Aus meinem Leben
Dichtung und Wahrheit.
Von
Goethe.
Zweyter Theil.
Was man in der Jugend wünſcht, hat man im
Alter die Fülle.
Tuͤbingen,
in der J. G. Cottaiſchen Buchhandlung,
1812.
Sechſtes Buch.
II. 1
So trieb es mich wechſelsweiſe, meine
Geneſung zu befoͤrdern und zu verhindern,
und ein gewiſſer heimlicher Aerger geſellte
ſich noch zu meinen uͤbrigen Empfindungen:
denn ich bemerkte wohl, daß man mich beob¬
achtete, daß man mir nicht leicht etwas Ver¬
ſiegeltes zuſtellte, ohne darauf Acht zu haben,
was es fuͤr Wirkungen hervorbringe? ob ich
es geheim hielt oder ob ich es offen hinlegte,
und was dergleichen mehr war. Ich vermu¬
thete daher, daß Pylades, ein Vetter, oder
wohl gar Gretchen ſelbſt, den Verſuch moͤchte
gemacht haben mir zu ſchreiben, um Nach¬
richt zu geben oder zu erhalten; ich war nun
erſt recht verdrießlich neben meiner Bekuͤm¬
merniß, und hatte wieder neue Gelegenheit,
meine Vermuthungen zu uͤben und mich in
die ſeltſamſten Verknuͤpfungen zu verirren.
1 *
Es dauerte nicht lange, ſo gab man mir
noch einen beſondern Aufſeher. Gluͤcklicherwei¬
ſe war es ein Mann, den ich liebte und ſchaͤtz¬
te; er hatte eine Hofmeiſterſtelle in einem
befreundeten Hauſe bekleidet, ſein bisheriger
Zoͤgling war allein auf die Academie gegangen.
Er beſuchte mich oͤfters in meiner traurigen
Lage, und man fand zuletzt nichts natuͤrlicher,
als ihm ein Zimmer neben dem meinigen ein¬
zuraͤumen: da er mich denn beſchaͤftigen, beru¬
higen und, wie ich wohl merken konnte, im
Auge behalten ſollte. Weil ich ihn jedoch von
Herzen ſchaͤtzte und ihm auch fruͤher gar Man¬
ches, nur nicht die Neigung zu Gretchen,
vertraut hatte; ſo beſchloß ich um ſo mehr,
ganz offen und gerade gegen ihn zu ſeyn, als
es mir unertraͤglich war, mit Jemand taͤglich
zu leben und auf einem unſicheren, geſpann¬
ten Fuß mit ihm zu ſtehen. Ich ſaͤumte da¬
her nicht lange, ſprach ihm von der Sache,
erquickte mich in Erzaͤhlung und Wiederholung
der kleinſten Umſtaͤnde meines vergangenen
Gluͤcks, und erreichte dadurch ſo viel, daß er,
als ein verſtaͤndiger Mann, einſah, es ſey
beſſer, mich mit dem Ausgang der Geſchichte
bekannt zu machen, und zwar im Einzelnen
und Beſonderen, damit ich klar uͤber das Gan¬
ze wuͤrde und man mir mit Ernſt und Eifer
zureden koͤnne, daß ich mich faſſen, das Vergan¬
gene hinter mich werfen und ein neues Leben
anfangen muͤſſe. Zuerſt vertraute er mir, wer
die anderen jungen Leute von Stande geweſen,
die ſich Anfangs zu verwegenen Myſtificatio¬
nen, dann zu poſſenhaften Polizeyverbrechen,
ferner zu luſtigen Geldſchneidereyen und an¬
deren ſolchen verfaͤnglichen Dingen hatten ver¬
leiten laſſen. Es war dadurch wirklich eine
kleine Verſchwoͤrung entſtanden, zu der ſich
gewiſſenloſe Menſchen geſellten, durch Verfaͤl¬
ſchung von Papieren, Nachbildung von Unter¬
ſchriften manches Strafwuͤrdige begingen und
noch Strafwuͤrdigeres vorbereiteten. Die Vet¬
tern, nach denen ich zuletzt ungeduldig fragte,
waren ganz unſchuldig, nur im Allgemeinſten
mit jenen andern bekannt, keineswegs aber ver¬
einigt befunden worden. Mein Client, durch
deſſen Empfehlung an den Großvater man
mir eigentlich auf die Spur gekommen, war
einer der ſchlimmſten, und bewarb ſich um
jenes Amt hauptſaͤchlich, um gewiſſe Bu¬
benſtuͤcke unternehmen oder bedecken zu koͤn¬
nen. Nach allein dieſem konnte ich mich zu¬
letzt nicht halten und fragte, was aus Gret¬
chen geworden ſey zu der ich ein fuͤr alle¬
mal die groͤßte Neigung bekannte. Mein
Freund ſchuͤttelte den Kopf und laͤchelte: „Be¬
ruhigen Sie ſich, verſetzte er: dieſes Maͤd¬
chen iſt ſehr wohl beſtanden und hat ein Herr¬
liches Zeugniß davon getragen. Man konnte
nichts als Gutes und Liebes an ihr finden,
die Herren Examinatoren ſelbſt wurden ihr
gewogen, und haben ihr die Entfernung aus
der Stadt, die ſie wuͤnſchte, nicht verſagen
koͤnnen. Auch das was ſie in Ruͤckſicht auf
Sie, mein Freund, bekannt hat, macht ihr
Ehre; ich habe ihre Ausſage in den geheimen
Acten ſelbſt geleſen und ihre Unterſchrift ge¬
ſehen.“ Die Unterſchrift! rief ich aus, die
mich ſo gluͤcklich und ſo ungluͤcklich macht.
Was hat ſie denn bekannt? was hat ſie un¬
terſchrieben? Der Freund zauderte zu ant¬
worten; aber die Heiterkeit ſeines Geſichts
zeigte mir an, daß er nichts Gefaͤhrliches ver¬
berge. „Wenn Sie's denn wiſſen wollen,
verſetzte er endlich, als von Ihnen und Ih¬
rem Umgang mit ihr die Rede war, ſagte ſie
ganz freymuͤthig: ich kann es nicht leugnen,
daß ich ihn oft und gern geſehen habe; aber
ich habe ihn immer als ein Kind betrachtet und
meine Neigung zu ihm war wahrhaft ſchwe¬
ſterlich. In manchen Faͤllen habe ich ihn gut
berathen, und anſtatt ihn zu einer zweydeuti¬
gen HandluugHandlung aufzuregen, habe ich ihn ver¬
hindert, an muthwilligen Streichen Theil zu
nehmen, die ihm haͤtten Verdruß bringen
koͤnnen.“
Der Freund fuhr noch weiter fort, Gret¬
chen als eine Hofmeiſterinn reden zu laſſen;
ich hoͤrte ihm aber ſchon lange nicht mehr
zu: denn daß ſie mich fuͤr ein Kind zu den
Acten erklaͤrt, nahm ich ganz entſetzlich uͤbel,
und glaubte mich auf einmal von aller Lei¬
denſchaft fuͤr ſie geheilt; ja ich verſicherte ha¬
ſtig meinen Freund, daß nun alles abgethan
ſey! Auch ſprach ich nicht mehr von ihr, nann¬
te ihren Namen nicht mehr; doch konnte ich
die boͤſe Gewohnheit nicht laſſen, an ſie zu den¬
ken, wir ihre Geſtalt, ihr Weſen, ihr Betra¬
gen zu vergegenwaͤrtigen, das mir denn nun
freylich jetzt in einem ganz anderen Lichte er¬
ſchien. Ich fand es unertraͤglich, daß ein
Maͤdchen, hoͤchſtens ein Paar Jahre aͤlter als
ich, mich fuͤr ein Kind halten ſollte, der ich doch
fuͤr einen ganz geſcheuten und geſchickten Jun¬
gen zu gelten glaubte. Nun kam mir ihr kal¬
tes, abſtoßendes Weſen, das mich ſonſt ſo an¬
gereizt hatte, ganz widerlich vor; die Fami¬
liaritaͤten, die ſie ſich gegen mich erlaubte, mir
aber zu erwidern nicht geſtattete, waren mir
ganz verhaßt. Das alles waͤre jedoch noch
gut geweſen, wenn ich ſie nicht wegen des Un¬
terſchreibens jener poetiſchen Liebesepiſtel, wo¬
durch ſie mir denn doch eine foͤrmliche Neigung
erklaͤrte, fuͤr eine verſchmitzte und ſelbſtſuͤch¬
tige Coquette zu halten berechtigt geweſen waͤ¬
re. Auch maskirt zur Putzmacherinn kam
ſie mir nicht mehr ſo unſchuldig vor, und ich
kehrte dieſe aͤrgerlichen Betrachtungen ſo lan¬
ge bey mir hin und wieder, bis ich ihr alle
liebenswuͤrdigen Eigenſchaften ſaͤmmtlich abge¬
ſtreift hatte. Dem Verſtande nach war ich
uͤberzeugt und glaubte ſie verwerfen zu muͤſ¬
ſen; nur ihr Bild! ihr Bild ſtrafte mich Luͤ¬
gen, ſo oft es mir wieder vorſchwebte, wel¬
ches freylich noch oft genug geſchah.
Indeſſen war denn doch dieſer Pfeil mit
ſeinen Widerhaken aus dem Herzen geriſſen,
und es fragte ſich, wie man der inneren ju¬
gendlichen Heilkraft zu Huͤlfe kaͤme? Ich er¬
mannte mich wirklich, und das erſte was ſo¬
gleich abgethan wurde, war das Weinen und
Raſen, welches ich nun fuͤr hoͤchſt kindiſch
anſah. Ein großer Schritt zur Beſſerung!
Denn ich hatte oft halbe Naͤchte durch mich mit
dem groͤßten Ungeſtuͤm dieſen Schmerzen uͤber¬
laſſen, ſo daß es durch Thraͤnen und Schluch¬
zen zuletzt dahin kam, daß ich kaum mehr
ſchlingen konnte und der Genuß von Speiſe
und Trank mir ſchmerzlich ward, auch die
ſo nah verwandte Bruſt zu leiden ſchien.
Der Verdruß, den ich uͤber jene Entdeckung
immer fort empfand, ließ mich jede Weich¬
lichkeit verbannen; ich fand es ſchrecklich, daß
ich um eines Maͤdchens willen Schlaf und
Ruhe und Geſundheit aufgeopfert hatte, die
ſich darin gefiel, mich als einen Saͤugling zu
betrachten und ſich hoͤchſt ammenhaft weiſe
gegen mich zu duͤnken.
Dieſe kraͤnkenden Vorſtellungen waren,
wie ich mich leicht uͤberzeugte, nur durch Thaͤ¬
tigkeit zu verbannen; aber was ſollte ich er¬
greifen? Ich hatte in gar vielen Dingen frey¬
lich manches nachzuholen, und mich in mehr
als einem Sinne auf die Academie vorzube¬
reiten, die ich nun beziehen ſollte; aber nichts
wollte mir ſchmecken noch gelingen. Gar man¬
ches erſchien mir bekannt und trivial; zu
mehrerer Begruͤndung fand ich weder eigne
Kraft noch aͤußere Gelegenheit, und ließ
mich daher durch die Liebhaberey meines
braven Stubennachbarn zu einem Studium
bewegen, das mir ganz neu und fremd war
und fuͤr lange Zeit ein weites Feld von Kennt¬
niſſen und Betrachtungen darbot. Mein
Freund fing naͤmlich an, mich mit den phi¬
loſophiſchen Geheimniſſen bekannt zu machen.
Er hatte unter Daries in Jena ſtudirt und
als ein ſehr wohlgeordneter Kopf den Zuſam¬
menhang jener Lehre ſcharf gefaßt, und ſo
ſuchte er ſie auch mir beyzubringen. Aber
leider wollten dieſe Dinge in meinem Gehirn
auf eine ſolche Weiſe nicht zuſammenhaͤngen.
Ich that Fragen, die er ſpaͤter zu beantwor¬
ten, ich machte Forderungen, die er kuͤnftig zu
befriedigen verſprach. Unſere wichtigſte Diffe¬
renz war jedoch dieſe, daß ich behauptete, eine
abgeſonderte Philoſophie ſey nicht noͤthig, in¬
dem ſie ſchon in der Religion und Poeſie voll¬
kommen enthalten ſey. Dieſes wollte er nun
keinesweges gelten laſſen, ſondern ſuchte mir
vielmehr zu beweiſen, daß erſt dieſe durch je¬
ne begruͤndet werden muͤßten; welches ich
hartnaͤckig leugnete, und im Fortgange unſe¬
rer Unterhaltung bey jedem Schritt Argu¬
mente fuͤr meine Meynung fand. Denn da
in der Poeſie ein gewiſſer Glaube an das Un¬
moͤgliche, in der Religion ein eben ſolcher
Glaube an das Unergruͤndliche Statt finden
muß; ſo ſchienen mir die Philoſophen in ei¬
ner ſehr uͤblen Lage zu ſeyn, die auf ihrem
Felde beydes beweiſen und erklaͤren wollten;
wie ſich denn auch aus der Geſchichte der Phi¬
loſophie ſehr geſchwind darthun ließ, daß im¬
mer einer einen andern Grund ſuchte als der
andre, und der Sceptiker zuletzt alles fuͤr
grund- und bodenlos anſprach.
Eben dieſe Geſchichte der Philoſophie je¬
doch, die mein Freund mit mir zu treiben
ſich genoͤthigt ſah, weil ich dem dogmatiſchen
Vortrag gar nichts abgewinnen konnte, un¬
terhielt mich ſehr, aber nur in dem Sinne,
daß mir eine Lehre, eine Meynung ſo gut
wie die andre vorkam, in ſofern ich naͤmlich
in dieſelbe einzudringen faͤhig war. An den
aͤlteſten Maͤnnern und Schulen gefiel mir am
beſten, daß Poeſie, Religion und Philoſophie
ganz in Eins zuſammenfielen, und ich behaup¬
tete jene meine erſte Meynung nur um deſto
lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe-
Lied und die Spruͤchwoͤrter Salomonis eben
ſo gut als die Orphiſchen und Heſiodiſchen
Geſaͤnge dafuͤr ein guͤltiges Zeugniß abzulegen
ſchienen. Mein Freund hatte den kleinen
Brucker zum Grunde ſeines Vortrags gelegt,
und je weiter wir vorwaͤrts kamen, je weni¬
ger wußte ich daraus zu machen. Was die
erſten griechiſchen Philoſophen wollten, konnte
mir nicht deutlich werden. Sokrates galt
mir fuͤr einen trefflichen weiſen Mann, der
wohl, im Leben und Tod, ſich mit Chriſto
vergleichen laſſe. Seine Schuͤler hingegen
ſchienen mir große Aehnlichkeit mit den Apo¬
ſteln zu haben, die ſich nach des Meiſters
Tode ſogleich entzweyten und offenbar jeder
nur eine beſchraͤnkte Sinnesart fuͤr das Rech¬
te erkannte. Weder die Schaͤrfe des Ari¬
ſtoteles, noch die Fuͤlle des Plato fruchteten
bey mir im mindeſten. Zu den Stoikern hin¬
gegen hatte ich ſchon fruͤher einige Neigung
gefaßt, und ſchaffte nun den Epictet her¬
bey, den ich mit vieler Theilnahme ſtudirte.
Mein Freund ließ mich ungern in dieſer Ein¬
ſeitigkeit hingehen, von der er mich nicht ab¬
zuziehen vermochte: denn ohngeachtet ſeiner
mannigfaltigen Studien, wußte er doch die
Hauptfrage nicht in's Enge zu bringen. Er
haͤtte mir nur ſagen duͤrfen, daß es im Leben
bloß aufs Thun ankomme, das Genießen und
Leiden finde ſich von ſelbſt. Indeſſen darf
man die Jugend nur gewaͤhren laſſen; nicht
ſehr lange haftet ſie an falſchen Maximen;
das Leben reißt oder lockt ſie bald davon wie¬
der los.
Die Jahrszeit war ſchoͤn geworden, wir
gingen oft zuſammen ins Freye und beſuchten
die Luſtoͤrter, die in großer Anzahl um die
Stadt umherliegen. Aber gerade hier konnte
es mir am wenigſten wohl ſeyn: denn ich ſah
noch die Geſpenſter der Vettern uͤberall, und
fuͤrchtete bald da bald dort einen hervortreten
zu ſehen. Auch waren mir die gleichguͤltigſten
Blicke der Menſchen beſchwerlich. Ich hatte
jene bewußtloſe Gluͤckſeligkeit verloren, unbe¬
kannt und unbeſcholten umherzugehen und in
dem groͤßten Gewuͤhle an keinen Beobachter zu
denken. Jetzt fing der hypochondriſche Duͤnkel
an mich zu quaͤlen, als erregte ich die Auf¬
merkſamkeit der Leute, als waͤren ihre Blicke
auf mein Weſen gerichtet, es feſtzuhalten, zu
unterſuchen und zu tadeln.
Ich zog daher meinen Freund in die Waͤl¬
der und, indem ich die einfoͤrmigen Fichten
floh, ſucht' ich jene ſchoͤnen belaubten Haine,
die ſich zwar nicht weit und breit in der Ge¬
gend erſtrecken, aber doch immer von ſolchem
Umfange ſind, daß ein armes verwundetes
Herz ſich darin verbergen kann. In der
groͤßten Tiefe des Waldes hatte ich mir ei¬
nen ernſten Platz ausgeſucht, wo die aͤlteſten
Eichen und Buchen einen herrlich großen, be¬
ſchatteten Raum bildeten. Etwas abhaͤngig
war der Boden und machte das Verdienſt
der alten Staͤmme nur deſto bemerkbarer.
Rings an dieſen freyen Kreis ſchloſſen ſich
die dichteſten Gebuͤſche, aus denen bemooste
Felſen maͤchtig und wuͤrdig hervorblickten und
einem waſſerreichen Bach einen raſchen Fall
verſchafften.
Kaum hatte ich meinen Freund, der ſich
lieber in freyer Landſchaft am Strom unter
Menſchen befand, hierher genoͤthiget, als er
mich ſcherzend verſicherte, ich erweiſe mich wie
ein wahrer Deutſcher. Umſtaͤndlich erzaͤhlte
er mir aus dem Tacitus, wie ſich unſere Ur¬
vaͤter an den Gefuͤhlen begnuͤgt, welche uns
die Natur in ſolchen Einſamkeiten mit unge¬
kuͤnſtelter Bauart ſo herrlich vorbereitet. Er
hatte mir nicht lange davon erzaͤhlt, als ich
ausrief: O! warum liegt dieſer koͤſtliche Platz
nicht in tiefer Wildniß, warum duͤrfen wir
nicht einen Zaun umher fuͤhren, ihn und uns
zu heiligen und von der Welt abzuſondern!
Gewiß es iſt keine ſchoͤnere Gottesverehrung
als die, zu der man kein Bild bedarf, die
bloß aus dem Wechſelgeſpraͤch mit der Natur
in unſerem Buſen entſpringt! — Was ich
damals fuͤhlte, iſt mir noch gegenwaͤrtig; was
ich ſagte, wuͤßte ich nicht wieder zu finden.
Soviel iſt aber gewiß, daß die unbeſtimm¬
ten, ſich weit ausdehnenden Gefuͤhle der
Jugend und ungebildeter Voͤlker allein zum
Erhabenen geeignet ſind, das, wenn es durch
aͤußere Dinge in uns erregt werden ſoll, form¬
II. 2
los, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns
mit einer Groͤße umgeben muß, der wir nicht
gewachſen ſind.
Eine ſolche Stimmung der Seele empfin¬
den, mehr oder weniger, alle Menſchen, ſo
wie ſie dieſes edle Beduͤrfniß auf mancherley
Weiſe zu befriedigen ſuchen. Aber wie das
Erhabene von Daͤmmerung und Nacht, wo
ſich die Geſtalten vereinigen, gar leicht erzeugt
wird, ſo wird es dagegen vom Tage ver¬
ſcheucht, der alles ſondert und trennt, und ſo
muß es auch durch jede wachſende Bildung
vernichtet werden, wenn es nicht gluͤcklich ge¬
nug iſt, ſich zu dem Schoͤnen zu fluͤchten und
ſich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch
denn beyde gleich unſterblich und unverwuͤſt¬
lich ſind.
Die kurzen Augenblicke ſolcher Genuͤſſe
verkuͤrzte mir noch mein denkender Freund,
aber ganz umſonſt verſuchte ich, wenn ich
heraus an die Welt trat, in der lichten und
mageren Umgebung, ein ſolches Gefuͤhl bey
mir wieder zu erregen; ja kaum die Erinne¬
rung davon vermochte ich zu erhalten. Mein
Herz war jedoch zu verwoͤhnt, als daß es ſich
haͤtte beruhigen koͤnnen: es hatte geliebt, der
Gegenſtand war ihm entriſſen; es hatte ge¬
lebt, und das Leben war ihm verkuͤmmert.
Ein Freund, der es zu deutlich merken laͤßt,
daß er an euch zu bilden gedenkt, erregt kein
Behagen; indeſſen eine Frau, die euch bildet,
indem ſie euch zu verwoͤhnen ſcheint, wie ein
himmliſches, freudebringendes Weſen angebe¬
tet wird. Aber jene Geſtalt, an der ſich der
Begriff des Schoͤnen mir hervorthat, war in
die Ferne weggeſchwunden; ſie beſuchte mich
oft unter den Schatten meiner Eichen, aber
ich konnte ſie nicht feſthalten, und ich fuͤhlte
einen gewaltigen Trieb, etwas Aehnliches in
der Weite zu ſuchen.
2 *
Ich hatte meinen Freund und Aufſeher
unvermerkt gewoͤhnt, ja genoͤthigt, mich al¬
lein zu laſſen; denn ſelbſt in meinem heiligen
Walde thaten mir jene unbeſtimmten, rieſen¬
haften Gefuͤhle nicht genug. Das Auge war
vor allen anderen das Organ, womit ich die
Welt faßte. Ich hatte von Kindheit auf zwi¬
ſchen Malern gelebt, und mich gewoͤhnt, die
Gegenſtaͤnde wie ſie, in Bezug auf die Kunſt
anzuſehen. Jetzt, da ich mir ſelbſt und der
Einſamkeit uͤberlaſſen war, trat dieſe Gabe,
halb natuͤrlich, halb erworben, hervor; wo
ich hinſah erblickte ich ein Bild, und was
mir auffiel, was mich erfreute, wollte ich feſt¬
halten, und ich fing an auf die ungeſchickteſte
Weiſe nach der Natur zu zeichnen. Es fehl¬
te mir hierzu nichts weniger als alles; doch
blieb ich hartnaͤckig daran, ohne irgend ein
techniſches Mittel, das Herrlichſte nachbilden
zu wollen, was ſich meinen Augen darſtellte.
Ich gewann freylich dadurch eine große Auf¬
merkſamkeit auf die Gegenſtaͤnde, aber ich
faßte ſie nur im Ganzen, in ſofern ſie Wir¬
kung thaten; und ſo wenig mich die Natur
zu einem deſcriptiven Dichter beſtimmt hatte,
eben ſo wenig wollte ſie mir die Faͤhigkeit ei¬
nes Zeichners fuͤrs Einzelne verleihen. Da
jedoch nur dieß allein die Art war, die mir
uͤbrig blieb, mich zu aͤußern, ſo hing ich mit
eben ſo viel Hartnaͤckigkeit, ja mit Truͤbſinn
daran, daß ich immer eifriger meine Arbeiten
fortſetzte, je weniger ich etwas dabey heraus¬
kommen ſah.
Leugnen will ich jedoch nicht, daß ſich
eine gewiſſe Schelmerey mit einmiſchte: denn
ich hatte bemerkt, daß wenn ich einen halb¬
beſchatteten alten Stamm, an deſſen maͤchtig
gekruͤmmte Wurzeln ſich wohlbeleuchtete Farren¬
kraͤuter anſchmiegten, von blinkenden Gras¬
lichtern begleitet, mir zu einem qualreichen
Studium ausgeſucht hatte, mein Freund, der
aus Erfahrung wußte, daß unter einer Stun¬
de da nicht loszukommen ſey, ſich gewoͤhnlich
entſchloß, mit einem Buche ein anderes ge¬
faͤlliges Plaͤtzchen zu ſuchen. Nun ſtoͤrte mich
nichts, meiner Liebhaberey nachzuhaͤngen, die
um deſto emſiger war, als mir meine Blaͤtter
dadurch lieb wurden, daß ich mich gewoͤhnte,
an ihnen nicht ſowohl das zu ſehen, was
darauf ſtand, als dasjenige, was ich zu jeder
Zeit und Stunde dabey gedacht hatte. So
koͤnnen uns Kraͤuter und Blumen der gemein¬
ſten Art ein liebes Tagebuch bilden, weil
nichts, was die Erinnerung eines gluͤcklichen
Moments zuruͤckruft, unbedeutend ſeyn kann;
und noch jetzt wuͤrde es mir ſchwer fallen,
manches dergleichen, was mir aus verſchiede¬
nen Epochen uͤbrig geblieben, als werthlos zu
vertilgen, weil es, mich unmittelbar in jene
Zeiten verſetzt, deren ich mich zwar mit Weh¬
muth, doch nicht ungern erinnere.
Wenn aber ſolche Blaͤtter irgend ein In¬
tereſſe an und fuͤr ſich haben koͤnnten, ſo waͤ¬
ren ſie dieſen Vorzug der Theilnahme und
Aufmerkſamkeit meines Vaters ſchuldig. Die¬
ſer, durch meinen Aufſeher benachrichtiget, daß
ich mich nach und nach in meinen Zuſtand
finde und beſonders mich leidenſchaftlich auf
das Zeichnen nach der Natur gewendet habe,
war damit gar wohl zufrieden, theils weil er
ſelbſt ſehr viel auf Zeichnung und Malerey
hielt, theils weil Gevatter Seekaz ihm eini¬
gemal geſagt hatte, es ſey Schade, daß ich
nicht zum Maler beſtimmt ſey. Allein hier
kamen die Eigenheiten des Vaters und Sohns
wieder zum Conflict: denn es war mir faſt
unmoͤglich, bey meinen Zeichnungen ein gutes,
weißes, voͤllig reines Papier zu gebrauchen;
graue veraltete, ja ſchon von einer Seite be¬
ſchriebene Blaͤtter reizten mich am meiſten,
eben als wenn meine Unfaͤhigkeit ſich vor dem
Pruͤfſtein eines weißen Grundes gefuͤrchtet
haͤtte. So war auch keine Zeichnung ganz
ausgefuͤllt; und wie haͤtte ich denn ein Gan¬
zes leiſten ſollen, das ich wohl mit Augen
ſah, aber nicht begriff, und wie ein Einzel¬
nes, das ich zwar kannte, aber dem zu fol¬
gen ich weder Fertigkeit noch Geduld hatte.
Wirklich war auch in dieſem Puncte die Paͤ¬
dagogik meines Vaters zu bewundern. Er
fragte wohlwollend nach meinen Verſuchen, und
zog Linien um jede unvollkommene Skizze:
er wollte mich dadurch zur Vollſtaͤndigkeit und
Ausfuͤhrlichkeit noͤthigen; die unregelmaͤßi¬
gen Blaͤtter ſchnitt er zurechte, und machte
damit den Anfang zu einer Sammlung, in
der er ſich dereinſt der Fortſchritte ſeines Soh¬
nes freuen wollte. Es war ihm daher kei¬
neswegs unangenehm, wenn mich mein wil¬
des unſtaͤtes Weſen in der Gegend umher¬
trieb, vielmehr zeigte er ſich zufrieden, wenn
ich nur irgend ein Heft zuruͤckbrachte, an dem
er ſeine Geduld uͤben und ſeine Hoffnungen
einigermaßen ſtaͤrken konnte.
Man ſorgte nicht mehr, daß ich in mei¬
ne fruͤheren Neigungen und Verhaͤltniſſe zu¬
ruͤckfallen koͤnnte, man ließ mir nach und nach
vollkommene Freyheit. Durch zufaͤllige An¬
regung, ſo wie in zufaͤlliger Geſellſchaft ſtellte
ich manche Wanderungen nach dem Gebirge
an, das von Kindheit auf ſo fern und ernſt¬
haft vor mir geſtanden hatte. So beſuchten
wir Homburg, Kroneburg, beſtiegen den Feld¬
berg, von dem uns die weite Ausſicht immer
mehr in die Ferne lockte. Da blieb denn Koͤ¬
nigſtein nicht unbeſucht; Wisbaden, Schwal¬
bach mit ſeinen Umgebungen beſchaͤftigten uns
mehrere Tage; wir gelangten an den Rhein,
den wir, von den Hoͤhen herab, weit her
ſchlaͤngeln geſehen. Maynz ſetzte uns in Ver¬
wunderung, doch konnte es den jugendlichen
Sinn nicht feſſeln, der ins Freye ging; wir
erheiterten uns an der Lage von Biberich, und
nahmen zufrieden und froh unſeren Ruͤckweg.
Dieſe ganze Tour, von der ſich mein Va¬
ter manches Blatt verſprach, waͤre beynahe
ohne Frucht geweſen: denn welcher Sinn,
welches Talent, welche Uebung gehoͤrt nicht
dazu, eine weite und breite Landſchaft als
Bild zu begreifen! Unmerklich wieder zog es
mich jedoch ins Enge, wo ich einige Ausbeu¬
te fand: denn ich traf kein verfallenes Schloß,
kein Gemaͤuer, das auf die Vorzeit hindeute¬
te, daß ich es nicht fuͤr einen wuͤrdigen Ge¬
genſtand gehalten und ſo gut als moͤglich nach¬
gebildet haͤtte. Selbſt den Druſenſtein auf
dem Walle zu Maynz zeichnete ich mit eini¬
ger Gefahr und mit Unſtatten, die ein Jeder
erleben muß, der ſich von Reiſen einige bild¬
liche Erinnerungen mit nach Hauſe nehmen
will. Leider hatte ich abermals nur das
ſchlechteſte Conceptpapier mitgenommen und
mehrere Gegenſtaͤnde unſchicklich auf ein Blatt
gehaͤuft; aber mein vaͤterlicher Lehrer ließ ſich
dadurch nicht irre machen; er ſchnitt die Blaͤt¬
ter aus einander, ließ das Zuſammenpaſſende
durch den Buchbinder aufziehen, faßte die
einzelnen Blaͤtter in Linien und noͤthigte mich
dadurch wirklich, die Umriſſe verſchiedener
Berge bis an den Rand zu ziehen und den
Vordergrund mit einigen Kraͤutern und Stei¬
nen auszufuͤllen.
Konnten ſeine treuen Bemuͤhungen auch
mein Talent nicht ſteigern, ſo hatte doch die¬
ſer Zug ſeiner Ordnungsliebe einen geheimen
Einfluß auf mich, der ſich ſpaͤterhin auf mehr
als eine Weiſe lebendig erwies.
Von ſolchen halb lebensluſtigen, halb kuͤnſt¬
leriſchen Streifpartieen, welche ſich in kurzer
Zeit vollbringen und oͤfters wiederholen lie¬
ßen, ward ich jedoch wieder nach Hauſe ge¬
zogen, und zwar durch einen Magneten, der
von jeher ſtark auf mich wirkte; es war mei¬
ne Schweſter. Sie, nur ein Jahr juͤnger
als ich, hatte mein ganzes bewußtes Leben
mit mir herangelebt und ſich dadurch mit mir
aufs innigſte verbunden. Zu dieſen natuͤrli¬
chen Anlaͤſſen geſellte ſich noch ein aus unſe¬
rer haͤuslichen Lage hervorgehender Drang;
ein zwar liebevoller und wohlgeſinnter, aber
ernſter Vater, der, weil er innerlich ein ſehr
zartes Gemuͤth hegte, aͤußerlich mit unglaub¬
licher Conſequenz eine eherne Strenge vorbil¬
dete, damit er zu dem Zwecke gelangen moͤ¬
ge, ſeinen Kindern die beſte Erziehung zu ge¬
ben, ſein wohlgegruͤndetes Haus zu erbauen,
zu ordnen und zu erhalten; dagegen eine Mut¬
ter faſt noch Kind, welche erſt mit und in ih¬
ren beyden Aelteſten zum Bewußtſeyn heran¬
wuchs; dieſe drey, wie ſie die Welt mit ge¬
ſundem Blicke gewahr wurden, lebensfaͤhig
und nach gegenwaͤrtigem Genuß verlangend.
Ein ſolcher in der Familie ſchwebender Wider¬
ſtreit vermehrte ſich mit den Jahren. Der
Vater verfolgte ſeine Abſicht unerſchuͤttert und
ununterbrochen; Mutter und Kinder konnten
ihre Gefuͤhle, ihre Anforderungen, ihre Wuͤn¬
ſche nicht aufgeben.
Unter dieſen Umſtaͤnden war es natuͤrlich,
daß Bruder und Schweſter ſich feſt an ein¬
ander ſchloſſen und ſich zur Mutter hielten,
um die im Ganzen verſagten Freuden wenig¬
ſtens einzeln zu erhaſchen. Da aber die Stun¬
den der Eingezogenheit und Muͤhe ſehr lang
und weit waren gegen die Augenblicke der
Erholung und des Vergnuͤgens, beſonders fuͤr
meine Schweſter, die das Haus niemals auf
ſo lange Zelt als ich verlaſſen konnte; ſo ward
ihr Beduͤrfniß, ſich mit mir zu unterhalten,
noch durch die Sehnſucht geſchaͤrft, mit der
ſie mich in die Ferne begleitete.
Und ſo wie in den erſten Jahren Spiel
und Lernen, Wachsthum und Bildung den
Geſchwiſtern voͤllig gemein war, ſo daß ſie
ſich wohl fuͤr Zwillinge halten konnten; ſo
blieb auch unter ihnen dieſe Gemeinſchaft,
dieſes Vertrauen, bey Entwickelung phyſiſcher
und moraliſcher Kraͤfte. Jenes Intereſſe der
Jugend, jenes Erſtaunen beym Erwachen ſinn¬
licher Triebe, die ſich in geiſtige Formen,
geiſtiger Beduͤrfniſſe, die ſich in ſinnliche Ge¬
ſtalten einkleiden, alle Betrachtungen daruͤber
die uns eher verduͤſtern als aufklaͤren, wie
ein Nebel das Thal, woraus er ſich empor¬
heben will, zudeckt und nicht erhellt, manche
Irrungen und Verirrungen, die daraus ent¬
ſpringen, theilten und beſtanden die Geſchwi¬
ſter Hand in Hand, und wurden uͤber ihre
ſeltſamen Zuſtaͤnde um deſto weniger aufge¬
klaͤrt, als die heilige Scheu der nahen Ver¬
wandtſchaft ſie, indem ſie ſich einander mehr
naͤhern, ins Klare treten wollten, nur immer
gewaltiger aus einander hielt.
Ungern ſpreche ich dieß im Allgemeinen
aus, was ich vor Jahren darzuſtellen unter¬
nahm, ohne daß ich es haͤtte ausfuͤhren koͤn¬
nen. Da ich dieſes geliebte, unbegreifliche
Weſen nur zu bald verlor, fuͤhlte ich genug¬
ſamen Anlaß, mir ihren Werth zu vergegen¬
waͤrtigen, und ſo entſtand bey mir der Be¬
griff eines dichteriſchen Ganzen, in welchem
es moͤglich geweſen waͤre, ihre Individualitaͤt
darzuſtellen: allein es ließ ſich dazu keine an¬
dere Form denken als die der Richardſonſchen
Romane. Nur durch das genauſte Detail,
durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig
alle den Character des Ganzen tragen und,
indem ſie aus einer wunderſamen Tiefe her¬
vorſpringen, eine Ahndung von dieſer Tiefe
geben; nur auf ſolche Weiſe haͤtte es einiger¬
maßen gelingen koͤnnen, eine Vorſtellung die¬
ſer merkwuͤrdigen Perſoͤnlichkeit mitzutheilen:
denn die Quelle kann nur gedacht werden,
in ſofern ſie fließt. Aber von dieſem ſchoͤ¬
nen und frommen Vorſatz zog mich, wie von
ſo vielen anderen, der Tumult der Welt zu¬
ruͤck, und nun bleibt mir nichts uͤbrig, als
den Schatten jenes ſeligen Geiſtes nur, wie
durch Huͤlfe eines magiſchen Spiegels, auf
einen Augenblick heranzurufen.
Sie war groß, wohl- und zart gebaut
und hatte etwas Natuͤrlichwuͤrdiges in ihrem
Betragen, das in eine angenehme Weichheit
verſchmolz. Die Zuͤge ihres Geſichts, weder
bedeutend noch ſchoͤn, ſprachen von einem
Weſen, das weder mit ſich einig war, noch
werden konnte. Ihre Augen waren nicht die
ſchoͤnſten, die ich jemals ſah, aber die tief¬
ſten, hinter denen man am meiſten erwartete,
und wenn ſie irgend eine Neigung, eine Lie¬
be ausdruͤckten, einen Glanz hatten ohne Glei¬
chen; und doch war dieſer Ausdruck eigentlich
nicht zaͤrtlich, wie der, der aus dem Herzen
kommt und zugleich etwas Sehnſuͤchtiges und
Verlangendes mit ſich fuͤhrt; dieſer Ausdruck
kam aus der Seele, er war voll und reich,
er ſchien nur geben zu wollen, nicht des Em¬
pfangens zu beduͤrfen.
Was ihr Geſicht aber ganz eigentlich ent¬
ſtellte, ſo daß ſie manchmal wirklich haͤßlich
ausſehen konnte, war die Mode jener Zeit,
welche nicht allein die Stirn entbloͤßte, ſon¬
dern auch alles that, um ſie ſcheinbar oder
wirklich, zufaͤllig oder vorſaͤtzlich zu vergroͤ¬
ßern. Da ſie nun die weiblichſte, reingewoͤlb¬
teſte Stirn hatte und dabey ein Paar ſtarke
ſchwarze Augenbrauen und vorliegende Augen;
ſo entſtand aus dieſen Verhaͤltniſſen ein Con¬
traſt, der einen jeden Fremden fuͤr den erſten
Augenblick wo nicht abſtieß, doch wenigſtens
nicht anzog. Sie empfand es fruͤh, und dieß
Gefuͤhl ward immer peinlicher, je mehr ſie
in die Jahre trat, wo beyde Geſchlechter ei¬
ne unſchuldige Freude empfinden, ſich wechſel¬
ſeitig angenehm zu werden.
Niemanden kann ſeine eigne Geſtalt zu¬
wider ſeyn, der Haͤßlichſte wie der Schoͤnſte
hat das Recht ſich ſeiner Gegenwart zu freu¬
en; und da das Wohlwollen verſchoͤnt, und
ſich Jedermann mit Wohlwollen im Spiegel
beſieht, ſo kann man behaupten, daß Jeder
ſich auch mit Wohlgefallen erblicken muͤſſe,
ſelbſt wenn er ſich dagegen ſtraͤuben wollte.
Meine Schweſter hatte jedoch eine ſo entſchie¬
dene Anlage zum Verſtand, daß ſie hier un¬
moͤglich blind und albern ſeyn konnte; ſie
II. 3
wußte vielmehr vielleicht deutlicher als billig,
daß ſie hinter ihren Geſpielinnen an aͤußerer
Schoͤnheit ſehr weit zuruͤckſtehe, ohne zu ih¬
rem Troſte zu fuͤhlen, daß ſie ihnen an inne¬
ren Vorzuͤgen unendlich uͤberlegen ſey.
Kann ein Frauenzimmer fuͤr den Mangel
von Schoͤnheit entſchaͤdigt werden, ſo war ſie
es reichlich durch das unbegrenzte Vertrauen,
die Achtung und Liebe, welche ſaͤmmtliche
Freundinnen zu ihr trugen; ſie mochten aͤlter
oder juͤnger ſeyn, alle hegten die gleichen Em¬
pfindungen. Eine ſehr angenehme Geſellſchaft
hatte ſich um ſie verſammelt, es fehlte nicht
an jungen Maͤnnern, die ſich einzuſchleichen
wußten, faſt jedes Maͤdchen fand einen Freund;
nur ſie war ohne Haͤlfte geblieben. Freylich,
wenn ihr Aeußeres einigermaßen abſtoßend
war, ſo wirkte das Innere, das hindurch¬
blickte, mehr ablehnend, als anziehend: denn
die Gegenwart einer jeden Wuͤrde weiſt den
andern auf ſich ſelbſt zuruͤck. Sie fuͤhlte es
lebhaft, ſie verbarg mir's nicht, und ihre
Neigung wendete ſich deſto kraͤftiger zu mir.
Der Fall war eigen genug. So wie Ver¬
traute, denen man ein Liebesverſtaͤndniß of¬
fenbart, durch aufrichtige Theilnahme wirklich
Mitliebende werden, ja zu Rivalen heran¬
wachſen und die Neigung zuletzt wohl auf ſich
ſelbſt hinziehen, ſo war es mit uns Geſchwi¬
ſtern: denn indem mein Verhaͤltniß zu Gret¬
chen zerriß, troͤſtete mich meine Schweſter um
deſto ernſtlicher, als ſie heimlich die Zufrie¬
denheit empfand, eine Nebenbuhlerinn losge¬
worden zu ſeyn; und ſo mußte auch ich mit
einer ſtillen Halbſchadenfreude empfinden, wenn
ſie mir Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß
ich der Einzige ſey, der ſie wahrhaft liebe,
ſie kenne und ſie verehre. Wenn ſich nun
bey mir von Zeit zu Zeit der Schmerz uͤber
Gretchens Verluſt erneuerte und ich aus dem
Stegreife zu weinen, zu klagen und mich un¬
gebaͤrdig zu ſtellen anfing, ſo erregte meine
Verzweifelung uͤber das Verlorene bey ihr ei¬
3 *
ne gleichfalls verzweifelnde Ungeduld uͤber das
Niebeſeſſene, Mislungene und Voruͤbergeſtri¬
chene ſolcher jugendlichen Neigungen, daß wir
uns beyde grenzenlos ungluͤcklich hielten, und
um ſo mehr, als in dieſem ſeltſamen Falle
die Vertrauenden ſich nicht in Liebende um¬
wandeln durften.
Gluͤcklicherweiſe miſchte ſich jedoch der wun¬
derliche Liebesgott, der ohne Noth ſo viel
Unheil anrichtet, hier einmal wohlthaͤtig mit
ein, um uns aus aller Verlegenheit zu zie¬
hen. Mit einem jungen Englaͤnder, der ſich
in der Pfeiliſchen Penſion bildete, hatte ich
viel Verkehr. Er konnte von ſeiner Sprache
gute Rechenſchaft geben, ich uͤbte ſie mit ihm
und erfuhr dabey Manches von ſeinem Lande
und Volke. Er ging lange genug bey uns
aus und ein, ohne daß ich eine Neigung zu
meiner Schweſter an ihm bemerkte, doch moch¬
te er ſie im Stillen bis zur Leidenſchaft ge¬
naͤhrt haben: denn endlich erklaͤrte ſich's un¬
verſehens und auf einmal. Sie kannte ihn,
ſie ſchaͤtzte ihn, und er verdiente es. Sie
war oft bey unſeren engliſchen Unterhaltungen
die Dritte geweſen, wir hatten aus ſeinem
Munde uns beyde die Wunderlichkeiten der
engliſchen Ausſprache anzueignen geſucht, und
uns dadurch nicht nur das Beſondere ihres
Tones und Klanges, ſondern ſogar das Be¬
ſonderſte der perſoͤnlichen Eigenheiten unſeres
Lehrers angewoͤhnt, ſo daß es zuletzt ſeltſam
genug klang, wenn wir zuſammen wie aus
Einem Munde zu reden ſchienen. Seine Be¬
muͤhung, von uns auf gleiche Weiſe ſo viel
vom Deutſchen zu lernen, wollte nicht gelin¬
gen, und ich glaube bemerkt zu haben, daß
auch jener kleine Liebeshandel, ſowohl ſchrift¬
lich als muͤndlich, in engliſcher Sprache durch¬
gefuͤhrt wurde. Beyde junge Perſonen ſchick¬
ten ſich recht gut fuͤr einander: er war groß
und wohlgebaut, wie ſie, nur noch ſchlanker;
ſein Geſicht, klein und eng beyſammen, haͤtte
wirklich huͤbſch ſeyn koͤnnen, waͤre es durch
die Blattern nicht allzuſehr entſtellt geweſen;
ſein Betragen war ruhig, beſtimmt, man
durfte es wohl manchmal trocken und kalt
nennen; aber ſein Herz war voll Guͤte und
Liebe, ſeine Seele voll Edelmuth und ſeine
Neigungen ſo dauernd als entſchieden und
gelaſſen. Nun zeichnete ſich dieſes ernſte Paar,
das ſich erſt neuerlich zuſammengefunden hat¬
te, unter den anderen ganz eigen aus, die
ſchon mehr mit einander bekannt, von leich¬
teren Characteren, ſorglos wegen der Zukunft,
ſich in jenen Verhaͤltniſſen leichtſinnig herum¬
trieben, die gewoͤhnlich nur als ein fruchtlo¬
ſes Vorſpiel kuͤnftiger ernſterer Verbindungen
voruͤbergehen, und ſehr ſelten eine dauernde
Folge auf das Leben bewirken.
