papier darin . Ihr
Herz ſchlug hoͤher und erroͤthend und heimlich verbarg
ſie das Briefchen auf ihrem Buſen .
Am folgenden Abend ſtand bei der Gartenmauer des
Penſionats , welches außerhalb der Stadtthore gelegen
war , ein Mann an den Nacken ſeines Pferdes gelehnt ,
und ſprach mit einem Maͤdchen , welches aus dem Gar¬
ten uͤber die Mauer blickte .
Dieſe Zuſammenkuͤnfte dauerten fort , ſtill und heim¬
lich , Abend fuͤr Abend . Es wußte aber außer den Bei¬
den noch Einer davon .
Der Kunſtreiter war in der Stadt mit einem jun¬
gen Mann bekannt geworden , von dem er eigentlich nicht
wußte , was er war , woher er war , oder was er wolle ;
ja er wußte eigentlich gar nicht einmal , wie er mit ihm
bekannt geworden , viel weniger , wie derſelbe hinter ſein
und Charlottens Geheimniß gekommen ſei . Der neue
Freund Aurelio's war ein bleicher junger Mann , von
leidendem Ausſehen und ſtillem Weſen . Er mochte
wohl juͤnger ſein , als ſein Aeußeres ſchließen ließ , aber
13
Das Unvermeidliche.
Leiden und harte Erfahrungen hatten ihn , wie er ſelbſt
ſagte , fruͤh muͤrbe gemacht . Er hatte ſich an Aurelio
ſo angeſchloſſen , wie das in gewiſſen Jahren zu geſche¬
hen pflegt , und der Kunſtreiter nahm die Zuneigung des
Fremden ebenſo , oder wie einen Tribut auf . Der
Fremde hatte ihn bald auch auf ſeinem abendlichen Gange
begleitet , und ſtand waͤhrend des Zuſammenſeins der bei¬
den Verliebten auf Wache . Allmaͤhlig hatten Aurelio
und der Fremde ausfuͤhrlicher und ernſter uͤber dies Ver¬
haͤltniß geſprochen . Als nach einem ſolchen Geſpraͤch
der Fremde geſagt hatte : „ Ein Mann wie Sie findet
uͤberall ſeine Stellung “ , und Aurelio darauf erwiederte :
„Ja , aber wie ſoll ich von hier dahin kommen ? “ ſagte
der Erſtere , daß er zu jeder Zeit Paͤſſe verſchaffen koͤnne ,
und fuͤgte dann hinzu :
„ Uebrigens waͤre es dann hohe Zeit , denn wer weiß ,
wenn der Alte uns uͤber den Hals kommt ! “ —
Eines Abends ſtanden die beiden Liebenden wieder
an der Gartenmauer und Aurelio mußte von Scheiden
geſprochen und dem Maͤdchen Vorwuͤrfe gemacht haben ,
denn als der Mond eben aufging , beleuchtete er ihr
th r aͤnenfeuchtes Antlitz . Darauf hatte ſie angefangen ,
von ſeinem Pferde zu ſprechen . Aurelio klopfte dem
Das Unvermeidliche.
ſchoͤnen Thiere den Hals und ſagte , daß es ganz ſanft
ſei : ob ſie nicht einmal verſuchen wolle darauf zu reiten ?
Das Maͤdchen zoͤgerte einen Augenblick , ſtieg aber
dann vollends uͤber die Mauer . Aurelio hob ſie auf's
Pferd , und fuͤhrte daſſelbe im langſamen Schritt umher .
Ganz am Ende der Mauer hatte der Fremde wie¬
der Wache geſtanden . Als er das Maͤdchen jetzt auf dem
Pferde des Kunſtreiters ſitzen ſah , verließ er ſeinen Poſten ,
ging nach der entgegengeſetzten Seite der Mauer und
horchte an der Hausthuͤr des Penſionats . Der Haus¬
mann oͤffnete , und der Fremde erzaͤhlte ihm etwas , wor¬
uͤber der Mann ſehr erſchrack und ſogleich die Treppe
hinauf zu den Vorſtehern lief .
Das Maͤdchen ritt unter den Baͤumen an der Gar¬
tenmauer noch auf und ab , als ploͤtzlich die Hinterthuͤr
des Penſionatgebaͤudes aufgeriſſen wurde und mehrere
Leute in den Garten ſtuͤrzten . Das Maͤdchen faßte
angſtvoll den Arm ihres Geliebten , und fluͤſterte ihm et¬
was zu , indem ſie uͤber die Mauer zeigte . Der Kunſt¬
reiter ſchwang ſich hinter ihr in den Sattel und ritt
raſch und leiſe um die Mauer nach dem Haupteingang
des Gebaͤudes . Hier traten eben der Hausmann und
mehrere andere Leute in lautem Geſpraͤch aus der Thuͤr ,
13 *
Das Unvermeidliche.
und Charlotte hoͤrte ihren Namen in den Reden derſel¬
ben nennen . Sie ſtieß einen leiſen Schrei aus und
ſchmiegte ſich feſt an Aurelio an . Das volle verraͤthe¬
riſche Mondlicht fiel auf die Geſtalt des Reiters und
der ihn umſchlingenden Geliebten , und die Leute fuhren
uͤberraſcht zuruͤck . Aurelio beugte ſich mit einem heißen
Kuß uͤber das Maͤdchen , und gab ſeinem Pferde einen
Druck in die Seiten . —
— Ob es auch ihr Wille war ? Und waͤre ſie wirk¬
lich noch nicht dazu entſchloſſen geweſen , ſo konnte ſie
doch jetzt nicht mehr zuruͤck , nachdem man ſie ſo uͤber¬
raſcht hatte . —
Das Pferd des Kunſtreiters jagte mit den Beiden
in raſender Eile von dannen , und in wenigen Augen¬
blicken war auch der letzte Hufſchlag des edlen Thieres
in der ſtillen Nacht verhallt .