Die gute Jahrszeit, die ſchoͤne Gegend
blieb fuͤr eine ſo muntere Geſellſchaft nicht
unbenutzt; Waſſerfahrten ſtellte man haͤufig
an, weil dieſe die geſelligſten von allen Luſt¬
partieen ſind. Wir mochten uns jedoch zu
Waſſer oder zu Lande bewegen, ſo zeigten
ſich gleich die einzelnen anziehenden Kraͤfte;
jedes Paar ſchloß ſich zuſammen, und fuͤr ei¬
nige Maͤnner, die nicht verſagt waren, wor¬
unter ich auch gehoͤrte, blieb entweder gar
keine weibliche Unterhaltung, oder eine ſolche,
die man an einem luſtigen Tage nicht wuͤrde
gewaͤhlt haben. Ein Freund, der ſich in glei¬
chem Falle befand, und dem es an einer Haͤlf¬
te hauptſaͤchlich deswegen ermangeln mochte,
weil es ihm, bey dem beſten Humor, an
Zaͤrtlichkeit, und bey viel Verſtand, an jener
Aufmerkſamkeit fehlte, ohne welche ſich Ver¬
bindungen ſolcher Art nicht denken laſſen; die¬
ſer, nachdem er oͤfters ſeinen Zuſtand launig
und geiſtreich beklagt, verſprach, bey der naͤch¬
ſten Verſammlung einen Vorſchlag zu thun,
wodurch ihm und dem Ganzen geholfen wer¬
den ſollte. Auch verfehlte er nicht ſein Ver¬
ſprechen zu erfuͤllen: denn als wir, nach ei¬
ner glaͤnzenden Waſſerfahrt und einem ſehr
anmuthigen Spazirgang, zwiſchen ſchattigen
Huͤgeln gelagert im Gras, oder ſitzend auf
bemooſten Felſen und Baumwurzeln, heiter
und froh ein laͤndliches Mahl verzehrt hat¬
ten, und uns der Freund alle heiter und gu¬
ter Dinge ſah, gebot er mit ſchalkhafter Wuͤr¬
de, einen Halbkreis ſitzend zu ſchließen, vor
den er hintrat und folgendermaßen emphatiſch
zu peroriren anfing:
„Hoͤchſt werthe Freunde und Freundinnen,
Gepaarte und Ungepaarte! — Schon aus
dieſer Anrede erhellet, wie noͤthig es ſey, daß
ein Bußprediger auftrete und der Geſellſchaft
das Gewiſſen ſchaͤrfe. Ein Theil meiner ed¬
len Freunde iſt gepaart, und mag ſich dabey
ganz wohl befinden, ein anderer ungepaart,
der befindet ſich hoͤchſt ſchlecht, wie ich aus
eigner Erfahrung verſichern kann; und wenn
nun gleich die lieben Gepaarten hier die Mehr¬
zahl ausmachen, ſo gebe ich ihnen doch zu be¬
denken, ob es nicht eben geſellige Pflicht ſey,
fuͤr alle zu ſorgen? Warum vereinigen wir
uns zahlreich? als um an einander wechſelſei¬
tig Theil zu nehmen; und wie kann das ge¬
ſchehen ? wenn ſich in unſerem Kreiſe wieder
ſo viele kleine Abſonderungen bemerken laſſen.
Weit entfernt bin ich, etwas gegen ſo ſchoͤne
Verhaͤltniſſe meynen, oder nur daran ruͤhren
zu wollen; aber alles hat ſeine Zeit ! ein ſchoͤ¬
nes, großes Wort, woran freylich Niemand
denkt, wenn ihm fuͤr Zeitvertreib hinreichend
geſorgt iſt.“
Er fuhr darauf immer lebhafter und luſti¬
ger fort, die geſelligen Tugenden den zaͤrtli¬
chen Empfindungen gegenuͤberzuſtellen. Dieſe,
ſagte er, koͤnnen uns niemals fehlen, wir tra¬
gen ſie immer bey uns, und Jeder wird dar¬
in leicht ohne Uebung ein Meiſter; aber jene
muͤſſen wir aufſuchen, wir muͤſſen uns um
ſie bemuͤhen, und wir moͤgen darin ſo viel
wir wollen fortſchreiten, ſo lernt man ſie doch
niemals ganz aus. — Nun ging er ins Be¬
ſondere. Mancher mochte ſich getroffen fuͤh¬
len, und man konnte nicht unterlaſſen, ſich
unter einander anzuſehen; doch hatte der
Freund das Privilegium, daß man ihm nichts
uͤbel nahm, und ſo konnte er ungeſtoͤrt fort¬
fahren.
„Die Maͤngel aufdecken iſt nicht genug;
ja man hat Unrecht ſolches zu thun, wenn
man nicht zugleich das Mittel zu dem beſſe¬
ren Zuſtande anzugeben weiß. Ich will Euch,
meine Freunde, daher nicht etwa, wie ein
Charwochenprediger, zur Buße und Beſſerung
im Allgemeinen ermahnen, vielmehr wuͤnſche
ich ſaͤmmtlichen liebenswuͤrdigen Paaren das
laͤngſte und dauerhafteſte Gluͤck, und um hie¬
zu ſelbſt auf das ſicherſte beyzutragen, thue
ich den Vorſchlag, fuͤr unſere geſelligen Stun¬
den dieſe kleinen allerliebſten Abſonderungen
zu trennen und aufzuheben. Ich habe, fuhr
er fort, ſchon fuͤr die Ausfuͤhrung geſorgt,
wenn ich Beyfall finden ſollte. Hier iſt ein
Beutel, in dem die Namen der Herren be¬
findlich ſind; ziehen Sie nun, meine Schoͤ¬
nen, und laſſen Sie Sich's gefallen, denje¬
nigen auf acht Tage als Diener zu beguͤnſti¬
gen, den Ihnen das Loos zuweiſt. Dieß
gilt nur innerhalb unſeres Kreiſes; ſobald er
aufgehoben iſt, ſind auch dieſe Verbindungen
aufgehoben, und wer Sie nach Hauſe fuͤhren
ſoll, mag das Herz entſcheiden.“
Ein großer Theil der Geſellſchaft war uͤber
dieſe Anrede und die Art, wie er ſie vortrug,
froh geworden und ſchien den Einfall zu bil¬
ligen; einige Paare jedoch ſahen vor ſich hin,
als glaubten ſie dabey nicht ihre Rechnung
zu finden: deshalb rief er mit launiger Hef¬
tigkeit:
„Fuͤrwahr! es uͤberraſcht mich, daß nicht
Jemand aufſpringt, und obgleich noch andere
zaudern, meinen Vorſchlag anpreiſt, deſſen
Vortheile auseinanderſetzt, und mir erſpart
mein eigner Lobredner zu ſeyn. Ich bin der
Aelteſte unter Ihnen; das mir Gott verzeihe!
Schon habe ich eine Glatze, daran iſt mein
großes Nachdenken Schuld.“ —
Hier nahm er den Hut ab —
„Aber ich wuͤrde ſie mit Freuden und Eh¬
ren zur Schau ſtellen, wenn meine eignen
Ueberlegungen, die mir die Haut austrocknen
und mich des ſchoͤnſten Schmucks berauben,
nur auch mir und Anderen einigermaßen foͤr¬
derlich ſeyn koͤnnten. Wir ſind jung, meine
Freunde, das iſt ſchoͤn; wir werden aͤlter
werden, das iſt dumm; wir nehmen uns un¬
ter einander wenig uͤbel, das iſt huͤbſch und
der Jahreszeit gemaͤß. Aber bald, meine
Freunde, werden die Tage kommen, wo wir
uns ſelbſt manches uͤbel zu nehmen haben:
da mag denn jeder ſehen, wie er mit ſich zu¬
rechte kommt; aber zugleich werden uns andre
manches uͤbel nehmen, und zwar wo wir
es gar nicht begreifen; darauf muͤſſen wir
uns vorbereiten, und dieſes ſoll nunmehr ge¬
ſchehen.“
Er hatte die ganze Rede, beſonders aber
die letzte Stelle, mit Ton und Gebaͤrden eines
Kapuziners vorgetragen: denn da er catholiſch
war, ſo mochte er genugſame Gelegenheit ge¬
habt haben, die Redekunſt dieſer Vaͤter zu
ſtudiren. Nun ſchien er außer Athem, trock¬
nete ſein jung-kahles Haupt, das ihm wirk¬
lich das Anſehen eines Pfaffen gab, und ſetz¬
te durch dieſe Poſſen die leichtgeſinnte Socie¬
taͤt in ſo gute Laune, daß Jedermann be¬
gierig war ihn weiter zu hoͤren. Allein an¬
ſtatt fortzufahren, zog er den Beutel und
wendete ſich zur naͤchſten Dame: „Es kommt
auf einen Verſuch an! rief er aus, das Werk
wird den Meiſter loben. Wenn es in acht
Tagen nicht gefaͤllt, ſo geben wir es auf und
es mag bey dem Alten bleiben!“
Halb willig, halb genoͤthigt zogen die Da¬
men ihre Roͤllchen, und gar leicht bemerkte
man, daß bey dieſer geringen Handlung man¬
cherley Leidenſchaften im Spiel waren. Gluͤck¬
licherweiſe traf ſich's, daß die Heitergeſinnten
getrennt wurden, die Ernſteren zuſammenblie¬
ben; und ſo behielt auch meine Schweſter ih¬
ren Englaͤnder, welches ſie beyderſeits dem
Gott der Liebe und des Gluͤcks ſehr gut auf¬
nahmen. Die neuen Zufallspaare wurden ſo¬
gleich von dem Antiſtes zuſammengegeben, auf
ihre Geſundheit getrunken und allen um ſo
mehr Freude gewuͤnſcht, als ihre Dauer nur
kurz ſeyn ſollte. Gewiß aber war dieß der
heiterſte Moment, den unſere Geſellſchaft ſeit
langer Zeit genoſſen. Die jungen Maͤnner,
denen kein Frauenzimmer zu Theil geworden,
erhielten nunmehr das Amt, dieſe Woche uͤber
fuͤr Geiſt, Seele und Leib zu ſorgen, wie
ſich unſer Redner ausdruͤckte, beſonders aber,
meynte er, fuͤr die Seele, weil die beyden an¬
deren ſich ſchon eher ſelbſt zu helfen wuͤßten.
Die Vorſteher, die ſich gleich Ehre ma¬
chen wollten, brachten ganz artige neue Spie¬
le ſchnell in Gang, bereiteten in einiger Fer¬
ne eine Abendkoſt, auf die man nicht gerech¬
net hatte, illuminirten bey unſerer naͤchtlichen
Ruͤckkehr die Jacht, ob es gleich, bey dem
hellen Mondſchein, nicht noͤthig geweſen waͤ¬
re; ſie entſchuldigten ſich aber damit, daß es
der neuen geſelligen Einrichtung ganz gemaͤß
ſey, die zaͤrtlichen Blickt des himmliſchen
Mondes durch irdiſche Lichter zu uͤberſcheinen.
In dem Augenblick als wir ans Land ſtie¬
gen, rief unſer Solon: „ite missa est!“ ein
Jeder fuͤhrte die ihm durch's Loos zugefalle¬
ne Dame noch aus dem Schiffe und uͤbergab
ſie alsdann ihrer eigentlichen Haͤlfte, wogegen
er ſich wieder die ſeinige eintauſchte.
Bey der naͤchſten Zuſammenkunft ward
dieſe woͤchentliche Einrichtung fuͤr den Som¬
mer feſtgeſetzt und die Verlooſung abermals
vorgenommen. Es war keine Frage, daß
durch dieſen Scherz eine neue und unerwar¬
tete Wendung in die Geſellſchaft kam, und ein
Jeder angeregt ward, was ihm von Geiſt
und Anmuth beywohnte an den Tag zu brin¬
gen und ſeiner augenblicklichen Schoͤnen auf
das verbindlichſte den Hof zu machen, indem
er ſich wohl zutraute, wenigſtens fuͤr eine
Woche genugſamen Vorrath zu Gefaͤlligkeiten
zu haben.
Man hatte ſich kaum eingerichtet, als
man unſerem Redner, ſtatt ihm zu danken,
den Vorwurf machte, er habe das Beſte ſei¬
ner Rede, den Schluß, fuͤr ſich behalten. Er
verſicherte darauf, das Beſte einer Rede ſey
die Ueberredung, und wer nicht zu uͤberreden
gedenke, muͤſſe gar nicht reden: denn mit der
Ueberzeugung ſey es eine mißliche Sache.
Als man ihm demohngeachtet keine Ruhe
ließ, begann er ſogleich eine Kapuzinade, fra¬
tzenhafter als je, vielleicht gerade darum, weil
er die ernſthafteſten Dinge zu ſagen gedachte.
Er fuͤhrte naͤmlich mit Spruͤchen aus der Bi¬
bel, die nicht zur Sache paßten, mit Gleich¬
niſſen, die nicht trafen, mit Anſpielungen,
die nichts erlaͤuterten, den Satz aus, daß
wer ſeine Leidenſchaften, Neigungen, Wuͤn¬
ſche, Vorſaͤtze, Plane nicht zu verbergen wiſ¬
ſe, in der Welt zu nichts komme, ſondern
aller Orten und Enden geſtoͤrt und zum Be¬
ſten gehabt werde; vorzuͤglich aber, wenn man
in der Liebe gluͤcklich ſeyn wolle, habe man
ſich des tiefſten Geheimniſſes zu befleißigen.
Dieſer Gedanke ſchlang ſich durch das
Ganze durch, ohne daß eigentlich ein Wort
davon waͤre ausgeſprochen worden. Will man
ſich einen Begriff von dieſem ſeltſamen Men¬
ſchen machen, ſo bedenke man, daß er mit
viel Anlage geboren, ſeine Talente und be¬
ſonders ſeinen Scharfſinn in Jeſuiterſchulen
ausgebildet und eine große Welt- und Men¬
ſchenkenntniß, aber nur von der ſchlimmen
Seite, zuſammengewonnen hatte. Er war
II. 4
etwa zwey und zwanzig Jahr alt, und haͤtte
mich gern zum Proſelyten ſeiner Menſchen¬
verachtung gemacht; aber es wollte nicht bey
mir greifen, denn ich hatte noch immer gro¬
ße Luſt, gut zu ſeyn und Andere gut zu fin¬
den. Indeſſen bin ich durch ihn auf vieles
aufmerkſam geworden.
Das Perſonal einer jeden heiteren Geſell¬
ſchaft vollſtaͤndig zu machen gehoͤrt nothwen¬
dig ein Acteur, welcher Freude daran hat,
wenn die Uebrigen, um ſo manchen gleich¬
guͤltigen Moment zu beleben, die Pfeile des
Witzes gegen ihn richten moͤgen. Iſt er nicht
bloß ein ausgeſtopfter Sarazene, wie derjeni¬
ge, an dem bey Luſtkaͤmpfen die Ritter ihre
Lanzen uͤbten, ſondern verſteht er ſelbſt zu
ſcharmuziren, zu necken und aufzufordern,
leicht zu verwunden und ſich zuruͤckzuziehen,
und, indem er ſich Preis zu geben ſcheint,
Anderen eins zu verſetzen, ſo kann nicht wohl
etwas Anmuthigeres gefunden werden. Einen
ſolchen beſaßen wir an unſerem Freund Horn,
deſſen Name ſchon zu allerley Scherzen An¬
laß gab und der, wegen ſeiner kleinen Ge¬
ſtalt, immer nur Hoͤrnchen genannt wurde.
Er war wirklich der Kleinſte in der Geſell¬
ſchaft, von derben, aber gefaͤlligen Formen;
eine Stumpfnaſe, ein etwas aufgeworfener
Mund, kleine funkelnde Augen bildeten ein
ſchwarzbraunes Geſicht, das immer zum La¬
chen aufzufordern ſchien. Sein kleiner ge¬
drungener Schaͤdel war mit krauſen ſchwar¬
zen Haaren reich beſetzt, ſein Bart fruͤhzeitig
blau, den er gar zu gern haͤtte wachſen laſ¬
ſen, um als comiſche Maske die Geſellſchaft
immer im Lachen zu erhalten. Uebrigens
war er nett und behend, behauptete aber
krumme Beine zu haben, welches man ihm
zugab, weil er es gern ſo wollte, woruͤber
denn mancher Scherz entſtand: denn weil er
als ein ſehr guter Taͤnzer geſucht wurde, ſo
rechnete er es unter die Eigenheiten des Frau¬
enzimmers, daß ſie die krummen Beine im¬
4 *
mer auf dem Plane ſehen wollten. Seine
Heiterkeit war unverwuͤſtlich und ſeine Gegen¬
wart bey jeder Zuſammenkunft unentbehrlich.
Wir beyde ſchloſſen uns um ſo enger an ein¬
ander, als er mir auf die Academie folgen
ſollte; und er verdient wohl, daß ich ſeiner
in allen Ehren gedenke, da er viele Jahre
mit unendlicher Liebe, Treue und Geduld an
mir gehalten hat.
Durch meine Leichtigkeit zu reimen und
gemeinen Gegenſtaͤnden eine poetiſche Seite
abzugewinnen, hatte er ſich gleichfalls zu ſol¬
chen Arbeiten verfuͤhren laſſen. Unſere klei¬
nen geſelligen Reiſen, Luſtpartieen und die
dabey vorkommenden Zufaͤlligkeiten ſtutzten wir
poetiſch auf, und ſo entſtand durch die Schil¬
derung einer Begebenheit immer eine neue
Begebenheit. Weil aber gewoͤhnlich derglei¬
chen geſellige Scherze auf Verſpottung hin¬
auslaufen, und Freund Horn mit ſeinen bur¬
lesken Darſtellungen nicht immer in den ge¬
hoͤrigen Grenzen blieb; ſo gab es manchmal
Verdruß, der aber bald wieder gemildert und
getilgt werden konnte.
So verſuchte er ſich auch in einer Dich¬
tungsart, welche ſehr an der Tagesordnung
war, im comiſchen Heldengedicht. Pope's
Lockenraub hatte viele Nachahmungen erweckt;
Zachariaͤ cultivirte dieſe Dichtart auf deutſchem
Grund und Boden, und Jedermann gefiel
ſie, weil der gewoͤhnliche Gegenſtand derſel¬
ben irgend ein taͤppiſcher Menſch war, den
die Genien zum Beſten hatten, indem ſie den
beſſeren beguͤnſtigten.
Es iſt nicht wunderbar, aber es erregt
doch Verwunderung, wenn man bey Betrach¬
tung einer Litteratur, beſonders der deutſchen,
beobachtet, wie eine ganze Nation von einem
einmal gegebenen und in einer gewiſſen Form
mit Gluͤck behandelten Gegenſtand nicht wie¬
der loskommen kann, ſondern ihn auf alle
Weiſe wiederholt haben will; da denn zuletzt,
unter den angehaͤuften Nachahmungen, das
Original ſelbſt verdeckt und erſtickt wird.
Das Heldengedicht meines Freundes war
ein Beleg zu dieſer Bemerkung. Bey einer
großen Schlittenfahrt wird einem taͤppiſchen
Menſchen ein Frauenzimmer zu Theil, das
ihn nicht mag; ihm begegnet neckiſch genug
ein Ungluͤck nach dem andern, das bey einer
ſolchen Gelegenheit ſich ereignen kann, bis er
zuletzt, als er ſich das Schlittenrecht erbittet,
von der Pritſche faͤllt, wobey ihm denn, wie
natuͤrlich, die Geiſter ein Bein geſtellt haben.
Die Schoͤne ergreift die Zuͤgel und faͤhrt al¬
lein nach Hauſe; ein beguͤnſtigter Freund em¬
pfaͤngt ſie und triumphirt uͤber den anmaßli¬
chen Nebenbuhler. Uebrigens war es ſehr
artig ausgedacht, wie ihn die vier verſchiede¬
nen Geiſter nach und nach beſchaͤdigen, bis
ihn endlich die Gnomen gar aus dem Sattel
heben. Das Gedicht, in Alexandrinern ge¬
ſchrieben, auf eine wahre Geſchichte gegruͤn¬
det, ergetzte unſer kleines Publicum gar ſehr,
und man war uͤberzeugt, daß es ſich mit der
Walpurgisnacht von Loͤven, oder dem
Renommiſten von Zachariaͤ gar wohl
meſſen koͤnne.
Indem nun unſere geſelligen Freuden nur
einen Abend und die Vorbereitungen dazu
wenige Stunden erforderten, ſo hatte ich Zeit
genug zu leſen und, wie ich glaubte, zu ſtu¬
diren. Meinem Vater zu Liebe repetirte ich
fleißig den kleinen Hopp, und konnte mich
vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts darin examiniren laſ¬
ſen, wodurch ich mir denn den Hauptinhalt
der Inſtitutionen vollkommen zu eigen machte.
Allein unruhige Wißbegierde trieb mich wei¬
ter, ich gerieth in die Geſchichte der alten Lit¬
teratur und von da in einen Encyclopaͤdismus,
indem ich Geßners Iſagoge und Mor¬
hovs Polyhiſtor durchlief, und mir dadurch
einen allgemeinen Begriff erwarb, wie man¬
ches Wunderliche in Lehr und Leben ſchon
mochte vorgekommen ſeyn. Durch dieſen an¬
haltenden und haſtigen, Tag und Nacht fort¬
geſetzten Fleiß verwirrte ich mich eher als ich
mich bildete; ich verlor mich aber in ein noch
groͤßeres Labyrinth, als ich Bayle'n in mei¬
nes Vaters Bibliothek fand und mich in den¬
ſelben vertiefte.
Eine Hauptuͤberzeugung aber, die ſich im¬
mer in mir erneuerte, war die Wichtigkeit
der alten Sprachen: denn ſo viel draͤngte ſich
mir aus dem litterariſchen Wirrwarr immer
wieder entgegen, daß in ihnen alle Muſter
der Redekuͤnſte und zugleich alles andere Wuͤr¬
dige, was die Welt jemals beſeſſen, aufbe¬
wahrt ſey. Das Hebraͤiſche ſo wie die bibli¬
ſchen Studien waren in den Hintergrund ge¬
treten, das Griechiſche gleichfalls, da meine
Kenntniſſe deſſelben ſich nicht uͤber das neue
Teſtament hinaus erſtreckten. Deſto ernſtli¬
cher hielt ich mich ans Lateiniſche, deſſen
Muſterwerke uns naͤher liegen und das uns,
nebſt ſo herrlichen Originalproductionen, auch
den uͤbrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberſe¬
tzungen und Werken der groͤßten Gelehrten
darbietet. Ich las daher viel in dieſer Spra¬
che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬
ben die Autoren zu verſtehen, weil mir am
buchſtaͤblichen Sinne nichts abging. Ja es
verdroß mich gar ſehr, als ich vernahm, Gro¬
tius habe uͤbermuͤthig geaͤußert, er leſe den
Terenz anders als die Knaben. Gluͤckliche
Beſchraͤnkung der Jugend! ja der Menſchen
uͤberhaupt, daß ſie ſich in jedem Augenblicke
ihres Daſeyns fuͤr vollendet halten koͤnnen,
und weder nach Wahrem noch Falſchen, we¬
der nach Hohem noch Tiefen fragen, ſon¬
dern bloß nach dem, was ihnen gemaͤß iſt.
So hatte ich denn das Lateiniſche gelernt,
wie das Deutſche, das Franzoͤſiſche, das Eng¬
liſche, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel
und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬
ſtand des Schulunterrichts kennt, wird nicht
ſeltſam finden, daß ich die Grammatik uͤber¬
ſprang, ſo wie die Redekunſt: mir ſchien al¬
les natuͤrlich zuzugehen, ich behielt die Wor¬
te, ihre Bildungen und Umbildungen in Ohr
und Sinn, und bediente mich der Sprache
mit Leichtigkeit zum Schreiben und Schwaͤtzen.
Michael, die Zeit, da ich die Academie
beſuchen ſollte, ruͤckte heran, und mein In¬
neres ward eben ſo ſehr vom Leben als von
der Lehre bewegt. Eine Abneigung gegen
meine Vaterſtadt ward mir immer deutlicher.
Durch Gretchens Entfernung war der Kna¬
ben- und Juͤnglingspflanze das Herz ausge¬
brochen; ſie brauchte Zeit, um an den Seiten
wieder auszuſchlagen und den erſten Schaden
durch neues Wachsthum zu uͤberwinden. Mei¬
ne Wanderungen durch die Straßen hatten
aufgehoͤrt, ich ging nur, wie Andere, die noth¬
wendigen Wege. Nach Gretchens Viertel kam
ich nie wieder, nicht einmal in die Gegend;
und wie mir meine alten Mauern und Thuͤr¬
me nach und nach verleideten, ſo misfiel mir
auch die Verfaſſung der Stadt, alles was
mir ſonſt ſo ehrwuͤrdig vorkam, erſchien mir
in verſchobenen Bildern. Als Enkel des
Schultheißen waren mir die heimlichen Ge¬
brechen einer ſolchen Republik nicht unbekannt
geblieben, um ſo weniger, als Kinder ein
ganz eignes Erſtaunen fuͤhlen und zu emſigen
Unterſuchungen angereizt werden, ſobald ihnen
etwas, das ſie bisher unbedingt verehrt, eini¬
germaßen verdaͤchtig wird. Der vergebliche
Verdruß rechtſchaffener Maͤnner im Wider¬
ſtreit mit ſolchen, die von Parteyen zu gewin¬
nen, wohl gar zu beſtechen ſind, war mir nur
zu deutlich geworden, ich haßte jede Unge¬
rechtigkeit uͤber die Maßen: denn die Kinder
ſind alle moraliſche Rigoriſten. Mein Vater,
in die Angelegenheiten der Stadt nur als
Privatmann verflochten, aͤußerte ſich im Ver¬
druß uͤber manches Mislungene ſehr lebhaft.
Und ſah ich ihn nicht, nach ſo viel Studien.
Bemuͤhungen, Reiſen und mannigfaltiger Bil¬
dung endlich zwiſchen ſeinen Brandmauern ein
einſames Leben fuͤhren, wie ich mir es nicht
wuͤnſchen konnte? Dieß zuſammen lag als eine
entſetzliche Laſt auf meinem Gemuͤthe, von der
ich mich nur zu befreyen wußte, indem ich
mir einen ganz anderen Lebensplan, als den
mir vorgeſchriebenen, zu erſinnen trachtete.
Ich warf in Gedanken die juriſtiſchen Studien
weg und widmete mich allein den Sprachen,
den Alterthuͤmern, der Geſchichte und allem
was daraus hervorquillt.
Zwar machte mir jederzeit die poetiſche
Nachbildung deſſen, was ich an mir ſelbſt,
an Anderen und an der Natur gewahr ge¬
worden, das groͤßte Vergnuͤgen. Ich that
es mit immer wachſender Leichtigkeit, weil es
aus Inſtinct geſchah und keine Kritik mich
irre gemacht hatte; und wenn ich auch meinen
Productionen nicht recht traute, ſo konnte ich
ſie wohl als fehlerhaft, aber nicht als ganz ver¬
werflich anſehen. Ward mir dieſes oder jenes
daran getadelt, ſo blieb es doch im Stillen
meine Ueberzeugung, daß es nach und nach
immer beſſer werden muͤßte, und daß ich wohl
einmal neben Hagedorn, Gellert und anderen
ſolchen Maͤnnern mit Ehre duͤrfte genannt
werden. Aber eine ſolche Beſtimmung allein
ſchien mir allzuleer und unzulaͤnglich; ich woll¬
te mich mit Ernſt zu jenen gruͤndlichen Stu¬
dien bekennen, und indem ich, bey einer voll¬
ſtaͤndigeren Anſicht des Alterthums, in meinen
eigenen Werken raſcher vorzuſchreiten dachte,
mich zu einer academiſchen Lehrſtelle faͤhig ma¬
chen, welche mir das Wuͤnſchenswertheſte ſchien
fuͤr einen jungen Mann, der ſich ſelbſt aus¬
zubilden und zur Bildung Anderer beyzutra¬
gen gedachte.
Bey dieſen Geſinnungen hatte ich immer
Goͤttingen im Auge. Auf Maͤnnern, wie
Heyne, Michaelis und ſo manchem Ande¬
ren ruhte mein ganzes Vertrauen; mein ſehn¬
lichſter Wunſch war, zu ihren Fuͤßen zu ſitzen
und auf ihre Lehren zu merken. Aber mein
Vater blieb unbeweglich. Was auch einige
Hausfreunde, die meiner Meynung waren,
auf ihn zu wirken ſuchten; er beſtand dar¬
auf, daß ich nach Leipzig gehen muͤſſe. Nun
hielt ich den Entſchluß, daß ich, gegen ſei¬
ne Geſinnungen und Willen, eine eigne Stu¬
dien- und Lebensweiſe ergreifen wollte, erſt
recht fuͤr Nothwehr. Die Hartnaͤckigkeit mei¬
nes Vater, der, ohne es zu wiſſen, ſich mei¬
nen Planen entgegenſetzte, beſtaͤrkte mich in
meiner Impietaͤt, daß ich mir gar kein Ge¬
wiſſen daraus machte, ihm Stunden lang
zuzuhoͤren, wenn er mir den Curſus der Stu¬
dien und des Lebens, wie ich ihn auf Aca¬
demieen und in der Welt zu durchlaufen haͤt¬
te, vorerzaͤhlte und wiederholte.
Da mir alle Hoffnung nach Goͤttingen
abgeſchnitten war, wendete ich nun meinen
Blick nach Leipzig. Dort erſchien mir Er¬
neſti als ein helles Licht, auch Morus er¬
regte ſchon viel Vertrauen. Ich erſann mir
im Stillen einen Gegencurſus, oder vielmehr
ich baute ein Luftſchloß auf einen ziemlich ſo¬
liden Grund; und es ſchien mir ſogar roman¬
tiſch ehrenvoll, ſich ſeine eigne Lebensbahn vor¬
zuzeichnen, die mir um ſo weniger phanta¬
ſtiſch vorkam, als Griesbach auf dem aͤhn¬
lichen Wege ſchon große Fortſchritte gemacht
hatte und deshalb von Jedermann geruͤhmt
wurde. Die heimliche Freude eines Gefange¬
nen, wenn er ſeine Ketten abgeloͤſt und die
Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht
groͤßer ſeyn, als die meine war, indem ich
die Tage ſchwinden und den October heran¬
nahen ſah. Die unfreundliche Jahreszeit, die
boͤſen Wege, von denen Jedermann zu er¬
zaͤhlen wußte, ſchreckten mich nicht. Der
Gedanke, an einem fremden Orte zu Win¬
terszeit Einſtand geben zu muͤſſen, machte
mich nicht truͤbe; genug ich ſah nur meine
gegenwaͤrtigen Verhaͤltniſſe duͤſter, und ſtellte
mir die uͤbrige unbekannte Welt licht und
heiter vor. So bildete ich mir meine Traͤu¬
me, denen ich ausſchließlich nachhing, und
verſprach mir in der Ferne nichts als Gluͤck
und Zufriedenheit.
So ſehr ich auch gegen Jedermann von
dieſen meinen Vorſaͤtzen ein Geheimniß mach¬
te, ſo konnte ich ſie doch meiner Schweſter
nicht verbergen, die, nachdem ſie Anfangs dar¬
uͤber ſehr erſchrocken war, ſich zuletzt beru¬
higte, als ich ihr verſprach ſie nachzuholen,
damit ſie ſich meines erworbenen glaͤnzenden
Zuſtandes mit mir erfreuen und an meinem
Wohlbehagen Theil nehmen koͤnnte.
Michael kam endlich, ſehnlich erwartet,
heran, da ich denn mit dem Buchhaͤndler Flei¬
ſcher und deſſen Gattinn, einer geborenen
Triller, welche ihren Vater in Wittenberg
beſuchen wollte, mit Vergnuͤgen abfuhr, und
die werthe Stadt, die mich geboren und er¬
zogen, gleichguͤltig hinter mir ließ, als wenn
ich ſie nie wieder betreten wollte.
So loͤſen ſich in gewiſſen Epochen Kinder
von Aeltern, Diener von Herren, Beguͤnſtigte
von Goͤnnern los, und ein ſolcher Verſuch,
ſich auf ſeine Fuͤße zu ſtellen, ſich unabhaͤn¬
gig zu machen, fuͤr ſein eigen Selbſt zu leben,
er gelinge oder nicht, iſt immer dem Wil¬
len der Natur gemaͤß.
Wir waren zur Allerheiligen-Pforte hin¬
ausgefahren und hatten bald Hanau hinter
uns, da ich denn zu Gegenden gelangte, die
durch ihre Neuheit meine Aufmerkſamkeit er¬
regten, wenn ſie auch in der jetzigen Jahrszeit
wenig Erfreuliches darboten. Ein anhaltender
Regen hatte die Wege aͤußert verdorben, welche
uͤberhaupt noch nicht in den guten Stand ge¬
ſetzt waren, in welchem wir ſie nachmals finden;
und unſere Reiſe war daher weder angenehm
II. 5
noch gluͤcklich. Doch verdankte ich dieſer feuch¬
ten Witterung den Anblick eines Naturphaͤno¬
mens, das wohl hoͤchſt ſelten ſeyn mag; denn
ich habe nichts Aehnliches jemals wieder geſehen,
noch auch von Anderen, daß ſie es gewahrt haͤt¬
ten, vernommen. Wir fuhren naͤmlich zwiſchen
Hanau und Gellenhauſen bey Nachtzeit eine
Anhoͤhe hinauf, und wollten, ob es gleich fin¬
ſter war, doch lieber zu Fuße gehen, als uns
der Gefahr und Beſchwerlichkeit dieſer Weg¬
ſtrecke ausſetzen. Auf einmal ſah ich an der
rechten Seite des Wegs, in einer Tiefe eine
Art von wunderſam erleuchteten Amphitheater.
Es blinkten naͤmlich in einem trichterfoͤrmigen
Raume unzaͤhlige Lichtchen ſtufenweiſe uͤber
einander, und leuchteten ſo lebhaft, daß das
Auge davon geblendet wurde. Was aber den
Blick noch mehr verwirrte, war, daß ſie nicht
etwa ſtill ſaßen, ſondern hin und wieder huͤpf¬
ten, ſowohl von oben nach unten, als umge¬
kehrt und nach allen Seiten. Die meiſten
jedoch blieben ruhig und flimmerten fort. Nur
hoͤchſt ungern ließ ich mich von dieſem Schau¬
ſpiel abrufen, das ich genauer zu beobachten
gewuͤnſcht haͤtte. Auf Befragen wollte der
Poſtillon zwar von einer ſolchen Erſcheinung
nichts wiſſen, ſagte aber, daß in der Naͤhe
ſich ein alter Steinbruch befinde, deſſen mitt¬
lere Vertiefung mit Waſſer angefuͤllt ſey. Ob
dieſes nun ein Pandaͤmonium von Irrlichtern
oder eine Geſellſchaft von leuchtenden Geſchoͤp¬
fen geweſen, will ich nicht entſcheiden.
Durch Thuͤringen wurden die Wege noch
ſchlimmer, und leider blieb unſer Wagen in der
Gegend von Auerſtaͤdt bey einbrechender Nacht
ſtecken. Wir waren von allen Menſchen ent¬
fernt, und thaten das Moͤgliche uns los zu
arbeiten. Ich ermangelte nicht, mich mit Ei¬
fer anzuſtrengen, und mochte mir dadurch die
Baͤnder der Bruſt uͤbermaͤßig ausgedehnt ha¬
ben; denn ich empfand bald nachher einen
Schmerz, der verſchwand und wiederkehrte
und erſt nach vielen Jahren mich voͤllig verließ.
5 *
Doch ſollte ich noch in derſelbigen Nacht,
als wenn ſie recht zu abwechſelnden Schickſa¬
len beſtimmt geweſen waͤre, nach einem uner¬
wartet gluͤcklichen Ereigniß, einen neckiſchen
Verdruß empfinden. Wir trafen naͤmlich in
Auerſtaͤdt ein vornehmes Ehepaar, das, durch
aͤhnliche Schickſale verſpaͤtet, eben auch erſt
angekommen war; einen anſehnlichen wuͤrdigen
Mann in den beſten Jahren mit einer ſehr
ſchoͤnen Gemahlinn. Zuvorkommend veranla߬
ten ſie uns, in ihrer Geſellſchaft zu ſpeiſen,
und ich fand mich ſehr gluͤcklich, als die treff¬
liche Dame ein freundliches Wort an mich wen¬
den wollte. Als ich aber hinausgeſandt ward,
die gehoffte Suppe zu beſchleunigen, uͤberfiel
mich, der ich freylich des Wachens und der
Reiſebeſchwerden nicht gewohnt war, eine ſo
unuͤberwindliche Schlafſucht, daß ich ganz ei¬
gentlich im Gehen ſchlief, mit dem Hut auf
dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich,
ohne zu bemerken, daß die Anderen ihre Tiſch¬
gebet verrichteten, bewußtlos gelaſſen gleich¬
falls hinter den Stuhl ſtellte, und mir nicht
traͤumen ließ, daß ich durch mein Betragen
ihre Andacht auf eine ſehr luſtige Weiſe zu
ſtoͤren gekommen ſey. Madame Fleiſcher, der
es weder an Geiſt und Witz, noch an Zunge
fehlte, erſuchte die Fremden, noch ehe man
ſich ſetzte, ſie moͤchten nicht auffallend finden,
was ſie hier mit Augen ſaͤhen; der junge
Reiſegefaͤhrte habe große Anlange zum Quaͤ¬
ker, welche Gott und den Koͤnig nicht beſſer
zu verehren glaubten, als mit bedecktem Haup¬
te. Die ſchoͤne Dame, die ſich des Lachens
nicht enthalten konnte, ward dadurch nur noch
ſchoͤner, und ich haͤtte alles in der Welt dar¬
um gegeben, nicht Urſache an einer Heiter¬
keit geweſen zu ſeyn, die ihr ſo fuͤrtrefflich zu
Geſicht ſtand. Ich hatte jedoch den Hut kaum
beyſeite gebracht, als die Perſonen, nach ih¬
rer Weltſitte, den Scherz ſogleich fallen lie¬
ßen, und durch den beſten Wein aus ihrem
Flaſchenkeller Schlaf, Mismuth und das An¬
denken an alle vergangenen Uebel voͤllig aus¬
loͤſchten.
Als ich in Leipzig ankam war es gerade
Meßzeit, woraus mir ein beſonderes Vergnuͤ¬
gen entſprang: denn ich ſah hier die Fortſe¬
tzung eines vaterlaͤndiſchen Zuſtandes vor mir,
bekannte Waaren und Verkaͤufer, nur an an¬
deren Plaͤtzen und in einer anderen Folge. Ich
durchſtrich den Markt und die Buden mit vie¬
lem Antheil; beſonders aber zogen meine Auf¬
merkſamkeit an ſich, in ihren ſeltſamen Klei¬
dern, jene Bewohner der oͤſtlichen Gegenden,
die Polen und Ruſſen, vor allen aber die
Griechen, deren anſehnlichen Geſtalten und
wuͤrdigen Kleidungen ich gar oft zu Gefallen
ging.
Dieſe lebhafte Bewegung war jedoch bald
voruͤber, und nun trat mir die Stadt ſelbſt,
mit ihren ſchoͤnen, hohen und unter einander
gleichen Gebaͤuden entgegen. Sie machte ei¬
nen ſehr guten Eindruck auf mich, und es
iſt nicht zu leugnen, daß ſie uͤberhaupt, be¬
ſonders aber in ſtillen Momenten der Sonn-
und Feyertage etwas Impoſantes hat, ſo wie
denn auch im Mondſchien die Straßen, halb
beſchattet, halb erleuchtet, mich oft zu naͤcht¬
lichen Promenaden einluden.
Indeſſen genuͤgte mir gegen das, was ich
bisher gewohnt war, dieſer neue Zuſtand kei¬
neswegs. Leipzig ruft dem Beſchauer keine al¬
terthuͤmliche Zeit zuruͤck; es iſt eine neue, kurz
vergangene, von Handelsthaͤtigkeit, Wohlha¬
benheit, Reichthum zeugende Epoche, die ſich
uns in dieſen Denkmalen ankuͤndet. Jedoch
ganz nach meinem Sinn waren die mir un¬
geheuer ſcheinenden Gebaͤude, die, nach zwey
Straßen ihr Geſicht wendend, in großen,
himmelhoch umbauten Hofraͤumen eine buͤr¬
gerliche Welt umfaſſend, großen Burgen, ja
Halbſtaͤdten aͤhnlich ſind. In einem dieſer ſelt¬
ſamen Raͤume quartierte ich mich ein, und
zwar in der Feuerkugel zwiſchen dem alten
und neuen Neumarkt. Ein Paar artige Zim¬
mer, die in den Hof ſahen, der wegen des
Durchgangs nicht unbelebt war, bewohnte der
Buchhaͤndler Fleiſcher waͤhrend der Meſſe,
und ich fuͤr die uͤbrige Zeit um einen leidlichen
Preis. Als Stubennachbarn fand ich einen
Theologen, der in ſeinem Fache gruͤndlich un¬
terrichtet, wohldenkend, aber arm war, und,
was ihm große Sorge fuͤr die Zukunft mach¬
te, ſehr an den Augen litt. Er hatte ſich
dieſes Uebel durch uͤbermaͤßiges Leſen bis in
die tiefſte Daͤmmerung, ja ſogar, um das
wenige Oel zu erſparen, bey Mondſchein zu¬
gezogen. Unſere alte Wirthinn erzeigte ſich
wohlthaͤtig gegen ihn, gegen mich jederzeit
freundlich, und gegen beyde ſorgſam.
Nun eilte ich mit meinem Empfehlungs¬
ſchreiben zu Hofrath Boͤhme, der, ein Zoͤg¬
ling von Maskow, nunmehr ſein Nachfolger,
Geſchichte, und Staatsrecht lehrte. Ein klei¬
ner, unterſetzter, lebhafter Mann empfing mich
freundlch genug und ſtellte mich ſeiner Gattinn
vor. Beyde, ſo wie die uͤbrigen Perſonen,
denen ich aufwartete, gaben mir die beſte
Hoffnung wegen meines kuͤnftigen Aufenthal¬
tes; doch ließ ich mich anfangs gegen Nie¬
mand merken, was ich im Schilde fuͤhrte,
ob ich gleich den ſchicklichen Moment kaum er¬
warten konnte, wo ich mich von der Juris¬
prudenz frey und dem Studium der Alten ver¬
bunden erklaͤren wollte. Vorſichtig wartete ich
ab, bis Fleiſchers wieder abgereiſt waren, da¬
mit mein Vorſatz nicht allzugeſchwind den Mei¬
nigen verrathen wuͤrde. Sodann aber ging
ich ohne Anſtand zu Hofrath Boͤhmen, dem
ich vor allen die Sache glaubte vertrauen zu
muͤſſen, und erklaͤrte ihm, mit vieler Conſe¬
quenz und Parrheſie, meine Abſicht. Allein
ich fand keineswegs eine gute Aufnahme mei¬
nes Vortrags. Als Hiſtoriker und Staats¬
rechtler hatte er einen erklaͤrten Haß gegen
alles was nach ſchoͤnen Wiſſenſchaften ſchmeck¬
te. Ungluͤcklicher Weiſe ſtand er mit denen,
welche ſie cultivirten, nicht im beſten Verneh¬
men, und Gellerten beſonders, fuͤr den ich,
ungeſchickt genug, viel Zutrauen geaͤußert hat¬
te, konnte er nun gar nicht leiden. Jenen
Maͤnnern alſo einen treuen Zuhoͤrer zuzuwei¬
ſen, ſich ſelbſt aber einen zu entziehen, und
noch dazu unter ſolchen Umſtaͤnden, ſchien
ihm ganz und gar unzulaͤſſig. Er hielt mir
daher aus dem Stegreif eine gewaltige Straf¬
predigt, worin er betheuerte, daß er ohne Er¬
laubniß meiner Aeltern einen ſolchen Schritt
nicht zugeben koͤnne, wenn er ihn auch, wie
hier der Fall nicht ſey, ſelbſt billigte. Er ver¬
unglimpfte darauf leidenſchaftlich Philologie und
Sprachſtudien, noch mehr aber die poetiſchen
Uebungen, die ich freylich im Hintergrunde
hatte durchblicken laſſen. Er ſchloß zuletzt,
daß wenn ich ja dem Studium der Alten mich
naͤhern wolle, ſolches viel beſſer auf dem Wege
der Jurisprudenz geſchehen koͤnne. Er brachte
mir ſo manchen eleganten Juriſten, Eberhard
Otto und Heineccius, ins Gedaͤchtniß, ver¬
ſprach mir von den roͤmiſchen Alterthuͤmern
und der Rechtsgeſchichte goldne Berge, und
zeigte mir ſonnenklar, daß ich hier nicht ein¬
mal einen Umweg mache, wenn ich auch ſpaͤ¬
terhin noch jenen Vorſatz, nach reiferer Ue¬
berlegung und mit Zuſtimmung meiner Ael¬
tern, auszufuͤhren gedaͤchte. Er erſuchte mich
freundlich, die Sache nochmals zu uͤberlegen
und ihm meine Geſinnungen bald zu eroͤffnen,
weil es noͤthig ſey, wegen bevorſtehenden An¬
fangs der Collegien, ſich zunaͤchſt zu ent¬
ſchließen.
Es war noch ganz artig von ihm, nicht
auf der Stelle in mich zu dringen. Seine
Argumente und das Gewicht, womit er ſie
vortrug, hatten meine biegſame Jugend ſchon
uͤberzeugt, und ich ſah nun erſt die Schwierig¬
keiten und Bedenklichkeiten einer Sache, die
ich mir im Stillen ſo thulich ausgebildet hat¬
te. Frau Hofrath Boͤhme ließ mich kurz
darauf zu ſich einladen. Ich fand ſie allein.
Sie war nicht mehr jung und ſehr kraͤnklich,
unendlich ſanft und zart, und machte gegen
ihren Mann, deſſen Gutmuͤthigkeit ſogar pol¬
terte, einen entſchiedenen Contraſt. Sie brach¬
te mich auf das von ihrem Manne neulich
gefuͤhrte Geſpraͤch, und ſtellte mir die Sache
nochmals ſo freundlich, liebevoll und verſtaͤn¬
dig im ganzen Umfange vor, daß ich mich
nicht enthalten konnte nachzugeben; die we¬
nigen Reſervationen, auf denen ich beſtand,
wurden von jener Seite denn auch bewilligt.
Der Gemahl regulirte darauf meine Stun¬
den: da ſollte ich denn Philoſophie, Rechts¬
geſchichte und Inſtitutionen und noch einiges
andere hoͤren. Ich ließ mir das gefallen;
doch ſetzte ich durch. Gellerts Litterargeſchich¬
te uͤber Stockhauſen, und außerdem ſein Prac¬
ticum zu frequentiren.
Die Verehrung und Liebe, welche Gel¬
lert von allen jungen Leuten genoß, war
außerordentlich. Ich hatte ihn ſchon beſucht
und war freundlich von ihm aufgenommen
worden. Nicht groß von Geſtalt, zierlich
aber nicht hager, ſanfte, eher traurige Augen,
eine ſehr ſchoͤne Stirn, eine nicht uͤbertriebene
Habichtsnaſe, einen feinen Mund, ein gefaͤl¬
liges Oval des Geſichts; alles machte ſeine
Gegenwart angenehm und wuͤnſchenswerth.
Es koſtete einige Muͤhe, zu ihm zu gelangen.
Seine zwey Famuli ſchienen Prieſter, die ein
Heiligthum bewahren, wozu nicht jedem, noch
zu jeder Zeit, der Zutritt erlaubt iſt; und ei¬
ne ſolche Vorſicht war wohl nothwendig: denn
er wuͤrde ſeinen ganzen Tag aufgeopfert ha¬
ben, wenn er alle die Menſchen, die ſich ihm
vertraulich zu naͤhern gedachten, haͤtte auf¬
nehmen und befriedigen wollen.
Meine Collegia beſuchte ich Anfangs em¬
ſig und treulich; die Philoſophie wollte mich
jedoch keineswegs aufklaͤren. In der Logik
kam es mir wunderlich vor, daß ich diejeni¬
gen Geiſtesoperationen, die ich von Jugend
auf mit der groͤßten Bequemlichkeit verrichte¬
te, ſo aus einander zerren, vereinzelnen und
gleichſam zerſtoͤren ſollte, um den rechten Ge¬
brauch derſelben einzuſehen. Von dem Din¬
ge, von der Welt, von Gott glaubte ich
ohngefaͤhr ſo viel zu wiſſen als der Lehrer
ſelbſt, und es ſchien mir an mehr als einer
Stelle gewaltig zu hapern. Doch ging al¬
les noch in ziemlicher Folge bis gegen Faſt¬
nacht, wo in der Naͤhe des Profeſſor Wink¬
ler auf dem Thomasplan, gerade um die
Stunde, die koͤſtlichſten Kraͤpfel heiß aus der
Pfanne kamen, welche uns denn dergeſtalt
verſpaͤteten, daß unſere Hefte locker wurden,
und das Ende derſelben gegen das Fruͤhjahr
mit dem Schnee zugleich verſchmolz und ſich
verlor.
Mit den juriſtiſchen Collegien ward es
bald eben ſo ſchlimm: denn ich wußte gerade
ſchon ſo viel, als uns der Lehrer zu uͤberlie¬
fern fuͤr gut fand. Mein erſt hartnaͤckiger
Fleiß im Nachſchreiben wurde nach und nach
gelaͤhmt, indem ich es hoͤchſt langweilig fand,
dasjenige nochmals aufzuzeichnen, was ich
bey meinem Vater, theils fragend, theils ant¬
wortend, oft genug wiederholt hatte, um es
fuͤr immer im Gedaͤchtniß zu behalten. Der
Schaden, den man anrichtet, wenn man jun¬
ge Leute auf Schulen in manchen Dingen zu
weit fuͤhrt, hat ſich ſpaͤterhin noch mehr erge¬
ben, da man den Sprachuͤbungen und der
Begruͤndung in dem, was eigentliche Vor¬
kenntniſſe ſind, Zeit und Aufmerkſamkeit ab¬
brach, um ſie an ſogenannte Realitaͤten zu
wenden, welche mehr zerſtreuen als bilden,
wenn ſie nicht methodiſch und vollſtaͤndig uͤber¬
liefert werden.
Noch ein anderes Uebel, wodurch Studi¬
rende ſehr bedraͤngt ſind, erwaͤhne ich hier
beylaͤufig. Profeſſoren, ſo gut wie andere in
Aemtern angeſtellte Maͤnner, koͤnnen nicht al¬
le von Einem Alter ſeyn; da aber die juͤnge¬
ren eigentlich nur lehren, um zu lernen, und
noch dazu, wenn ſie gute Koͤpfe ſind, dem
Zeitalter voreilen, ſo erwerben ſie ihre Bil¬
dung durchaus auf Unkoſten der Zuhoͤrer, weil
dieſe nicht in dem unterrichtet werden was
ſie eigentlich brauchen, ſondern in dem was
der Lehrer fuͤr ſich zu bearbeiten noͤthig fin¬
det. Unter den aͤlteſten Profeſſoren dagegen
ſind manche ſchon lange Zeit ſtationaͤr; ſie
uͤberliefern im Ganzen nur fixe Anſichten,
und was das Einzelne betrifft, Vieles, was
die Zeit ſchon als unnuͤtz und falſch verur¬
theilt hat. Durch beydes entſteht ein trauri¬
ger Conflict, zwiſchen welchem junge Geiſter
hin und her gezerrt werden, und welcher kaum
durch die Lehrer des mittleren Alters, die,
obſchon genugſam unterrichtet und gebildet,
doch immer noch ein thaͤtiges Streben zum
Wiſſen und Nachdenken bey ſich empfinden,
ins Gleiche gebracht werden kann.
Wie ich nun auf dieſem Wege viel meh¬
reres kennen als zurechte legen lernte, wo¬
durch ſich ein immer wachſendes Misbehagen
in mir hervordrang, ſo hatte ich auch vom
Leben manche kleine Unannehmlichkeiten; wie
man denn, wenn man den Ort veraͤndert
und in neue Verhaͤltniſſe tritt, immer Ein¬
ſtand geben muß. Das erſte, was die Frau¬
en an mir tadelten, bezog ſich auf die Klei¬
dung; denn ich war vom Hauſe freylich et¬
was wunderlich equipirt auf die Academie
gelangt.
Mein Vater, dem nichts ſo ſehr verhaßt
war, als wenn etwas vergeblich geſchah, wenn
Jemand ſeine Zeit nicht zu brauchen wußte,
oder ſie zu benutzen keine Gelegenheit fand,
trieb ſeine Oeconomie mit Zeit und Kraͤften
ſo weit, daß ihm nichts mehr Vergnuͤgen
machte, als zwey Fliegen mit Einer Klappe
zu ſchlagen. Er hatte deswegen niemals ei¬
nen Bedienten, der nicht im Hauſe zu noch
II. 6
etwas nuͤtzlich geweſen waͤre. Da er nun von
jeher alles mit eigener Hand ſchrieb und ſpaͤ¬
ter die Bequemlichkeit hatte, jenem jungen
Hausgenoſſen in die Feder zu dictiren; ſo
fand er am vortheilhafteſten, Schneider zu
Bedienten zu haben, welche die Stunden gut
anwenden mußten, indem ſie nicht allein ihre
Livreyen, ſondern auch die Kleider fuͤr Vater
und Kinder zu fertigen, nicht weniger alles
Flickwerk zu beſorgen hatten. Mein Vater
war ſelbſt um die beſten Tuͤcher und Zeuge
bemuͤht, indem er auf den Meſſen von aus¬
waͤrtigen Handelsherren feine Waare bezog
und ſie in ſeinen Vorrath legte; wie ich mich
denn noch recht wohl erinnere, daß er die
Herrn von Loͤwenicht von Aachen jederzeit be¬
ſuchte, und mich von meiner fruͤheſten Ju¬
gend an mit dieſen und anderen vorzuͤglichen
Handelsherren bekannt machte.
Fuͤr die Tuͤchtigkeit des Zeugs war alſo
geſorgt und genugſamer Vorrath verſchiedener
Sorten Tuͤcher, Sarſchen, Goͤttinger Zeug,
nicht weniger das noͤthige Unterfutter vorhan¬
den, ſo daß wir, dem Stoff nach, uns wohl
hatten duͤrfen ſehen laſſen; aber die Form
verdarb meiſt alles: denn wenn ein ſolcher
Hausſchneider allenfalls ein guter Geſelle ge¬
weſen waͤre, um einen meiſterhaft zugeſchnit¬
tenen Rock wohl zu naͤhen und zu fertigen,
ſo ſollte er nun auch das Kleid ſelbſt zuſchnei¬
den, und dieſes gerieth nicht immer zum be¬
ſten. Hiezu kam noch, daß mein Vater al¬
les, was zu ſeinem Anzuge gehoͤrte, ſehr gut
und reinlich hielt und viele Jahre mehr be¬
wahrte als benutzte, daher eine Vorliebe fuͤr
gewiſſen alten Zuſchnitt und Verzierungen
trug, wodurch unſer Putz mitunter ein wun¬
derliches Anſehen bekam.
Auf eben dieſem Wege hatte man auch
meine Garderobe, die ich mit auf die Acade¬
mie nahm, zu Stande gebracht; ſie war
recht vollſtaͤndig und anſehnlich und ſogar ein
6 *
Treſſenkleid darunter. Ich, dieſe Art von
Aufzug ſchon gewohnt, hielt mich fuͤr geputzt
genug; allein es waͤhrte nicht lange, ſo uͤber¬
zeugten mich meine Freundinnen, erſt durch
leichte Neckereyen, dann durch vernuͤnftige
Vorſtellungen, daß ich wie aus einer fremden
Welt herein geſchneyt ausſehe. So viel Ver¬
druß ich auch hieruͤber empfand, ſah ich doch
Anfangs nicht, wie ich mir helfen ſollte. Als
aber Herr von Maſuren, der ſo beliebte
poetiſche Dorfjunker, einſt auf dem
Theater in einer aͤhnlichen Kleidung auftrat,
und mehr wegen ſeiner aͤußeren als inneren
Abgeſchmacktheit herzlich belacht wurde, faßte
ich Muth und wagte, meine ſaͤmmtliche Gar¬
derobe gegen eine neumodiſche, dem Ort ge¬
maͤße, auf einmal umzutauſchen, wodurch ſie
aber freylich ſehr zuſammenſchrumpfte.
Nach dieſer uͤberſtandenen Pruͤfung ſollte
abermals eine neue eintreten, welche mir weit
unangenehmer auffiel, weil ſie eine Sache
betraf, die man nicht ſo leicht ablegt und
umtauſcht.
Ich war naͤmlich in dem oberdeutſchen
Dialect geboren und erzogen, und obgleich
mein Vater ſich ſtets einer gewiſſen Reinheit
der Sprache befliß und uns Kinder auf das,
was man wirklich Maͤngel jenes Idioms nen¬
nen kann, von Jugend an aufmerkſam ge¬
macht und zu einem beſſeren Sprechen vor¬
bereitet hatte; ſo blieben mir doch gar man¬
che tiefer liegende Eigenheiten, die ich, weil
ſie mir ihrer Naivetaͤt wegen gefielen, mit
Behagen hervorhob, und mir dadurch von
meinen neuen Mitbuͤrgern jedesmal einen ſtren¬
gen Verweis zuzog. Der Oberdeutſche naͤm¬
lich, und vielleicht vorzuͤglich derjenige, welcher
dem Rhein und Main anwohnt, (denn gro¬
ße Fluͤße haben, wie das Meeresufer, immer
etwas Belebendes,) druͤckt ſich viel in Gleich¬
niſſen und Anſpielungen aus, und bey einer
inneren, menſchenverſtaͤndigen Tuͤchtigkeit be¬
dient er ſich ſpruͤchwoͤrtlicher Redensarten. In
beyden Faͤllen iſt er oͤfters derb, doch, wenn
man auf den Zweck des Ausdruckes ſieht, im¬
mer gehoͤrig; nur mag freylich manchmal et¬
was mit unterlaufen, was gegen ein zarteres
Ohr ſich anſtoͤßig erweiſt.
Jede Provinz liebt ihren Dialect: denn
er iſt doch eigentlich das Element, in wel¬
chem die Seele ihren Athem ſchoͤpft. Mit
welchem Eigenſinn aber die meißniſche Mund¬
art die uͤbrigen zu beherrſchen, ja eine Zeit
lang auszuſchließen gewußt hat, iſt Jeder¬
mann bekannt. Wir haben viele Jahre un¬
ter dieſem pedantiſchen Regimente gelitten,
und nur durch vielfachen Widerſtreit haben
ſich die ſaͤmmtlichen Provinzen in ihre alten
Rechte wieder eingeſetzt. Was ein junger
lebhafter Menſch unter dieſem beſtaͤndigen
Hofmeiſtern ausgeſtanden habe, wird derjeni¬
ge leicht ermeſſen, der bedenkt, daß nun mit
der Ausſprache, in deren Veraͤnderung man
ſich endlich wohl ergaͤbe, zugleich Denkweiſe,
Einbildungskraft, Gefuͤhl, vaterlaͤndiſcher Cha¬
racter ſollten aufgeopfert werden. Und dieſe
unertraͤgliche Forderung wurde von gebildeten
Maͤnnern und Frauen gemacht, deren Ueber¬
zeugung ich mir nicht zueignen konnte, deren
Unrecht ich zu empfinden glaubte, ohne mir
es deutlich machen zu koͤnnen. Mir ſollten
die Anſpielungen auf bibliſche Kernſtellen un¬
terſagt ſeyn, ſo wie die Benutzung treuherzi¬
ger Chronikenausdruͤcke. Ich ſollte vergeſſen,
daß ich den Kaiſer von Kaiſersberg geleſen
hatte und des Gebrauchs der Spruͤchwoͤrter
entbehren, die doch, Statt vieles Hin- und
Herfackelns, den Nagel gleich auf den Kopf
treffen; alles dieß, das ich mir mit jugendli¬
cher Heftigkeit angeeignet, ſollte ich miſſen,
ich fuͤhlte mich in meinem Innerſten paraly¬
ſirt und wußte kaum mehr, wie ich mich uͤber
die gemeinſten Dinge zu aͤußern hatte. Da¬
neben hoͤrte ich, man ſolle reden wie man
ſchreibt und ſchreiben wie man ſpricht; da
mir Reden und Schreiben ein fuͤr allemal
zweyerley Dinge ſchienen, von denen jedes
wohl ſeine eignen Rechte behaupten moͤchte.
Und hatte ich doch auch im meißner Dialect
Manches zu hoͤren, was ſich auf dem Papier
nicht ſonderlich wuͤrde ausgenommen haben.
Jedermann, der hier vernimmt, welchen
Einfluß auf einen jungen Studirenden gebil¬
dete Maͤnner und Frauen, Gelehrte und ſonſt
in einer feinen Societaͤt ſich gefallende Per¬
ſonen ſo entſchieden ausuͤben, wuͤrde, wenn
es auch nicht ausgeſprochen waͤre, ſich ſogleich
uͤberzeugt halten, daß wir uns in Leipzig be¬
finden. Jede der deutſchen Academieen hat
eine beſondere Geſtalt: denn weil in unſerem
Vaterlande keine allgemeine Bildung durch¬
dringen kann, ſo beharrt jeder Ort auf ſeiner
Art und Weiſe und treibt ſeine characteriſti¬
ſchen Eigenheiten bis auf's letzte; eben dieſes
gilt von den Academieen. In Jena und
Halle war die Rohheit auf's hoͤchſte geſtiegen,
koͤrperliche Staͤrke, Fechtergewandtheit, die
wildeſte Selbſthuͤlfe war dort an der Tages¬
ordnung; und ein ſolcher Zuſtand kann ſich
nur durch den gemeinſten Saus und Braus
erhalten und fortpflanzen. Das Verhaͤltniß
der Studirenden zu den Einwohnern jener
Staͤdte, ſo verſchieden es auch ſeyn mochte,
kam doch darin uͤberein, daß der wilde Fremd¬
ling keine Achtung vor dem Buͤrger hatte
und ſich als ein eignes, zu aller Freyheit und
Frechheit privilegirtes Weſen anſah. Dage¬
gen konnte in Leipzig ein Student kaum an¬
ders als galant ſeyn, ſobald er mit reichen,
wohl und genau geſitteten Einwohnern in ei¬
nigem Bezug ſtehen wollte.
Alle Galanterie freylich, wenn ſie nicht als
Bluͤthe einer großen und weiten Lebensweiſe
hervortritt, muß beſchraͤnkt, ſtationaͤr und aus
gewiſſen Geſichtspuncten vielleicht albern er¬
ſcheinen; und ſo glaubten jene wilden Jaͤger
von der Saale uͤber die zahmen Schaͤfer an
der Pleiße ein großes Uebergewicht zu haben.
Zachariaͤ's Renommiſt wird immer ein ſchaͤtz¬
bares Document bleiben, woraus die dama¬
lige Lebens- und Sinnesart anſchaulich her¬
vortritt; wie uͤberhaupt ſeine Gedichte jedem
willkommen ſeyn muͤſſen, der ſich einen Be¬
griff von dem zwar ſchwachen, aber wegen
ſeiner Unſchuld und Kindlichkeit liebenswuͤrdi¬
gen Zuſtande des damaligen geſelligen Lebens
und Weſens machen will.
Alle Sitten, die aus einem gegebenen
Verhaͤltniß eines gemeinen Weſens entſprin¬
gen, ſind unverwuͤſtlich, und zu meiner Zeit
erinnerte noch manches an Zachariaͤ's Hel¬
dengedicht. Ein einziger unſerer academiſchen
Mitbuͤrger hielt ſich fuͤr reich und unabhaͤngig
genug, der oͤffentlichen Meynung ein Schnipp¬
chen zu ſchlagen. Er trank Schwaͤgerſchaft
mit allen Lohnkutſchern, die er, als waͤren's
die Herren, ſich in die Wagen ſetzen ließ und
ſelbſt vom Bocke fuhr, ſie einmal umzuwer¬
fen fuͤr einen großen Spaß hielt, die zerbro¬
chenen Halbchaͤſen, ſo wie die zufaͤlligen Beu¬
len zu verguͤten wußte, uͤbrigens aber Nie¬
manden beleidigte, ſondern nur das Publi¬
cum in Maſſe zu verhoͤhnen ſchien. Einſt
bemaͤchtigte er und ein Spießgeſell ſich, am
ſchoͤnſten Promenaden-Tage, der Eſel des
Thomasmuͤllers; ſie ritten wohl gekleidet, in
Schuhen und Struͤmpfen mit dem groͤßten
Ernſt um die Stadt, angeſtaunt von allen
Spazirgaͤngern, von denen das Glacis wim¬
melte. Als ihm einige Wohldenkende hier¬
uͤber Vorſtellungen thaten, verſicherte er ganz
unbefangen, er habe nur ſehen wollen, wie
ſich der Herr Chriſtus in einem aͤhnlichen
Falle moͤchte ausgenommen haben. Nachah¬
mer fand er jedoch keinen und wenig Ge¬
ſellen.
Denn der Studirende von einigem Ver¬
moͤgen und Anſehen hatte alle Urſache, ſich
gegen den Handelsſtand ergeben zu erweiſen,
und ſich um ſo mehr ſchicklicher aͤußerer For¬
men zu befleißigen, als die Colonie ein Mu¬
ſterbild franzoͤſiſcher Sitten darſtellte. Die
Profeſſoren, wohlhabend durch eignes Ver¬
moͤgen und gute Pfruͤnden, waren von ihren
Schuͤlern nicht abhaͤngig, und der Landeskin¬
der mehrere, auf den Fuͤrſtenſchulen oder ſon¬
ſtigen Gymnaſien gebildet und Befoͤrderung
hoffend, wagten es nicht, ſich von der her¬
koͤmmlichen Sitte loszuſagen. Die Naͤhe
von Dresden, die Aufmerkſamkeit von daher,
die wahre Froͤmmigkeit der Oberaufſeher des
Studienweſens konnte nicht ohne ſittlichen, ja
religioͤſen Einfluß bleiben.
Mir war dieſe Lebensart im Anfange
nicht zuwider; meine Empfehlungsbriefe hat¬
ten mich in gute Haͤuſer eingefuͤhrt, deren
verwandte Zirkel mich gleichfalls wohl auf¬
nahmen. Da ich aber bald empfinden mu߬
te, daß die Geſellſchaft gar manches an mir
auszuſetzen hatte, und ich, nachdem ich mich
ihrem Sinne gemaͤß gekleidet, ihr nun auch
nach dem Munde reden ſollte, und dabey
doch deutlich ſehen konnte, daß mir dagegen
von alle dem wenig geleiſtet wurde, was ich
mir von Unterricht und Sinnesfoͤrderung bey
meinem academiſchen Aufenthalt verſprochen
hatte; ſo fing ich an laͤſſig zu werden und
die geſelligen Pflichten der Beſuche und ſon¬
ſtigen Attentionen zu verſaͤumen, und ich waͤ¬
re noch fruͤher aus allen ſolchen Verhaͤltniſſen
herausgetreten, haͤtte mich nicht an Hofrath
Boͤhmen Scheu und Achtung und an ſeine
Gattinn Zutrauen und Neigung feſtgeknuͤpft.
Der Gemahl hatte leider nicht die gluͤckliche
Gabe, mit jungen Leuten umzugehen, ſich ihr
Vertrauen zu erwerben und ſie fuͤr den Au¬
genblick nach Beduͤrfniß zu leiten. Ich fand
niemals Gewinn davon, wenn ich ihn beſuch¬
te; ſeine Gattinn dagegen zeigte ein aufrich¬
tiges Intereſſe an mir. Ihre Kraͤnklichkeit
hielt ſie ſtets zu Hauſe. Sie lud mich man¬
chen Abend zu ſich und wußte mich, der ich
zwar geſittet war, aber doch eigentlich was
man Lebensart nennt, nicht beſaß, in man¬
chen kleinen Aeußerlichkeiten zurecht zu fuͤhren
und zu verbeſſern. Nur eine einzige Freun¬
dinn brachte die Abende bey ihr zu; dieſe
war aber ſchon herriſcher und ſchulmeiſterli¬
cher, deswegen ſie mir aͤußerſt misfiel und
ich ihr zum Trutz oͤfters jene Unarten wieder
annahm, welche mir die andere ſchon abge¬
woͤhnt hatte. Sie uͤbten unterdeſſen noch
immer Geduld genug an mir, lehrten mich
Piquet, l'Hombre und was andere derglei¬
chen Spiele ſind, deren Kenntniß und Aus¬
uͤbung in der Geſellſchaft fuͤr unerlaͤßlich ge¬
halten wird.
Worauf aber Madame Boͤhme den groͤ߬
ten Einfluß bey mir hatte, war auf meinen
Geſchmack, freylich auf eine negative Weiſe,
worin ſie jedoch mit den Kritikern vollkom¬
men uͤbereintraf. Das Gottſchediſche Gewaͤſ¬
ſer hatte die deutſche Welt mit einer wahren
Suͤndfluth uͤberſchwemmt, welche ſogar uͤber
die hoͤchſten Berge hinaufzuſteigen drohte.
Bis ſich eine ſolche Fluth wieder verlaͤuft,
bis der Schlamm austrocknet, dazu gehoͤrt
viele Zeit, und da es der nachaͤffenden Poe¬
ten in jeder Epoche eine Unzahl giebt; ſo
brachte die Nachahmung des Seichten, Waͤ߬
rigen einen ſolchen Wuſt hervor, von dem
gegenwaͤrtig kaum ein Begriff mehr geblieben
iſt. Das Schlechte ſchlecht zu finden, war
daher der groͤßte Spaß, ja der Triumph da¬
maliger Kritiker. Wer nur einigen Menſchen¬
verſtand beſaß, oberflaͤchlich mit den Alten,
etwas naͤher mit den Neueren bekannt war,
glaubte ſich ſchon mit einem Maßſtabe verſe¬
hen, den er uͤberall anlegen koͤnne. Madame
Boͤhme war eine gebildete Frau, welcher das
Unbedeutende, Schwache und Gemeine wider¬
ſtand; ſie war noch uͤberdieß Gattinn eines
Mannes, der mit der Poeſie uͤberhaupt in
Unfrieden lebte und dasjenige nicht gelten ließ,
was ſie allenfalls noch gebilligt haͤtte. Nun
hoͤrte ſie mir zwar einige Zeit mit Geduld zu,
wenn ich ihr Verſe oder Proſe von nam¬
haften, ſchon in gutem Anſehen ſtehenden
Dichtern zu recitiren mir herausnahm: denn
ich behielt nach wie vor alles auswendig, was
mir nur einigermaßen gefallen mochte; allein
ihre Nachgiebigkeit war nicht von langer Dau¬
er. Das erſte, was ſie mir ganz entſetzlich
herunter machte, waren die Poeten nach
der Mode von Weiße, welche ſo eben
mit großem Beyfall oͤfters wiederholt wurden,
und mich ganz beſonders ergetzt hatten. Be¬
ſah ich nun freylich die Sache naͤher, ſo konn¬
te ich ihr nicht Unrecht geben. Auch einige¬
mal hatte ich gewagt, ihr etwas von meinen
eigenen Gedichten, jedoch anonym vorzutra¬
gen, denen es denn nicht beſſer ging als der
uͤbrigen Geſellſchaft. Und ſo waren mir in
kurzer Zeit die ſchoͤnen bunten Wieſen in den
Gruͤnden des deutſchen Parnaſſes, wo ich ſo
gern luſtwandelte, unbarmherzig niedergemaͤht
und ich ſogar genoͤthigt, das trocknende Heu
ſelbſt mit umzuwenden und dasjenige als todt
zu verſpotten, was mir kurz vorher eine ſo
lebendige Freude gemacht hatte.
Dieſen ihren Lehren kam, ohne es zu
wiſſen, der Profeſſor Morus zu Huͤlfe, ein
ungemein ſanfter und freundlicher Mann, den
ich an dem Tiſche des Hofraths Ludwig ken¬
nen lernte und der mich ſehr gefaͤllig aufnahm,
wenn ich mir die Freyheit ausbat, ihn zu be¬
ſuchen. Indem ich mich nun bey ihm um
das Alterthum erkundigte, ſo verbarg ich ihm
nicht, was mich unter den Neuern ergetzte;
da er denn mit mehr Ruhe als Madame
Boͤhme, was aber noch ſchlimmer war, mit
mehr Gruͤndlichkeit uͤber ſolche Dinge ſprach
und mir, Anfangs zum groͤßten Verdruß,
nachher aber doch zum Erſtaunen und zuletzt
zur Erbauung die Augen oͤffnete.
Hiezu kamen noch die Jeremiaden, mit
denen uns Gellert in ſeinem Practicum von
II. 7
der Poeſie abzumahnen pflegte. Er wuͤnſchte
nur proſaiſche Aufſaͤtze und beurtheilte auch
dieſe immer zuerſt. Die Verſe behandelte er
nur als eine traurige Zugabe, und was das
Schlimmſte war, ſelbſt meine Proſe fand we¬
nig Gnade vor ſeinen Augen: denn ich pfleg¬
te, nach meiner alten Weiſe, immer einen klei¬
nen Roman zum Grunde zu legen, den ich
in Briefen auszufuͤhren liebte. Die Gegen¬
ſtaͤnde waren leidenſchaftlich, der Styl ging
uͤber die gewoͤhnliche Proſe hinaus, und der
Inhalt mochte freylich nicht ſehr fuͤr eine tie¬
fe Menſchenkenntniß des Verfaſſers zeugen;
und ſo war ich denn von unſerem Lehrer ſehr
wenig beguͤnſtigt, ob er gleich meine Arbei¬
ten, ſo gut als die der Andern, genau durch¬
ſah, mit rother Dinte corrigirte und hie und
da eine ſittliche Anmerkung hinzufuͤgte. Meh¬
rere Blaͤtter dieſer Art, welche ich lange Zeit
mit Vergnuͤgen bewahrte, ſind leider endlich
auch im Lauf der Jahre aus meinen Papie¬
ren verſchwunden.
Wenn aͤltere Perſonen recht paͤdagogiſch
verfahren wollten, ſo ſollten ſie einem jungen
Manne etwas, was ihm Freude macht, es
ſey von welcher Art es wolle, weder verbie¬
ten noch verleiden, wenn ſie nicht zu gleicher
Zeit ihm etwas Anderes dafuͤr einzuſetzen haͤt¬
ten, oder unterzuſchieben wuͤßten. Jedermann
proteſtirte gegen meine Liebhabereyen und Nei¬
gungen; und das was man mir dagegen an¬
pries, lag theils ſo weit von mir ab, daß
ich ſeine Vorzuͤge nicht erkennen konnte, oder
es ſtand mir ſo nah, daß ich es eben nicht
fuͤr beſſer hielt als das Geſcholtene. Ich kam
daruͤber durchaus in Verwirrung, und hatte
mir aus einer Vorleſung Erneſti's uͤber Cice¬
ro's Orator das Beſte verſprochen; ich lernte
wohl auch etwas in dieſen, Collegium, jedoch
uͤber das, woran mir eigentlich gelegen war,
wurde ich nicht aufgeklaͤrt. Ich forderte ei¬
nen Maßſtab des Urtheils, und glaubte ge¬
wahr zu werden, daß ihn gar Niemand be¬
ſitze: denn keiner war mit dem Andern einig,
7 *
ſelbſt wenn ſie Beyſpiele vorbrachten; und
wo ſollten wir ein Urtheil hernehmen, wenn
man einem Manne wie Wieland ſo man¬
ches Tadelhafte in ſeinen liebenswuͤrdigen,
uns Juͤngere voͤllig einnehmenden Schriften
aufzuzaͤhlen wußte.
In ſolcher vielfachen Zerſtreuung, ja Zer¬
ſtuͤckelung meines Weſens und meiner Studien
traf ſich's, daß ich bey Hofrath Ludwig den
Mittagstiſch hatte. Er war Medicus, Bo¬
taniker, und die Geſellſchaft beſtand, außer
Morus, in lauter angehenden oder der Voll¬
endung naͤheren Aerzten. Ich hoͤrte nun in
dieſen Stunden gar kein ander Geſpraͤch als
von Medicin oder Naturhiſtorie, und meine
Einbildungskraft wurde in ein ganz ander
Feld hinuͤber gezogen. Die Namen Hal¬
ler, Linné, Buͤffon hoͤrte ich mit gro¬
ßer Verehrung nennen, und wenn auch manch¬
mal wegen Irrthuͤmer, in die ſie gefallen ſeyn
ſollten, ein Streit entſtand; ſo kam doch zu¬
letzt, dem anerkannten Uebermaß ihrer Ver¬
dienſte zu Ehren, alles wieder ins Gleiche.
Die Gegenſtaͤnde waren unterhaltend und be¬
deutend, und ſpannten meine Aufmerkſamkeit.
Viele Benennungen und eine weitlaͤuftige Ter¬
minologie wurden mir nach und nach bekannt,
die ich um ſo lieber auffaßte, weil ich mich
fuͤrchtete einen Reim niederzuſchreiben, wenn
er ſich mir auch noch ſo freywillig darbot,
oder ein Gedicht zu leſen, indem mir bange
war, es moͤchte mir gegenwaͤrtig gefallen und
ich muͤſſe es denn doch, wie ſo manches An¬
dere, vielleicht naͤchſtens fuͤr ſchlecht erklaͤren.
Dieſe Geſchmacks- und Urtheilsungewi߬
heit beunruhigte mich taͤglich mehr, ſo daß
ich zuletzt in Verzweiflung gerieth. Ich hat¬
te von meinen Jugendarbeiten was ich fuͤr
das Beſte hielt, mitgenommen, theils weil
ich mir denn doch einige Ehre dadurch zu
verſchaffen hoffte, theils um meine Fortſchrit¬
te deſto ſicherer pruͤfen zu koͤnnen; aber ich
befand mich in dem ſchlimmen Falle, in den
man geſetzt iſt, wenn eine vollkommene Sin¬
nesaͤnderung verlangt wird, eine Entſagung
alles deſſen, was man bisher geliebt und fuͤr
gut befunden hat. Nach einiger Zeit und
nach manchem Kampfe warf ich jedoch eine
ſo große Verachtung auf meine begonnenen
und geendigten Arbeiten, daß ich eines Tags
Poeſie und Proſe, Plane, Skizzen und Ent¬
wuͤrfe ſaͤmmtlich zugleich auf dem Kuͤchen¬
heerd verbrannte, und durch den das ganze
Haus erfuͤllenden Rauchqualm unſre gute
alte Wirthinn in nicht geringe Furcht und
Angſt verſetzte.
Siebentes Buch.
Ueber den Zuſtand der deutſchen Littera¬
tur jener Zeit iſt ſo Vieles und Ausreichen¬
des geſchrieben worden, daß wohl Jedermann,
der einigen Antheil hieran nimmt, vollkom¬
men unterrichtet ſeyn kann; wie denn auch
das Urtheil daruͤber wohl ziemlich uͤberein¬
ſtimmen duͤrfte, und was ich gegenwaͤrtig
ſtuͤck- und ſprungweiſe davon zu ſagen geden¬
ke, iſt nicht ſowohl wie ſie an und fuͤr ſich
beſchaffen ſeyn mochte, als vielmehr wie ſie
ſich zu mir verhielt. Ich will deshalb zuerſt
von ſolchen Dingen ſprechen, durch welche
das Publicum beſonders aufgeregt wird, von
den beyden Erbfeinden alles behaglichen Le¬
bens und aller heiteren, ſelbſtgenuͤgſamen, le¬
bendigen Dichtkunſt; von der Satyre und der
Kritik.
In ruhigen Zeiten will Jeder nach ſeiner
Weiſe leben, der Buͤrger ſein Gewerb, ſein
Geſchaͤft treiben und ſich nachher vergnuͤgen:
ſo mag auch der Schriftſteller gern etwas
verfaſſen, ſeine Arbeiten bekannt machen, und
wo nicht Lohn doch Lob dafuͤr hoffen, weil
er glaubt, etwas Gutes und Nuͤtzliches ge¬
than zu haben. In dieſer Ruhe wird der
Buͤrger durch den Satyriker, der Autor durch
den Kritiker geſtoͤrt, und ſo die friedliche Ge¬
ſellſchaft in eine unangenehme Bewegung ge¬
ſetzt.
Die litterariſche Epoche, in der ich gebo¬
ren bin, entwickelte ſich aus der vorhergehen¬
den durch Widerſpruch. Deutſchland, ſo lan¬
ge von auswaͤrtigen Voͤlkern uͤberſchwemmt,
von andern Nationen durchdrungen, in ge¬
lehrten und diplomatiſchen Verhandlungen an
fremde Sprachen gewieſen, konnte ſeine eigne
unmoͤglich ausbilden. Es drangen ſich ihr,
zu ſo manchen neuen Begriffen, auch unzaͤh¬
lige fremde Worte noͤthiger und unnoͤthiger
Weiſe mit auf, und auch fuͤr ſchon bekannte
Gegenſtaͤnde ward man veranlaßt, ſich aus¬
laͤndiſcher Ausdruͤcke und Wendungen zu be¬
dienen. Der Deutſche, ſeit beynahe zwey
Jahrhunderten, in einem ungluͤcklichen, tu¬
multuariſchen Zuſtande verwildert, begab ſich
bey den Franzoſen in die Schule, um lebens¬
artig zu werden, und bey den Roͤmern, um
ſich wuͤrdig auszudruͤcken. Dieß ſollte aber
auch in der Mutterſprache geſchehen; da denn
die unmittelbare Anwendung jener Idiome
und deren Halbverdeutſchung ſowohl den Welt-
als Geſchaͤftsſtyl laͤcherlich machte. Ueberdieß
faßte man die Gleichnißreden der ſuͤdlichen
Sprachen unmaͤßig auf und bediente ſich der¬
ſelben hoͤchſt uͤbertrieben. Eben ſo zog man
den vornehmen Anſtand der fuͤrſtengleichen
roͤmiſchen Buͤrger auf deutſche kleinſtaͤdtiſche
Gelehrten-Verhaͤltniſſe heruͤber, und war eben
nirgends, am wenigſten bey ſich zu Hauſe.
Wie aber ſchon in dieſer Epoche geniali¬
ſche Werke entſprangen, ſo regte ſich auch
hier der deutſche Frey- und Frohſinn. Die¬
ſer, begleitet von einem aufrichtigen Ernſte,
drang darauf, daß rein und natuͤrlich, ohne
Einmiſchung fremder Worte, und wie es der
gemeine, verſtaͤndliche Sinn gab, geſchrieben
wuͤrde. Durch dieſe loͤblichen Bemuͤhungen
ward jedoch der vaterlaͤndiſchen breiten Platt¬
heit Thuͤr und Thor geoͤffnet, ja der Damm
durchſtochen, durch welchen das große Ge¬
waͤſſer zunaͤchſt eindringen ſollte. Indeſſen
hielt ein ſteifer Pedantismus in allen vier
Facultaͤten lange Stand, bis er ſich endlich
viel ſpaͤter aus einer in die andere fluͤchtete.
Gute Koͤpfe, freyaufblickende Naturkinder
hatten daher zwey Gegenſtaͤnde, an denen ſie
ſich uͤben, gegen die ſie wirken und, da die
Sache von keiner großen Bedeutung war,
ihren Muthwillen auslaſſen konnten; dieſe
waren eine durch fremde Worte, Wortbildun¬
gen und Wendungen verunzierte Sprache, und
ſodann die Werthloſigkeit ſolcher Schriften,
die ſich von jenem Fehler frey zu erhalten
beſorgt waren; wobey Niemanden einfiel, daß,
indem man ein Uebel bekaͤmpfte, das andere
zu Huͤlfe gerufen ward.
Liskow, ein junger kuͤhner Menſch,
wagte zuerſt einen ſeichten, albernen Schrift¬
ſteller perſoͤnlich anzufallen, deſſen ungeſchick¬
tes Benehmen ihm bald Gelegenheit gab hef¬
tiger zu verfahren. Er griff ſodann weiter
um ſich und richtete ſeinen Spott immer ge¬
gen beſtimmte Perſonen und Gegenſtaͤnde, die
er verachtete und veraͤchtlich zu machen ſuchte,
ja mit leidenſchaftlichem Haß verfolgte. Al¬
lein ſeine Laufbahn war kurz; er ſtarb gar
bald, verſchollen als ein unruhiger, unregel¬
maͤßiger Juͤngling. In dem was er gethan,
ob er gleich wenig geleiſtet, mochte ſeinen
Landsleuten das Talent, der Character ſchaͤ¬
tzenswerth vorkommen: wie denn die Deutſchen
immer gegen fruͤhabgeſchiedene, gutesverſpre¬
chende Talente eine beſondere Froͤmmigkeit be¬
wieſen haben; genug, uns ward Liskow ſehr
fruͤh als ein vorzuͤglicher Satyriker, der ſo¬
gar den Rang vor dem allgemein beliebten
Rabener verlangen koͤnnte, geprieſen und an¬
empfohlen. Hierbey ſahen wir uns freylich
nicht gefoͤrdert: denn wir konnten in ſeinen
Schriften weiter nichts erkennen, als daß er
das Alberne albern gefunden habe, welches
uns eine ganz natuͤrliche Sache ſchien.
Rabener, wohl erzogen, unter gutem
Schulunterricht aufgewachſen, von heiterer
und keineswegs leidenſchaftlicher oder gehaͤſſi¬
ger Natur, ergriff die allgemeine Satyre.
Sein Tadel der ſogenannten Laſter und Thor¬
heiten entſpringt aus reinen Anſichten des
ruhigen Menſchenverſtandes und aus einem
beſtimmten ſittlichen Begriff, wie die Welt
ſeyn ſollte. Die Ruͤge der Fehler und Maͤn¬
gel iſt harmlos und heiter; und damit ſelbſt
die geringe Kuͤhnheit ſeiner Schriften ent¬
ſchuldigt werde, ſo wird vorausgeſetzt, daß
die Beſſerung der Thoren durchs Laͤcherliche
kein fruchtloſes Unternehmen ſey.
Rabeners Perſoͤnlichkeit wird nicht leicht
wieder erſcheinen. Als tuͤchtiger, genauer
Geſchaͤftsmann thut er ſeine Pflicht, und er¬
wirbt ſich dadurch die gute Meynung ſeiner
Mitbuͤrger und das Vertrauen ſeiner Oberen;
nebenher uͤberlaͤßt er ſich zur Erholung einer
heiteren Nichtachtung alles deſſen, was ihn
zunaͤchſt umgiebt. Pedantiſche Gelehrte, eitle
Juͤnglinge, jede Art von Beſchraͤnktheit und
Duͤnkel beſcherzt er mehr als daß er ſie be¬
ſpottete, und ſelbſt ſein Spott druͤckt keine
Verachtung aus. Eben ſo ſpaßt er uͤber ſei¬
nen eignen Zuſtand, uͤber ſein Ungluͤck, ſein
Leben und ſeinen Tod.
Die Art, wie dieſer Schriftſteller ſeine
Gegenſtaͤnde behandelt, hat wenig Aeſthetiſches.
In den aͤußeren Formen iſt er zwar mannig¬
faltig genug, aber durchaus bedient er ſich
der directen Ironie zu viel, daß er naͤmlich
das Tadelnswuͤrdige lobt und das Lobens¬
wuͤrdige tadelt, welches redneriſche Mittel
nur hoͤchſt ſelten angewendet werden ſollte:
denn auf die Dauer faͤllt es einſichtigen Men¬
ſchen verdrießlich, die ſchwachen macht es irre,
und behagt freylich der großen Mittelclaſſe,
welche, ohne beſondern Geiſtesaufwand, ſich
kluͤger duͤnken kann als Andere. Was er aber
und wie er es auch vorbringt zeugt von ſei¬
ner Rechtlichkeit, Heiterkeit und Gleichmuͤ¬
thigkeit, wodurch wir uns immer eingenom¬
men fuͤhlen; der unbegrenzte Beyfall ſeiner
Zeit war eine Folge ſolcher ſittlichen Vorzuͤge.