Der Polizeidirektor W. gebrauchte noch das Bad .
Das Aeußere dieſes Mannes war durch ſeine letzten Schick¬
ſale furchtbar zerfallen , und er glich dem unheimlichen
Das Unvermeidliche.
Geiſterbild eines gequaͤlten Gewiſſens . Das ſtarre , glanz¬
loſe Auge mit ſeinem ausdrucksloſen Glasblick lag tiefer
in den Hoͤhlen , die Falten um den Mund , die auf ei¬
nen Rou è oder Spieler haͤtten ſchließen laſſen koͤnnen ,
hatten ſich breiter gefurcht , und die Farbe ſeines Geſichts
war faſt bleiern geworden . Dennoch glaubte er zu fuͤh¬
len , daß das Bad ſeiner Geſundheit wohl thue . Es
war aber nur eine geiſtige Ruhe , die Ruhe einer gluͤck¬
lichen Hoffnung , die ihn aufrichtete , und keineswegs das
Bad . Es war die Hoffnung auf das Gluͤck , nun bald
ſeine Tochter an ſeiner Seite haben zu koͤnnen .
An einem Nachmittag ſaß der Polizeidirektor allein
noch an der Wirthstafel , als der Kellner ihm meldete ,
daß ein Mann draußen ſei , der ihn ſprechen wolle . Da
Niemand weiter in dem Speiſeſaal ſaß , ſo befahl der
Polizeidirektor den Fremden hereinzufuͤhren . Der Kell¬
ner rief nun den Wartenden herbei und begann dann
die Speiſetiſche abzudecken .
Der Fremde , der jetzt eintrat , trug einen großen Rei¬
termantel , deſſen Kragen in die Hoͤhe geſchlagen war , die
Haare hingen ihn verwirrt uͤber das Geſicht , und ſein
beſpritzter , unordentlicher Anzug deutete darauf , daß er
eine lange , anhaltende Reiſe gemacht . Der Polizeidirek¬
Das Unvermeidliche.
tor betrachtete ihn unruhig und ſagte , als der Fremde
ſchweigend einige Schritte von ihm ſtehen blieb :
„ Wer ſeid Ihr ? Was wollt Ihr von mir ? “ —
„ Ich bin ein alter Bekannter , Herr Direktor , der
jetzt ſeine Schuld abtragen will ! “ — ſagte der Andere
mit ſchneidender , kranker Stimme , indem er den Kragen
zuruͤckſchlug . Ich komme Ihnen nur zu ſagen , daß
Sie jetzt kein Kind mehr haben , daß Sie allein ſind ,
ganz allein ! “ —
Bei dem Ton dieſer Stimme , obwohl ſie entſtellt
wie in der nahen Aufloͤſung eines Auszehrenden klang ,
war der Polizeidirektor entſetzt zuruͤckgewichen ; als er aber
jetzt das bleiche , todesmatte Geſicht Arthurs erblickte und
ſeine Worte vernahm , ſtuͤrzte er in raſender Wildheit
auf ihn los und ſchrie , indem er ihn feſt erfaßte :
„ Moͤrder ! Moͤrder ! Zu Huͤlfe ! “ —
Die Kellner ſprangen herzu und konnten nur mit
Muͤhe den Fremden von dem wuͤthenden Griff ſeines
Gegners befreien . Dann brach der kinderloſe Mann
mit einem Schrei zuſammen .
„ Er iſt verruͤckt ! “ — ſagte Arthur , ebenfalls
auf einen Stuhl ſinkend , zu den verwunderten
Das Unvermeidliche.
Dienern . „ Hebt ihn auf , und ſchafft ihn auf ſein
Zimmer ! “ —
Seine Worte waren prophetiſch . Als der Polizei¬
rath erwachte , war das Licht der Vernunft fuͤr immer
in ihm erloſchen . Er ſtarb erſt nach langen Leiden im
Irrenhaus zu *** , und ſein trauriger Zuſtand wurde
durch die graͤßlichſten Viſionen und Beaͤngſtigungen noch
furchtbarer gemacht . Er ſah fortwaͤhrend geſpenſtiſche
Schaaren von Gefangenen und Todten , die ihn und
ſeine Kinder verfolgten ; er kaͤmpfte ſtundenlang in wuͤ¬
thendſter Aufregung gegen die leere Luft , bis er endlich
erſchoͤpft niederſank , und oft in ſtiller Nacht fuhren die
uͤbrigen Irren zitternd vor ſeinem gellenden , durchdrin¬
genden Angſtſchrei in ihren Zellen empor . Der Tod er¬
loͤſte ihn zuletzt von ſeinen Leiden .
Arthur ſtarb ſchon nach Verlauf einiger Monate
und wurde neben ſeiner Mutter begraben .
Von den beiden Entflohenen hat man nie wieder
gehoͤrt ; ſie ſind in der Fremde „ geſtorben , verdorben . “
Nur ein dunkles Geruͤcht wurde einſt dahin laut , daß
Aurelio Charlotten in Frankreich , wohin ſich beide ge¬
wendet , verlaſſen habe ; Charlotte habe ſich nun eine
Zeitlang kuͤmmerlich durch ihrer Haͤnde Arbeit zu ernaͤh¬
Das Unvermeidliche.
ren geſucht , dann aber , als es ihr immer ſchlechter ge¬
gangen , ſei auch ſie dem ewigen Fluch der Armuth
zum Opfer gefallen und zuletzt in einer Strafanſtalt
geſtorben .
Das war das Ende .
Druck von Friedrich Ries in Leipzig .