Daß man zu ſeinen allgemeinen Schilde¬
rungen Muſterbilder ſuchte und fand, war na¬
tuͤrlich, daß Einzelne ſich uͤber ihn beſchwer¬
ten, folgte daraus; ſeine allzulangen Verthei¬
digungen, daß ſeine Satyre keine perſoͤnliche
ſey, zeugen von dem Verdruß, den man ihm
erregt hat. Einige ſeiner Briefe ſetzen ihm
als Menſchen und Schriftſteller den Kranz
auf. Das vertrauliche Schreiben, worin er
die Dresdner Belagerung ſchildert, wie er
ſein Haus, ſeine Habſeligkeiten, ſeine Schrif¬
ten und Peruͤcken verliert, ohne auch im min¬
deſten ſeinen Gleichmuth erſchuͤttert, ſeine
Heiterkeit getruͤbt zu ſehen, iſt hoͤchſt ſchaͤ¬
tzenswerth, ob ihm gleich ſeine Zeit- und
Stadtgenoſſen dieſe gluͤckliche Gemuͤthsart
nicht verzeihen konnten. Der Brief, wo er
von der Abnahme ſeiner Kraͤfte, von ſeinem
nahen Tode ſpricht, iſt aͤußerſt reſpektabel,
und Rabener verdient, von allen heiteren,
verſtaͤndigen, in die irdiſchen Ereigniſſe froh
ergebenen Menſchen als Heiliger verehrt zu
werden.
Ungern reiße ich mich von ihm los, nur
das bemerke ich noch: ſeine Satyre bezieht
ſich durchaus auf den Mittelſtand; er laͤßt
II. 8
hie und da vermerken, daß er die hoͤheren
auch wohl kenne, es aber nicht fuͤr raͤthlich
halte ſie zu beruͤhren. Man kann ſagen,
daß er keinen Nachfolger gehabt, daß ſich
Niemand gefunden, der ſich ihm gleich oder
aͤhnlich haͤtte halten duͤrfen.
Nun zur Kritik! und zwar vorerſt zu
den theoretiſchen Verſuchen. Wir holen nicht
zu weit aus, wenn wir ſagen, daß damals
das Ideelle ſich aus der Welt in die Reli¬
gion gefluͤchtet hatte, ja ſogar in der Sitten¬
lehre kaum zum Vorſchein kam; von einem
hoͤchſten Princip der Kunſt hatte Niemand
eine Ahndung. Man gab uns Gottſcheds
kritiſche Dichtkunſt in die Haͤnde; ſie war
brauchbar und belehrend genug: denn ſie uͤber¬
lieferte von allen Dichtungsarten eine hiſtori¬
ſche Kenntniß, ſo wie vom Rhythmus und
den verſchiedenen Bewegungen deſſelben; das
poetiſche Genie ward vorausgeſetzt! Uebri¬
gens aber ſollte der Dichter Kenntniſſe ha¬
ben, ja gelehrt ſeyn, er ſollte Geſchmack be¬
ſitzen, und was dergleichen mehr war. Man
wies uns zuletzt auf Horazens Dichtkunſt,
wir ſtaunten einzelne Goldſpruͤche dieſes un¬
ſchaͤtzbaren Werks mit Ehrfurcht an, wußten
aber nicht im geringſten, was wir mit dem
Ganzen machen, noch wie wir es nutzen
ſollten.
Die Schweizer traten auf als Gottſcheds
Antagoniſten; ſie mußten doch alſo etwas An¬
deres thun, etwas Beſſeres leiſten wollen: ſo
hoͤrten wir denn auch, daß ſie wirklich vorzuͤg¬
licher ſeyen. Breitingers kritiſche Dicht¬
kunſt ward vorgenommen. Hier gelangten
wir nun in ein weiteres Feld, eigentlich aber
nur in einen groͤßeren Irrgarten, der deſto
ermuͤdender war, als ein tuͤchtiger Mann,
dem wir vertrauten, uns darin herumtrieb.
Eine kurze Ueberſicht rechtfertige dieſe Worte.
8 *
Fuͤr die Dichtkunſt an und fuͤr ſich hatte
man keinen Grundſatz finden koͤnnen; ſie war
zu geiſtig und fluͤchtig. Die Malerey, eine
Kunſt, die man mit den Augen feſthalten,
der man mit den aͤußeren Sinnen Schritt
vor Schritt nachgehen konnte, ſchien zu ſol¬
chem Ende guͤnſtiger; Englaͤnder und Franzo¬
ſen hatten ſchon uͤber bildende Kunſt theore¬
tiſirt, und man glaubte nun durch ein Gleich¬
niß von daher die Poeſie zu begruͤnden. Je¬
ne ſtellte Bilder vor die Augen, dieſe vor
die Phantaſie; die poetiſchen Bilder alſo wa¬
ren das Erſte, was in Betrachtung gezogen
wurde. Man fing von den Gleichniſſen an,
Beſchreibungen folgten, und was nur immer
den aͤußeren Sinnen darſtellbar geweſen waͤre,
kam zur Sprache.
Bilder alſo! Wo ſollte man nun aber
dieſe Bilder anders hernehmen als aus der
Natur? Der Maler ahmte die Natur of¬
fenbar nach; warum der Dichter nicht auch?
Aber die Natur, wie ſie vor uns liegt, kann
doch nicht nachgeahmt werden: ſie enthaͤlt ſo
vieles Unbedeutende, Unwuͤrdige, man muß
alſo waͤhlen; was beſtimmt aber die Wahl?
man muß das Bedeutende aufſuchem; was
iſt aber bedeutend?
Hierauf zu antworten moͤgen ſich die
Schweizer lange bedacht haben: denn ſie kom¬
men auf einen zwar wunderlichen, doch arti¬
gen, ja luſtigen Einfall, indem ſie ſagen,
am bedeutendſten ſey immer das Neue; und
nachdem ſie dieß eine Weile uͤberlegt haben,
ſo finden ſie, das Wunderbare ſey immer
neuer als alles Andere.
Nun hatten ſie die poetiſchen Erforderniſſe
ziemlich beyſammen; allein es kam noch zu
bedenken, daß ein Wunderbares auch leer
ſeyn koͤnne und ohne Bezug auf den Men¬
ſchen. Ein ſolcher nothwendig geforderter
Bezug muͤſſe aber moraliſch ſeyn, woraus
denn offenbar die Beſſerung des Menſchen
folge, und ſo habe ein Gedicht das letzte Ziel
erreicht, wenn es, außer allem anderen Ge¬
leiſteten, noch nuͤtzlich werde. Nach dieſen
ſaͤmmtlichen Erforderniſſen wollte man nun die
verſchiedenen Dichtungsarten pruͤfen, und die¬
jenige, welche die Natur nachahmte, ſodann
wunderbar und zugleich auch von ſittlichem
Zweck und Nutzen ſey, ſollte fuͤr die erſte
und oberſte gelten. Und nach vieler Ueber¬
legung ward endlich dieſer große Vorrang,
mit hoͤchſter Ueberzeugung, der Aeſopiſchen
Fabel zugeſchrieben.
So wunderlich uns jetzt eine ſolche Ab¬
leitung vorkommen mag; ſo hatte ſich doch
auf die beſten Koͤpfe den entſchiedenſten Einfluß.
Daß Gellert und nachher Lichtwer ſich
dieſem Fache widmeten, daß ſelbſt Leſſing
darin zu arbeiten verſuchte, daß ſo viele An¬
dere ihr Talent dahin wendeten, ſpricht fuͤr
das Zutrauen, welches ſich dieſe Gattung er¬
worben hatte. Theorie und Praxis wirken
immer auf einander; aus den Werken kann
man ſehen, wie es die Menſchen meynen,
und aus den Meynungen vorausſagen, was
ſie thun werden.
Doch wir duͤrfen unſere Schweizertheorie
nicht verlaſſen, ohne daß ihr von uns auch
Gerechtigkeit widerfahre. Bodmer, ſoviel er
ſich auch bemuͤht, iſt theoretiſch und practiſch
zeitlebens ein Kind geblieben. Breitinger
war ein tuͤchtiger, gelehrter, einſichtsvoller
Mann, dem, als er ſich recht umſah, die
ſaͤmmtlichen Erforderniſſe einer Dichtung nicht
entgingen, ja es laͤßt ſich nachweiſen, daß er
die Maͤngel ſeiner Methode dunkel fuͤhlen
mochte. Merkwuͤrdig iſt z. B. ſeine Frage:
ob ein gewiſſes beſchreibendes Gedicht von Koͤ¬
nig auf das Luſtlager Auguſt's des zweyten
wirklich ein Gedicht ſey? ſo wie die Beant¬
wortung derſelben guten Sinn zeigt. Zu ſei¬
ner voͤlligen Rechtfertigung aber mag dienen,
daß er, von einem falſchen Puncte ausge¬
hend, nach beynahe ſchon durchlaufenem Krei¬
ſe, doch noch auf die Hauptſache ſtoͤßt, und
die Darſtellung der Sitten, Charactere, Lei¬
denſchaften, kurz, des inneren Menſchen, auf
den die Dichtkunſt doch wohl vorzuͤglich an¬
gewieſen iſt, am Ende ſeines Buchs gleich¬
ſam als Zugabe anzurathen ſich genoͤthigt
findet.
In welche Verwirrung junge Geiſter durch
ſolche ausgerenkte Maximen, halb verſtandene
Geſetze und zerſplitterte Lehren ſich verſetzt
fuͤhlten, laͤßt ſich wohl denken. Man hielt
ſich an Beyſpiele, und war auch da nicht ge¬
beſſert; die auslaͤndiſchen ſtanden zu weit ab,
ſo ſehr wie die alten, und aus den beſten
inlaͤndiſchen blickte jedesmal eine entſchiedene
Individualitaͤt hervor, deren Tugenden man
ſich nicht anmaßen konnte und in deren Feh¬
ler zu fallen man fuͤrchten mußte. Fuͤr den,
der etwas Productives in ſich fuͤhlte, war es
ein verzweiflungsvoller Zuſtand.
Betrachtet man genau, was der deutſchen
Poeſie fehlte, ſo war es ein Gehalt, und
zwar ein nationeller; an Talenten war nie¬
mals Mangel. Hier gedenken wir nur Guͤn¬
thers, der ein Poet im vollen Sinne des
Worts genannt werden darf. Ein entſchiede¬
nes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Ein¬
bildungskraft, Gedaͤchtniß, Gabe des Faſſens
und Vergegenwaͤrtigens, fruchtbar im hoͤchſten
Grade, rhythmiſchbequem, geiſtreich, witzig
und dabey vielfach unterrichtet; genug er be¬
ſaß alles, was dazu gehoͤrt, im Leben ein
zweytes Leben durch Poeſie hervorzubringen,
und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben.
Wir bewundern ſeine große Leichtigkeit, in
Gelegenheitsgedichten alle Zuſtaͤnde durchs Ge¬
fuͤhl zu erhoͤhen und mit paſſenden Geſinnun¬
gen, Bildern, hiſtoriſchen und fabelhaften
Ueberlieferungen zu ſchmuͤcken. Das Rohe
und Wilde daran gehoͤrt ſeiner Zeit, ſeiner
Lebensweiſe und beſonders ſeinem Character
oder, wenn man will, ſeiner Characterloſig¬
keit. Er wußte ſich nicht zu zaͤhmen, und
ſo zerrann ihm ſein Leben wie ſein Dichten.
Durch ein unfertiges Betragen hatte ſich
Guͤnther das Gluͤck verſcherzt, an dem Hofe
Auguſt's des zweyten angeſtellt zu werden, wo
man, zu allem uͤbrigen Prunk, ſich auch nach
einem Hofpoeten umſah, der den Feſtlichkei¬
ten Schwung und Zierde geben und eine vor¬
uͤbergehende Pracht verewigen koͤnnte. Von
Koͤnig war geſitteter und gluͤcklicher, er be¬
kleidete dieſe Stelle mit Wuͤrde und Beyfall.
In allen ſouverainen Staaten kommt der
Gehalt fuͤr die Dichtkunſt von oben herunter,
und vielleicht war das Luſtlager bey Muͤhl¬
berg der erſte wuͤrdige, wo nicht nationelle,
doch provinzielle Gegenſtand, der vor einem
Dichter auftrat. Zwey Koͤnige, die ſich in
Gegenwart eines großen Heers begruͤßen, ihr
ſaͤmmtlicher Hof- und Kriegsſtaat um ſie her,
wohlgehaltene Truppen, ein Scheinkrieg, Fe¬
ſte aller Art; Beſchaͤftigung genug fuͤr den
aͤußeren Sinn und uͤberfließender Stoff fuͤr
ſchildernde und beſchreibende Poeſie.
Freylich hatte dieſer Gegenſtand einen in¬
neren Mangel; eben daß es nur Prunk und
Schein war, aus dem keine That hervortre¬
ten konnte. Niemand, außer den Erſten, mach¬
te ſich bemerkbar, und wenn es ja geſchehen
waͤre, durfte der Dichter den Einen nicht her¬
vorheben, um Andere nicht zu verletzen. Er
mußte den Hof- und Staatscalender zu Rathe
ziehen, und die Zeichnung der Perſonen lief
daher ziemlich trocken ab; ja ſchon die Zeit¬
genoſſen machten ihm den Vorwurf, er habe
die Pferde beſſer geſchildert als die Menſchen.
Sollte dieß aber nicht gerade zu ſeinem Lobe
gereichen? daß er ſeine Kunſt gleich da be¬
wies, wo ſich ein Gegenſtand fuͤr dieſelbe
darbot. Auch ſcheint die Hauptſchwierigkeit
ſich ihm bald offenbart zu haben: denn das
Gedicht hat ſich nicht uͤber den erſten Geſang
hinaus erſtreckt.
Unter ſolchen Studien und Betrachtungen
uͤberraſchte mich ein unvermuthetes Ereigniß
und vereitelte das loͤbliche Vorhaben, unſere
neuere Litteratur von vorne herein kennen zu
lernen. Mein Landsmann Johann Ge¬
org Schloſſer hatte, nachdem er ſeine
academiſchen Jahre mit Fleiß und Anſtren¬
gung zugebracht, ſich zwar in Frankfurt am
Main auf den gewoͤhnlichen Weg der Advo¬
catur begeben; allein ſein ſtrebender und das
Allgemeine ſuchender Geiſt konnte ſich aus
mancherley Urſachen in dieſe Verhaͤltniſſe nicht
finden. Er nahm eine Stelle als Geheim¬
ſecretair bey dem Herzog Ludwig von
Wuͤrtemberg, der ſich in Treptow auf¬
hielt, ohne Bedenken an: denn der Fuͤrſt
war unter denjenigen Großen genannt, die
auf eine edle und ſelbſtaͤndige Weiſe ſich, die
Ihrigen und das Ganze aufzuklaͤren, zu beſ¬
ſern und zu hoͤheren Zwecken zu vereinigen
gedachten. Dieſer Fuͤrſt Ludwig iſt es, wel¬
cher, um ſich wegen der Kinderzucht Raths
zu erholen, an Rouſſeau geſchrieben hatte,
deſſen bekannte Antwort mit der bedenklichen
Phraſe anfaͤngt: Si j'avois le malheur d'être
né prince. —
Den Geſchaͤften des Fuͤrſten nicht allein,
ſondern auch der Erziehung ſeiner Kinder ſoll¬
te nun Schloſſer wo nicht vorſtehen, doch
mit Rath und That willig zu Handen ſeyn.
Dieſer junge, edle, den beſten Willen hegende
Mann, der ſich einer vollkommenen Reinig¬
keit der Sitten befliß, haͤtte durch eine ge¬
wiſſe trockene Strenge die Menſchen leicht
von ſich entfernt, wenn nicht eine ſchoͤne und
ſeltene litterariſche Bildung, ſeine Sprach¬
kenntniſſe, ſeine Fertigkeit ſich ſchriftlich, ſo¬
wohl in Verſen als in Proſa, auszudruͤcken.
Jedermann angezogen und das Leben mit
ihm erleichtert haͤtte. Daß dieſer durch Leip¬
zig kommen wuͤrde war mir angekuͤndigt, und
ich erwartete ihn mit Sehnſucht. Er kam
und trat in einem kleinen Gaſt- oder Wein¬
hauſe ab, das im Bruͤhl lag und deſſen
Wirth Schoͤnkopf hieß. Dieſer hatte eine
Frankfurterinn zur Frau, und ob er gleich
die uͤbrige Zeit des Jahres wenig Perſonen
bewirthete, und in das kleine Haus keine
Gaͤſte aufnehmen konnte; ſo war er doch
Meſſenzeits von vielen Frankfurtern beſucht,
welche dort zu ſpeiſen und im Nothfall auch
wohl Quartier zu nehmen pflegten. Dorthin
eilte ich, um Schloſſern aufzuſuchen, als er
mir ſeine Ankunft melden ließ. Ich erinner¬
te mich kaum, ihn fruͤher geſehen zu haben,
und fand einen jungen, wohlgebauten Mann,
mit einem runden zuſammengefaßten Geſicht,
ohne daß die Zuͤge deshalb ſtumpf geweſen
waͤren. Die Form ſeiner gerundeten Stirn,
zwiſchen ſchwarzen Augenbrauen und Locken,
deutete auf Ernſt, Strenge und vielleicht Ei¬
genſinn. Er war gewiſſermaßen das Gegen¬
theil von mir, und eben dieß begruͤndete wohl
unſere dauerhafte Freundſchaft. Ich hatte die
groͤßte Achtung fuͤr ſeine Talente um ſo mehr,
als ich gar wohl bemerkte, daß er mir in
der Sicherheit deſſen, was er that und lei¬
ſtete, durchaus uͤberlegen war. Die Achtung
und das Zutrauen, das ich ihm bewies, be¬
ſtaͤtigten ſeine Neigung, und vermehrten die
Nachſicht, die er mit meinem lebhaften, fah¬
rigen und immer regſamen Weſen, im Ge¬
genſatz mit dem ſeinigen, haben mußte. Er
ſtudirte die Englaͤnder fleißig, Pope war,
wo nicht ſein Muſter, doch ſein Augenmerk
und er hatte, im Widerſtreit mit dem Ver¬
ſuch uͤber den Menſchen jenes Schrift¬
ſtellers, ein Gedicht in gleicher Form und
Silbenmaß geſchrieben, welches der chriſtli¬
chen Religion uͤber jenen Deismus den Tri¬
umph verſchaffen ſollte. Aus dem großen
Vorrath von Papieren, die er bey ſich fuͤhr¬
te, ließ er mir ſodann poetiſche und proſaiſche
Aufſaͤtze in allen Sprachen ſehen, die, indem
ſie mich zur Nachahmung aufriefen, mich
abermals unendlich beunruhigten. Doch wu߬
te ich mir durch Thaͤtigkeit ſogleich zu helfen.
Ich ſchrieb an ihn gerichtete deutſche, fran¬
zoͤſiſche, engliſche, italieniſche Gedichte, wozu
ich den Stoff aus unſeren Unterhaltungen
nahm, welche durchaus bedeutend und unter¬
richtend waren.
Schloſſer wollte nicht Leipzig verlaſſen,
ohne die Maͤnner, welche Namen hatten,
von Angeſicht zu Angeſicht geſehen zu haben.
Ich fuͤhrte ihn gern zu denen mir bekannten,
die von mir noch nicht beſuchten lernte ich
auf dieſe Weiſe ehrenvoll kennen, weil er,
als ein unterrichteter, ſchon characteriſirter
Mann mit Auszeichnung empfangen wurde
und den Aufwand des Geſpraͤchs recht gut zu
beſtreiten wußte. Unſern Beſuch bey Gott¬
ſched darf ich nicht uͤbergehen, indem die
Sinnes- und Sittenweiſe dieſes Mannes dar¬
aus hervortritt. Er wohnte ſehr anſtaͤndig
in dem erſten Stock des goldenen Baͤren, wo
ihm der aͤltere Breitkopf, wegen des großen
Vortheils, den die Gottſchediſchen Schriften,
Ueberſetzungen und ſonſtigen Aſſiſtenzen der
Handlung gebracht, eine lebenslaͤngliche Woh¬
nung zugeſagt hatte.
Wir ließen uns melden. Der Bediente
fuͤhrte uns in ein großes Zimmer, indem er
ſagte, der Herr werde gleich kommen. Ob
wir nun eine Gebaͤrde, die er machte, nicht
recht verſtanden, wuͤßte ich nicht zu ſagen:
genug wir glaubten, er habe uns in das an¬
ſtoßende Zimmer gewieſen. Wir traten hin¬
ein zu einer ſonderbaren Scene: denn in dem
Augenblick trat Gottſched, der große breite
rieſenhafte Mann, in einem gruͤndamaſtnen,
mit rothem Tafft gefuͤtterten Schlafrock zur
entgegengeſetzten Thuͤre herein; aber ſein un¬
geheures Haupt war kahl und ohne Bede¬
II. 9
ckung. Dafuͤr ſollte jedoch ſogleich geſorgt
ſeyn: denn der Bediente ſprang mit einer
großen Allongeperuͤcke auf der Hand (die Lo¬
cken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer
Seitenthuͤre herein und reichte den Haupt¬
ſchmuck ſeinem Herrn mit erſchrockner Ge¬
baͤrde. Gottſched, ohne den mindeſten Ver¬
druß zu aͤußern, hob mit der linken Hand
die Peruͤcke von dem Arme des Dieners,
und indem er ſie ſehr geſchickt auf den Kopf
ſchwang, gab er mit ſeiner rechten Tatze dem
armen Menſchen eine Ohrfeige, ſo daß dieſer,
wie es im Luſtſpiel zu geſchehen pflegt, ſich
zur Thuͤre hinaus wirbelte, worauf der an¬
ſehnliche Altvater uns ganz gravitaͤtiſch zu
ſitzen und einen ziemlich langen Dis¬
cours mit gutem Anſtand durchfuͤhrte.
So lange Schloſſer in Leipzig blieb ſpei¬
ſte ich taͤglich mit ihm, und lernte eine ſehr
angenehme Tiſchgeſellſchaft kennen. Einige
Lieflaͤnder und der Sohn des Oberhofpredi¬
gers Herrmann in Dresden, nachheriger
Burgemeiſter zu Leipzig, und ihre Hofmei¬
ſter, Hofrath Pfeil, Verfaſſer des Grafen
von P., eines Pendants zu Gellerts ſchwedi¬
ſcher Graͤfinn, Zachariaͤ, ein Bruder des
Dichters, und Krebel, Redacteur geogra¬
phiſcher und genealogiſcher Handbuͤcher, wa¬
ren geſittete, heitre und freundliche Menſchen.
Zachariaͤ der ſtillſte, Pfeil ein feiner, bey¬
nahe etwas Diplomatiſches an ſich habender
Mann, doch ohne Ziererey und mit großer
Gutmuͤthigkeit, Krebel ein wahrer Fallſtaff,
groß, wohlbeleibt, blond, vorliegende, heite¬
re, himmelhelle Augen, immer froh und gu¬
ter Dinge. Dieſe Perſonen begegneten mir
ſaͤmmtlich, theils wegen Schloſſers, theils
auch wegen meiner eignen offnen Gutmuͤthig¬
keit und Zuthaͤtigkeit, auf das allerartigſte,
und es brauchte kein großes Zureden, kuͤnftig
mit ihnen den Tiſch zu theilen. Ich blieb
wirklich nach Schloſſers Abreiſe bey ihnen,
gab den Ludwigiſchen Tiſch auf, und befand
9 *
mich in dieſer geſchloſſenen Geſellſchaft um ſo
wohler, als mir die Tochter vom Hauſe, ein
gar huͤbſches, nettes Maͤdchen, ſehr wohl ge¬
fiel, und mir Gelegenheit ward freundliche
Blicke zu wechſeln, ein Behagen, das ich
ſeit dem Unfall mit Gretchen weder geſucht
noch zufaͤllig gefunden hatte. Die Stunden
des Mittagseſſens brachte ich mit meinen
Freunden heiter und nuͤtzlich zu. Krebel hat¬
te mich wirklich lieb und wußte mich mit
Maßen zu necken und anzuregen; Pfeil hin¬
gegen bewies mir eine ernſte Neigung, in¬
dem er mein Urtheil uͤber manches zu leiten
und zu beſtimmen ſuchte.
Bey dieſem Umgange wurde ich durch
Geſpraͤche, durch Beyſpiele und durch eignes
Nachdenken gewahr, daß der erſte Schritt,
um aus der waͤßrigen, weitſchweifigen, nul¬
len Epoche ſich herauszuretten, nur durch
Beſtimmtheit, Praͤciſion und Kuͤrze gethan
werden koͤnne. Bey dem bisherigen Styl
konnte man das Gemeine nicht vom Beſſeren
unterſcheiden, weil alles unter einander ins
Flache gezogen wird. Schon hatten Schrift¬
ſteller dieſem breiten Unheil zu entgehen ge¬
ſucht, und es gelang ihnen mehr oder weni¬
ger. Haller und Rammler waren von
Natur zum Gedraͤngten geneigt; Leſſing
und Wieland ſind durch Reflexion dazu ge¬
fuͤhrt worden. Der erſte wurde nach und
nach ganz epigrammatiſch in ſeinen Gedich¬
ten, knapp in der Minna, laconiſch in
Emilia Gallotti, ſpaͤter kehrte er erſt
zu einer heiteren Naivetaͤt zuruͤck, die ihn ſo
wohl kleidet im Nathan. Wieland, der
noch im Agathon, Don Sylvio, den
Comiſchen Erzaͤhlungen mit unter pro¬
lix geweſen war, wird in Muſarion und
Idris auf eine wunderſame Weiſe gefaßt und
genau, mit großer Anmuth. Klopſtock,
in den erſten Geſaͤngen der Meſſiade, iſt nicht
ohne Weitſchweifigkeit; in den Oden und an¬
deren kleinen Gedichten erſcheint er gedraͤngt.
ſo auch in ſeinen Tragoͤdien. Durch ſeinen
Wettſtreit mit den Alten, beſonders dem Ta¬
citus, ſieht er ſich immer mehr ins Enge ge¬
noͤthigt, wodurch er zuletzt unverſtaͤndlich und
ungenießbar wird. Gerſtenberg, ein ſchoͤ¬
nes aber bizarres Talent, nimmt ſich auch
zuſammen, ſein Verdienſt wird geſchaͤtzt, macht
aber im Ganzen wenig Freude. Gleim, weit¬
ſchweifig, behaglich von Natur, wird kaum
Einmal concis in den Kriegsliedern. Ramm¬
ler iſt eigentlich mehr Kritiker als Poet.
Er faͤngt an was Deutſche im Lyriſchen ge¬
leiſtet, zu ſammeln. Nun findet er, daß
ihm kaum Ein Gedicht voͤllig genug thut; er
muß auslaſſen, redigiren, veraͤndern, damit
die Dinge nur einige Geſtalt bekommen.
Hierdurch macht er ſich faſt ſo viel Feinde
als es Dichter und Liebhaber giebt; da ſich
jeder eigentlich nur an ſeinen Maͤngeln wie¬
der erkennt, und das Publicum ſich eher fuͤr
ein fehlerhaftes Individuelle intereſſirt, als
fuͤr das, was nach einer allgemeinen Ge¬
ſchmacksregel hervorgebracht oder verbeſſert
wird. Die Rhythmik lag damals noch in
der Wiege, und Niemand wußte ein Mittel
ihre Kindheit zu verkuͤrzen. Die poetiſche
Proſa nahm uͤberhand. Geßner und Klop¬
ſtock erregten manche Nachahmer; andere wie¬
der forderten doch ein Sylbenmaß und uͤber¬
ſetzten dieſe Profe in faßliche Rhythmen.
Aber auch dieſe machten es Niemand zu
Dank: denn ſie mußten auslaſſen und zu¬
ſetzen, und das proſaiſche Original galt im¬
mer fuͤr das Beſſere. Jemehr aber bey al¬
lem dieſem das Gedrungene geſucht wird, deſto
mehr wird Beurtheilung moͤglich, weil das
Bedeutende, enger zuſammengebracht, endlich
eine ſichere Vergleichung zulaͤßt. Es ergab
ſich auch zugleich, daß mehrere Arten von
wahrhaft poetiſchen Formen entſtanden: denn
indem man von einem jeden Gegenſtande,
den man nachbilden wollte, nur das Noth¬
wendige darzuſtellen ſuchte, ſo mußte man ei¬
nem jeden Gerechtigkeit widerfahren laſſen,
und auf dieſe Weiſe, ob es gleich Niemand
mit Bewußtſeyn that, vermannigfaltigten ſich
die Darſtellungsweiſen, unter welchen es frey¬
lich auch frazzenhafte gab, und mancher Ver¬
ſuch ungluͤcklich ablief.
Ganz ohne Frage beſaß Wieland unter
allen das ſchoͤnſte Naturell. Er hatte ſich
fruͤh in jenen ideellen Regionen, ausgebildet,
wo die Jugend ſo gern verweilt; da ihm
aber dieſe durch das was man Erfahrung
nennt, durch Begegniſſe an Welt und Wei¬
bern verleidet wurden, ſo warf er ſich auf die
Seite des Wirklichen, und gefiel ſich und An¬
dern im Widerſtreit beyder Welten, wo ſich
zwiſchen Scherz und Ernſt, im leichten Ge¬
fecht, ſein Talent am allerſchoͤnſten zeigte.
Wie manche ſeiner glaͤnzenden Productionen
fallen in die Zeit meiner academiſchen Jahre.
Muſarion wirkte am meiſten auf mich,
und ich kann mich noch des Ortes und der
Stelle erinnern, wo ich den erſten Aushaͤnge¬
bogen zu Geſicht bekam, welchen mir Oeſer
mittheilte. Hier war es, wo ich das Antike
lebendig und neu wieder zu ſehen glaubte.
Alles was in Wielands Genie plaſtiſch iſt,
zeigte ſich hier aufs vollkommenſte, und da
jener zur ungluͤcklichen Nuͤchternheit verdamm¬
te Phanias-Timon ſich zuletzt wieder mit
ſeinem Maͤdchen und der Welt verſoͤhnt, ſo
mag man die menſchenfeindliche Epoche wohl
auch mit ihm durchleben. Uebrigens gab
man dieſen Werken ſehr gern einen heiteren
Widerwillen gegen erhoͤhte Geſinnungen zu,
welche, bey leicht verfehlter Anwendung aufs
Leben, oͤfters der Schwaͤrmerey verdaͤchtig
werden. Man verzieh dem Autor, wenn er
das, was man fuͤr wahr und ehrwuͤrdig hielt,
mit Spott verfolgte, um ſo eher, als er da¬
durch zu erkennen gab, daß es ihm ſelbſt im¬
merfort zu ſchaffen mache.
Wie kuͤmmerlich die Kritik ſolchen Arbei¬
ten damals entgegen kam, laͤßt ſich aus den
erſten Baͤnden der allgemeinen deutſchen Bi¬
bliothek erſehen. Der Comiſchen Erzaͤhlungen
geſchieht ehrenvolle Erwaͤhnung; aber hier iſt
keine Spur von Einſicht in den Character
der Dichtart ſelbſt. Der Recenſent hatte ſei¬
nen Geſchmack, wie damals alle, an Bey¬
ſpielen gebildet. Hier iſt nicht bedacht, daß
man vor allen Dingen bey Beurtheilung ſol¬
cher parodiſtiſchen Werke den originalen ed¬
len, ſchoͤnen Gegenſtand vor Augen haben
muͤſſe, um zu ſehen, ob der Parodiſt ihm
wirklich eine ſchwache und comiſche Seite ab¬
gewonnen, ob er ihm etwas geborgt, oder,
unter dem Schein einer ſolchen Nachahmung,
vielleicht gar ſelbſt eine treffliche Erfindung
geliefert? Von allem dem ahndet man nichts,
ſondern die Gedichte werden ſtellenweis gelobt
und getadelt. Der Recenſent hat, wie er
ſelbſt geſteht, ſoviel was ihm gefallen ange¬
ſtrichen, daß er nicht einmal im Druck alles
anfuͤhren kann. Kommt man nun gar der
hoͤchſt verdienſtlichen Ueberſetzung Shakespear's
mit dem Ausruf entgegen: „Von rechts¬
wegen ſollte man einen Mann wie Shakes¬
peare gar nicht uͤberſetzt haben“: ſo begreift
ſich ohne weiteres, wie unendlich weit die
allgemeine deutſche Bibliothek in Sachen des
Geſchmacks zuruͤck war, und daß junge Leute,
von wahrem Gefuͤhl belebt, ſich nach anderen
Leitſternen umzuſehen hatten.
Den Stoff, der auf dieſe Weiſe mehr
oder weniger die Form beſtimmte, ſuchten die
Deutſchen uͤberall auf. Sie hatten wenig oder
keine Nationalgegenſtaͤnde behandelt. Schle¬
gels Herrmann deutete nur darauf hin.
Die idylliſche Tendenz verbreitete ſich unend¬
lich. Das Charakterloſe der Geßnerſchen,
bey großer Anmuth und kindlicher Herzlich¬
keit, machte Jeden glauben, daß er etwas
Aehnliches vermoͤge. Eben ſo bloß aus dem
Allgemeinmenſchlichen gegriffen waren jene Ge¬
dichte, die ein Fremdnationelles darſtellen ſoll¬
ten, z. B. die juͤdiſchen Schaͤfergedichte, uͤber¬
haupt die patriarchaliſchen und was ſich ſonst
auf das alte Teſtament bezog. Bodmers
Noachide war ein vollkommenes Symbol
der um den deutſchen Parnaß angeſchwollenen
Waſſerfluth, die ſich nur langſam verlief.
Das Anakreontiſche Gegaͤngel ließ gleichfalls
unzaͤhlige mittelmaͤßige Koͤpfe im Breiten her¬
umſchwanken. Die Praͤciſion des Horaz
noͤthigte die Deutſchen, doch nur langſam,
ſich ihm gleichzuſtellen. Comiſche Heldenge¬
dichte, meiſt nach dem Vorbild von Pope's
Lockenraub, dienten auch nicht, eine beſſere
Zeit herbeyzufuͤhren.
Noch muß ich hier eines Wahnes geden¬
ken, der ſo ernſthaft wirkte als er laͤcherlich
ſeyn muß, wenn man ihn naͤher beleuchtet.
Die Deutſchen hatten nunmehr genugſam
hiſtoriſche Kenntniß von allen Dichtarten,
worinne ſich die verſchiedenen Nationen aus¬
gezeichnet hatten. Von Gottſched war ſchon
dieſes Faͤcherwerk, welches eigentlich den in¬
neren Begriff von Poeſie zu Grunde richtet,
in ſeiner kritiſchen Dichtkunſt ziemlich voll¬
ſtaͤndig zuſammengezimmert und zugleich nach¬
gewieſen, daß auch ſchon deutſche Dichter
mit vortrefflichen Werken alle Rubriken aus¬
zufuͤllen gewußt. Und ſo ging es denn im¬
mer fort. Jedes Jahr wurde die Collection
anſehnlicher, aber auch jedes Jahr vertrieb
eine Arbeit die andere aus dem Locat, in
dem ſie bisher geglaͤnzt hatte. Wir beſaßen
nunmehr, wo nicht Homere, doch Virgile
und Miltone, wo nicht einen Pindar, doch
einen Horaz; an Theokriten war kein Man¬
gel; und ſo wiegte man ſich mit Vergleichun¬
gen nach Außen, indem die Maſſe poetiſcher
Werke immer wuchs, damit auch endlich ei¬
ne Vergleichung nach Innen Statt finden
konnte.
Stand es nun mit den Sachen des Ge¬
ſchmacks auf einem ſehr ſchwankenden Fuße;
ſo konnte man jener Epoche auf keine Weiſe
ſtreitig machen, daß innerhalb des proteſtanti¬
ſchen Theils von Deutſchland und der Schweiz
ſich dasjenige gar lebhaft zu regen anfing,
was man Menſchenverſtand zu nennen pflegt.
Die Schulphiloſophie, welche jederzeit das
Verdienſt hat, alles dasjenige wornach der
Menſch nur fragen kann, nach angenomme¬
nen Grundſaͤtzen, in einer beliebten Ordnung,
unter beſtimmten Rubriken vorzutragen, hat¬
te ſich durch das oft Dunkle und Unnuͤtzſchei¬
nende ihres Inhalts, durch unzeitige Anwen¬
dung einer an ſich reſpectabeln Methode und
durch die allzugroße Verbreitung uͤber ſo viele
Gegenſtaͤnde, der Menge fremd, ungenießbar
und endlich entbehrlich gemacht. Mancher
gelangte zur Ueberzeugung, daß ihm wohl
die Natur ſoviel guten und geraden Sinn
zur Ausſtattung gegoͤnnt habe, als er ohnge¬
faͤhr beduͤrfe, ſich von den Gegenſtaͤnden ei¬
nen ſo deutlichen Begriff zu machen, daß er
mit ihnen fertig werden, und zu ſeinem und
anderer Nutzen damit gebahren koͤnne, ohne
gerade ſich um das Allgemeinſte muͤhſam zu
bekuͤmmern und zu forſchen, wie doch die
entfernteſten Dinge, die uns nicht ſonderlich
beruͤhren, wohl zuſammenhangen moͤchten?
Man machte den Verſuch, man that die Au¬
gen auf, ſah gerade vor ſich hin, war auf¬
merkſam, fleißig, thaͤtig, und glaubte, wenn
man in ſeinem Kreis richtig urtheile und
handle, ſich auch wohl herausnehmen zu duͤr¬
fen, uͤber Anderes, was entfernter lag, mit¬
zuſprechen.
Nach einer ſolchen Vorſtellung war nun
Jeder berechtiget, nicht allein zu philoſophi¬
ren, ſondern ſich auch nach und nach fuͤr ei¬
nen Philoſophen zu halten. Die Philoſo¬
phie war alſo ein mehr oder weniger geſun¬
der und geuͤbter Menſchenverſtand, der es
wagte, ins Allgemeine zu gehen und uͤber
innere und aͤußere Erfahrungen abzuſprechen.
Ein heller Scharfſinn und eine beſondere
Maͤßigkeit, indem man durchaus die Mittel¬
ſtraße und Billigkeit gegen alle Meynungen
fuͤr das Rechte hielt, verſchaffte ſolchen Schrif¬
ten und muͤndlichen Aeußerungen Anſehen und
Zutrauen, und ſo fanden ſich zuletzt Philoſo¬
phen in allen Facultaͤten, ja in allen Staͤn¬
den und Hanthierungen.
Auf dieſem Wege mußten die Theologen
ſich zu der ſogenannten natuͤrlichen Religion hin¬
neigen, und wenn zur Sprache kam, in wie¬
fern das Licht der Natur uns in der Erkenntniß
Gottes, der Verbeſſerung und Veredlung un¬
ſerer ſelbſt zu foͤrdern hinreichend ſey, ſo wagte
man gewoͤhnlich ſich zu deſſen Gunſten ohne
viel Bedenken zu entſcheiden. Aus jenem
Maͤßigkeitsprincip gab man ſodann ſaͤmmtli¬
chen poſitiven Religionen gleiche Rechte, wo¬
durch denn eine mit der andern gleichguͤltig
und unſicher wurde. Uebrigens ließ man
denn doch aber alles beſtehen, und weil die
Bibel ſo voller Gehalt iſt, daß ſie mehr als
jedes andere Buch Stoff zum Nachdenken und
Gelegenheit zu Betrachtungen uͤber die menſch¬
lichen Dinge darbietet; ſo konnte ſie durchaus
nach wie vor bey allen Kanzelreden und ſonſti¬
gen religioſen Verhandlungen zum Grunde ge¬
legt werden.
Allein dieſem Werke ſtand, ſo wie den
ſaͤmmtlichen Profanſcribenten, noch ein eige¬
nes Schickſal bevor, welches im Laufe der Zeit
nicht abzuwenden war. Man hatte naͤmlich
bisher auf Treu und Glauben angenommen,
daß dieſes Buch der Buͤcher in Einem Geiſte
verfaßt, ja daß es von dem goͤttlichen Geiſte
eingehaucht und gleichſam dictirt ſey. Doch
waren ſchon laͤngſt von Glaͤubigen und Un¬
glaͤubigen die Ungleichheiten der verſchiedenen
Theile deſſelben bald geruͤgt, bald vertheidigt
worden. Englaͤnder, Franzoſen, Deutſche hat¬
ten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit,
Scharfſinn, Frechheit, Muthwillen angegriffen,
und eben ſo war ſie wieder von ernſthaften,
wohldenkenden Menſchen einer jeden Nation in
II. 10
Schutz genommen worden. Ich fuͤr meine Per¬
ſon hatte ſie lieb und werth: denn faſt ihr
allein war ich meine ſittliche Bildung ſchuldig,
und die Begebenheiten, die Lehren, die Sym¬
bole, die Gleichniſſe, alles hatte ſich tief bey
mir eingedruͤckt und war auf eine oder die an¬
dere Weiſe wirkſam geweſen. Mir misfielen
daher die ungerechten, ſpoͤttlichen und verdre¬
henden Angriffe; doch war man damals ſchon
ſo weit, daß man theils als einen Haupt¬
vertheidigungsgrund vieler Stellen ſehr willig
annahm, Gott habe ſich nach der Denkweiſe
und Faſſungskraft der Menſchen gerichtet, ja
die vom Geiſte Getriebenen haͤtten doch deswe¬
gen nicht ihren Character, ihre Individualitaͤt
verleugnen koͤnnen, und Amos als Kuhhirte
fuͤhre nicht die Sprache Jeſaias, welcher
ein Prinz ſolle geweſen ſeyn.
Aus ſolchen Geſinnungen und Ueberzeugun¬
gen entwickelte ſich, beſonders bey immer
wachſenden Sprachkenntniſſen, gar natuͤrlich
jene Art des Studiums, daß man die orienta¬
liſchen Localitaͤten, Nationalitaͤten, Naturpro¬
ducte und Erſcheinungen genauer zu ſtudiren
und ſich auf dieſe Weiſe jene alte Zeit zu verge¬
genwaͤrtigen ſuchte. Michaelis legte die gan¬
ze Gewalt ſeines Talents und ſeiner Kenntniſſe
auf dieſe Seite. Reiſebeſchreibungen wurden
ein kraͤftiges Huͤlfsmittel zu Erklaͤrung der hei¬
ligen Schriften, und neuere Reiſende, mit
vielen Fragen ausgeruͤſtet, ſollten durch Beant¬
wortung derſelben fuͤr die Propheten und Apo¬
ſtel zeugen.
Indeſſen aber man von allen Seiten be¬
muͤht war, die heiligen Schriften zu einem na¬
tuͤrlichen Anſchauen heranzufuͤhren, und die ei¬
gentliche Denk- und Vorſtellungsweiſe derſel¬
ben allgemeiner faßlich zu machen, damit durch
dieſe hiſtoriſch-kritiſche Anſicht mancher Ein¬
wurf beſeitigt, manches Anſtoͤßige getilgt und
jede ſchale Spoͤtterey umwirkſam gemacht wuͤr¬
de; ſo trat in einigen Maͤnnern gerade die ent¬
10 *
gegengeſetzte Sinnesart hervor, indem ſolche die
dunkelſten, geheimnißvollſten Schriften zum
Gegenſtand ihrer Betrachtungen waͤhlten, und
ſolche aus ſich ſelbſt durch Conjecturen, Rech¬
nungen und andere geiſtreiche und ſeltſame Com¬
binationen, zwar nicht aufhellen, aber doch be¬
kraͤftigen und in ſofern ſie Weiſſagungen ent¬
hielten, durch den Erfolg begruͤnden und da¬
durch einen Glauben an das Naͤchſtzuerwarten¬
de rechtfertigen wollten.
Der ehrwuͤrdige Bengel hatte ſeinen Be¬
muͤhungen um die Offenbarung Johannis da¬
durch einen entſchiedenen Eingang verſchafft, daß
er als ein verſtaͤndiger, rechtſchaffener, gottes¬
fuͤrchtiger, als ein Mann ohne Tadel bekannt
war. Tiefe Gemuͤther ſind genoͤthigt, in der
Vergangenheit ſo wie in der Zukunft zu leben.
Das gewoͤhnliche Treiben der Welt kann ih¬
nen von keiner Bedeutung ſeyn, wenn ſie nicht
in dem Verlauf der Zeiten bis zur Gegenwart,
enthuͤllte Prophezeyungen, und in der naͤchſten
wie in der fernſten Zukunft, verhuͤllte Weiſſa¬
gungen verehren. Hierdurch entſpringt ein Zu¬
ſammenhang, der in der Geſchichte vermißt wird,
die uns nur ein zufaͤlliges Hin- und Wieder¬
ſchwanken in einem nothwendig geſchloſſenen
Kreiſe zu uͤberliefern ſcheint. Doctor Cruſius
gehoͤrte zu denen, welchen der prophetiſche
Theil der heiligen Schriften am meiſten zuſag¬
te, indem er die zwey entgegengeſetzteſten Ei¬
genſchaften des menſchlichen Weſens zugleich
in Thaͤtigkeit ſetzt, das Gemuͤth und den
Scharfſinn. Dieſer Lehre hatten ſich viele
Juͤnglinge gewidmet, und bildeten ſchon eine
anſehnliche Maſſe, die um deſto mehr in die
Augen fiel, als Ernesti mit den Seinigen
das Dunkel, in welchem jene ſich gefielen, nicht
aufzuhellen, ſondern voͤllig zu vertreiben droh¬
te. Daraus entſtanden Haͤndel, Haß und
Verfolgung und manches Unannehmliche. Ich
hielt mich zur klaren Parthey und ſuchte mir
ihre Grundſaͤtze und Vortheile zuzueignen, ob
ich mir gleich zu ahnden erlaubte, daß durch
dieſe hoͤchſt loͤbliche, verſtaͤndige Auslegungs¬
weiſe zuletzt der poetiſche Gehalt jener Schrif¬
ten mit dem prophetiſchen verloren gehen muͤſſe.
Naͤher aber lag denen, welche ſich mit
deutſcher Litteratur und ſchoͤnen Wiſſenſchaften
abgaben, die Bemuͤhung ſolcher Maͤnner, die,
wie Jeruſalem, Zollikoffer, Spal¬
ding, in Predigten und Abhandlungen, durch
einen guten und reinen Styl, der Religion
und der ihr ſo nah verwandten Sittenlehre,
auch bey Perſonen von einem gewiſſen Sinn
und Geſchmack, Beyfall und Anhaͤnglichkeit
zu erwerben ſuchten. Eine gefaͤllige Schreib¬
art fing an durchaus noͤthig zu werden, und
weil eine ſolche vor allen Dingen faßlich ſeyn
muß, ſo ſtanden von vielen Seiten Schrift¬
ſteller auf, welche von ihren Studien, ihrem
Metier klar, deutlich, eindringlich, und ſo¬
wohl fuͤr die Kenner als fuͤr die Menge zu
ſchreiben unternahmen.
Nach dem Vorgange eines Auslaͤnders,
Tiſſot, fingen nunmehr auch die Aerzte mit
Eifer an auf die allgemeine Bildung zu wir¬
ken. Sehr großen Einfluß hatten Haller,
Unzer, Zimmermann, und was man
im Einzelnen gegen ſie, beſonders gegen den
letzten, auch ſagen mag, ſie waren zu ihrer
Zeit ſehr wirkſam. Und davon ſollte in der
Geſchichte, vorzuͤglich aber in der Biographie
die Rede ſeyn: denn nicht in ſofern der
Menſch etwas zuruͤcklaͤßt, ſondern in ſofern er
wirkt und genießt und andere zu wirken und
zu genießen anregt, bleibt er von Bedeutung.
Die Rechtsgelehrten, von Jugend auf
gewoͤhnt an einen abſtruſen Styl, welcher ſich
in allen Expeditionen, von der Kanzelley des
unmittelbaren Ritters bis auf den Reichstag
zu Regensburg, auf die barockſte Weiſe er¬
hielt, konnten ſich nicht leicht zu einer gewiſ¬
ſen Freyheit erheben, um ſo weniger, als die
Gegenſtaͤnde, welche ſie zu behandeln hatten,
mit der aͤußeren Form und folglich auch mit
dem Styl aufs genaueſte zuſammenhingen.
Doch hatte der juͤngere von Moſer ſich
ſchon als ein freyer und eigenthuͤmlicher
Schriftſteller bewieſen und Puͤtter durch
die Klarheit ſeines Vortrags auch Klarheit
in ſeinen Gegenſtand und den Styl gebracht,
womit er behandelt werden ſollte. Alles was
aus ſeiner Schule hervorging, zeichnete ſich
dadurch aus. Und nun fanden die Philoſo¬
phen ſelbſt ſich genoͤthigt, um popular zu
ſeyn, auch deutlich und faßlich zu ſchreiben.
Mendelsſohn, Garve traten aus und
erregten allgemeine Theilnahme und Bewun¬
derung.
Mit der Bildung der deutſchen Sprache
und des Stvls in jedem Fache wuchs auch
die Urtheilsfaͤhigkeit, und wir bewundern
in jener Zeit Recenſionen von Werken uͤber
religioſe und ſittliche Gegenſtaͤnde, ſo wie
uͤber aͤrztliche; wenn wir dagegen bemerken,
daß die Beurtheilungen von Gedichten und
was ſich ſonſt auf ſchoͤne Litteratur beziehen
mag, wo nicht erbaͤrmlich, doch wenigſtens
ſehr ſchwach befunden werden. Dieſes gilt
ſogar von den Litteraturbriefen und von der
allgemeinen deutſchen Bibliothek, wie von der
Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, wovon
man gar leicht bedeutende Beyſpiele anfuͤhren
koͤnnte.
Dieſes alles mochte jedoch ſo bunt durch
einander gehen als es wollte, ſo blieb einem
Jeden, der etwas aus ſich zu produciren ge¬
dachte, der nicht ſeinen Vorgaͤngern die Wor¬
te und Phraſen nur aus dem Munde neh¬
men wollte, nichts weiter uͤbrig, als ſich
fruͤh und ſpaͤt nach einem Stoffe umzuſehen,
den er zu benutzen gedaͤchte. Auch hier wur¬
den wir ſehr in der Irre herumgefuͤhrt.
Man trug ſich mit einem Worte von Kleist,
das wir oft genug hoͤren mußten. Er hatte
naͤmlich gegen diejenigen, welche ihn wegen
ſeiner oͤftern einſamen Spazirgaͤnge beriefen,
ſcherzhaft, geiſtreich und wahrhaft geantwor¬
tet: er ſey dabey nicht muͤßig, er gehe auf die
Bilderjagd. Einem Edelmann und Soldaten
ziemte dieß Gleichniß wohl, der ſich dadurch
Maͤnnern ſeines Standes gegenuͤber ſtellte, die
mit der Flinte im Arm auf die Haſen- und
Huͤhnerjagd, ſo oft ſich nur Gelegenheit zeig¬
te, auszugehen nicht verſaͤumten. Wir finden
daher in Kleiſtens Gedichten von ſolchen ein¬
zelnen, gluͤcklich aufgehaſchten, obgleich nicht
immer gluͤcklich verarbeiteten Bildern gar
Manches, was uns freundlich an die Natur
erinnert. Nun aber ermahnte man uns auch
ganz ernſtlich, auf die Bilderjagd auszuge¬
hen, die uns denn doch zuletzt nicht ganz ohne
Frucht ließ, obgleich Apels Garten, die Ku¬
chengaͤrten, das Roſenthal, Golis, Raſchwitz
und Konnewitz das wunderlichſte Revier ſeyn
mochte, um poetiſches Wildprett darin aufzu¬
ſuchen. Und doch ward ich aus jenem An¬
laß oͤfters bewogen, meinen Spazirgang ein¬
ſam anzuſtellen, und weil weder von ſchoͤnen,
noch erhabenen Gegenſtaͤnden dem Beſchauer
viel entgegentrat, und in den wirklich herrli¬
chen Roſenthale zur beſten Jahrszeit die Muͤ¬
cken keinen zarten Gedanken aufkommen ließen;
ſo ward ich, bey unermuͤdet fortgeſetzter Be¬
muͤhung, auf das Kleinleben der Natur, (ich
moͤchte dieſes Wort nach der Analogie von
Stillleben gebrauchen,) hoͤchſt aufmerkſam, und
weil die zierlichen Begebenheiten, die man in
dieſem Kreiſe gewahr wird, an und fuͤr ſich
wenig vorſtellen, ſo gewoͤhnte ich mich, in ih¬
nen eine Bedeutung zu ſehen, die ſich bald ge¬
gen die ſymboliſche, bald gegen die allegoriſche
Seite hinneigte, je nachdem Anſchauung, Ge¬
fuͤhl oder Reflexion das Uebergewicht behielt.
Ein Ereigniß, ſtatt vieler, gedenke ich zu er¬
zaͤhlen.
Ich war, nach Menſchenweiſe, in meinen
Namen verliebt und ſchrieb ihn, wie junge
und ungebildete Leute zu thun pflegen, uͤberall
an. Einſt hatte ich ihn auch ſehr ſchoͤn und ge¬
nau in die glatte Rinde eines Lindenbaums
von maͤßigem Alter geſchnitten. Den Herbſt
darauf, als meine Neigung zu Annetten in ih¬
rer beſten Bluͤthe war, gab ich mir die Muͤhe,
den ihrigen oben daruͤber zu ſchneiden. Indeſ¬
ſen hatte ich gegen Ende des Winters, als ein
launiſcher Liebender, manche Gelegenheit vom
Zaune gebrochen, um ſie zu quaͤlen und ihr
Verdruß zu machen; Fruͤhjahrs beſuchte ich zu¬
faͤllig die Stelle, und der Saft, der maͤchtig
in die Baͤume trat, war durch die Einſchnitte,
die ihren Namen bezeichneten, und die noch
nicht verharſcht waren, hervorgequollen und
benetzte mit unſchuldigen Pflanzenthraͤnen die
ſchon hart gewordenen Zuͤge des meinigen.
Sie alſo hier uͤber mich weinen zu ſehen, der
ich oft ihre Thraͤnen durch meine Unarten her¬
vorgerufen hatte, ſetzte mich in Beſtuͤrzung.
In Erinnerung meines Unrechts und ihrer Lie¬
be kamen mir ſelbſt die Thraͤnen in die Au¬
gen, ich eilte, ihr alles doppelt und dreyfach
abzubitten, verwandelte dieß Ereigniß in eine
Idylle, die ich niemals ohne Neigung leſen
und ohne Ruͤhrung Anderen vortragen konnte.
Indem ich nun, als ein Schaͤfer an der
Pleiße, mich in ſolche zarte Gegenſtaͤnde kind¬
lich genug vertiefte, und immer nur ſolche
waͤhlte, die ich geſchwind in meinen Buſen zu¬
ruͤckfuͤhren konnte, ſo war fuͤr deutſche Dich¬
ter von einer groͤßeren und wichtigeren Seite
her laͤngſt geſorgt geweſen.
Der erſte wahre und hoͤhere eigentliche Le¬
bensgehalt kam durch Friedrich den Großen
und die Thaten des ſiebenjaͤhrigen Kriegs in die
deutſche Poeſie. Jede Nationaldichtung muß
ſchal ſeyn oder ſchal werden, die nicht auf
dem Menſchlicherſten ruht, auf den Ereigniſſen
der Voͤlker und ihrer Hirten, wenn beyde fuͤr
Einen Mann ſtehn. Koͤnige ſind darzuſtellen
in Krieg und Gefahr, wo ſie eben dadurch als
die Erſten erſcheinen, weil ſie das Schickſal des
Allerletzten beſtimmen und theilen, und dadurch
viel intereſſanter werden als die Goͤtter ſelbſt,
die, wenn ſie Schickſale beſtimmt haben, ſich
der Theilnahme derſelben entziehen. In die¬
ſem Sinne muß jede Nation, wenn ſie fuͤr ir¬
gend etwas gelten will, eine Epopee beſitzen,
wozu nicht gerade die Form des epiſchen Ge¬
dichts noͤthig iſt.
Die Kriegslieder, von Gleim ange¬
ſtimmt, behaupten deswegen einen ſo hohen
Rang unter den deutſchen Gedichten, weil ſie
mit und in der That entſprungen ſind, und
noch uͤberdieß, weil an ihnen die gluͤckliche
Form, als haͤtte ſie ein Mitſtreitender in den
hoͤchſten Augenblicken hervorgebracht, uns die
vollkommenſte Wirkſamkeit empfinden laͤßt.
Rammler ſingt auf eine andere, hoͤchſt
wuͤrdige Weiſe die Thaten ſeines Koͤnigs. Alle
ſeine Gedichte ſind gehaltvoll, beſchaͤftigen uns
mit großen, herzerhebenden Gegenſtaͤnden und
behaupten ſchon dadurch einen unzerſtoͤrlichen
Werth.
Denn der innere Gehalt des bearbeiteten
Gegenſtandes iſt der Anfang und das Ende der
Kunſt. Man wird zwar nicht leugnen, daß
das Genie, das ausgebildete Kunſttalent,
durch Behandlung aus allem alles machen und
den widerſpaͤnſtigſten Stoff bezwingen koͤnne.
Genau beſehen entſteht aber alsdann immer
mehr ein Kunſtſtuͤck als ein Kunſtwerk, welches
auf einem wuͤrdigen Gegenſtande ruhen ſoll,
damit uns zuletzt die Behandlung, durch Ge¬
ſchick, Muͤhe und Fleiß, die Wuͤrde des Stof¬
fes nur deſto gluͤcklicher und herrlicher entgegen¬
bringe.
Die Preußen und mit ihnen das prote¬
ſtantiſche Deutſchland gewannen alſo fuͤr ihre
Litteratur einen Schatz, welcher der Gegenpar¬
they fehlte und deſſen Mangel ſie durch keine
nachherige Bemuͤhung hat erſetzen koͤnnen. An
dem großen Begriff, den die preußiſchen
Schriftſteller von ihrem Koͤnig hegen durften,
bauten ſie ſich erſt heran, und um deſto eifriger,
als derjenige, in deſſen Namen ſie alles thaten,
ein fuͤr allemal nichts von ihnen wiſſen wollte.
Schon fruͤher war durch die franzoͤſiſche Colonie,
nachher durch die Vorliebe des Koͤnigs fuͤr die
Bildung dieſer Nation und fuͤr ihre Finanzan¬
ſtalten, eine Maſſe franzoͤſiſcher Cultur nach
Preußen gekommen, welche den Deutſchen
hoͤchſt foͤrderlich ward, indem ſie dadurch zu
Widerſpruch und Widerſtreben aufgefordert
wurden; eben ſo war die Abneigung Friedrichs
gegen das Deutſche fuͤr die Bildung des Litte¬
rarweſens ein Gluͤck. Man that alles, um
ſich von dem Koͤnig bemerken zu machen, nicht
etwa, um von ihm geachtet, ſondern nur be¬
achtet zu werden; aber man thats auf deut¬
ſche Weiſe, nach innerer Ueberzeugung, man
that was man fuͤr recht erkannte, und wuͤnſch¬
te und wollte, daß der Koͤnig dieſes deutſche
Rechte anerkennen und ſchaͤtzen ſolle. Dieß ge¬
ſchah nicht und konnte nicht geſchehen: denn
wie kann man von einem Koͤnig, der geiſtig
leben und genießen will, verlangen, daß er
ſeine Jahre verliere, um das, was er fuͤr bar¬
bariſch haͤlt, nur allzuſpaͤt entwickelt und ge¬
nießbar zu ſehen? In Handwerks- und Fa¬
brikſachen mochte er wohl ſich, beſonders aber
ſeinem Volke, ſtatt fremder vortrefflicher Waa¬
ren, ſehr maͤßige Surrogate aufnoͤthigen; aber
hier geht alles geſchwinder zur Vollkommen¬
heit, und es braucht kein Menſchenleben, um
ſolche Dinge zur Reife zu bringen.
Eines Werks aber, der wahrſten Ausge¬
burt des ſiebenjaͤhrigen Krieges, von vollkom¬
menem norddeutſchen Nationalgehalt muß ich
hier vor allen ehrenvoll erwaͤhnen; es iſt die
erſte, aus dem bedeutenden Leben gegriffene
Theaterproduction, von ſpecifiſch temporaͤrem
Gehalt die deswegen auch eine nie zu berech¬
nende Wirkung that, Minna von Barn¬
helm. Leſſing, der, im Gegenſatze von
II. 11
Klopſtock und Gleim, die perſoͤnliche Wuͤrde
gern wegwarf, weil er ſich zutraute, ſie jeden
Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu
koͤnnen, gefiel ſich in einem zerſtreuten Wirths¬
haus- und Weltleben, da er gegen ſein maͤch¬
tig arbeitendes Innere ſtets ein gewaltiges Ge¬
gengewicht brauchte, und ſo hatte er ſich auch
in das Gefolge des Generals Tauentzien bege¬
ben. Man erkennt leicht, wie genanntes
Stuͤck zwiſchen Krieg und Frieden, Haß und
Neigung erzeugt iſt. Dieſe Production war
es, die den Blick in eine hoͤhere, bedeutendere
Welt aus der litterariſchen und buͤrgerlichen,
in welcher ſich die DichtknnſtDichtkunſt bisher bewegt
hatte, gluͤcklich eroͤffnete.
Die gehaͤſſige Spannung, in welcher Preu¬
ßen und Sachſen ſich waͤhrend dieſes Kriegs ge¬
gen einander befanden, konnte durch die Been¬
digung deſſelben nicht aufgehoben werden. Der
Sachſe fuͤhlte nun erſt recht ſchmerzlich die
Wunden, die ihm der uͤberſtolz gewordene
Preuße geſchlagen hatte. Durch den politiſchen
Frieden konnte der Friede zwiſchen den Gemuͤ¬
thern nicht ſogleich hergeſtellt werden. Dieſes
aber ſollte gedachtes Schauſpiel im Bilde be¬
wirken. Die Anmuth und Liebenswuͤrdigkeit
der Saͤchſinnen uͤberwindet den Werth, die
Wuͤrde, den Starrſinn der Preußen, und ſo¬
wohl an den Hauptperſonen als den Subal¬
ternen wird eine gluͤckliche Vereinigung bi¬
zarrer und widerſtrebender Elemente kunſtge¬
maͤß dargeſtellt.
Habe ich durch dieſe curſoriſchen und deſul¬
toriſchen Bemerkungen uͤber deutſche Litteratur
meine Leſer in einige Verwirrung geſetzt, ſo iſt
es mir gegluͤckt, eine Vorſtellung von jenem
chaotiſchen Zuſtande zu geben, in welchem ſich
mein armes Gehirn befand, als, im Conflict
zweyer, fuͤr das litterariſche Vaterland ſo be¬
deutender Epochen, ſo viel Neues auf mich ein¬
draͤngte, ehe ich mich mit dem Alten hatte ab¬
finden koͤnnen, ſo viel Altes ſein Recht noch
11 *
uͤber mich gelten machte, da ich ſchon Urſache
zu haben glaubte, ihm voͤllig entſagen zu duͤr¬
fen. Welchen Weg ich einſchlug, mich aus
dieſer Noth, wenn auch nur Schritt vor
Schritt zu retten, will ich gegenwaͤrtig moͤg¬
lichſt zu uͤberliefern ſuchen.
Die weitſchweifige Periode, in welche mei¬
ne Jugend gefallen war, hatte ich treufleißig,
in Geſellſchaft ſo vieler wuͤrdigen Maͤnner,
durchgearbeitet. Die mehreren Quartbaͤnde
Manuſcript, die ich meinem Vater zuruͤckließ,
konnten zum genugſamen Zeugniſſe dienen, und
welche Maſſe von Verſuchen, Entwuͤrfen, bis
zur Haͤlfte ausgefuͤhrten Vorſaͤtzen war mehr
aus Mismuth als aus Ueberzeugung in Rauch
aufgegangen. Nun lernte ich durch Unterre¬
dung uͤberhaupt, durch Lehre, durch ſo manche
widerſtreitende Meynung, beſonders aber durch
meinen Tiſchgenoſſen, den Hofrath Pfeil, das
Bedeutende des Stoffs und das Conciſe der
Behandlung mehr und mehr ſchaͤtzen, ohne mir
jedoch klar machen zu koͤnnen, wo jenes zu
ſuchen und wie dieſes zu erreichen ſey. Denn
bey der großen Beſchraͤnktheit meines Zuſtandes,
bey der Gleichguͤltigkeit der Geſellen, dem Zu¬
ruͤckhalten der Lehrer, der Abgeſondertheit ge¬
bildeter Einwohner, bey ganz unbedeutenden
Naturgegenſtaͤnden war ich genoͤthigt, alles in
mir ſelbſt zu ſuchen. Verlangte ich nun zu mei¬
nen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfin¬
dung oder Reflexion, ſo mußte ich in meinen
Buſen greifen; forderte ich zu poetiſcher Dar¬
ſtellung eine unmittelbare Anſchauung des Ge¬
genſtandes, der Begebenheit, ſo durfte ich
nicht aus dem Kreiſe heraustreten, der mich zu
beruͤhren, mir ein Intereſſe einzufloͤßen geeig¬
net war. In dieſem Sinne ſchrieb ich zuerſt
gewiſſe kleine Gedichte in Liederform oder frey¬
erem Sylbenmaß; ſie entſpringen aus Refle¬
xion, handeln vom Vergangenen und nehmen
meiſt eine epigrammatiſche Wendung.
Und ſo begann diejenige Richtung, von der
ich mein ganzes Leben uͤber nicht abweichen
konnte, naͤmlich dasjenige was mich erfreute
oder quaͤlte, oder ſonſt beſchaͤftigte, in ein Bild,
ein Gedicht zu verwandeln und daruͤber mit
mir ſelbſt abzuſchließen, um ſowohl meine Be¬
griffe von den aͤußeren Dingen zu berichtigen,
als mich im Innern deshalb zu beruhigen.
Die Gabe hierzu war wohl Niemand noͤthiger
als mir, den ſeine Natur immerfort aus einem
Extreme in das andere warf. Alles was daher
von mir bekannt geworden, ſind nur Bruch¬
ſtuͤcke einer großen Confeſſion, welche vollſtaͤn¬
dig zu machen dieſes Buͤchlein ein gewagter
Verſuch iſt.
Meine fruͤhere Neigung zu Gretchen hatte
ich nun auf ein Aennchen uͤbergetragen, von der
ich nicht mehr zu ſagen wuͤßte als daß ſie jung,
huͤbſch, munter, liebevoll und ſo angenehm
war, daß ſie wohl verdiente, in dem Schrein
des Herzens eine Zeit lang als eine kleine Hei¬
lige aufgeſtellt zu werden, um ihr jede Vereh¬
rung zu widmen, welche zu ertheilen oft mehr
Behagen erregt als zu empfangen. Ich ſah
ſie taͤglich ohne Hinderniſſe, ſie half die Spei¬
ſen bereiten, die ich genoß, ſie brachte mir
wenigſtens Abends den Wein, den ich trank,
und ſchon unſere mittaͤgige abgeſchloſſene Tiſch¬
geſellſchaft war Buͤrge, daß das kleine, von
wenig Gaͤſten außer der Meſſe beſuchte Haus
ſeinen guten Ruf wohl verdiente. Es fand ſich
zu mancherley Unterhaltung Gelegenheit und
Luſt. Da ſie ſich aber aus dem Hauſe wenig
entfernen konnte noch durfte, ſo wurde denn
doch der Zeitvertreib etwas mager. Wir ſangen
die Lieder von Zachariaͤ, ſpielten den Herzog
Michel von Kruͤger, wobey ein zuſammen¬
geknuͤpftes Schnupftuch die Stelle der Nachti¬
gall vertreten mußte, und ſo ging es eine Zeit
lang noch ganz leidlich. Weil aber dergleichen
Verhaͤltniſſe, je unſchuldiger ſie ſind, deſto we¬
niger Mannigfaltigkeit auf die Dauer gewaͤh¬
ren, ſo ward ich von jener boͤſen Sucht befal¬
len, die uns verleitet, aus der Quaͤlerey der
Geliebten eine Unterhaltung zu ſchaffen und
die Ergebenheit eines Maͤdchens mit willkuͤhr¬
lichen und tyranniſchen Grillen zu beherrſchen.
Die boͤſe Laune uͤber das Mislingen meiner poe¬
tiſchen Verſuche, uͤber die anſcheinende Unmoͤg¬
lichkeit hieruͤber ins Klare zu kommen, und
uͤber alles was mich hie und da ſonſt kneipen
mochte, glaubte ich an ihr auslaſſen zu duͤrfen,
weil ſie mich wirklich von Herzen liebte und was
ſie nur immer konnte, mir zu Gefallen that.
Durch ungegruͤndete und abgeſchmackte Eifer¬
ſuͤchteleyen verdarb ich mir und ihr die ſchoͤnſten
Tage. Sie ertrug es eine Zeit lang mit un¬
glaublicher Geduld, die ich grauſam genug war
aufs Aeußerſte zu treiben. Allein zu meiner
Beſchaͤmung und Verzweiflung mußte ich end¬
lich bemerken, daß ſich ihr Gemuͤth von mir
entfernt habe, und daß ich nun wohl zu den
Tollheiten berechtigt ſeyn moͤchte, die ich mir
ohne Noth und Urſache erlaubt hatte. Es gab
auch ſchreckliche Scenen unter uns, bey welchen
ich nichts gewann; und nun fuͤhlte ich erſt,
daß ich ſie wirklich liebte und daß ich ſie nicht
entbehren koͤnne. Meine Leidenſchaft wuchs
und nahm alle Formen an, deren ſie unter ſol¬
chen Umſtaͤnden faͤhig iſt; ja zuletzt trat ich in
die bisherige Rolle des Maͤdchens. Alles Moͤg¬
liche ſuchte ich hervor, um ihr gefaͤllig zu ſeyn,
ihr ſogar durch Andere Freude zu verſchaffen:
denn ich konnte mir die Hoffnung, ſie wieder
zu gewinnen, nicht verſagen. Allein es war
zu ſpaͤt! ich hatte ſie wirklich verloren, und die
Tollheit, mit der ich meinen Fehler an mir
ſelbſt raͤchte, indem ich auf mancherley unſin¬
nige Weiſe in meine phyſiſche Natur ſtuͤrmte,
um der ſittlichen etwas zu Leide zu thun, hat
ſehr viel zu den koͤrperlichen Uebeln beygetragen,
unter denen ich einige der beſten Jahre meines
Lebens verlor; ja ich waͤre vielleicht an dieſem
Verluſt voͤllig zu Grunde gegangen, haͤtte ſich
nicht hier das poetiſche Talent mit ſeinen Heil¬
kraͤften beſonders huͤlfreich erwieſen.
Schon fruͤher hatte ich in manchen Inter¬
vallen meine Unart deutlich genug wahrgenom¬
men. Das arme Kind dauerte mich wirklich,
wenn ich ſie ſo ganz ohne Noth von mir ver¬
letzt ſah. Ich ſtellte mir ihre Lage, die mei¬
nige und dagegen den zufriedenen Zuſtand ei¬
nes anderen Paares aus unſerer Geſellſchaft
ſo oft und ſo umſtaͤndlich vor, daß ich end¬
lich nicht laſſen konnte, dieſe Situation, zu ei¬
ner quaͤlenden und belehrenden Buße, drama¬
tiſch zu behandeln. Daraus entſprang die aͤlte¬
ſte meiner uͤberbliebenen dramatiſchen Arbeiten,
das kleine Stuͤck: die Laune des Verlieb¬
ten, an deſſen unſchuldigem Weſen man zu¬
gleich den Drang einer ſiedenden Leidenſchaft
gewahr wird.
Allein mich hatte eine tiefe, bedeutende,
drangvolle Welt ſchon fruͤher angeſprochen.
Bey meiner Geſchichte mit Gretchen und an
den Folgen derſelben hatte ich zeitig in die ſelt¬
ſamen Irrgaͤnge geblickt, mit welchen die buͤr¬
gerliche Societaͤt unterminirt iſt. Religion,
Sitte, Geſetz, Stand, Verhaͤltniſſe, Ge¬
wohnheit, alles beherrſcht nur die Oberflaͤche
des ſtaͤdtiſchen Daſeyns. Die von herrlichen
Haͤuſern eingefaßten Straßen werden reinlich
gehalten und Jedermann betraͤgt ſich daſelbſt
anſtaͤndig genug; aber im Innern ſieht es oͤf¬
ters um deſto wuͤſter aus, und ein glattes Aeu¬
ßere uͤbertuͤncht, als ein ſchwacher Bewurf,
manches morſche Gemaͤuer, das uͤber Nacht
zuſammenſtuͤrzt, und eine deſto ſchrecklichere
Wirkung hervorbringt, als es mitten in den
friedlichen Zuſtand hereinbricht. Wie viele Fa¬
milien hatte ich nicht ſchon naͤher und ferner
durch Banqueroute, Eheſcheidungen, verfuͤhrte
Toͤchter, Morde, Hausdiebſtaͤhle, Vergiftun¬
gen entweder ins Verderben ſtuͤrzen, oder auf
dem Rande kuͤmmerlich erhalten ſehen, und hat¬
te, ſo jung ich war, in ſolchen Faͤllen zu Ret¬
tung und Huͤlfe oͤfters die Hand geboten: denn
da meine Offenheit Zutrauen erweckte, meine
Verſchwiegenheit erprobt war, meine Thaͤtig¬
keit keine Opfer ſcheute und in den gefaͤhrlichſten
Faͤllen am liebſten wirken mochte; ſo fand ich
oft genug Gelegenheit zu vermitteln, zu ver¬
tuſchen, den Wetterſtrahl abzuleiten, und was
ſonſt nur alles geleiſtet werden kann; wobey es
nicht fehlen konnte, daß ich ſowohl an mir
ſelbſt, als durch Andere zu manchen kraͤnken¬
den und demuͤthigenden Erfahrungen gelangen
mußte. Um mir Luft zu verſchaffen entwarf ich
mehrere Schauſpiele und ſchrieb die Expoſitio¬
nen von den meiſten. Da aber die Verwick¬
lungen jederzeit aͤngſtlich werden mußten, und
faſt alle dieſe Stuͤcke mit einem tragiſchen Ende
drohten, ließ ich eins nach dem anderen fal¬
len. Die Mitſchuldigen ſind das einzige
fertig gewordene, deſſen heiteres und burleskes
Weſen auf dem duͤſteren Familiengrunde als
von etwas Baͤnglichem begleitet erſcheint, ſo
daß es bey der Vorſtellung im Ganzen aͤngſti¬
get, wenn es im Einzelnen ergetzt. Die hart
ausgeſprochenen widergeſetzlichen Handlungen
verletzen das aͤſthetiſche und moraliſche Gefuͤhl,
und deswegen konnte das Stuͤck auf dem deut¬
ſchen Theater keinen Eingang gewinnen, ob¬
gleich die Nachahmungen deſſelben, welche ſich
fern von jenen Klippen gehalten, mit Beyfall
aufgenommen worden.
Beyde genannte Stuͤcke jedoch ſind, ohne
daß ich mir deſſen bewußt geweſen waͤre, in ei¬
nem hoͤheren Geſichtspunkt geſchrieben. Sie
deuten auf eine vorſichtige Duldung bey mora¬
liſcher Zurechnung, und ſprechen in etwas her¬
ben und derben Zuͤgen jenes hoͤchſt chriſtliche
Wort ſpielend aus: wer ſich ohne Suͤnde fuͤhlt,
der hebe den erſten Stein auf.
Ueber dieſen Ernſt, der meine erſten Stuͤ¬
cke verduͤſterte, beging ich den Fehler, ſehr guͤn¬
ſtige Motive zu verſaͤumen, welche ganz ent¬
ſchieden in meiner Natur lagen. Es entwickel¬
te ſich naͤmlich unter jenen ernſten, fuͤr einen
jungen Menſchen fuͤrchterlichen Erfahrungen
in mir ein verwegner Humor, der ſich dem
Augenblick uͤberlegen fuͤhlt, nicht allein keine
Gefahr ſcheut, ſondern ſie vielmehr muthwillig
herbeylockt. Der Grund davon lag in dem
Uebermuthe, in welchem ſich das kraͤftige Alter
ſo ſehr gefaͤllt, und der, wenn er ſich poſſen¬
haft aͤußert, ſowohl im Augenblick, als in der
Erinnerung viel Vergnuͤgen macht. Dieſe Din¬
ge ſind ſo gewoͤhnlich, daß ſie in dem Woͤrter¬
buche unſerer jungen academiſchen Freunde
Suiten genannt werden, und daß man, we¬
gen der nahen Verwandtſchaft, eben ſo gut
Suiten reißen ſagt, als Poſſen reißen.
Solche humoriſtiſche Kuͤhnheiten, mit Geiſt
und Sinn auf das Theater gebracht, ſind von
der groͤßten Wirkung. Sie unterſcheiden ſich
von der Intrigue dadurch, daß ſie momentan
ſind, und daß ihr Zweck, wenn ſie ja einen ha¬
ben ſollten, nicht in der Ferne liegen darf.
Beaumarchais hat ihren ganzen Werth ge¬
faßt, und die Wirkungen ſeiner Figaro's ent¬
ſpringen vorzuͤglich daher. Wenn nun ſolche
gutmuͤthige Schalks- und Halbſchelmenſtreiche
zu edlen Zwecken, mit perſoͤnlicher Gefahr
ausgeuͤbt werden, ſo ſind die daraus entſprin¬
genden Situationen, aͤſthetiſch und moraliſch
betrachtet, fuͤr das Theater von dem groͤßten
Werth; wie denn z. B. die Oper: der Waſ¬
ſertraͤger, vielleicht das gluͤcklichſte Suͤjet
behandelt, das wir je auf dem Theater geſe¬
hen haben.
Um die unendliche Langeweile des taͤglichen
Lebens zu erheitern uͤbte ich unzaͤhlige ſolcher
Streiche, theils ganz vergeblich, theils zu
Zwecken meiner Freunde, denen ich gern gefaͤl¬
lig war. Fuͤr mich ſelbſt wuͤßte ich nicht, daß
ich ein einzig Mal hiebey abſichtlich gehandelt
haͤtte, auch kam ich niemals darauf, ein Un¬
terfangen dieſer Art als einen Gegenſtand fuͤr
die Kunſt zu betrachten; haͤtte ich aber ſolche
Stoffe, die mir ſo nahe zur Hand lagen, er¬
griffen und ausgebildet, ſo waͤren meine erſten
Arbeiten heiterer und brauchbarer geweſen.
Einiges, was hierher gehoͤrt, kommt zwar
ſpaͤter bey mir vor, aber einzeln und abſichtlos.
Denn da uns das Herz immer naͤher liegt
als der Geiſt, und uns dann zu ſchaffen macht,
wenn dieſer ſich wohl zu helfen weiß; ſo waren
mir die Angelegenheiten des Herzens immer als
die wichtigſten erſchienen. Ich ermuͤdete nicht,
uͤber Fluͤchtigkeit der Neigungen, Wandelbar¬
keit des menſchlichen Weſens, ſittliche Sinn¬
lichkeit und uͤber alle das Hohe und Tiefe nach¬
zudenken, deſſen Verknuͤpfung in unſerer Na¬
tur als das Raͤthſel des Menſchenlebens be¬
trachtet werden kann. Auch hier ſuchte ich das,
was mich quaͤlte, in einem Lied, einem Epi¬
gramm, in irgend einem Reim loszuwerden,
die, weil ſie ſich auf die eigenſten Gefuͤhle und
auf die beſonderſten Umſtaͤnde bezogen, kaum
Jemand anderes intereſſiren konnten als mich
ſelbſt.
Meine aͤußeren Verhaͤltniſſe hatten ſich in¬
deſſen nach Verlauf weniger Zeit gar ſehr veraͤn¬
dert. Madame Boͤhme war nach einer langen
und traurigen Krankheit endlich geſtorben; ſie
hatte mich zuletzt nicht mehr vor ſich gelaſſen.
Ihr Mann konnte nicht ſonderlich mit mir zu¬
frieden ſeyn; ich ſchien ihm nicht fleißig genug
und zu leichtſinnig. Beſonders nahm er es
mir ſehr uͤbel, als ihm verrathen wurde, daß
ich im deutſchen Staatsrechte, anſtatt gehoͤrig
nachzuſchreiben, die darin aufgefuͤhrten Perſo¬
nen, als den Cammerrichter, die Praͤſidenten
und Beyſitzer, mit ſeltſamen Peruͤcken an dem
Rand meines Heftes abgebildet und durch dieſe
Poſſen meine aufmerkſamen Nachbarn zer¬
ſtreut und zum Lachen gebracht hatte. Er lebte
nach dem Verluſt ſeiner Frau noch eingezogner
als vorher, und ich vermied ihn zuletzt, um
ſeinen Vorwuͤrfen auszuweichen. Beſonders
aber war es ein Ungluͤck, daß Gellert ſich nicht
der Gewalt bedienen wollte, die er uͤber uns
haͤtte ausuͤben koͤnnen. Freylich hatte er nicht
II. 12
Zeit den Beichtvater zu machen, und ſich nach
der Sinnesart und den Gebrechen eines Jeden
zu erkundigen; daher nahm er die Sache ſehr
im Ganzen und glaubte uns mit den kirchli¬
chen Anſtalten zu bezwingen; deswegen er ge¬
woͤhnlich, wenn er uns einmal vor ſich ließ,
mit geſenktem Koͤpfchen und der weinerlich an¬
genehmen Stimme zu fragen pflegte, ob wir
denn auch fleißig in die Kirche gingen, wer un¬
ſer Beichtvater ſey und ob wir das heilige
Abendmahl genoͤſſen? Wenn wir nun bey die¬
ſem Examen ſchlecht beſtanden, ſo wurden wir
mit Wehklagen entlaſſen; wir waren mehr
verdrießlich als erbaut, konnten aber doch nicht
umhin den Mann herzlich lieb zu haben.
Bey dieſer Gelegenheit kann ich nicht unter¬
laſſen, aus meiner fruͤheren Jugend etwas nach¬
zuholen, um anſchaulich zu machen, wie die
großen Angelegenheiten der kirchlichen Religion
mit Folge und Zuſammenhang behandelt wer¬
den muͤſſen, wenn ſie ſich fruchtbar, wie man
von ihr erwartet, beweiſen ſoll. Der prote¬
ſtantiſche Gottesdienſt hat zu wenig Fuͤlle und
Conſequenz, als daß er die Gemeine zuſammen¬
halten koͤnnte; daher geſchieht es leicht, daß
Glieder ſich von ihr abſondern und entweder
kleine Gemeinen bilden, oder, ohne kirchlichen
Zuſammenhang, neben einander geruhig ihr
buͤrgerliches Weſen treiben. So klagte man
ſchon vor geraumer Zeit, die Kirchgaͤnger ver¬
minderten ſich von Jahr zu Jahr und in eben
dem Verhaͤltniß die Perſonen, welche den Ge¬
nuß des Nachtmahls verlangten. Was bey¬
des, beſonders aber das letztere betrifft, liegt
die Urſache ſehr nah; doch wer wagt ſie
auszuſprechen? Wir wollen es verſuchen.
In ſittlichen und religioſen Dingen, eben
ſo wohl als in phyſichen und buͤrgerlichen, mag
der Menſch nicht gern etwas aus dem Stegrei¬
fe thun; eine Folge, woraus Gewohnheit ent¬
ſpringt, iſt ihm noͤthig; das was er lieben und
leiſten ſoll, kann er ſich nicht einzeln, nicht ab¬
12 *
geriſſen denken, und um etwas gern zu wieder¬
holen, muß es ihm nicht fremd geworden, ſeyn.
Fehlt es dem proteſtantiſchen Cultus im Ganzen
an Fuͤlle, ſo unterſuche man das Einzelne, und
man wird finden, der Proteſtant hat zu wenig
Sacramente, ja er hat nur Eins, bey dem er ſich
thaͤtig erweiſt, das Abendmahl: denn die Tau¬
fe ſieht er nur an Anderen vollbringen und es
wird ihm nicht wohl dabey. Die Sacramente
ſind das Hoͤchſte der Religion, das ſinnliche
Symbol einer außerordentlichen goͤttlichen Gunſt
und Gnade. In dem Abendmahle ſollen die
irdiſchen Lippen ein goͤttliches Weſen verkoͤr¬
pert empfangen und unter der Form irdiſcher
Nahrung einer himmliſchen theilhaftig werden.
Dieſer Sinn iſt in allen chriſtlichen Kirchen
ebenderſelbe, es werde nun das Sacrament mit
mehr oder weniger Ergebung in das Geheim¬
niß, mit mehr oder weniger Accommodation
an das, was verſtaͤndlich iſt, genoſſen; immer
bleibt es eine heilige, große Handlung, welche
ſich in der Wirklichkeit an die Stelle des Moͤg¬
lichen oder Unmoͤglichen, an die Stelle desje¬
nigen ſetzt, was der Menſch weder erlangen
noch entbehren kann. Ein ſolches Sacrament
duͤrfte aber nicht allein ſtehen; kein Chriſt kann
es mit wahrer Freude, wozu es gegeben iſt,
genießen, wenn nicht der ſymboliſche oder ſa¬
cramentliche Sinn in ihm genaͤhrt iſt. Er muß
gewohnt ſeyn, die innere Religion des Herzens
und die der aͤußeren Kirche als vollkommen
Eins anzuſehen, als das große allgemeine Sa¬
crament, das ſich wieder in ſoviel andere zer¬
gliedert und dieſen Theilen ſeine Heiligkeit, Un¬
zerſtoͤrlichkeit und Ewigkeit mittheilt.
Hier reicht ein jugendliches Paar ſich ein¬
ander die Haͤnde, nicht zum voruͤbergehenden
Gruß oder zum Tanze; der Prieſter ſpricht
ſeinen Segen daruͤber aus, und das Band
iſt unaufloͤslich. Es waͤhrt nicht lange, ſo
bringen dieſe Gatten ein Ebenbild an die
Schwelle des Altars, es wird mit heiligem
Waſſer gereinigt und der Kirche dergeſtalt
einverleibt, daß es dieſe Wohlthat nur durch
den ungeheuerſten Abfall verſcherzen kann.
Das Kind uͤbt ſich im Leben an den irdiſchen
Dingen ſelbſt heran, in himmliſchen muß es
unterrichtet werden. Zeigt ſich bey der Pruͤ¬
fung, daß dieß vollſtaͤndig geſchehen ſey, ſo
wird es nunmehr als wirklicher Buͤrger, als
wahrhafter und freywilliger Bekenner in den
Schoos der Kirche aufgenommen, nicht ohne
aͤußere Zeichen der Wichtigkeit dieſer Hand¬
lung. Nun iſt er erſt entſchieden ein Chriſt,
nun kennt er erſt die Vortheile, jedoch auch
die Pflichten. Aber inzwiſchen iſt ihm als
Menſchen manches Wunderliche begegnet, durch
Lehren und Strafen iſt ihm aufgegangen, wie
bedenklich es mit ſeinem Innern ausſehe, und
immerfort wird noch von Lehren und von Ue¬
bertretungen die Rede ſeyn; aber die Strafe
ſoll nicht mehr Statt finden. Hier iſt ihm
nun in der unendlichen Verworrenheit, in die
er ſich, bey dem Widerſtreit natuͤrlicher und
religioſer Forderungen, verwickeln muß, ein
herrliches Auskunftsmittel gegeben, ſeine Tha¬
ten und Unthaten, ſeine Gebrechen und ſeine
Zweifel einem wuͤrdigen, eigens dazu beſtell¬
ten Manne zu vertrauen, der ihn zu beru¬
higen, zu warnen, zu ſtaͤrken, durch gleich¬
falls ſymboliſche Strafen zu zuͤchtigen und
ihn zuletzt, durch ein voͤlliges Ausloͤſchen ſeiner
Schuld, zu beſeligen und ihm rein und abge¬
waſchen die Tafel ſeiner Menſchheit wieder zu
uͤbergeben weiß. So, durch mehrere ſacra¬
mentliche Handlungen, welche ſich wieder, bey
genauerer Anſicht, in ſacramentliche kleinere Zuͤ¬
ge verzweigen, vorbereitet und rein beruhigt,
knieet er hin, die Hoſtie zu empfangen; und
daß ja das Geheimniß dieſes hohen Acts noch
geſteigert werde, ſieht er den Kelch nur in der
Ferne, es iſt kein gemeines Eſſen und Trin¬
ken, was befriedigt, es iſt eine Himmelsſpei¬
ſe, die nach himmliſchem Tranke durſtig macht.
Jedoch glaube der Juͤngling nicht, daß es
damit abgethan ſey; ſelbſt der Mann glaube
es nicht! Denn wohl in irdiſchen Verhaͤlniſſen
gewoͤhnen wir uns zuletzt auf uns ſelber zu
ſtehen, und auch da wollen nicht immer Kennt¬
niſſe, Verſtand und Character hinreichen; in
himmliſchen Dingen dagegen lernen wir nie
aus. Das hoͤhere Gefuͤhl in uns, das ſich
oft ſelbſt nicht einmal recht zu Hauſe findet,
wird noch uͤberdieß von ſoviel Aeußerem be¬
draͤngt, daß unſer eignes Vermoͤgen wohl
ſchwerlich alles darreicht, was zu Rath, Troſt
und Huͤlfe noͤthig waͤre. Dazu aber verord¬
net findet ſich nun auch jenes Heilmittel fuͤr
das ganze Leben, und ſtets harrt ein einſich¬
tiger, frommer Mann, um Irrende zurecht
zu weiſen und Gequaͤlte zu erledigen.
Und was nun durch das ganze Leben ſo
erprobt worden, ſoll an der Pforte des To¬
des alle ſeine Heilkraͤfte zehenfach thaͤtig er¬
weiſen. Nach einer von Jugend auf einge¬
leiteten, zutraulichen Gewohnheit nimmt der
Hinfaͤllige jene ſymboliſchen, deutſamen Ver¬
ſicherungen mit Inbrunſt an, und ihm wird
da, wo jede irdiſche Garantie verſchwindet,
durch eine himmliſche fuͤr alle Ewigkeit ein
ſeliges Daſeyn zugeſichert. Er fuͤhlt ſich ent¬
ſchieden uͤberzeugt, daß weder ein feindſeliges
Element, noch ein miswollender Geiſt ihn hin¬
dern koͤnne, ſich mit einem verklaͤrten Leibe
zu umgeben, um in unmittelbaren Verhaͤlt¬
niſſen zur Gottheit an den unermeßlichen Se¬
ligkeiten Theil zu nehmen, die von ihr aus¬
fließen.
Zum Schluſſe werden ſodann, damit der
ganze Menſch geheiligt ſey, auch die Fuͤße
geſalbt und geſegnet. Sie ſollen, ſelbſt bey
moͤglicher Geneſung, einen Widerwillen empfin¬
den, dieſen irdiſchen, harten, undurchdring¬
lichen Boden zu beruͤhren. Ihnen ſoll eine
wunderſame Schnellkraft mitgetheilt werden,
wodurch ſie den Erdſchollen, der ſie bisher
anzog, unter ſich abſtoßen. Und ſo iſt durch
einen glaͤnzenden Zirkel gleichwuͤrdig heiliger
Handlungen, deren Schoͤnheit von uns nur
kurz angedeutet worden, Wiege und Grab,
ſie moͤgen zufaͤllig noch ſo weit aus einander
geruͤckt liegen, in einem ſtetigen Kreiſe ver¬
bunden.
Aber alle dieſe geiſtigen Wunder entſprie¬
ßen nicht, wie andere Fruͤchte, dem natuͤrli¬
chen Boden, da koͤnnen ſie weder geſaͤet noch
gepflanzt noch gepflegt werden. Aus einer
anderen Region muß man ſie heruͤberſtehen,
welches nicht Jedem, noch zu jeder Zeit ge¬
lingen wuͤrde. Hier entgegnet uns nun das
hoͤchſte dieſer Symbole aus alter frommer
Ueberlieferung. Wir hoͤren, daß ein Menſch
vor dem andern von Oben beguͤnſtigt, geſeg¬
net und geheiligt werden koͤnne. Damit aber
dieß ja nicht als Naturgabe erſcheine; ſo muß
dieſe große, mit einer ſchweren Pflicht ver¬
bundene Gunſt von einem Berechtigten auf
den anderen uͤbergetragen, und das groͤßte
Gut, was ein Menſch erlangen kann, ohne
daß er jedoch deſſen Beſitz von ſich ſelbſt we¬
der erringen, noch ergreifen koͤnne, durch gei¬
ſtige Erbſchaft auf Erden erhalten und ver¬
ewigt werden. Ja, in der Weihe des Prie¬
ſters iſt alles zuſammengefaßt, was noͤthig iſt,
um diejenigen heiligen Handlungen wirkſam
zu begehen, wodurch die Menge beguͤnſtigt
wird, ohne daß ſie irgend eine andere Thaͤ¬
tigkeit dabey noͤthig haͤtte, als die des Glau¬
bens und des unbedingten Zutrauens. Und
ſo tritt der Prieſter in der Reihe ſeiner Vor¬
fahren und Nachfolger, in dem Kreiſe ſeiner
Mitgeſalbten, den hoͤchſten Segnenden dar¬
ſtellend, um ſo herrlicher auf, als es nicht
er iſt, den wir verehren, ſondern ſein Amt,
nicht ſein Wink, vor dem wir die Kniee beu¬
gen, ſondern der Segen, den er ertheilt, und
der um deſto heiliger, unmittelbarer vom
Himmel zu kommen ſcheint, weil ihn das ir¬
diſche Werkzeug nicht einmal durch ſuͤndhaf¬
tes, ja laſterhaftes Weſen ſchwaͤchen oder gar
entkraͤften koͤnnte.
Wie iſt nicht dieſer wahrhaft geiſtige Zu¬
ſammenhang im Proteſtantismus zerſplittert!
indem ein Theil gedachter Symbole fuͤr apo¬
kryphiſch und nur wenige fuͤr canoniſch erklaͤrt
werden, und wie will man uns durch das
Gleichguͤltige der einen zu der hohen Wuͤrde
der anderen vorbereiten?
Ich ward zu meiner Zeit bey einem gu¬
ten, alten, ſchwachen Geiſtlichen, der aber
ſeit vielen Jahren der Beichtvater des Hau¬
ſes geweſen, in den Religionsunterricht gege¬
ben. Den Katechismus, eine Paraphraſe deſ¬
ſelben, die Heilsordnung wußte ich an den
Fingern herzuerzaͤhlen, von den kraͤftig bewei¬
ſenden bibliſchen Spruͤchen fehlte mir keiner;
aber von alle dem aͤrndtete ich keine Frucht;
denn als man mir verſicherte, daß der brave
alte Mann ſeine Hauptpruͤfung nach einer al¬
ten Formel einrichte, ſo verlor ich alle Luſt
und Liebe zur Sache, ließ mich die letzten
acht Tage in allerley Zerſtreuungen ein, legte
die von einem aͤlteren Freund erborgten, dem
Geiſtlichen abgewonnenen Blaͤtter in meinen
Hut und las gemuͤth- und ſinnlos alles das¬
jenige her, was ich mit Gemuͤth und Ueber¬
zeugung wohl zu aͤußern gewußt haͤtte.
Aber ich fand meinen guten Willen und
mein Aufſtreben in dieſem wichtigen Falle
durch trocknen, geiſtloſen Schlendrian noch
ſchlimmer paralyſirt, als ich mich nunmehr
dem Beichtſtuhle nahen ſollte. Ich war mir
wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner
großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬
wußtſeyn verringerte ſie, weil es mich auf
die moraliſche Kraft wies, die in mir lag
und die mit Vorſatz und Beharrlichkeit doch
wohl zuletzt uͤber den alten Adam Herr wer¬
den ſollte. Wir waren belehrt, daß wir eben
darum viel beſſer als die Catholiken ſeyen,
weil wir im Beichtſtuhl nichts Beſonderes zu
bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht
einmal ſchicklich waͤre, ſelbſt wenn wir es
thun wollten. Dieſes Letzte war mir gar nicht
recht: denn ich hatte die ſeltſamſten religioͤſen
Zweifel, die ich gern bey einer ſolchen Gele¬
genheit berichtiget haͤtte. Da nun dieſes nicht
ſeyn ſollte, ſo verfaßte ich mir eine Beichte,
die, indem ſie meine Zuſtaͤnde wohl ausdruͤck¬
te, einem verſtaͤndigen Manne dasjenige im
Allgemeinen bekennen ſollte, was mir im Ein¬
zelnen zu ſagen verboten war. Aber als ich
in das alte Barfuͤßer-Chor hineintrat, mich
den wunderlichen vergitterten Schraͤnken naͤ¬
herte, in welchen die geiſtlichen Herren ſich
zu dieſem Acte einzufinden pflegten, als mir
der Gloͤckner die Thuͤre eroͤffnete und ich mich
nun gegen meinen geiſtlichen Großvater in
dem engen Raume eingeſperrt ſah, und er
mich mit ſeiner ſchwachen, naͤſelnden Stimme
willkommen hieß, erloſch auf einmal alles
Licht meines Geiſtes und Herzens, die wohl
memorirte Beichtrede wollte mir nicht uͤber
die Lippen, ich ſchlug in der Verlegenheit
das Buch auf, das ich in Haͤnden hatte, und
las daraus die erſte beſte kurze Formel, die
ſo allgemein war, daß ein Jeder ſie ganz ge¬
ruhig haͤtte ausſprechen koͤnnen. Ich empfing
die Abſolution und entfernte mich weder warm
noch kalt, ging den andern Tag mit meinen
Aeltern zu dem Tiſche des Herrn, und betrug
mich ein Paar Tage, wie es ſich nach einer
ſo heiligen Handlung wohl ziemte.
In der Folge trat jedoch bey mir das
Uebel hervor, welches aus unſerer durch man¬
cherley Dogmen complicirten, auf Bibelſpruͤche,
die mehrere Auslegungen zulaſſen, gegruͤnde¬
ten Religion bedenkliche Menſchen dergeſtalt
anfaͤllt, daß es hypochondriſche Zuſtaͤnde nach
ſich zieht, und dieſe bis zu ihrem hoͤchſten
Gipfel, zu fixen Ideen ſteigert. Ich habe
mehrere Menſchen gekannt, die, bey einer
ganz verſtaͤndigen Sinnes- und Lebensweiſe,
ſich von dem Gedanken an die Suͤnde in den
heiligen Geiſt und von der Angſt ſolche be¬
gangen zu haben nicht losmachen konnten.
Ein gleiches Unheil drohte mir in der Mate¬
rie von dem Abendmahl. Es hatte naͤmlich
ſchon ſehr fruͤh der Spruch, daß einer, der
das Sacrament unwuͤrdig genieße, ſich ſelbſt
das Gericht eſſe und trinke, einen ungeheue¬
ren Eindruck auf mich gemacht. Alles Furcht¬
bare, was ich in den Geſchichten der Mittel¬
zeit von Gottesurtheilen, den ſeltſamſten
fungen durch gluͤhendes Eiſen, flammendes
Feuer, ſchwellendes Waſſer geleſen hatte, ſelbſt
was uns die Bibel von der Quelle erzaͤhlt,
die dem Unſchuldigen wohl bekommt, den
Schuldigen aufblaͤht und berſten macht, das
alles ſtellte ſich meiner Einbildungskraft dar
und vereinigte ſich zu dem hoͤchſten Furchtba¬
ren, indem falſche Zuſage, Heucheley, Mein¬
eyd, Gotteslaͤſterung, alles bey der heiligſten
Handlung auf dem Unwuͤrdigen zu laſten
ſchien, welches um ſo ſchrecklicher war, als
ja Niemand ſich fuͤr wuͤrdig erklaͤren durfte,
und man die Vergebung der Suͤnden, wo¬
durch zuletzt alles ausgeglichen werden ſollte,
doch auf ſo manche Weiſe bedingt fand, daß
man nicht ſicher war, ſie ſich mit Freyheit zu¬
eignen zu duͤrfen.
Dieſer duͤſtre Scrupel quaͤlte mich derge¬
ſtalt, und die Auskunft, die man mir als
hinreichend vorſtellen wollte, ſchien mir ſo
kahl und ſchwach, daß jenes Schreckbild nur
an furchtbarem Anſehen dadurch gewann, und
ich mich, ſobald ich Leipzig erreicht hatte, von
der kirchlichen Verbindung ganz und gar los¬
zuwinden ſuchte. Wie druͤckend mußten mir
daher Gellerts Anmahnungen werden! den
ich, bey ſeiner ohnehin laconiſchen Behand¬
lungsart, womit er unſere Zudringlichkeit ab¬
zulehnen genoͤthigt war, mit ſolchen wunder¬
lichen Fragen nicht belaͤſtigen wollte, um ſo
weniger, als ich mich derſelben in heiteren
Stunden ſelbſt ſchaͤmte, und zuletzt dieſe ſelt¬
ſame Gewiſſensangſt mit Kirche und Altar
voͤllig hinter mir ließ.
II. 13
Gellert hatte ſich nach ſeinem frommen
Gemuͤth eine Moral aufgeſetzt, welche er von
Zeit zu Zeit oͤffentlich ablas, und ſich dadurch
gegen das Publicum auf eine ehrenvolle Wei¬
ſe ſeiner Pflicht entledigte. Gellerts Schrif¬
ten waren ſo lange Zeit ſchon das Fundament
der deutſchen ſittlichen Cultur und Jedermann
wuͤnſchte ſehnlich jenes Werk gedruckt zu ſe¬
hen, und da dieſes nur nach des guten Man¬
nes Tode geſchehen ſollte, ſo hielt man ſich
ſehr gluͤcklich, es bey ſeinem Leben von ihm
ſelbſt vortragen zu hoͤren. Das philoſophi¬
ſche Auditorium war in ſolchen Stunden ge¬
draͤngt voll, und die ſchoͤne Seele, der reine
Wille, die Theilnahme des edlen Mannes an
unſerem Wohl, ſeine Ermahnungen, Warnun¬
gen und Bitten, in einem etwas hohlen und
traurigen Tone vorgebracht, machten wohl ei¬
nen augenblicklichen Eindruck; allein er hielt
nicht lange nach, um ſo weniger als ſich doch
manche Spoͤtter fanden, welche dieſe weiche
und, wie ſie glaubten, entnervende Manier
uns verdaͤchtig zu machen wußten. Ich erin¬
nere mich eines durchreiſenden Franzoſen, der
ſich nach den Maximen und Geſinnungen des
Mannes erkundigte, welcher einen ſo unge¬
heueren Zulauf hatte. Als wir ihm den noͤ¬
thigen Bericht gegeben, ſchuͤttelte er den Kopf
und ſagte laͤchelnd: Laissez le faire, il nous
forme des dupes.
Und ſo wußte denn auch die gute Geſell¬
ſchaft, die nicht leicht etwas Wuͤrdiges in ih¬
rer Naͤhe dulden kann, den ſittlichen Einfluß,
welchen Gellert auf uns haben mochte, gele¬
gentlich zu verkuͤmmern. Bald wurde es ihm
uͤbel genommen, daß er die vornehmen und
reichen Daͤnen, die ihm beſonders empfohlen
waren, beſſer als die uͤbrigen Studirenden
unterrichte und eine ausgezeichnete Sorge fuͤr
ſie trage; bald wurde es ihm als Eigennutz
und Nepotismus angerechnet, daß er eben
fuͤr dieſe jungen Maͤnner einen Mittagstiſch
bey ſeinem Bruder einrichten laſſen. Dieſer,
13 *
ein großer, anſehnlicher, derber, kurz gebun¬
dener, etwas roher Mann ſollte Fechtmeiſter
geweſen ſeyn und, bey allzugroßer Nachſicht
ſeines Bruders, die edlen Tiſchgenoſſen manch¬
mal hart und rauh behandeln; daher glaubte
man nun wieder ſich dieſer jungen Leute an¬
nehmen zu muͤſſen, und zerrte ſo den guten
Namen des trefflichen Gellert dergeſtalt hin
und wieder, daß wir zuletzt, um nicht irre
an ihm zu werden, gleichguͤltig gegen ihn wur¬
den und uns nicht mehr vor ihm ſehen lie¬
ßen; doch gruͤßten wir ihn immer auf das
beſte, wenn er auf ſeinem zahmen Schim¬
mel einhergeritten kam. Dieſes Pferd hatte
ihm der Churfuͤrſt geſchenkt, um ihn zu einer
ſeiner Geſundheit ſo noͤthigen Bewegung zu
verbinden; eine Auszeichnung, die ihm nicht
leicht zu verzeihen war.
Und ſo ruͤckte nach und nach der Zeitpunct
heran, wo mir alle Autoritaͤt verſchwinden
und ich ſelbſt an den groͤßten und beſten In¬
dividuen, die ich gekannt oder mir gedacht
hatte, zweifeln, ja verzweifeln ſollte.
Friedrich der Zweyte ſtand noch immer
uͤber allen vorzuͤglichen Maͤnnern des Jahr¬
hunderts in meinen Gedanken, und es mußte
mir daher ſehr befremdend vorkommen, daß
ich ihn ſo wenig vor den Einwohnern von
Leipzig als ſonſt in meinem großvaͤterlichen
Hauſe loben durfte. Sie hatten freylich die
Hand des Krieges ſchwer gefuͤhlt, und es war
ihnen deshalb nicht zu verargen, daß ſie von
demjenigen, der ihn begonnen und fortgeſetzt,
nicht das Beſte dachten. Sie wollten ihn
daher wohl fuͤr einen vorzuͤglichen, aber kei¬
neswegs fuͤr einen großen Mann gelten laſ¬
ſen. Es ſey keine Kunſt, ſagten ſie, mit
großen Mitteln einiges zu leiſten; und wenn
man weder Laͤnder, noch Geld, noch Blut
ſchone, ſo koͤnne man zuletzt ſchon ſeinen Vor¬
ſatz ausfuͤhren. Friedrich habe ſich in keinem
ſeiner Plane und in nichts, was er ſich ei¬
gentlich vorgenommen, groß bewieſen. So
lange es von ihm abgehangen, habe er nur
immer Fehler gemacht, und das Außerordent¬
tiche ſey nur alsdann zum Vorſchein gekom¬
men, wenn er genoͤthigt geweſen, eben dieſe
Fehler wieder gut zu machen; und bloß da¬
her ſey er zu dem großen Rufe gelangt, weil
jeder Menſch ſich dieſelbige Gabe wuͤnſche,
die Fehler, die man haͤufig begeht, auf eine
geſchickte Weiſe wieder ins Gleiche zu bringen.
Man duͤrfe den ſiebenjaͤhrigen Krieg nur
Schritt vor Schritt durchgehen; ſo werde
man finden, daß der Koͤnig ſeine treffliche
Armee ganz unnuͤtzer Weiſe aufgeopfert und
ſelbſt Schuld daran geweſen, daß dieſe ver¬
derbliche Fehde ſich ſo ſehr in die Laͤnge ge¬
zogen. Ein wahrhaft großer Mann und
Heerfuͤhrer waͤre mit ſeinen Feinden viel ge¬
ſchwinder fertig geworden. Sie hatten, um
dieſe Geſinnungen zu behaupten, ein unend¬
liches Detail anzufuͤhren, welches ich nicht
zu leugnen wußte, und nach und nach die
unbedingte Verehrung erkalten fuͤhlte, die ich
dieſem merkwuͤrdigen Fuͤrſten von Jugend auf
gewidmet hatte.
Wie mich nun die Einwohner von Leipzig
um das angenehme Gefuͤhl brachten, einen
großen Mann zu verehren; ſo verminderte
ein neuer Freund, den ich zu der Zeit ge¬
wann, gar ſehr die Achtung, welche ich fuͤr
meine gegenwaͤrtigen Mitbuͤrger hegte. Die¬
ſer Freund war einer der wunderlichſten Kaͤutze,
die es auf der Welt geben kann. Er hieß
Behriſch und befand ſich als Hofmeiſter
bey dem jungen Grafen Lindenau. Schon
ſein Aeußeres war ſonderbar genug. Hager
und wohlgebaut, weit in den Dreyßigen, eine
ſehr große Naſe und uͤberhaupt markirte Zuͤge;
eine Haartour, die man wohl eine Peruͤcke
haͤtte nennen koͤnnen, trug er vom Morgen
bis in die Nacht, kleidete ſich ſehr nett und
ging niemals aus, als den Degen an der
Seite und den Hut unter dem Arm. Er
war einer von den Menſchen, die eine ganz
beſondere Gabe haben, die Zeit zu verderben,
oder vielmehr die aus Nichts Etwas zu ma¬
chen wiſſen, um ſie zu vertreiben. Alles was
er that, mußte mit Langſamkeit und einem
gewiſſen Anſtand geſchehen, den man affectirt
haͤtte nennen koͤnnen, wenn Behriſch nicht
ſchon von Natur etwas Affectirtes in ſeiner
Art gehabt haͤtte. Er aͤhnelte einem alten
Franzoſen, auch ſprach und ſchrieb er ſehr
gut und leicht Franzoͤſiſch. Seine groͤßte Luſt
war, ſich ernſthaft mit poſſenhaften Dingen
zu beſchaͤftigen und irgend einen albernen Ein¬
fall bis ins Unendliche zu verfolgen. So
trug er ſich beſtaͤndig grau, und weil die ver¬
ſchiedenen Theile ſeines Anzugs von verſchie¬
denen Zeugen, und alſo auch Schattirungen
waren; ſo konnte er Tage lang darauf ſinnen,
wie er ſich noch ein Grau mehr auf den Leib
ſchaffen wollte, und war gluͤcklich, wenn ihm
das gelang und er uns beſchaͤmen konnte, die
wir daran gezweifelt oder es fuͤr unmoͤglich
erklaͤrt hatten. Alsdann hielt er uns lange
Strafpredigten uͤber unſeren Mangel an Er¬
findungskraft und uͤber unſern Unglauben an
ſeine Talente.
Uebrigens hatte er gute Studien, war
beſonders in den neueren Sprachen und ihren
Litteraturen bewandert und ſchrieb eine vor¬
treffliche Hand. Mir war er ſehr gewogen,
und ich, der ich immer gewohnt und geneigt
war mit aͤltern Perſonen umzugehen, atta¬
chirte mich bald an ihn. Mein Umgang dien¬
te auch ihm zur beſonderen Unterhaltung, in¬
dem er Vergnuͤgen daran fand, meine Unru¬
he und Ungeduld zu zaͤhmen, womit ich ihm
dagegen auch genug zu ſchaffen machte. In
der Dichtkunſt hatte er dasjenige, was man
Geſchmack nannte, ein gewiſſes allgemeines
Urtheil uͤber das Gute und Schlechte, das
Mittelmaͤßige und Zulaͤſſige; doch war ſein
Urtheil mehr tadelnd, und er zerſtoͤrte noch
den wenigen Glauben, den ich an gleichzeitige
Schriftſteller bey mir hegte, durch liebloſe
Anmerkungen, die er uͤber die Schriften und
Gedichte dieſes und jenes mit Witz und Laune
vorzubringen wußte. Meine eigenen Sachen
nahm er mit Nachſicht auf und ließ mich ge¬
waͤhren; nur unter der Bedingung, daß ich
nichts ſollte drucken laſſen. Er verſprach mir
dagegen, daß er diejenigen Stuͤcke, die er
fuͤr gut hielt, ſelbſt abſchreiben und in einem
ſchoͤnen Bande mir verehren wolle. Dieſes
Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem
groͤßtmoͤglichſten Zeitverderb. Denn eh er
das rechte Papier finden, ehe er mit ſich uͤber
das Format einig werden konnte, ehe er die
Breite des Randes und die innere Form der
Schrift beſtimmt hatte, ehe die Rabenfedern
herbeygeſchafft, geſchnitten und Tuſche einge¬
rieben war, vergingen ganze Wochen, ohne
daß auch das Mindeſte geſchehen waͤre. Mit
eben ſolchen Umſtaͤnden begab er ſich denn je¬
desmal ans Schreiben, und brachte wirklich
nach und nach ein allerliebſtes Manuſcript zu¬
ſammen. Die Titel der Gedichte waren Frac¬
tur, die Verſe ſelbſt von einer ſtehenden ſaͤch¬
ſiſchen Handſchrift, an dem Ende eines jeden
Gedichtes eine analoge Vignette, die er ent¬
weder irgendwo ausgewaͤhlt oder auch wohl
ſelbſt erfunden hatte, wobey er die Schraffu¬
ren der Holzſchnitte und Druckerſtoͤcke, die
man bey ſolcher Gelegenheit braucht, gar zier¬
lich nachzuahmen wußte. Mir dieſe Dinge,
indem er fortruͤckte, vorzuzeigen, mir das
Gluͤck auf eine comiſchpathetiſche Weiſe vor¬
zuruͤhmen, daß ich mich in ſo vortrefflicher
Handſchrift verewigt ſahe, und zwar auf eine
Art, die keine Druckerpreſſe zu erreichen im
Stande ſey, gab abermals Veranlaſſung, die
ſchoͤnſten Stunden durchzubringen. Indeſſen
war ſein Umgang wegen der ſchoͤnen Kennt¬
niſſe, die er beſaß, doch immer im Stillen
lehrreich, und weil er mein unruhiges, hefti¬
ges Weſen zu daͤmpfen wußte, auch im ſitt¬
lichen Sinne fuͤr mich ganz heilſam. Auch
hatte er einen ganz beſonderen Widerwillen
gegen alles Rohe, und ſeine Spaͤße waren
durchaus barock, ohne jemals ins Derbe oder
Triviale zu fallen. Gegen ſeine Landsleute
erlaubte er ſich eine frazzenhafte Abneigung,
und ſchilderte was ſie auch vornehmen moch¬
ten, mit luſtigen Zuͤgen. Beſonders war er
unerſchoͤpflich, einzelne Menſchen comiſch dar¬
zuſtellen; wie er denn an dem Aeußeren eines
Jeden etwas auszuſetzen fand. So konnte er
ſich, wenn wir zuſammen am Fenſter lagen,
Stunden lang beſchaͤftigen, die Voruͤbergehen¬
den zu recenſiren und, wenn er genugſam an
ihnen getadelt, genau und umſtaͤndlich anzu¬
zeigen, wie ſie ſich eigentlich haͤtten kleiden
ſollen, wie ſie gehen, wie ſie ſich betragen
muͤßten, um als ordentliche Leute zu erſchei¬
nen. Dergleichen Vorſchlaͤge liefen meiſten¬
theils auf etwas Ungehoͤriges und Abgeſchmack¬
tes hinaus, ſo daß man nicht ſowohl lachte
uͤber das, wie der Menſch ausſah, ſondern
daruͤber, wie er allenfalls haͤtte ausſehen koͤn¬
nen, wenn er verruͤckt genug geweſen waͤre,
ſich zu verbilden. In allen ſolchen Dingen
ging er ganz unbarmherzig zu Werk, ohne
daß er nur im mindeſten boshaft geweſen waͤ¬
re. Dagegen wußten wir ihn von unſerer
Seite zu quaͤlen, wenn wir verſicherten, daß
man ihn nach ſeinem Aeußeren wo nicht fuͤr
einen franzoͤſiſchen Tanzmeiſter, doch wenig¬
ſtens fuͤr den academiſchen Sprachmeiſter an¬
ſehen muͤſſe. Dieſer Vorwurf war denn ge¬
woͤhnlich das Signal zu ſtundenlangen Ab¬
handlungen, worin er den himmelweiten Un¬
terſchied herauszuſetzen pflegte, der zwiſchen
ihm und einem alten Franzoſen obwalte. Hier¬
bey buͤrdete er uns gewoͤhnlich allerley unge¬
ſchickte Vorſchlaͤge auf, die wir ihm zu Ver¬
aͤnderung und Modificirung ſeiner Garderobe
haͤtten thun koͤnnen.
Die Richtung meines Dichtens, das ich
nur um deſto eifriger trieb, als die Ab¬
ſchrift ſchoͤner und ſorgfaͤltiger vorruckte, neigte
ſich nunmehr gaͤnzlich zum Natuͤrlichen, zum
Wahren; und wenn die Gegenſtaͤnde auch
nicht immer bedeutend ſeyn konnten, ſo ſuch¬
te ich ſie doch immer rein und ſcharf auszu¬
druͤcken, um ſo mehr als mein Freund mir
oͤfters zu bedenken gab, was das heißen wolle,
einen Vers mit der Rabenfeder und Tuſche
auf hollaͤndiſch Papier ſchreiben, was dazu
fuͤr Zeit, Talent und Anſtrengung gehoͤre, die
man an nichts Leeres und Ueberfluͤſſiges ver¬
ſchwenden duͤrfe. Dabey pflegte er gewoͤhn¬
lich ein fertiges Heft aufzuſchlagen und um¬
ſtaͤndlich auseinander zu ſetzen, was an die¬
ſer oder jener Stelle nicht ſtehen duͤrfe, und
uns gluͤcklich zu preiſen, daß es wirklich nicht
da ſtehe. Er ſprach hierauf mit großer Ver¬
achtung von der Buchdruckerey, agirte den
Setzer, ſpottete uͤber deſſen Gebaͤrden, uͤber
das eilige Hin- und Wiedergreifen, und lei¬
tete aus dieſem Manoͤvre alles Ungluͤck der
Litteratur her. Dagegen erhob er den An¬
ſtand und die edle Stellung eines Schreiben¬
den, und ſetzte ſich ſogleich hin, um ſie uns
vorzuzeigen, wobey er uns denn freylich aus¬
ſchalt, daß wir uns nicht nach ſeinem Bey¬
ſpiel und Muſter eben ſo am Schreibtiſch be¬
truͤgen. Nun kam er wieder auf den Con¬
traſt mit dem Setzer zuruͤck, kehrte einen an¬
gefangenen Brief das Oberſte zu unterſt, und
zeigte wie unanſtaͤndig es ſey, etwa von un¬
ten nach oben, oder von der Rechten zur Lin¬
ken zu ſchreiben, und was dergleichen Dinge
mehr waren, womit man ganze Baͤnde an¬
fuͤllen koͤnnte.
Mit ſolchen unſchaͤdlichen Thorheiten ver¬
geudeten wir die ſchoͤne Zeit, wobey keinem
eingefallen waͤre, daß aus unſerem Kreis zu¬
faͤllig etwas ausgehen wuͤrde, welches allge¬
meine Senſation erregen und uns nicht in
den beſten Leumund bringen ſollte.
Gellert mochte wenig Freude an ſeinem
Practicum haben, und wenn er allenfalls Luſt
empfand, einige Anleitung im proſaiſchen und
poetiſchen Styl zu geben, ſo that er es pri¬
vatiſſime nur Wenigen, unter die wir uns
nicht zaͤhlen durften. Die Luͤcke, die ſich da¬
durch in dem oͤffentlichen Unterricht ergab, ge¬
dachte Profeſſor Clodius auszufuͤllen, der
ſich im Litterariſchen, Kritiſchen und Poeti¬
ſchen einigen Ruf erworben hatte und als ein
junger, munterer, zuthaͤtiger Mann, ſowohl
bey der Academie als in der Stadt viel
Freunde fand. An die nunmehr von ihm
uͤbernommene Stunde wies uns Gellert ſelbſt,
und was die Hauptſache betraf, ſo merkten
wir wenig Unterſchied. Auch er kritiſirte nur
das Einzelne, corrigirte gleichfalls mit rother
Dinte, und man befand ſich in Geſellſchaft
von lauter Fehlern, ohne eine Ausſicht zu
haben, worin das Rechte zu ſuchen ſey? Ich
hatte ihm einige von meinen kleinen Arbeiten
gebracht, die er nicht uͤbel behandelte. Al¬
lein gerade zu jener Zeit ſchrieb man mir von
Hauſe, daß ich auf die Hochzeit meines
Oheims nothwendig ein Gedicht liefern muͤſſe.
Ich fuͤhlte mich ſo weit von jener leichten und
leichtfertigen Periode entfernt, in welcher mir
ein Aehnliches Freude gemacht haͤtte, und da
ich der Lage ſelbſt nichts abgewinnen konnte,
ſo dachte ich meine Arbeit mit aͤußerlichem
Schmuck auf das beſte herauszuſtutzen. Ich
verſammelte daher den ganzen Olymp, um
uͤber die Heirat eines Frankfurter Rechtsge¬
lehrten zu rathſchlagen; und zwar ernſthaft
genug, wie es ſich zum Feſte eines ſolchen
Ehrenmanns wohl ſchickte. Venus und The¬
mis hatten ſich um ſeinetwillen uͤberworfen;
doch ein ſchelmiſcher Streich, den Amor der
letzteren ſpielte, ließ jene den Proceß gewinnen,
und die Goͤtter entſchieden fuͤr die Heirat.
Die Arbeit misfiel mir keineswegs. Ich
erhielt von Hauſe daruͤber ein ſchoͤnes Belo¬
bungsſchreiben, bemuͤhte mich mit einer noch¬
maligen guten Abſchrift und hoffte meinem
Lehrer doch auch einigen Beyfall abzunoͤthigen.
Allein hier hatte ich's ſchlecht getroffen. Er
II. 14
nahm die Sache ſtreng, und indem er das
Parodiſtiſche, was denn doch in dem Einfall
lag, gar nicht beachtete, ſo erklaͤrte er den
großen Aufwand von goͤttlichen Mitteln zu
einem ſo geringen menſchlichen Zweck fuͤr
aͤußerſt tadelnswerth, verwies den Gebrauch
und Misbrauch ſolcher mythologiſchen Figuren
als eine falſche, aus pedantiſchen Zeiten ſich
herſchreibende Gewohnheit, fand den Aus¬
druck bald zu hoch, bald zu niedrig, und hat¬
te zwar im Einzelnen der rothen Dinte nicht
geſchont, verſicherte jedoch, daß er noch zu
wenig gethan habe.
Solche Stuͤcke wurden zwar anonym vor¬
geleſen und recenſirt; allein man paßte ein¬
ander auf, und es blieb kein Geheimniß, daß
dieſe verungluͤckte Goͤtterverſammlung mein
Wert geweſen ſey. Da mir jedoch ſeine Kri¬
tik, wenn ich ſeinen Standpunct annahm,
ganz richtig zu ſeyn ſchien, und jene Gott¬
heiten, naͤher beſehen, freylich nur hohle
Scheingeſtalten waren; ſo verwuͤnſchte ich den
geſammten Olymp, warf das ganze mythi¬
ſche Pantheon weg, und ſeit jener Zeit ſind
Amor und Luna die einzigen Gottheiten, die
in meinen kleinen Gedichten allenfalls auf¬
treten.
Unter den Perſonen, welche ſich Behriſch
zu Zielſcheiben ſeines Witzes erleſen hatte,
ſtand gerade Clodius oben an; auch war es
nicht ſchwer, ihm eine comiſche Seite abzu¬
gewinnen. Als eine kleine, etwas ſtarke, ge¬
draͤngte Figur war er in ſeinen Bewegungen
heftig, etwas fahrig in ſeinen Aeußerungen
und unſtaͤt in ſeinem Betragen. Durch alles
dieß unterſchied er ſich von ſeinen Mitbuͤr¬
gern, die ihn jedoch, wegen ſeiner guten Ei¬
genſchaften und der ſchoͤnen Hoffnungen die
er gab, recht gern gelten ließen.
Man uͤbertrug ihm gewoͤhnlich die Gedich¬
te, welche ſich bey feyerlichen Gelegenheiten
14 *
nothwendig machten. Er folgte in der ſoge¬
nannten Ode der Art, deren ſich Rammler
bediente, den ſie aber auch ganz allein kleide¬
te. Clodius aber hatte ſich als Nachahmer
beſonders die fremden Worte gemerkt, wo¬
durch jene Rammlerſchen Gedichte mit einem
majeſtaͤtiſchen Pompe auftreten, der, weil er
der Groͤße ſeines Gegenſtandes und der uͤbri¬
gen poetiſchen Behandlung gemaͤß iſt, auf
Ohr, Gemuͤth und Einbildungskraft eine ſehr
gute Wirkung thut. Bey Clodius hingegen
erſchienen dieſe Ausdruͤcke fremdartig, indem
ſeine Poeſie uͤbrigens nicht geeignet war, den
Geiſt auf irgend eine Weiſe zu erheben.
Solche Gedichte mußten wir nun oft ſchoͤn
gedruckt und hoͤchlich gelobt vor uns ſehen,
und wir fanden es hoͤchſt anſtoͤßig, daß er,
der uns die heydniſchen Goͤtter verkuͤmmert
hatte, ſich nun eine andere Leiter auf den
Parnaß aus griechiſchen und roͤmiſchen Wort¬
ſproſſen zuſammenzimmern wollte. Dieſe oft
wiederkehrenden Ausdruͤcke praͤgten ſich feſt in
unſer Gedaͤchtniß, und zu luſtiger Stunde, da
wir in den Kohlgaͤrten den trefflichſten Ku¬
chen verzehrten, fiel mir auf einmal ein, jene
Kraft- und Machtworte in ein Gedicht an
den Kuchenbaͤcker Hendel zu verſammeln. Ge¬
dacht, gethan! Und ſo ſtehe es denn auch
hier, wie es an eine Wand des Hauſes mit
Bleyſtift angeſchrieben wurde.
O Hendel, deſſen Ruhm vom Suͤd zum Nor¬
den reicht,
Vernimm den Paͤan, der zu deinen Ohren
ſteigt!
Du baͤckſt, was Gallier und Britten em¬
ſig ſuchen,
Mit ſchoͤpfriſchem Genie, originelle
Kuchen.
Des Kaffee's Ocean, der ſich vor dir ergießt,
Iſt ſuͤßer als der Saft, der vom Hymettus
fließt.
Dein Haus, ein Monument, wie wir den
Kuͤnſten lohnen,
Umhangen mit Trophaͤn, erzaͤhlt den Na¬
tionen:
Auch ohne Diadem fand Hendel hier ſein
Gluͤck,
Und raubte dem Cothurn gar manch Acht¬
groſchenſtuͤck.
Glaͤnzt deine Urn' dereinſt in majeſtaͤtſchem
Pompe,
Dann weint der Patriot an deiner Kata¬
kombe.
Doch leb'! dein Torus ſey von edler Brut
ein Reſt,
Steh' hoch wie der Olymp, wie der Par¬
naſſus feſt!
Kein Phalanx Griechenlands mit roͤmiſchen
Balliſten
Vermoͤg Germanien und Hendeln zu ver¬
wuͤſten.
Dein Wohl iſt unſer Stolz, dein Leiden
unſer Schmerz
Und Hendels Tempel iſt der Muſen¬
ſoͤhne Herz.
Dieſes Gedicht ſtand lange Zeit unter ſo
vielen anderen, welche die Waͤnde jener Zim¬
mer verunzierten, ohne bemerkt zu werden,
und wir, die wir uns genugſam daran ergetzt
hatten, vergaßen es ganz und gar uͤber an¬
deren Dingen. Geraume Zeit hernach trat
Clodius mit ſeinem Medon hervor, deſſen
Weisheit, Großmuth und Tugend wir un¬
endlich laͤcherlich fanden, ſo ſehr auch die er¬
ſte Vorſtellung des Stuͤcks beklatſcht wurde.
Ich machte gleich Abends, als wir zuſammen
in unſer Weinhaus kamen, einen Prolog in
Knittelverſen, wo Arlekin mit zwey großen
Saͤcken auftritt, ſie an beyde Seiten des Pro¬
ſceniums ſtellt und nach verſchiedenen vorlaͤu¬
figen Spaͤßen den Zuſchauern vertraut, daß
in den beyden Saͤcken moraliſch–aͤſthetiſcher
Sand befindlich ſey, den ihnen die Schau¬
ſpieler ſehr haͤufig in die Augen werfen wuͤr¬
den. Der eine ſey naͤmlich mit Wohlthaten
gefuͤllt, die nichts koſteten, und der andere
mit praͤchtig ausgedruͤckten Geſinnungen, die
nichts hinter ſich haͤtten. Er entfernte ſich
ungern und kam einigemal wieder, ermahnte
die Zuſchauer ernſtlich, ſich an ſeine Warnung
zu kehren und die Augen zuzumachen, erin¬
nerte ſie, wie er immer ihr Freund geweſen
und es gut mit ihnen gemeynt, und was der¬
gleichen Dinge mehr waren. Dieſer Prolog
wurde auf der Stelle von Freund Horn im
Zimmer geſpielt, doch blieb der Spaß ganz
unter uns, es ward nicht einmal eine Ab¬
ſchrift genommen und das Papier verlor ſich
bald. Horn jedoch, der den Arlekin ganz ar¬
tig vorgeſtellt hatte, ließ ſich's einfallen, mein
Gedicht an Hendel um mehrere Verſe zu er¬
weitern und es zunaͤchſt auf den Medon zu
beziehen. Er las es uns vor, und wir konn¬
ten keine Freude daran haben, weil wir die
Zuſaͤtze nicht eben geiſtreich fanden, und das
erſte, in einem ganz anderen Sinn geſchrie¬
bene Gedicht uns entſtellt vorkam. Der
Freund, unzufrieden uͤber unſere Gleichguͤltig¬
keit, ja unſeren Tadel, mochte es Anderen
vorgezeigt haben, die es neu und luſtig fan¬
den. Nun machte man Abſchriften davon,
denen der Ruf des Clodiuſiſchen Medons ſo¬
gleich eine ſchnelle Publicitaͤt verſchaffte. All¬
gemeine Misbilligung erfolgte hierauf, und
die Urheber (man hatte bald erfahren, daß
es aus unſerer Clike hervorgegangen war)
wurden hoͤchlich getadelt: denn ſeit Cro¬
negk's und Roſt's Angriffen auf Gottſched
war dergleichen nicht wieder vorgekommen.
Wir hatten uns ohnehin fruͤher ſchon zuruͤck¬
gezogen, und nun befanden wir uns gar im
Falle der Schuhu's gegen die uͤbrigen Voͤgel.
Auch in Dresden mochte man die Sache nicht
gut finden, und ſie hatte fuͤr uns wo nicht
unangenehme, doch ernſte Folgen. Der Graf
Lindenau war ſchon eine Zeit lang mit dem
Hofmeiſter ſeines Sohns nicht ganz zufrieden.
Denn obgleich der junge Mann keineswegs
vernachlaͤſſigt wurde und Behriſch ſich entwe¬
der in dem Zimmer des jungen Grafen oder
wenigſtens daneben hielt, wenn die Lehrmei¬
ſter ihre taͤglichen Stunden gaben, die Col¬
legia mit ihm ſehr ordentlich frequentirte, bey
Tage nicht ohne ihn ausging, auch denſelben
auf allen Spazirgaͤngen begleitete; ſo waren
wir Andern doch auch immer in Apels Hauſe
zu finden und zogen mit, wenn man luſtwan¬
delte; das machte ſchon einiges Aufſehen.
Behriſch gewoͤhnte ſich auch an uns, gab zu¬
letzt meiſtentheils Abends gegen neun Uhr
ſeinen Zoͤgling in die Haͤnde des Cammerdie¬
ners und ſuchte uns im Weinhauſe auf, wo¬
hin er jedoch niemals anders als in Schuhen
und Struͤmpfen, den Degen an der Seite
und gewoͤhnlich den Hut unterm Arm zu kom¬
men pflegte. Die Spaͤße und Thorheiten,
die er insgemein angab, gingen ins Unend¬
liche. So hatte z. B. einer unſerer Freunde
die Gewohnheit Punct Zehne wegzugehen,
weil er mit einem huͤbſchen Kinde in Verbin¬
dung ſtand, mit welchem er ſich nur um die¬
ſe Zeit unterhalten konnte. Wir vermißten
ihn ungern, und Behriſch nahm ſich eines
Abends, wo wir ſehr vergnuͤgt zuſammen wa¬
ren, im Stillen vor, ihn dießmal nicht weg¬
zulaſſen. Mit dem Schlage Zehn ſtand jener
auf und empfahl ſich. Behriſch rief ihn an
und bat, einen Augenblick zu warten, weil
er gleich mit gehen wolle. Nun begann er
auf die anmuthigſte Weiſe erſt nach ſeinem
Degen zu ſuchen, der doch ganz vor den Au¬
gen ſtand, und gebaͤrdete ſich beym Anſchnal¬
len deſſelben ſo ungeſchickt, daß er damit nie¬
mals zu Stande kommen konnte. Er machte
es auch Anfangs ſo natuͤrlich, daß Niemand
ein Arges dabey hatte. Als er aber, um das
Thema zu variiren, zuletzt weiter ging, daß
der Degen bald auf die rechte Seite, bald
zwiſchen die Beine kam, ſo entſtand ein all¬
gemeines Gelaͤchter, in das der Forteilende,
welcher gleichfalls ein luſtiger Geſelle war, mit
einſtimmte, und Behriſch ſo lange gewaͤhren
ließ, bis die Schaͤferſtunde voruͤber war, da
denn nun erſt eine gemeinſame Luſt und ver¬
gnuͤgliche Unterhaltung bis tief in die Nacht
erfolgte.
Ungluͤcklicher Weiſe hatte Behriſch und
wir durch ihn, noch einen gewiſſen anderen
Hang zu einigen Maͤdchen, welche beſſer wa¬
ren als ihr Ruf; wodurch denn aber unſer
Ruf nicht gefoͤrdert werden konnte. Man
hatte uns manchmal in ihrem Garten geſehen,
und wir lenkten auch wohl unſern Spazir¬
gang dahin, wenn der junge Graf dabey war.
Dieſes alles mochte zuſammen aufgeſpart und
dem Vater zuletzt berichtet worden ſeyn: ge¬
nug er ſuchte auf eine glimpfliche Weiſe den
Hofmeiſter los zu werden, dem es jedoch zum
Gluͤck gereichte. Sein gutes Aeußere, ſeine
Kenntniſſe und Talente, ſeine Rechtſchaffen¬
heit, an der Niemand etwas auszuſetzen wu߬
te, hatten ihm die Neigung und Achtung vor¬
zuͤglicher Perſonen erworben, auf deren Em¬
pfehlung er zu dem Erbprinzen von Deſſau
als Erzieher berufen wurde, und an dem Ho¬
fe eines in jeder Ruͤckſicht trefflichen Fuͤrſten
ein ſolides Gluͤck fand.
Der Verluſt eines Freundes, wie Behriſch,
war fuͤr mich von der groͤßten Bedeutung.
Er hatte mich verzogen, indem er mich bilde¬
te, und ſeine Gegenwart war noͤthig, wenn
das einigermaßen fuͤr die Societaͤt Frucht
bringen ſollte, was er an mich zu wenden
fuͤr gut gefunden hatte. Er wußte mich zu
allerley Artigem und Schicklichem zu bewegen,
was gerade am Platz war, und meine geſel¬
ligen Talente herauszuſetzen. Weil ich aber
in ſolchen Dingen keine Selbſtſtaͤndigkeit er¬
worben hatte; ſo fiel ich gleich, da ich wie¬
der allein war, in mein wirriges, ſtoͤrriſches
Weſen zuruͤck, welches immer zunahm je un¬
zufriedener ich uͤber meine Umgebung war,
indem ich mir einbildete, daß ſie nicht mit
mir zufrieden ſey. Mit der willkuͤhrlichſten
Laune nahm ich uͤbel auf, was ich mir haͤtte
zum Vortheil rechnen koͤnnen, entfernte man¬
chen dadurch, mit dem ich bisher in leidlichem
Verhaͤltniß geſtanden hatte, und mußte bey
mancherley Widerwaͤrtigkeiten, die ich mir
und Anderen, es ſey nun im Thun oder Un¬
terlaſſen, im Zuviel oder Zuwenig zugezogen
hatte, von Wohlwollenden die Bemerkung hoͤ¬
ren, daß es mir an Erfahrung fehle. Das
Gleiche ſagte mir wohl irgend ein Gutdenken¬
der, der meine Productionen ſah, beſonders
wenn ſie ſich auf die Außenwelt bezogen. Ich
beobachtete dieſe ſo gut ich konnte, fand aber
daran wenig Erbauliches, und mußte noch
immer genug von dem Meinigen hinzuthun,
um ſie nur ertraͤglich zu finden. Auch mei¬
nem Freunde Behriſch hatte ich manchmal
zugeſetzt, er ſolle mir deutlich machen, was
Erfahrung ſey? Weil er aber voller Thorhei¬
ten ſteckte, ſo vertroͤſtete er mich von einem
Tage zum anderen und eroͤffnete mir zuletzt,
nach großen Vorbereitungen: die wahre Er¬
fahrung ſey ganz eigentlich, wenn man erfah¬
re, wie ein Erfahrner die Erfahrung erfah¬
rend erfahren muͤſſe. Wenn wir ihn nun
hieruͤber aͤußerſt ausſchalten und zur Rede
ſetzten, ſo verſicherte er, hinter dieſen Worten
ſtecke ein großes Geheimniß, das wir alsdenn
erſt begreifen wuͤrden, wenn wir erfahren
haͤtten, — und immer ſo weiter: denn es ko¬
ſtete ihm nichts, Viertelſtunden lang ſo fortzu¬
ſprechen; da denn das Erfahren immer erfahr¬
ner und zuletzt zur wahrhaften Erfahrung
werden wuͤrde. Wollten wir uͤber ſolche Poſ¬
ſen verzweifeln, ſo betheuerte er, daß er die¬
ſe Art ſich deutlich und eindruͤcklich zu machen,
von den neuſten und groͤßten Schriftſtellern
gelernt, welche uns aufmerkſam gemacht, wie
man eine ruhige Ruhe ruhen und wie die
Stille im Stillen immer ſtiller werden koͤnnte.
Zufaͤlliger Weiſe ruͤhmte man in guter
Geſellſchaft einen Officier, der ſich unter uns
auf Urlaub befand, als einen vorzuͤglich wohl¬
denkenden und erfahrnen Mann, der den ſie¬
benjaͤhrigen Krieg mitgefochten und ſich ein
allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel
nicht ſchwer, mich ihm zu naͤhern, und wir
ſpazirten oͤfters mit einander. Der Begriff
von Erfahrung war beynah fix in meinem
Gehirne geworden, und das Beduͤrfniß, mir
ihn klar zu machen, leidenſchaftlich. Offenmuͤ¬
thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬
he, in der ich mich befand. Er laͤchelte und
war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬
ner Fragen, etwas von ſeinem Leben und von
der naͤchſten Welt uͤberhaupt zu erzaͤhlen, wo
bey freylich zuletzt wenig Beſſeres herauskam
als, daß die Erfahrung uns uͤberzeuge, daß
unſere beſten Gedanken, Wuͤnſche und Verſaͤ¬
tze unerreichbar ſeyen, und daß man denjeni¬
gen, welcher dergleichen Grillen hege und ſie
mit Lebhaftigkeit aͤußere, vornehmlich fuͤr ei¬
nen unerfahrnen Menſchen halte.
Da er jedoch ein wackerer, tuͤchtiger Mann
war, ſo verſicherte er mir, er habe dieſe Gril¬
len ſelbſt noch nicht ganz aufgegeben, und be¬
II. 15
finde ſich bey dem Wenigen Glaube, Liebe
und Hoffnung, was ihm uͤbrig geblieben,
noch ganz leidlich. Er mußte mir darauf
Vieles vom Krieg erzaͤhlen, von der Lebens¬
weiſe im Feld, von Scharmuͤtzeln und Schlach¬
ten, beſonders in ſofern er Antheil daran
genommen; da denn dieſe ungeheueren Ereig¬
niſſe, indem ſie auf ein einzelnes Individuum
bezogen wurden, ein gar wunderliches Anſe¬
hen gewannen. Ich bewog ihn alsdann zu
einer offenen Erzaͤhlung der kurz vorher be¬
ſtandenen Hofverhaͤltniſſe, welche ganz maͤhr¬
chenhaft zu ſeyn ſchienen. Ich hoͤrte von der
koͤrperlichen Staͤrke Auguſt's des Zweyten, den
vielen Kindern deſſelben und ſeinem ungeheu¬
eren Aufwand, ſodann von des Nachfolgers
Kunſt- und Sammlungsluſt, vom Grafen
Bruͤhl und deſſen grenzenloſer Prunkliebe,
deren Einzelnes beynahe abgeſchmackt erſchien,
von ſo viel Feſten und Prachtergetzungen,
welche ſaͤmmtlich durch den Einfall Friedrichs
in Sachſen abgeſchnitten worden. Nun la¬
gen die koͤniglichen Schloͤſſer zerſtoͤrt, die
Bruͤhlſchen Herrlichkeiten vernichtet, und es
war von allem nur ein ſehr beſchaͤdigtes herr¬
liches Land uͤbrig geblieben.
Als er mich uͤber jenen unſinnigen Genuß
des Gluͤcks verwundert, und ſodann uͤber das
erfolgte Ungluͤck betruͤbt ſah, und mich bedeu¬
tete, wie man von einem erfahrnen Manne
geradezu verlange, daß er uͤber keins von bey¬
den erſtaunen, noch daran einen zu lebhaften
Antheil nehmen ſolle; ſo fuͤhlte ich große Luſt,
in meiner bisherigen Unerfahrenheit noch eine
Weile zu verharren, worin er mich denn be¬
ſtaͤrkte und recht angelegentlich bat, ich moͤchte
mich, bis auf Weiteres, immer an die an¬
genehmen Erfahrungen halten und die unan¬
genehmen ſoviel als moͤglich abzulehnen ſu¬
chen, wenn ſie ſich mir aufdringen ſollten.
Einſt aber, als wieder im Allgemeinen die
Rede von Erfahrung war und ich ihm jene
poſſenhaften Phraſen des Freundes Behriſch
15 *
erzaͤhlte, ſchuͤttelte er laͤchelnd den Kopf und
ſagte: da ſieht man, wie es mit Worten geht,
die nur einmal ausgeſprochen ſind! Dieſe da
klingen ſo neckiſch, ja ſo albern, daß es faſt
unmoͤglich ſcheinen duͤrfte, einen vernuͤnftigen
Sinn hineinzulegen; und doch ließ ſich viel¬
leicht ein Verſuch machen.
Und als ich in ihn drang, verſetzte er mit
ſeiner verſtaͤndig heiteren Weiſe: wenn Sie
mir erlauben, indem ich Ihren Freund com¬
mentire und ſupplire, in ſeiner Art fortzu¬
fahren, ſo duͤnkt mich, er habe ſagen wollen,
daß die Erfahrung nichts anderes ſey, als
daß man erfaͤhrt, was man nicht zu erfahren
wuͤnſcht, worauf es wenigſtens in dieſer Welt
meiſtens hinauslaͤuft.
Achtes Buch.
Ein anderer Mann, obgleich in jedem Be¬
tracht von Behriſch unendlich verſchieden, konn¬
te doch in einem gewiſſen Sinne mit ihm
verglichen werden; ich meyne Oeſern, wel¬
cher auch unter diejenigen Menſchen gehoͤrte,
die ihr Leben in einer bequemen Geſchaͤftig¬
keit hintraͤumen. Seine Freunde ſelbſt be¬
kannten im Stillen, daß er, bey einem ſehr
ſchoͤnen Naturell, ſeine jungen Jahre nicht in
genugſamer Thaͤtigkeit verwendet, deswegen er
auch nie dahin gelangt ſey, die Kunſt mit voll¬
kommner Technik auszuuͤben. Doch ſchien
ein gewiſſer Fleiß ſeinem Alter vorbehalten zu
ſeyn, und es fehlte ihm die vielen Jahre, die
ich ihn kannte, niemals an Erfindung noch
Arbeitſamkeit. Er hatte mich gleich den er¬
ſten Augenblick ſehr an ſich gezogen; ſchon
ſeine Wohnung, wunderſam und ahndungvoll,
war fuͤr mich hoͤchſt reizend. In dem alten
Schloſſe Pleißenburg ging man rechts in der
Ecke eine erneute heitre Wendeltreppe hinauf.
Die Saͤle der Zeichenacademie, deren Direc¬
tor er war, fand man ſodann links, hell und
geraͤumig; aber zu ihm ſelbſt gelangte man
nur durch einen engen dunklen Gang, an deſ¬
ſen Ende man erſt den Eintritt zu ſeinen Zim¬
mern ſuchte, zwiſchen deren Reihe und einem
weitlaͤuftigen Kernboden man ſo eben herge¬
gangen war. Das erſte Gemach war mit
Bildern geſchmuͤckt aus der ſpaͤteren italieni¬
ſchen Schule, von Meiſtern, deren Anmuth
er hoͤchlich zu preiſen pflegte. Da ich Pri¬
vatſtunden mit einigen Edelleuten bey ihm ge¬
nommen hatte, ſo war uns erlaubt, hier zu
zeichnen, und wir gelangten auch manchmal
in ſein daranſtoßendes inneres Cabinet, wel¬
ches zugleich ſeine wenigen Buͤcher, Kunſt-
und Naturalienſammlungen und was ihn
ſonſt zunaͤchſt intereſſiren mochte, enthielt. Al¬
les war mit Geſchmack, einfach und derge¬
ſtalt geordnet, daß der kleine Raum ſehr vie¬
les umfaßte. Die Moͤbeln, Schraͤnke, Por¬
tefeuilles elegant ohne Ziererey oder Ueberfluß.
So war auch das erſte was er uns empfahl
und worauf er immer wieder zuruͤckkam, die
Einfalt in allem, was Kunſt und Handwerk
vereint hervorzubringen berufen ſind. Als ein
abgeſagter Feind des Schnoͤrkel- und Muſchel¬
weſens und des ganzen barocken Geſchmacks
zeigte er uns dergleichen in Kupfer geſtochne
und gezeichnete alte Muſter im Gegenſatz mit
beſſeren Verzierungen und einfacheren Formen
der Moͤbel ſowohl als anderer Zimmerumge¬
bungen, und weil alles um ihn her mit die¬
ſen Maximen uͤbereinſtimmte; ſo machten die
Worte und Lehren auf uns einen guten und
dauernden Eindruck. Auch außerdem hatte er
Gelegenheit, uns ſeine Geſinnungen practiſch
ſehen zu laſſen, indem er ſowohl bey Privat-
als Regimentsperſonen in gutem Anſehen
ſtand und bey neuen Bauten und Veraͤnde¬
rungen um Rath gefragt wurde. Ueberhaupt
ſchien er geneigter zu ſeyn, etwas gelegentlich,
zu einem gewiſſen Zweck und Gebrauch zu
verfertigen, als daß er fuͤr ſich beſtehende
Dinge, welche eine groͤßere Vollendung ver¬
langen, unternommen und ausgearbeitet haͤtte:
deshalb er auch immer bereit und zur Hand
war, wenn die Buchhaͤndler groͤßere und klei¬
nere Kupfer zu irgend einem Werk verlangten;
wie denn die Vignetten zu Winkelmanns er¬
ſten Schriften von ihm radirt ſind. Oft aber
machte er nur ſehr ſkizzenhafte Zeichnungen,
in welche ſich Geyſer ganz gut zu ſckicken
verſtand. Seine Figuren hatten durchaus et¬
was Allgemeines, um nicht zu ſagen Ideelles.
Seine Frauen waren angenehm und gefaͤllig,
ſeine Kinder naiv genug; nur mit den Maͤn¬
nern wollte es nicht fort, die, bey ſeiner
zwar geiſtreichen, aber doch immer nebuli¬
ſtiſchen und zugleich abbrevirenden Manier,
meiſtentheils das Anſehn von Lazaroni erhiel¬
ten. Da er ſeine Compoſitionen uͤberhaupt
weniger auf Form, als auf Licht, Schatten
und Maſſen berechnete, ſo nahmen ſie ſich im
Ganzen gut aus; wie denn alles, was er that
und hervorbrachte, von einer eignen Grazie
begleitet war. Weil er nun dabey eine ein¬
gewurzelte Neigung zum Bedeutenden, Alle¬
goriſchen, einen Nebengedanken Erregenden
nicht bezwingen konnte noch wollte; ſo gaben
ſeine Werke immer etwas zu ſinnen und wur¬
den vollſtaͤndig durch einen Begriff, da ſie es
der Kunſt und der Ausfuͤhrung nach nicht ſeyn
konnten. Dieſe Richtung, welche immer ge¬
faͤhrlich iſt, fuͤhrte ihn manchmal bis an die
Grenze des guten Geſchmacks, wo nicht gar
daruͤber hinaus. Seine Abſichten ſuchte er oft
durch die wunderlichſten Einfaͤlle und durch
grillenhafte Scherze zu erreichen; ja ſeinen
beſten Arbeiten iſt ſtets ein humoriſtiſcher An¬
ſtrich verliehen. War das Publicum mit ſol¬
chen Dingen nicht immer zufrieden, ſo raͤchte
er ſich durch eine neue, noch wunderlichere
Schnurre. So ſtellte er ſpaͤter in dem Vor¬
zimmer des großen Concertſaales eine ideale
Frauenfigur ſeiner Art vor, die eine Licht¬
ſcheere nach einer Kerze hinbewegte, und er
freute ſich außerordentlich, wenn er veranlaſ¬
ſen konnte, daß man uͤber die Frage ſtritt, ob
dieſe ſeltſame Muſe das Licht zu putzen oder
auszuloͤſchen gedenke? wo er denn allerley necki¬
ſche Beygedanken ſchelmiſch hervorblicken ließ.
Doch machte die Erbauung des neuen
Theaters zu meiner Zeit das groͤßte Aufſehen,
in welchem ſein Vorhang, da er noch ganz
neu war, gewiß eine außerordentlich liebliche
Wirkung that. Oeſer hatte die Muſen aus
den Wolken, auf denen ſie bey ſolchen Gele¬
genheiten gewoͤhnlich ſchweben, auf die Erde
verſetzt. Einen Vorhof zum Tempel des
Ruhms ſchmuͤckten die Statuen des Sophokles
und Ariſtophanes, um welche ſich alle neuere
Schauſpieldichter verſammelten. Hier nun
waren die Goͤttinnen der Kuͤnſte gleichfalls ge¬
genwaͤrtig und alles wuͤrdig und ſchoͤn. Nun
aber kommt das Wunderliche! Durch die
freye Mitte ſah man das Portal des fernſte¬
henden Tempels, und ein Mann in leichter
Jacke ging zwiſchen beyden obgedachten Grup¬
pen, ohne ſich um ſie zu bekuͤmmern, hin¬
durch, gerade auf den Tempel los; man ſah
ihn daher im Ruͤcken, er war nicht beſonders
ausgezeichnet. Dieſer nun ſollte Shakeſpearn
bedeuten, der ohne Vorgaͤnger und Nachfol¬
ger, ohne ſich um die Muſter zu bekuͤmmern,
auf ſeine eigne Hand der Unſterblichkeit ent¬
gegengehe. Auf dem großen Boden uͤber dem
neuen Theater ward dieſes Werk vollbracht.
Wir verſammelten uns dort oft um ihn, und
ich habe ihm daſelbſt die Aushaͤngebogen von
Muſarion vorgeleſen.
Was mich betraf, ſo ruͤckte ich in Ausuͤ¬
bung der Kunſt keineswegs weiter. Seine
Lehre wirkte auf unſern Geiſt und unſern Ge¬
ſchmack; aber ſeine eigne Zeichnung war zu
unbeſtimmt, als daß ſie mich, der ich an den
Gegenſtaͤnden der Kunſt und Natur auch nur
hindaͤmmerte, haͤtte zu einer ſtrengen und ent¬
ſchiedenen Ausuͤbung anleiten ſollen. Von den
Geſichtern und Koͤrpern ſelbſt uͤberlieferte er
uns mehr die Anſichten als die Formen, mehr
die Gebaͤrden als die Proportionen. Er gab
uns die Begriffe von den Geſtalten, und ver¬
langte, wir ſollten ſie in uns lebendig wer¬
den laſſen. Das waͤre denn auch ſchoͤn und
recht geweſen, wenn er nicht bloß Anfaͤnger
vor ſich gehabt haͤtte. Konnte man ihm da¬
her ein vorzuͤgliches Talent zum Unterricht
wohl abſprechen; ſo mußte man dagegen be¬
kennen, daß er ſehr geſcheidt und weltklug ſey,
und daß eine gluͤckliche Gewandtheit des Gei¬
ſtes ihn, in einem hoͤhern Sinne, recht eigent¬
lich zum Lehrer qualificire. Die Maͤngel, an
denen jeder litt, ſah er recht gut ein; er ver¬
ſchmaͤhte jedoch, ſie direct zu ruͤgen, und deu¬
tete vielmehr Lob und Tadel indirect ſehr la¬
coniſch an. Nun mußte man uͤber die Sache
denken und kam in der Einſicht ſchnell um
vieles weiter. So hatte ich z. B. auf blaues
Papier einen Blumenſtrauß, nach einer vor¬
handenen Vorſchrift, mit ſchwarzer und wei¬
ßer Kreide ſehr ſorgfaͤltig ausgefuͤhrt, und
theils mit Wiſchen, theils mit Schraffiren
das kleine Bild hervorzuheben geſucht. Nach¬
dem ich mich lange dergeſtalt bemuͤht, trat er
einſtens hinter mich und ſagte: „Mehr Pa¬
pier!“ worauf er ſich ſogleich entfernte. Mein
Nachbar und ich zerbrachen uns den Kopf,
was das heißen koͤnne: denn mein Bouquet
hatte auf einem großen halben Bogen Raum
genug um ſich her. Nachdem wir lange nach¬
gedacht, glaubten wir endlich ſeinen Sinn zu
treffen, wenn wir bemerkten, daß ich durch
das Ineinanderarbeiten des Schwarzen und
Weißen den blauen Grund ganz zugedeckt, die
Mitteltinte zerſtoͤrt und wirklich eine unange¬
nehme Zeichnung mit großem Fleiß hervorge¬
bracht hatte. Uebrigens ermangelte er nicht,
uns von der Perſpective, von Licht und Schat¬
ten zwar genugſam, doch immer nur ſo zu
unterrichten, daß wir uns anzuſtrengen und
zu quaͤlen hatten, um eine Anwendung der
uͤberlieferten Grundſaͤtze zu treffen. Wahr¬
ſcheinlich war ſeine Abſicht, an uns, die wir
doch nicht Kuͤnſtler werden ſollten, nur die
Einſicht und den Geſchmack zu bilden, und
uns mit den Erforderniſſen eines Kunſtwerks
bekannt zu machen, ohne gerade zu verlan¬
gen, daß wir es hervorbringen ſollten. Da
nun der Fleiß ohnehin meine Sache nicht
war: denn es machte mir nichts Vergnuͤgen
als was mich anflog; ſo wurde ich nach und
nach wo nicht laͤſſig doch mismuthig, und
weil die Kenntniß bequemer iſt als das Thun,
ſo ließ ich mir gefallen, wohin er uns nach
ſeiner Weiſe zu fuͤhren gedachte.
Zu jener Zeit war das Leben der Ma¬
ler von D'Argenville ins Deutſche uͤber¬
ſetzt, ich erhielt es ganz friſch und ſtudirte es
emſig genug. Dieß ſchien Oeſern zu gefallen,
und er verſchaffte uns Gelegenheit, aus den
großen Leipziger Sammlungen manches Por¬
tefeuille zu ſehen, und leitete uns dadurch zur
Geſchichte der Kunſt ein. Aber auch dieſe
Uebungen brachten bey mir eine andere Wir¬
kung hervor, als er im Sinn haben mochte.
Die mancherley Gegenſtaͤnde, welche ich von
den Kuͤnſtlern behandelt ſah, erweckten das
poetiſche Talent in mir, und wie man ja
wohl ein Kupfer zu einem Gedicht macht, ſo
machte ich nun Gedichte zu den Kupfern und
Zeichnungen, indem ich mir die darauf vorge¬
ſtellten Perſonen in ihrem vorhergehenden und
nachfolgenden Zuſtande zu vergegenwaͤrtigen,
bald auch ein kleines Lied, das ihnen wohl
geziemt haͤtte, zu dichten wußte, und ſo mich
gewoͤhnte, die Kuͤnſte in Verbindung mit ein¬
ander zu betrachten. Ja ſelbſt die Fehlgriffe,
die ich that, daß meine Gedichte manchmal
beſchreibend wurden, waren mir in der Fol¬
ge, als ich zu mehrerer Beſinnung kam, nuͤtz¬
lich, indem ſie mich auf den Unterſchied der
Kuͤnſte aufmerkſam machten. Von ſolchen klei¬
nen Dingen ſtanden mehrere in der Samm¬
ll. 16
lung, welche Behriſch veranſtaltet hatte; es
iſt aber nichts davon uͤbrig geblieben.
Das Kunſt- und Geſchmackselement, wor¬
in Oeſer lebte, und auf welchem man ſelbſt,
in ſofern man ihn fleißig beſuchte, getragen
wurde, ward auch dadurch immer wuͤrdiger
und erfreulicher, daß er ſich gern abgeſchiede¬
ner oder abweſender Maͤnner erinnerte, mit
denen er in Verhaͤltniß geſtanden hatte, oder
ſolches noch immer fort erhielt; wie er denn,
wenn er Jemanden einmal ſeine Achtung ge¬
ſchenkt, unveraͤnderlich in dem Betragen ge¬
gen denſelben blieb, und ſich immer gleich ge¬
neigt erwies.
Nachdem wir unter den Franzoſen vor¬
zuͤglich Caylus hatten ruͤhmen hoͤren, machte
er uns auch mit deutſchen, in dieſem Fache
thaͤtigen Maͤnnern bekannt. So erfuhren wir,
daß Profeſſor Chriſt als Liebhaber, Samm¬
ler, Kenner, Mitarbeiter, der Kunſt ſchoͤne
Dienſte geleiſtet, und ſeine Gelehrſamkeit zu
wahrer Foͤrderung derſelben angewendet habe.
Heinecke dagegen durfte nicht wohl genannt
werden, theils weil er ſich mit den allzukind¬
lichen Anfaͤngen der deutſchen Kunſt, welche
Oeſer wenig ſchaͤtzte, gar zu emſig abgab,
theils weil er einmal mit Winkelmann unſaͤu¬
berlich verfahren war, welches ihm denn nie¬
mals verziehen werden konnte. Auf Lipperts
Bemuͤhungen jedoch ward unſere Aufmerkſam¬
keit kraͤftig hingeleitet, indem unſer Lehrer das
Verdienſt derſelben genugſam herauszuſetzen
wußte. Denn obgleich, ſagte er, die Sta¬
tuen und groͤßeren Bildwerke Grund und Gi¬
pfel aller Kunſtkenntniß blieben, ſo ſeyen ſie
doch ſowohl im Original, als Abguß ſelten zu
ſehen, dahingegen durch Lippert eine kleine
Welt von Gemmen bekannt werde, in wel¬
cher der Alten faßlicheres Verdienſt, gluͤckliche
Erfindung, zweckmaͤßige Zuſammenſtellung, ge¬
ſchmackvolle Behandlung, auffallender und be¬
greiflicher werde, auch bey ſo großer Menge
16 *
die Vergleichung eher moͤglich ſey. Indem
wir uns nun damit ſoviel als erlaubt war
beſchaͤftigten, ſo wurde auf das hohe Kunſtle¬
ben Winkelmanns in Italien hingedeutet,
und wir nahmen deſſen erſte Schriften mit
Andacht in die Haͤnde; denn Oeſer hatte eine
leidenſchaftliche Verehrung fuͤr ihn, die er uns
gar leicht einzufloͤßen vermochte. Das Pro¬
blematiſche jener kleinen Aufſaͤtze, die ſich noch
dazu durch Ironie ſelbſt verwirren und ſich
auf ganz ſpecielle Meynungen und Ereigniſſe
beziehen, vermochten wir zwar nicht zu ent¬
ziffern; allein weil Oeſer viel Einfluß darauf
gehabt, und er das Evangelium des Schoͤ¬
nen, mehr noch des Geſchmackvollen und An¬
genehmen auch uns unablaͤſſig uͤberlieferte, ſo
fanden wir den Sinn im Allgemeinen wieder
und duͤnkten uns bey ſolchen Auslegungen um
deſto ſicherer zu gehen, als wir es fuͤr kein
geringes Gluͤck achteten, aus derſelben Quelle
zu ſchoͤpfen, aus der Winkelmann ſeinen erſten
Durſt geſtillt hatte.
Einer Stadt kann kein groͤßeres Gluͤck be¬
gegnen, als wenn mehrere, im Guten und
Rechten Gleichgeſinnte, ſchon gebildete Maͤn¬
ner daſelbſt neben einander wohnen. Dieſen
Vorzug hatte Leipzig und genoß ihn um ſo
friedlicher, als ſich noch nicht ſo manche Ent¬
zweyungen des Urtheils hervorgethan hatten.
Huber, Kupferſtichſammler und wohlgeuͤbter
Kenner, hatte noch außerdem das dankbar an¬
erkannte Verdienſt, daß er den Werth der
deutſchen Litteratur auch den Franzoſen be¬
kannt zu machen gedachte; Kreuchauf,
Liebhaber mit geuͤbtem Blick, der, als Freund
der ganzen Kunſtſocietaͤt, alle Sammlungen
fuͤr die ſeinigen anſehen konnte; Winkler,
der die einſichtsvolle Freude, die er an ſeinen
Schaͤtzen hegte, ſehr gern mit Anderen theil¬
te; mancher Andere, der ſich anſchloß, alle
lebten und wirkten nur in Einem Sinne, und
ich wuͤßte mich nicht zu erinnern, ſo oft ich
auch wenn ſie Kunſtwerke durchſahen bey¬
wohnen durfte, daß jemals ein Zwieſpalt ent¬
ſtanden waͤre: immer kam, billiger Weiſe, die
Schule in Betracht, aus welcher der Kuͤnſtler
hervorgegangen, die Zeit, in der er gelebt,
das beſondere Talent, das ihm die Natur
verliehen und der Grad, auf welchen er es
in der Ausfuͤhrung gebracht. Da war keine
Vorliebe weder fuͤr geiſtliche noch fuͤr welt¬
liche Gegenſtaͤnde, fuͤr laͤndliche oder fuͤr ſtaͤdti¬
ſche, lebendige oder lebloſe; die Frage war
immer nach dem Kunſtgemaͤßen.
Ob ſich nun gleich dieſe Liebhaber und
Sammler, nach ihrer Lage, Sinnesart, Ver¬
moͤgen und Gelegenheit, mehr gegen die nie¬
derlaͤndiſche Schule richteten; ſo ward doch,
indem man ſein Auge an den unendlichen
Verdienſten der nordweſtlichen Kuͤnſtler uͤbte,
ein ſehnſuchtsvoll verehrender Blick nach Suͤd¬
oſten immer offen gehalten.
Und ſo mußte die Univerſitaͤt, wo ich die
Zwecke meiner Familie, ja meine eignen ver¬
ſaͤumte, mich in demjenigen begruͤnden, wor¬
in ich die groͤßte Zufriedenheit meines Lebens
finden ſollte; auch iſt mir der Eindruck jener
Localitaͤten, in welchen ich ſo bedeutende An¬
regungen empfangen, immer hoͤchſt lieb und
werth geblieben. Die alte Pleißenburg, die
Zimmer der Academie, vor allen aber Oeſers
Wohnung, nicht weniger die Winklerſche und
Richterſche Sammlungen habe ich noch im¬
mer lebhaft gegenwaͤrtig.
Ein junger Mann jedoch, der, indem ſich
aͤltere unter einander von ſchon bekannten Din¬
gen unterhalten, nur beylaͤufig unterrichtet
wird, und welchem das ſchwerſte Geſchaͤft, das
alles zurecht zu legen, dabey uͤberlaſſen bleibt,
muß ſich in einer ſehr peinlichen Lage befin¬
den. Ich ſah mich daher mit Anderen ſehn¬
ſuchtsvoll nach einer neuen Erleuchtung um,
die uns denn auch durch einen Mann kom¬
men ſollte, dem wir ſchon ſoviel ſchuldig
waren.
Auf zweyerley Weiſe kann der Geiſt hoͤch¬
lich erfreut werden, durch Anſchauung und
Begriff. Aber jenes erfordert einen wuͤrdi¬
gen Gegenſtand, der nicht immer bereit, und
eine verhaͤltnißmaͤßige Bildung, zu der man
nicht gerade gelangt iſt. Der Begriff hinge¬
gen will nur Empfaͤnglichkeit, er bringt den
Inhalt mit, und iſt ſelbſt das Werkzeug der
Bildung. Daher war uns jener Lichtſtrahl
hoͤchſt willkommen, den der vortrefflichſte Den¬
ker durch duͤſtre Wolken auf uns herableitete.
Man muß Juͤngling ſeyn, um ſich zu verge¬
genwaͤrtigen, welche Wirkung Leſſings Lao¬
koon auf uns ausuͤbte, indem dieſes Werk
uns aus der Region eines kuͤmmerlichen An¬
ſchauens in die freyen Gefilde des Gedankens
hinriß. Das ſo lange misverſtandene: ut
pictura poesis, war auf einmal beſeitigt, der
Unterſchied der bildenden und Redekuͤnſte klar,
die Gipfel beyder erſchienen nun getrennt, wie
nah ihre Baſen auch zuſammenſtoßen moch¬
ten. Der bildende Kuͤnſtler ſollte ſich inner¬
halb der Grenze des Schoͤnen halten, wenn
dem redenden, der die Bedeutung jeder Art
nicht entbehren kann, auch daruͤber hin¬
auszuſchweifen vergoͤnnt waͤre. Jener arbeitet
fuͤr den aͤußeren Sinn, der nur durch das
Schoͤne befriedigt wird, dieſer fuͤr die Einbil¬
dungskraft, die ſich wohl mit dem Haͤßlichen
noch abfinden mag. Wie vor einem Blitz er¬
leuchteten ſich uns alle Folgen dieſes herrli¬
chen Gedankens, alle bisherige anleitende und
urtheilende Kritik ward, wie ein abgetragener
Rock, weggeworfen, wir hielten uns von al¬
lem Uebel erloͤſt, und glaubten mit einigem
Mitleid auf das ſonſt ſo herrliche ſechszehnte
Jahrhundert herabblicken zu duͤrfen, wo man
in deutſchen Bildwerken und Gedichten das
Leben nur unter der Form eines ſchellenbehan¬
genen Narren, den Tod unter der Unform
eines klappernden Gerippes, ſo wie die noth¬
wendigen und zufaͤlligen Uebel der Welt un¬
ter dem Bilde des frazzenhaften Teufels zu
vergegenwaͤrtigen wußte.
Am meiſten entzuͤckte uns die Schoͤnheit
jenes Gedankens, daß die Alten den Tod als
den Bruder des Schlafs anerkannt, und bey¬
de, wie es Menaͤchmen geziemt, zum Ver¬
wechſeln gleich gebildet. Hier konnten wir
nun erſt den Triumph des Schoͤnen hoͤchlich
feyern, und das Haͤßliche jeder Art, da es
doch einmal aus der Welt nicht zu vertreiben
iſt, im Reiche der Kunſt nur in den niedri¬
gen Kreis des Laͤcherlichen verweiſen.
Die Herrlichkeit ſolcher Haupt- und Grund¬
begriffe erſcheint nur dem Gemuͤth, auf wel¬
ches ſie ihre unendliche Wirkſamkeit ausuͤben,
erſcheint nur der Zeit, in welcher ſie erſehnt,
im rechten Augenblick hervortreten. Da be¬
ſchaͤftigen ſich die, welchen mit ſolcher Nah¬
rung gedient iſt, liebevoll ganze Epochen ih¬
res Lebens damit und erfreuen ſich eines uͤber¬
ſchwenglichen Wachsthums, indeſſen es nicht
an Menſchen fehlt, die ſich auf der Stelle
einer ſolchen Wirkung widerſetzen, und nicht
an andern, die in der Folge an dem hohen
Sinne markten und maͤkeln.
Wie ſich aber Begriff und Anſchauung
wechſelsweiſe fordern, ſo konnte ich dieſe neuen
Gedanken nicht lange verarbeiten, ohne daß
ein unendliches Verlangen bey mir entſtanden
waͤre, doch einmal bedeutende Kunſtwerke in
groͤßerer Maſſe zu erblicken. Ich entſchied
mich daher, Dresden ohne Aufenthalt zu be¬
ſuchen. An der noͤthigen Baarſchaft fehlte es
mir nicht; aber es waren andere Schwierig¬
keiten zu uͤberwinden, die ich durch mein gril¬
lenhaftes Weſen noch ohne Noth vermehrte:
denn ich hielt meinen Vorſatz vor Jedermann
geheim, weil ich die dortigen Kunſtſchaͤtze ganz
nach eigner Art zu betrachten wuͤnſchte und, wie
ich meynte, mich von Niemand wollte irre
machen laſſen. Außer dieſem ward durch noch
eine andre Wunderlichkeit eine ſo einfache Sa¬
che verwickelter.
Wir haben angeborne und anerzogene
Schwaͤchen, und es moͤchte noch die Frage
ſeyn, welche von beyden uns am meiſten zu
ſchaffen geben. So gern ich mich mit jeder
Art von Zuſtaͤnden bekannt machte und dazu
manchen Anlaß gehabt hatte, war mir doch
von meinem Vater eine aͤußerſte Abneigung
gegen alle Gaſthoͤfe eingefloͤßt worden. Auf
ſeinen Reiſen durch Italien, Frankreich und
Deutſchland hatte ſich dieſe Geſinnung feſt bey
ihm eingewurzelt. Ob er gleich ſelten in Bil¬
dern ſprach, und dieſelben nur wenn er ſehr
heiter war zu Huͤlfe rief; ſo pflegte er doch
manchmal zu wiederholen: in dem Thore ei¬
nes Gaſthofs glaube er immer ein großes
Spinnengewebe ausgeſpannt zu ſehen, ſo kuͤnſt¬
lich, daß die Inſecten zwar hineinwaͤrts, aber
ſelbſt die privilegirten Wespen nicht ungerupft
herausfliegen koͤnnten. Es ſchien ihm etwas
Erſchreckliches, dafuͤr, daß man ſeinen Ge¬
wohnheiten und allem, was einem lieb im Le¬
ben waͤre, entſagte und nach der Weiſe des
Wirths und der Kellner lebte, noch uͤbermaͤ¬
ßig bezahlen zu muͤſſen. Er pries die Hospi¬
talitaͤt alter Zeiten, und ſo ungern er ſonſt
auch etwas Ungewohntes im Hauſe duldete,
ſo uͤbte er doch Gaſtfreundſchaft, beſonders an
Kuͤnſtlern und Virtuoſen; wie denn Gevatter
Seekaz immer ſein Quartier bey uns behielt,
und Abel, der letzte Muſiker, welcher die
Gambe mit Gluͤck und Beyfall behandelte,
wohl aufgenommen und bewirthet wurde.
Wie haͤtte ich mich nun mit ſolchen Jugend¬
eindruͤcken, die bisher durch nichts ausgeloͤſcht
worden, entſchließen koͤnnen, in einer fremden
Stadt einen Gaſthof zu betreten? Nichts
waͤre leichter geweſen als bey guten Freun¬
den ein Quartier zu finden; Hofrath Krebel,
Aſſeſſor Hermann und Andere hatten mir ſchon
oft davon geſprochen: allein auch dieſen ſollte
meine Reiſe ein Geheimniß bleiben, und ich
gerieth auf den wunderlichſten Einfall. Mein
Stubennachbar, der fleißige Theolog, dem ſeine
Augen leider immer mehr ablegten, hatte ei¬
nen Verwandten in Dresden, einen Schuſter,
mit dem er von Zeit zu Zeit Briefe wechſelte.
Dieſer Mann war mir wegen ſeiner Aeuße¬
rungen ſchon laͤngſt hoͤchſt merkwuͤrdig gewor¬
den, und die Ankunft eines ſeiner Briefe ward
von uns immer feſtlich gefeyert. Die Art,
womit er die Klagen ſeines, die Blindheit
befuͤrchtenden Vetters erwiederte, war ganz
eigen: denn er bemuͤhte ſich nicht um Troſt¬
gruͤnde, welche immer ſchwer zu finden ſind;
aber die heitere Art, womit er ſein eignes
enges, armes, muͤhſeliges Leben betrachtete,
der Scherz, den er ſelbſt den Uebeln und
Unbequemlichkeiten abgewann, die unverwuͤſt¬
liche Ueberzeugung, daß das Leben an und
fuͤr ſich ein Gut ſey, theilte ſich demjenigen
mit, der den Brief las, und verſetzte ihn, we¬
nigſtens fuͤr Augenblicke, in eine gleiche Stim¬
mung. Enthuſiaſtiſch wie ich war, hatte ich
dieſen Mann oͤfters verbindlich gruͤßen laſſen,
ſeine gluͤckliche Naturgabe geruͤhmt und den
Wunſch, ihn kennen zu lernen, geaͤußert. Die¬
ſes alles vorausgeſetzt, ſchien mir nichts na¬
tuͤrlicher als ihn aufzuſuchen, mich mit ihm
zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und
ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬
ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬
ſtreben, einen muͤhſam geſchriebenen Brief
mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬
ſche, mit der gelben Kutſche ſehnſuchtsvoll
nach Dresden.
Ich ſuchte nach meinem Schuſter und fand
ihn bald in der Vorſtadt. Auf ſeinem Sche¬
mel ſitzend empfing er mich freundlich und
ſagte laͤchelnd, nachdem er den Brief geleſen:
„Ich ſehe hieraus, junger Herr, daß Ihr
ein wunderlicher Chriſt ſeyd.“ Wie das, Mei¬
ſter? verſetzte ich. Wunderlich iſt nicht uͤbel
gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand
ſo, der ſich nicht gleich iſt, und ich nenne
Sie einen wunderlichen Chriſten, weil Sie
Sich in einem Stuͤck als den Nachfolger des
Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht.
Auf meine Bitte, mich aufzuklaͤren, ſagte er
weiter: „Es ſcheint, daß Ihre Abſicht iſt,
eine froͤhliche Botſchaft den Armen und Nie¬
drigen zu verkuͤndigen; das iſt ſchoͤn, und
dieſe Nachahmung des Herrn iſt loͤblich; Sie
ſollten aber dabey bedenken, daß er lieber bey
wohlhabenden und reichen Leuten zu Tiſche
ſaß, wo es gut her ging, und daß er ſelbſt
den Wohlgeruch des Balſams nicht verſchmaͤh¬
te, wovon Sie wohl bey mir das Gegentheil
finden koͤnnten.“
Dieſer luſtige Anfang ſetzte mich gleich in
guten Humor und wir neckten einander eine
ziemliche Weile herum. Die Frau ſtand be¬
denklich, wie ſie einen ſolchen Gaſt unterbrin¬
gen und bewirthen ſolle? Auch hieruͤber hatte
er ſehr artige Einfaͤlle, die ſich nicht allein
auf die Bibel, ſondern auch auf Gottfrieds
Chronik bezogen, und als wir einig waren,
daß ich bleiben ſolle, ſo gab ich meinen Beu¬
tel, wie er war, der Wirthinn zum Aufhe¬
ben und erſuchte ſie, wenn etwas noͤthig ſey,
ſich daraus zu verſehen. Da er es ablehnen
wollte und mit einiger Schalkheit zu verſte¬
hen gab, daß er nicht ſo abgebrannt ſey als
es ausſehen moͤchte, ſo entwaffnete ich ihn
dadurch, daß ich ſagte: und wenn es auch
nur waͤre, um das Waſſer in Wein zu ver¬
wandeln, ſo wuͤrde wohl, da heut zu Tage
keine Wunder mehr geſchehen, ein ſolches pro¬
bates Hausmittel nicht am unrechten Orte
ſeyn. Die Wirthinn ſchien mein Reden und
Handeln immer weniger ſeltſam zu finden,
wir hatten uns bald in einander geſchickt und
brachten einen ſehr heiteren Abend zu. Er
blieb ſich immer gleich, weil alles aus Einer
Quelle floß. Sein Eigenthum war ein tuͤch¬
tiger Menſchenverſtand, der auf einem heite¬
ren Gemuͤth ruhte und ſich in der gleichmaͤ¬
ßigen hergebrachten Thaͤtigkeit gefiel. Daß er
unablaͤſſig arbeitete, war ſein Erſtes und Noth¬
wendigſtes, daß er alles Uebrige als zufaͤllig
anſah, dieß bewahrte ſein Behagen; und ich
II. 17
mußte ihn vor vielen Andern in die Claſſe
derjenigen rechnen, welche practiſche Philoſo¬
phen, bewußtloſe Weltweiſen genannt wurden.
Die Stunde, wo die Gallerie eroͤffnet
werden ſollte, mit Ungeduld erwartet, erſchien.
Ich trat in dieſes Heiligthum, und meine Ver¬
wunderung uͤberſtieg jeden Begriff, den ich
mir gemacht hatte. Dieſer in ſich ſelbſt wie¬
derkehrende Saal, in welchem Pracht und
Reinlichkeit bey der groͤßten Stille herrſchten,
die blendenden Rahmen, alle der Zeit noch
naͤher, in der ſie verguldet wurden, der ge¬
bohnte Fußboden, die mehr von Schauenden
betretenen als von Arbeitenden benutzten Raͤu¬
me gaben ein Gefuͤhl von Feyerlichkeit, ein¬
zig in ſeiner Art, das um ſo mehr der Em¬
pfindung aͤhnelte, womit man ein Gotteshaus
betritt, als der Schmuck ſo manches Tem¬
pels, der Gegenſtand ſo mancher Anbetung
hier abermals, nur zu heiligen Kunſtzwecken
aufgeſtellt erſchien. Ich ließ mir die curſori¬
ſche Demonſtration meines Fuͤhrers gar wohl
gefallen, nur erbat ich mir, in der aͤußeren
Gallerie bleiben zu duͤrfen. Hier fand ich
mich, zu meinem Behagen, wirklich zu Hauſe.
Schon hatte ich Werke mehrerer Kuͤnſtler ge¬
ſehn, andere kannte ich durch Kupferſtiche,
andere dem Namen nach; ich verhehlte es
nicht und floͤßte meinem Fuͤhrer dadurch eini¬
ges Vertrauen ein, ja ihn ergetzte das Ent¬
zuͤcken, das ich bey Stuͤcken aͤußerte, wo der
Pinſel uͤber die Natur den Sieg davon trug:
denn ſolche Dinge waren es vorzuͤglich, die
mich an ſich zogen, wo die Vergleichung mit
der bekannten Natur den Werth der Kunſt
nothwendig erhoͤhen mußte.
Als ich bey meinem Schuſter wieder ein¬
trat, um das Mittagsmahl zu genießen, trauete
ich meinen Augen kaum: denn ich glaubte ein
Bild von Oſtade vor mir zu ſehen, ſo voll¬
kommen, daß man es nur auf die Gallerie
haͤtte haͤngen duͤrfen. Stellung der Gegen¬
17 *
ſtaͤnde, Licht, Schatten, braͤunlicher Teint des
Ganzen, magiſche Haltung, alles was man
in jenen Bildern bewundert, ſah ich hier in
der Wirklichkeit. Es war das erſte Mal, daß
ich auf einen ſo hohen Grad die Gabe ge¬
wahr wurde, die ich nachher mit mehrerem
Bewußtſeyn uͤbte, die Natur naͤmlich mit
den Augen dieſes oder jenes Kuͤnſtlers zu ſe¬
hen, deſſen Werken ich ſo eben eine beſondere
Aufmerkſamkeit gewidmet hatte. Dieſe Faͤ¬
higkeit hat mir viel Genuß gewaͤhrt, aber auch
die Begierde vermehrt, der Ausuͤbung eines
Talents, das mir die Natur verſagt zu haben
ſchien, von Zeit zu Zeit eifrig nachzuhaͤngen.
Ich beſuchte die Gallerie zu allen ver¬
goͤnnten Stunden, und fuhr fort mein Ent¬
zuͤcken uͤber manche koͤſtliche Werke vorlaut
auszuſprechen. Ich vereitelte dadurch meinen
loͤblichen Vorſatz, unbekannt und unbemerkt zu
bleiben; und da ſich bisher nur ein Unterauf¬
ſeher mit mir abgegeben hatte, nahm nun
auch der Gallerieinſpector, Rath Riedel,
von mir Notiz und machte mich auf gar
manches aufmerkſam, welches vorzuͤglich in
meiner Sphaͤre zu liegen ſchien. Ich fand
dieſen trefflichen Mann damals eben ſo thaͤ¬
tig und gefaͤllig, als ich ihn nachher mehrere
Jahre hindurch geſehen und wie er ſich noch
heute erweiſt. Sein Bild hat ſich mir mit
jenen Kunſtſchaͤtzen ſo in Eins verwoben, daß
ich beyde niemals geſondert erblicke, ja ſein
Andenken hat mich nach Italien begleitet, wo
mir ſeine Gegenwart in manchen großen und
reichen Sammlungen ſehr wuͤnſchenswerth ge¬
weſen waͤre.
Da man auch mit Fremden und Unbe¬
kannten ſolche Werke nicht ſtumm und ohne
wechſelſeitige Theilnahme betrachten kann, ihr
Anblick vielmehr am erſten geeignet iſt, die
Gemuͤther gegen einander zu eroͤffnen; ſo kam
ich auch daſelbſt mit einem jungen Manne
in's Geſpraͤch, der ſich in Dresden aufzuhal¬
ten und einer Legation anzugehoͤren ſchien.
Er lud mich ein, Abends in einen Gaſthof
zu kommen, wo ſich eine muntere Geſellſchaft
verſammle, und wo man, indem jeder eine
maͤßige Zeche bezahlte, einige ganz vergnuͤgte
Stunden zubringen koͤnne.
Ich fand mich ein, ohne die Geſellſchaft
anzutreffen, und der Kellner ſetzte mich eini¬
germaßen in Verwunderung, als er mir von
dem Herrn, der mich beſtellt, ein Compli¬
ment ausrichtete, wodurch dieſer eine Ent¬
ſchuldigung, daß er etwas ſpaͤter kommen
werde, an mich gelangen ließ, mit dem
Zuſatze, ich ſollte mich an nichts ſtoßen was
vorgehe, auch werde ich nichts weiter als
meine eigne Zeche zu bezahlen haben. Ich
wußte nicht, was ich aus dieſen Worten ma¬
chen ſollte, aber die Spinneweben meines
Vaters fielen mir ein, und ich faßte mich, um
zu erwarten, was da kommen moͤchte. Die
Geſellſchaft verſammelte ſich, mein Bekannter
ſtellte mich vor und ich durfte nicht lange auf¬
merken, ſo fand ich, daß es auf Myſtifica¬
tion eines jungen Menſchen hinausgehe, der
als ein Neuling ſich durch ein vorlautes, an¬
maßliches Weſen auszeichnete: ich nahm mich
daher gar ſehr in Acht, daß man nicht etwa
Luſt finden moͤchte, mich zu ſeinem Gefaͤhr¬
ten auszuerſehen. Bey Tiſche ward jene Ab¬
ſicht Jedermann deutlicher, nur nicht ihm. Man
zechte immer ſtaͤrker, und als man zuletzt ſei¬
ner Geliebten zu Ehren gleichfalls ein Vivat
angeſtimmt; ſo ſchwur jeder hoch und theuer,
aus dieſen Glaͤſern duͤrfe nun weiter kein
Trunk geſchehen; man warf ſie hinter ſich,
und dieß war das Signal zu weit groͤßeren
Thorheiten. Endlich entzog ich mich ganz
ſachte, und der Kellner, indem er mir eine
ſehr billige Zeche abforderte, erſuchte mich
wiederzukommen, da es nicht alle Abende ſo
bunt hergehe. Ich hatte weit in mein Quar¬
tier, und es war nah an Mitternacht als ich
es erreichte. Die Thuͤren fand ich unver¬
ſchloſſen, alles war zu Bette und eine Lampe
erleuchtete den enghaͤuslichen Zuſtand, wo
denn mein immer mehr geuͤbtes Auge ſogleich
das ſchoͤnſte Bild von Schalken erblickte,
von dem ich mich nicht losmachen konnte, ſo
daß es mir allen Schlaf vertrieb.
Die wenigen Tage meines Aufenthalts in
Dresden waren allein der Gemaͤldegallerie ge¬
widmet. Die Antiken ſtanden noch in den
Pavillons des großen Gartens, ich lehnte ab
ſie zu ſehen, ſo wie alles Uebrige was Dres¬
den koͤſtliches enthielt; nur zu voll von der
Ueberzeugung, daß in und an der Gemaͤlde¬
ſammlung ſelbſt mir noch Vieles verborgen
bleiben muͤſſe. So nahm ich den Werth der
italieniſchen Meiſter mehr auf Treu und Glau¬
ben an, als daß ich mir eine Einſicht in den¬
ſelben haͤtte anmaßen koͤnnen. Was ich nicht
als Natur anſehen, an die Stelle der Natur
ſetzen, mit einem bekannten Gegenſtand ver¬
gleichen konnte, war auf mich nicht wirkſam.
Der materielle Eindruck iſt es, der den An¬
fang ſelbſt zu jeder hoͤheren Liebhaberey macht.
Mit meinem Schuſter vertrug ich mich
ganz gut. Er war geiſtreich und mannigfal¬
tig genug, und wir uͤberboten uns manchmal
an neckiſchen Einfaͤllen; jedoch ein Menſch der
ſich gluͤcklich preiſt, und von andern verlangt,
daß ſie das Gleiche thun ſollen, verſetzt uns
in ein Mißbehagen, ja die Wiederholung ſol¬
cher Geſinnungen macht uns Langeweile. Ich
fand mich wohl beſchaͤftigt, unterhalten, auf¬
geregt, aber keineswegs gluͤcklich, und die
Schuhe nach ſeinem Leiſten wollten mir nicht
paſſen. Wir ſchieden jedoch als die beſten
Freunde, und auch meine Wirthinn war beym
Abſchiede nicht unzufrieden mit mir.
So ſollte mir denn auch, noch kurz vor
meiner Abreiſe, etwas ſehr Angenehmes be¬
gegnen. Durch die Vermittelung jenes jun¬
gen Mannes, der ſich wieder bey mir in ei¬
nigen Credit zu ſetzen wuͤnſchte, ward ich dem
Director von Hagedorn vorgeſtellt, der
mir ſeine Sammlung mit großer Guͤte vor¬
wies, und ſich an dem Enthuſiasmus des
jungen Kunſtfreundes hoͤchlich ergetzte. Er
war, wie es einem Kenner geziemt, in die
Bilder, die er beſaß, ganz eigentlich verliebt,
und fand daher ſelten an Anderen eine Theil¬
nahme, wie er ſie wuͤnſchte. Beſonders machte
es ihm Freude, daß mir ein Bild von Schwa¬
nefeld ganz uͤbermaͤßig gefiel, daß ich daſſelbe
in jedem einzelnen Theile zu preiſen und zu
erheben nicht muͤde ward: denn gerade Land¬
ſchaften, die mich an den ſchoͤnen heiteren
Himmel, unter welchem ich herangewachſen,
wieder erinnerten, die Pflanzenfuͤlle jener Ge¬
genden, und was ſonſt fuͤr Gunſt ein waͤr¬
meres Klima den Menſchen gewaͤhrt, ruͤhrten
mich in der Nachbildung am meiſten, indem
ſie eine ſehnſuͤchtige Erinnerung in mir auf¬
regten.
Dieſe koͤſtlichen, Geiſt und Sinn zur
wahren Kunſt vorbereitenden Erfahrungen
wurden jedoch durch einen der traurigſten An¬
blicke unterbrochen und gedaͤmpft, durch den
zerſtoͤrten und veroͤdeten Zuſtand ſo mancher
Straße Dresdens, durch die ich meinen Weg
nahm. Die Mohrenſtraße im Schutt, ſo wie
die Kreuzkirche mit ihrem geborſtenen Thurm
druͤckten ſich mir tief ein und ſtehen noch wie
ein dunkler Fleck in meiner Einbildungskraft.
Von der Kuppel der Frauenkirche ſah ich dieſe
leidigen Truͤmmern zwiſchen die ſchoͤne ſtaͤdti¬
ſche Ordnung hineingeſaͤt; da ruͤhmte mir der
Kuͤſter die Kunſt des Baumeiſters, welcher
Kirche und Kuppel auf einen ſo unerwuͤnſch¬
ten Fall ſchon eingerichtet und bombenfeſt er¬
baut hatte. Der gute Sacriſtan deutete mir
alsdann auf Ruinen nach allen Seiten und
ſagte bedenklich laconiſch: Das hat der Feind
gethan!
So kehrte ich nun zuletzt, obgleich ungern,
nach Leipzig zuruͤck, und fand meine Freunde,
die ſolche Abſchweifungen von mir nicht ge¬
wohnt waren, in großer Verwunderung, be¬
ſchaͤftigt mit allerley Conjecturen, was meine
geheimnißvolle Reiſe wohl habe bedeuten ſol¬
len. Wenn ich ihnen darauf meine Geſchichte
ganz ordentlich erzaͤhlte, erklaͤrten ſie mir ſol¬
che fuͤr ein Maͤhrchen und ſuchten ſcharfſinnig
hinter das Raͤthſel zu kommen, das ich unter
der Schuſterherberge zu verhuͤllen muthwillig
genug ſey.
Haͤtten ſie mir aber ins Herz ſehen koͤn¬
nen, ſo wuͤrden ſie keinen Muthwillen darin
entdeckt haben: denn die Wahrheit jenes al¬
ten Worts, Zuwachs an Kenntniß iſt Zu¬
wachs an Unruhe, hatte mich mit ganzer Ge¬
walt getroffen, und jemehr ich mich anſtreng¬
te, dasjenige was ich geſehn, zu ordnen und
mir zuzueignen, je weniger gelang es mir;
ich mußte mir zuletzt ein ſtilles Nachwirken
gefallen laſſen. Das gewoͤhnliche Leben er¬
griff mich wieder, und ich fuͤhlte mich zuletzt
ganz behaglich, wenn ein freundſchaftlicher
Umgang, Zunahme an Kenntniſſen, die mir
gemaͤß waren, und eine gewiſſe Uebung der
Hand mich auf eine weniger bedeutende, aber
meinen Kraͤften mehr proportionirte Weiſe
beſchaͤftigten.
Eine ſehr angenehme und fuͤr mich heilſa¬
me Verbindung, zu der ich gelangte, war die
mit dem Breitkopfiſchen Hauſe. Bernhard
Chriſtoph Breitkopf, der eigentliche Stif¬
ter der Familie, der als ein armer Buchdru¬
ckergeſell nach Leipzig gekommen war, lebte
noch und bewohnte den goldenen Baͤren, ein
anſehnliches Gebaͤude auf dem neuen Neu¬
markt, mit Gottſched als Hausgenoſſen. Der
Sohn, Joh. Gottlob Immanuel, war
auch ſchon laͤngſt verheiratet und Vater meh¬
rerer Kinder. Einen Theil ihres anſehnlichen
Vermoͤgens glaubten ſie nicht beſſer anwenden
zu koͤnnen, als indem ſie ein großes neues
Haus, zum ſilbernen Baͤren, dem erſten ge¬
genuͤber errichteten, welches hoͤher und weit¬
laͤuftiger als das Stammhaus ſelbſt angelegt
ward. Gerade zu der Zeit des Baues ward
ich mit der Familie bekannt. Der aͤlteſte
Sohn mochte einige Jahre mehr haben als
ich, ein wohlgeſtalteter junger Mann, der Mu¬
ſik ergeben und geuͤbt ſowohl den Fluͤgel als
die Violine fertig zu behandeln. Der zweyte,
eine treue gute Seele, gleichfalls muſicaliſch,
belebte nicht weniger als der aͤlteſte die Con¬
certe, die oͤfters veranſtaltet wurden. Sie
waren mir beyde, ſo wie auch Aeltern und
Schweſtern, gewogen; ich ging ihnen beym
Auf- und Ausbau, beym Moͤbliren und Ein¬
ziehen zur Hand, und begriff dadurch man¬
ches, was ſich auf ein ſolches Geſchaͤft be¬
zieht; auch hatte ich Gelegenheit, die Oeſeri¬
ſchen Lehren angewendet zu ſehn. In dem
neuen Hauſe, das ich alſo entſtehen ſah, war
ich oft zum Beſuch. Wir trieben manches
gemeinſchaftlich, und der aͤlteſte componirte
einige meiner Lieder, die, gedruckt, ſeinen
Namen, aber nicht den meinigen fuͤhrten
und wenig bekannt geworden ſind. Ich habe
die beſſeren ausgezogen und zwiſchen meine
uͤbrigen kleinen Poeſien eingeſchaltet. Der
Vater hatte den Notendruck erfunden oder
vervollkommnet. Von einer ſchoͤnen Biblio¬
thek, die ſich meiſtens auf den Urſprung der
Buchdruckerey und ihr Wachsthum bezog, er¬
laubte er mir den Gebrauch, wodurch ich mir
in dieſem Fache einige Kenntniß erwarb. In¬
gleichen fand ich daſelbſt gute Kupferwerke,
die das Alterthum darſtellten, und ſetzte meine
Studien auch von dieſer Seite fort, welche
dadurch noch mehr gefoͤrdert wurden, daß eine
anſehnliche Schwefelſammlung beym Umziehen
in Unordnung gerathen war. Ich brachte ſie,
ſo gut ich konnte, wieder zurechte und war
genoͤthigt dabey mich im Lippert und Anderen
umzuſehen. Einen Arzt, Doctor Reichel,
gleichfalls einen Hausgenoſſen, conſultirte ich
von Zeit zu Zeit, da ich mich wo nicht krank,
doch unmuſtern fuͤhlte, und ſo fuͤhrten wir zu¬
ſammen ein ſtilles anmuthiges Leben.
Nun ſollte ich in dieſem Hauſe noch eine
andere Art von Verbindung eingehen. Es
zog naͤmlich in die Manſarde der Kupferſte¬
cher Stock. Er war aus Nuͤrnberg gebuͤr¬
tig, ein ſehr fleißiger und in ſeinen Arbeiten
genauer und ordentlicher Mann. Auch Er
ſtach, wie Geyſer, nach Oeſteriſchen Zeichnun¬
gen groͤßere und kleinere Platten, die zu Ro¬
manen und Gedichten immer mehr in Schwung
kamen. Er radirte ſehr ſauber, ſo daß die
Arbeit aus dem Aetzwaſſer beynahe vollendet
herauskam, und mit dem Grabſtichel, den er
ſehr gut fuͤhrte, nur weniges nachzuhelfen
blieb. Er machte einen genauen Ueberſchlag,
wie lange ihn eine Platte beſchaͤftigen wuͤrde,
und nichts war vermoͤgend ihn von ſeiner
Arbeit abzurufen, wenn er nicht ſein taͤglich
vorgeſetztes Penſum vollbracht hatte. So ſaß
er an einem breiten Arbeitstiſch am großen
Giebelfenſter, in einer ſehr ordentlichen und
reinlichen Stube, wo ihm Frau und zwey
Toͤchter haͤusliche Geſellſchaft leiſteten. Von
dieſen letzten iſt die eine gluͤcklich verheiratet
und die andere eine vorzuͤgliche Kuͤnſtlerinn;
ſie ſind lebenslaͤnglich meine Freundinnen ge¬
blieben. Ich theilte nun meine Zeit zwiſchen
den obern und untern Stockwerken und atta¬
chirte mich ſehr an den Mann, der bey ſei¬
nem anhaltenden Fleiße einen herrlichen Hu¬
mor beſaß und die Gutmuͤthigkeit ſelbſt war.
Mich reizte die reinliche Technik dieſer
Kunſtart, und ich geſellte mich zu ihm, um
auch etwas dergleichen zu verfertigen. Meine
Neigung hatte ſich wieder auf die Landſchaft
gelenkt, die mir bey einſamen Spazirgaͤngen
unterhaltend, an ſich erreichbar und in den
Kunſtwerken faßlicher erſchien als die menſch¬
liche Figur, die mich abſchreckte. Ich radirte
daher unter ſeiner Anleitung verſchiedene Land¬
II. 18
ſchaften nach Thiele und Andern, die, ob¬
gleich von einer ungeuͤbten Hand verfertigt,
doch einigen Effect machten und gut aufge¬
nommen wurden. Das Grundiren der Plat¬
ten, das Weißanſtreichen derſelben, das Ra¬
diren ſelbſt und zuletzt das Aetzen, gab man¬
nigfaltige Beſchaͤftigung, und ich war bald da¬
hin gelangt, daß ich meinem Meiſter in man¬
chen Dingen beyſtehen konnte. Mir fehlte
nicht die beym Aetzen noͤthige Aufmerkſamkeit,
und ſelten daß mir etwas mislang; aber ich
hatte nicht Vorſicht genug, mich gegen die
ſchaͤdlichen Duͤnſte zu verwahren, die ſich bey
ſolcher Gelegenheit zu entwickeln pflegen, und
ſie moͤgen wohl zu den Uebeln beygetragen
haben, die mich nachher eine Zeit lang quaͤl¬
ten. Zwiſchen ſolchen Arbeiten wurde auch
manchmal, damit ja alles verſucht wuͤrde, in
Holz geſchnitten. Ich verfertigte verſchiedene
kleine Druckerſtoͤcke, nach franzoͤſiſchen Mu¬
ſtern, und manches davon ward brauchbar
gefunden.
Man laſſe mich hier noch einiger Maͤn¬
ner gedenken, welche ſich in Leipzig aufhiel¬
ten, oder daſelbſt auf kurze Zeit verweilten.
Kreisſteuereinnehmer Weiſſe, in ſeinen be¬
ſten Jahren, heiter, freundlich und zuvor¬
kommend, ward von uns geliebt und geſchaͤtzt.
Zwar wollten wir ſeine Theaterſtuͤcke nicht
durchaus fuͤr muſterhaft gelten laſſen, ließen
uns aber doch davon hinreißen, und ſeine
Opern, durch Hillern auf eine leichte Weiſe
belebt, machten uns viel Vergnuͤgen. Schieb¬
ler, von Hamburg, betrat dieſelbige Bahn,
und deſſen Liſuard und Dariolette
ward von uns gleichfalls beguͤnſtigt. Eſchen¬
burg, ein ſchoͤner junger Mann, nur um
weniges aͤlter als wir, zeichnete ſich unter den
Studirenden vortheilhaft aus. Zachariaͤ
ließ ſich's einige Wochen bey uns gefallen und
ſpeiſte, durch ſeinen Bruder eingeleitet, mit
uns an Einem Tiſche. Wir ſchaͤtzten es, wie
billig, fuͤr eine Ehre, wechſelsweiſe durch ein
Paar außerordentliche Gerichte, reichlicheren
18 *
Nachtiſch und ausgeſuchteren Wein unſerm
Gaſt zu willfahren, der, als ein großer, wohl¬
geſtalteter, behaglicher Mann, ſeine Neigung
zu einer guten Tafel nicht verhehlte. Leſſing
traf zu einer Zeit ein, wo wir ich weiß nicht
was im Kopf hatten: es beliebte uns, ihm
nirgends zu gefallen zu gehen, ja die Orte,
wo er hinkam, zu vermeiden, wahrſcheinlich
weil wir uns zu gut duͤnkten, von ferne zu
ſtehen, und keinen Anſpruch machen konnten,
in ein naͤheres Verhaͤltniß mit ihm zu gelan¬
gen. Dieſe augenblickliche Albernheit, die aber
bey einer anmaßlichen und grillenhaften Ju¬
gend nichts ſeltenes iſt, beſtrafte ſich freylich
in der Folge, indem ich dieſen ſo vorzuͤgli¬
chen und von mir aufs hoͤchſte geſchaͤtzten
Mann niemals mit Augen geſehen.
Bey allen Bemuͤhungen jedoch, welche ſich
auf Kunſt und Alterthum bezogen, hatte je¬
der ſtets Winkelmann vor Augen, deſſen
Tuͤchtigkeit im Vaterlande mit Enthuſiasmus an¬
erkannt wurde. Wir laſen fleißig ſeine Schrif¬
ten, und ſuchten uns die Umſtaͤnde bekannt zu
machen, unter welchen er die erſten geſchrie¬
ben hatte. Wir fanden darin manche Anſich¬
ten, die ſich von Oeſern herzuſchreiben ſchie¬
nen, ja ſogar Scherz und Grillen nach ſeiner
Art, und ließen nicht nach, bis wir uns ei¬
nen ungefaͤhren Begriff von der Gelegenheit
gemacht hatten, bey welcher dieſe merkwuͤrdi¬
gen und doch mitunter ſo raͤthſelhaften Schrif¬
ten entſtanden waren; ob wir es gleich dabey
nicht ſehr genau nahmen: denn die Jugend
will lieber angeregt als unterrichtet ſeyn, und
es war nicht das letzte Mal, daß ich eine
bedeutende Bildungsſtufe ſibylliniſchen Blaͤt¬
tern verdanken ſollte.
Es war damals in der Litteratur eine
ſchoͤne Zeit, wo vorzuͤglichen Menſchen noch
mit Achtung begegnet wurde, obgleich die
Kiotziſchen Haͤndel und Leſſings Controverſen
ſchon darauf hindeuteten, daß dieſe Epoche
ſich bald ſchließen werde. Winkelmann genoß
einer ſolchen allgemeinen, unangetaſteten Ver¬
ehrung, und man weiß, wie empfindlich er
war gegen irgend etwas Oeffentliches, das
ſeiner wohl gefuͤhlten Wuͤrde nicht gemaͤß
ſchien. Alle Zeitſchriften ſtimmten zu ſeinem
Ruhme uͤberein, die beſſeren Reiſenden ka¬
men belehrt und entzuͤckt von ihm zuruͤck, und
die neuen Anſichten, die er gab, verbreiteten
ſich uͤber Wiſſenſchaft und Leben. Der Fuͤrſt
von Deſſau hatte ſich zu einer gleichen Ach¬
tung emporgeſchwungen. Jung, wohl und
edeldenkend, hatte er ſich auf ſeinen Reiſen
und ſonſt recht wuͤnſchenswerth erwieſen. Win¬
kelmann war im hoͤchſten Grade von ihm
entzuͤckt und belegte ihn, wo er ſeiner gedach¬
te, mit den ſchoͤnſten Beynamen. Die An¬
lage eines damals einzigen Parks, der Ge¬
ſchmack zur Baukunſt, welchen von Erd¬
mannsdorf durch ſeine Thaͤtigkeit unter¬
ſtuͤtzte, alles ſprach zu Gunſten eines Fuͤrſten,
der, indem er durch ſein Beyſpiel den uͤbri¬
gen vorleuchtete, Dienern und Unterthanen
ein goldnes Zeitalter verſprach. Nun vernah¬
men wir jungen Leute mit Jubel, daß Win¬
kelmann aus Italien zuruͤckkehren, ſeinen
fuͤrſtlichen Freund beſuchen, unterwegs bey
Oeſern eintreten und alſo auch in unſern Ge¬
ſichtskreis kommen wuͤrde. Wir machten kei¬
nen Anſpruch mit ihm zu reden; aber wir
hofften ihn zu ſehen, und weil man in ſol¬
chen Jahren einen jeden Anlaß gern in eine
Luſtpartie verwandelt, ſo hatten wir ſchon
Ritt und Fahrt nach Deſſau verabredet, wo
wir in einer ſchoͤnen, durch Kunſt verherrlich¬
ten Gegend, in einem wohl adminiſtrirten
und zugleich aͤußerlich geſchmuͤckten Lande, bald
da bald dort aufzupaſſen dachten, um die
uͤber uns ſo weit erhabenen Maͤnner mit ei¬
genen Augen umherwandeln zu ſehen. Oeſer
war ſelbſt ganz exaltirt, wenn er daran nur
dachte, und wie ein Donnerſchlag bey klarem
Himmel fiel die Nachricht von Winkelmanns
Tode zwiſchen uns nieder. Ich erinnere mich
noch der Stelle, wo ich ſie zuerſt vernahm;
es war in dem Hofe der Pleißenburg, nicht
weit von der kleinen Pforte, durch die man
zu Oeſer hinaufzuſteigen pflegte. Es kam mir
ein Mitſchuͤler entgegen, ſagte mir, daß Oeſer
nicht zu ſprechen ſey, und die Urſache warum.
Dieſer ungeheuere Vorfall that eine ungeheuere
Wirkung; es war ein allgemeines Jammern
und Wehklagen, und ſein fruͤhzeitiger Tod
ſchaͤrfte die Aufmerkſamkeit auf den Werth
ſeines Lebens. Ja vielleicht waͤre die Wir¬
kung ſeiner Thaͤtigkeit, wenn er ſie auch bis
in ein hoͤheres Alter fortgeſetzt haͤtte, nicht
ſo groß geweſen, als ſie jetzt werden mußte,
da er, wie mehrere außerordentliche Menſchen,
auch noch durch ein ſeltſames und widerwaͤr¬
tiges Ende vom Schickſal ausgezeichnet worden.
Indem ich nun aber Winkelmanns Ab¬
ſcheiden grenzenlos beklagte, ſo dachte ich nicht,
daß ich mich bald in dem Falle befinden wuͤr¬
de, fuͤr mein eignes Leben beſorgt zu ſeyn:
denn unter allem dieſen hatten meine koͤrperli¬
chen Zuſtaͤnde nicht die beſte Wendung genom¬
men. Schon von Hauſe hatte ich einen gewiſ¬
ſen hypochondriſchen Zug mitgebracht, der ſich
in dem neuen ſitzenden und ſchleichenden Leben
eher verſtaͤrkte als verſchwaͤchte. Der Schmerz
aus der Bruſt, den ich ſeit dem Auerſtaͤd¬
ter Unfall von Zeit zu Zeit empfand und der,
nach einem Sturz mit dem Pferde, merklich ge¬
wachſen war, machte mich mismuthig. Durch
eine ungluͤckliche Diaͤt verdarb ich mir die Kraͤf¬
te der Verdauung; das ſchwere Merſeburger
Bier verduͤſterte mein Gehirn, der Caffee,
der mir eine ganz eigne triſte Stimmung gab,
beſonders mit Milch nach Tiſche genoſſen, pa¬
ralyſirte meine Eingeweide und ſchien ihre
Functionen voͤllig aufzuheben, ſo daß ich des¬
halb große Beaͤngſtigungen empfand, ohne je¬
doch den Entſchluß zu einer vernuͤnftigeren Le¬
bensart faſſen zu koͤnnen. Meine Natur, von
hinlaͤnglichen Kraͤften der Jugend unterſtuͤtzt,
ſchwankte zwiſchen den Extremen von ausge¬
laſſener Luſtigkeit und melancholiſchem Unbe¬
hagen. Ferner war damals die Epoche des
Kaltbadens eingetreten, welches unbedingt em¬
pfohlen ward. Man ſollte auf hartem Lager
ſchlafen, nur leicht zugedeckt, wodurch denn
alle gewohnte Ausduͤnſtung unterdruͤckt wurde.
Dieſe und andere Thorheiten, in Gefolg von
misverſtandenen Anregungen Rouſſeau's, wuͤr¬
den uns, wie man verſprach, der Natur naͤher
fuͤhren und uns aus dem Verderbniſſe der Sit¬
ten retten. Alles Obige nun, ohne Unterſchei¬
dung, mit unvernuͤnftigem Wechſel angewendet,
empfanden mehrere als das Schaͤdlichſte, und
ich verhetzte meinen gluͤcklichen Organismus der¬
geſtalt, daß die darin enthaltenen beſondern
Syſteme zuletzt in eine Verſchwoͤrung und
Revolution ausbrechen mußten, um das Gan¬
ze zu retten.
Eines Nachts wachte ich mit einem hefti¬
gen Blutſturz auf, und hatte noch ſo viel
Kraft und Beſinnung, meinen Stubennachbar
zu wecken. Doctor Reichel wurde gerufen,
der mir aufs freundlichſte huͤlfreich ward, und
ſo ſchwankte ich mehrere Tage zwiſchen Leben
und Tod, und ſelbſt die Freude an einer er¬
folgenden Beſſerung wurde dadurch vergaͤllt,
daß ſich, bey jener Eruption, zugleich ein Ge¬
ſchwulſt an der linken Seite des Halſes ge¬
bildet hatte, den man jetzt erſt, nach voruͤ¬
bergegangner Gefahr, zu bemerken Zeit fand.
Geneſung iſt jedoch immer angenehm und er¬
freulich, wenn ſie auch langſam und kuͤmmer¬
lich von Statten geht, und da bey mir ſich
die Natur geholfen, ſo ſchien ich auch nun¬
mehr ein anderer Menſch geworden zu ſeyn:
denn ich hatte eine groͤßere Heiterkeit des
Geiſtes gewonnen, als ich mir lange nicht ge¬
kannt, ich war froh mein Inneres frey zu fuͤh¬
len, wenn mich gleich aͤußerlich ein langwieri¬
ges Leiden bedrohte.
Was mich aber in dieſer Zeit beſonders
aufrichtete, war zu ſehen, wie viel vorzuͤgliche
Maͤnner mir unverdient ihre Neigung zuge¬
wendet hatten. Unverdient, ſage ich: denn es
war keiner darunter, dem ich nicht, durch wi¬
derliche Launen, beſchwerlich geweſen waͤre,
keiner, den ich nicht durch krankhaften Wider¬
ſinn mehr als einmal verletzt, ja den ich nicht,
im Gefuͤhl meines eignen Unrechts, eine Zeit
lang ſtoͤrriſch gemieden haͤtte. Dieß alles war
vergeſſen, ſie behandelten mich aufs liebreichſte
und ſuchten mich theils auf meinem Zimmer,
theils ſobald ich es verlaſſen konnte, zu unter¬
halten und zu zerſtreuen. Sie fuhren mit
mir aus, bewirtheten mich auf ihren Landhaͤu¬
ſern, und ich ſchien mich bald zu erholen.
Unter dieſen Freunden nenne ich wohl zu¬
foͤrderſt den damaligen Rathsherrn, nachheri¬
gen Burgemeiſter von Leipzig, Doctor Her¬
mann. Er war unter denen Tiſchgenoſſen, die
ich durch Schloſſer kennen lernte, derjenige,
zu dem ſich ein immer gleiches und dauern¬
des Verhaͤltniß bewaͤhrte. Man konnte ihn
wohl zu den fleißigſten der academiſchen Mit¬
buͤrger rechnen. Er beſuchte ſeine Collegien
auf das regelmaͤßigſte und ſein Privatfleiß blieb
ſich immer gleich. Schritt vor Schritt, ohne
die mindeſte Abweichung, ſah ich ihn den Doc¬
torgrad erreichen, dann ſich zur Aſſeſſur em¬
porheben, ohne daß ihm hieben etwas muͤh¬
ſam geſchienen, daß er im mindeſten etwas
uͤbereilt oder verſpaͤtet haͤtte. Die Sanftheit
ſeines Charakters zog mich an, ſeine lehrrei¬
che Unterhaltung hielt mich feſt; ja ich glaube
wirklich, daß ich mich an ſeinem geregelten
Fleiß vorzuͤglich deswegen erfreute, weil ich
mir von einem Verdienſte, deſſen ich mich kei¬
neswegs ruͤhmen konnte, durch Anerkennung
und Hochſchaͤtzung, wenigſtens einen Theil zu¬
zueignen meynte.
Eben ſo regelmaͤßig als in ſeinen Geſchaͤf¬
ten, war er in Ausuͤbung ſeiner Talente und
im Genuß ſeiner Vergnuͤgungen. Er ſpielte
den Fluͤgel mit großer Fertigkeit, zeichnete mit
Gefuͤhl nach der Natur, und regte mich an
das Gleiche zu thun; da ich denn in ſeiner
Art auf grau Papier mit ſchwarzer und wei¬
ßer Kreide gar manches Weidigt der Pleiße
und manchen lieblichen Winkel dieſer ſtillen
Waſſer nachzubilden und dabey immer ſehn¬
ſuͤchtig meinen Grillen nachzuhaͤngen pflegte.
Er wußte mein mitunter comiſches Weſen
durch heitere Scherze zu erwiedern, und ich er¬
innere mich mancher vergnuͤgten Stunde, die
wir zuſammen zubrachten, wenn er mich mit
ſcherzhafter Feyerlichkeit zu einem Abendeſſen
unter vier Augen einlud, wo wir mit eignem
Anſtand, bey angezuͤndeten Wachslichtern, ei¬
nen ſogenannten Rathshaſen, der ihm als De¬
putat ſeiner Stelle in die Kuͤche gelaufen war,
verzehrten, und mit gar manchen Spaͤßen, in
Behriſchens Manier, das Eſſen zu wuͤrzen
und den Geiſt des Weines zu erhoͤhen belieb¬
ten. Daß dieſer treffliche und noch jetzt in
ſeinem anſehnlichen Amte immer fort wirkſa¬
me Mann mir bey meinem zwar geahndeten,
aber in ſeiner ganzen Groͤße nicht vorausge¬
ſehenen Uebel den treulichſten Beyſtand leiſtete,
mir jede freye Stunde ſchenkte, und durch Er¬
innerung an fruͤhere Heiterkeiten den truͤben
Augenblick zu erhellen wußte, erkenne ich noch
immer mit dem aufrichtigſten Dank, und freue
mich nach ſo langer Zeit ihn oͤffentlich abſtat¬
ten zu koͤnnen.
Außer dieſem werthen Freunde nahm ſich
Groͤning von Bremen beſonders meiner an.
Ich hatte erſt kurz vorher ſeine Bekanntſchaft
gemacht, und ſein Wohlwollen gegen mich ward
ich erſt bey dem Unfalle gewahr; ich fuͤhlte
den Werth dieſer Gunſt um ſo lebhafter, als
Niemand leicht eine naͤhere Verbindung mit
Leidenden ſucht. Er ſparte nichts, um mich
zu ergetzen, mich aus dem Nachſinnen uͤber
meinen Zuſtand herauszuziehen und mir Ge¬
neſung und geſunde Thaͤtigkeit in der naͤchſten
Zeit vorzuzeigen und zu verſprechen. Wie
oft habe ich mich gefreut, in dem Fortgange
des Lebens zu hoͤren, wie ſich dieſer vorzuͤg¬
liche Mann, in den wichtigſten Geſchaͤften,
ſeiner Vaterſtadt nuͤtzlich und heilbringend er¬
wieſen.
Hier war es auch, wo Freund Horn ſeine
Liebe und Aufmerkſamkeit ununterbrochen wir¬
ken ließ. Das ganze Breitkopfiſche Haus,
die Stockiſche Familie, manche Andere behan¬
delten mich als einen nahen Verwandten; und
ſo wurde mir durch das Wohlwollen ſo vieler
freundlicher Menſchen das Gefuͤhl meines Zu¬
ſtandes auf das zarteſte gelindert.
Umſtaͤndlicher muß ich jedoch hier eines
Mannes erwaͤhnen, den ich erſt in dieſer Zeit
kennen lernte und deſſen lehrreicher Umgang
mich uͤber die traurige Lage, in der ich mich
befand, dergeſtalt verblendete, daß ich ſie wirk¬
lich vergaß. Es war Langer, nachheriger
Bibliothekar in Wolfenbuͤttel. Vorzuͤglich ge¬
lehrt und unterrichtet freute er ſich an meinem
Heißhunger nach Kenntniſſen, der ſich nun
bey der krankhaften Reizbarkeit voͤllig fieber¬
haft aͤußerte. Er ſuchte mich durch deutliche
Ueberſichten zu beruhigen, und ich bin ſeinem,
obwohl kurzen Umgange ſehr viel ſchuldig ge¬
worden, indem er mich auf mancherley Weiſe
zu leiten verſtand und mich aufmerkſam mach¬
te, wohin ich mich gerade gegenwaͤrtig zu
richten haͤtte. Ich fand mich dieſem bedeuten¬
den Manne um ſo mehr verpflichtet, als mein
Umgang ihn einiger Gefahr ausſetzte: denn als
er nach Behriſchen die Hofmeiſterſtelle bey dem
jungen Grafen Lindenau erhielt, machte der
Vater dem neuen Mentor ausdruͤcklich zur
Bedingung, keinen Umgang mit mir zu pfle¬
gen. Neugierig, ein ſo gefaͤhrliches Subject
kennen zu lernen, wußte er mich mehrmals
am dritten Orte zu ſehen. Ich gewann
bald ſeine Neigung, und er, kluͤger als Beh¬
riſch, holte mich bey Nachtszeit ab, wir
gingen zuſammen ſpaziren, unterhielten uns
von intereſſanten Dingen, und ich begleitete
II. 19
ihn endlich bis an die Thuͤre ſeiner Geliebten:
denn auch dieſer aͤußerlich ſtreng ſcheinende,
ernſte, wiſſenſchaftliche Mann war nicht frey
von den Netzen eines ſehr liebenswuͤrdigen
Frauenzimmers geblieben.
Die deutſche Litteratur und mit ihr mei¬
ne eignen poetiſchen Unternehmungen wa¬
ren mir ſchon ſeit einiger Zeit fremd gewor¬
den, und ich wendete mich wieder, wie
es bey einem ſolchen autodidactiſchen Kreis¬
gange zu erfolgen pflegt, gegen die geliebten
Alten, die noch immer, wie ferne blaue Ber¬
ge, deutlich in ihren Umriſſen und Maſſen,
aber unkenntlich in ihren Theilen und inneren
Beziehungen, den Horizont meiner geiſtigen
Wuͤnſche begrenzten. Ich machte einen Tauſch
mit Langer, wobey ich zugleich den Glaucus
und Diomedes ſpielte; ich uͤberließ ihm ganze
Koͤrbe deutſcher Dichter und Kritiker und er¬
hielt dagegen eine Anzahl griechiſcher Autoren,
deren Benutzung mich, ſelbſt bey dem langſam¬
ſten Geneſen, erquicken ſollte.
Das Vertrauen, welches neue Freunde
ſich einander ſchenken, pflegt ſich ſtufenweiſe
zu entwickeln. Gemeinſame Beſchaͤftigungen
und Liebhabereyen ſind das erſte, worin ſich
eine wechſelſeitige Uebereinſtimmung hervor¬
thut; ſodann pflegt die Mittheilung ſich uͤber
vergangene und gegenwaͤrtige Leidenſchaften,
beſonders uͤber Liebeſabenteuer zu erſtrecken:
es iſt aber noch ein Tieferes, das ſich auf¬
ſchließt, wenn das Verhaͤltniß ſich vollenden
will, es ſind die religioſen Geſinnungen,
die Angelegenheiten des Herzens, die auf
das Unvergaͤngliche Bezug haben, und wel¬
che ſowohl den Grund einer Freundſchaft befe¬
ſtigen als ihren Gipfel zieren.
Die chriſtliche Religion ſchwankte zwiſchen
ihrem eignen Hiſtoriſchpoſitiven und einem rei¬
nen Deismus, der, auf Sittlichkeit gegruͤndet.
19 *
wiederum die Moral begruͤnden ſollte. Die
Verſchiedenheit der Charactere und Denkwei¬
ſen zeigte ſich hier in unendlichen Abſtufungen,
beſonders da noch ein Hauptunterſchied mit
einwirkte, indem die Frage entſtand, wie viel
Antheil die Vernunft, wie viel die Empfin¬
dung an ſolchen Ueberzeugungen haben koͤnne
und duͤrfe. Die lebhafteſten und geiſtreich¬
ſten Maͤnner erwieſen ſich in dieſem Falle als
Schmetterlinge, welche ganz uneingedenk ih¬
res Raupenſtandes die Puppenhuͤlle wegwer¬
fen, in der ſie zu ihrer organiſchen Vollkom¬
menheit gediehen ſind. Andere, treuer und
beſcheidner geſinnt, konnte man den Blumen
vergleichen, die ob ſie ſich gleich zur ſchoͤn¬
ſten Bluͤthe entfalten, ſich doch von der Wur¬
zel, von dem Mutterſtamme nicht losreißen,
ja vielmehr durch dieſen Familienzuſammen¬
hang die gewuͤnſchte Frucht erſt zur Reife
bringen. Von dieſer letztern Art war Langer;
denn obgleich Gelehrter und vorzuͤglicher Buͤ¬
cherkenner, ſo mochte er doch der Bibel vor
anderen uͤberlieferten Schriften einen beſondern
Vorzug goͤnnen und ſie als ein Document an¬
ſehen, woraus wir allein unſern ſittlichen und
geiſtigen Stammbaum darthun koͤnnten. Er
gehoͤrte unter diejenigen, denen ein unmittel¬
bares Verhaͤltniß zu dem großen Weltgotte
nicht in den Sinn will; ihm war daher eine
Vermittelung nothwendig, deren Analogon er
uͤberall in irdiſchen und himmliſchen Dingen
zu finden glaubte. Sein Vortrag, angenehm
und conſequent, fand bey einem jungen Men¬
ſchen leicht Gehoͤr, der durch eine verdrießli¬
che Krankheit von irdiſchen Dingen abgeſon¬
dert, die Lebhaftigkeit ſeines Geiſtes gegen die
himmliſchen zu wenden hoͤchſt erwuͤnſcht fand.
Bibelfeſt wie ich war kam es bloß auf den
Glauben an, das was ich menſchlicher Weiſe
zeither geſchaͤtzt, nunmehr fuͤr goͤttlich zu er¬
klaͤren, welches mir um ſo leichter fiel, da ich
die erſte Bekanntſchaft mit dieſem Buche als
einem goͤttlichen gemacht hatte. Einem Dul¬
denden, zart, ja ſchwaͤchlich Fuͤhlenden war
daher das Evangelium willkommen, und wenn
auch Langer bey ſeinem Glauben zugleich ein
ſehr verſtaͤndiger Mann war und feſt darauf
hielt, daß man die Empfindung nicht ſolle vor¬
herrſchen, ſich nicht zur Schwaͤrmerey ſolle ver¬
leiten laſſen; ſo haͤtte ich doch nicht recht
gewußt, mich ohne Gefuͤhl und Enthuſiasmus
mit dem neuen Teſtament zu beſchaͤftigen.
Mit ſolchen Unterhaltungen verbrachten wir
manche Zeit, und er gewann mich als einen ge¬
treuen und wohl vorbereiteten Proſelyten der¬
geſtalt lieb, daß er manche ſeiner Schoͤnen zu¬
gedachte Stunde mir aufzuopfern nicht an¬
ſtand, ja ſogar Gefahr lief verrathen und,
wie Behriſch, von ſeinem Patron uͤbel ange¬
ſehen zu werden. Ich erwiederte ſeine Nei¬
gung auf das dankbarſte, und wenn dasjenige
was er fuͤr mich that, zu jeder Zeit waͤre ſchaͤ¬
tzenswerth geweſen, ſo mußte es mir in mei¬
ner gegenwaͤrtigen Lage hoͤchſt verehrlich ſeyn.
Da nun aber gewoͤhnlich, wenn unſer
Seelenconcent am geiſtigſten geſtimmt iſt, die
rohen, kreiſchenden Toͤne des Weltweſens am
gewaltſamſten und ungeſtuͤmſten einfallen, und
der in Geheim immer fortwaltende Contraſt,
auf einmal hervortretend, nur deſto empfind¬
licher wirkt, ſo ſollte ich auch nicht aus der
peripatetiſchen Schule meines Langers entlaſ¬
ſen werden, ohne vorher noch ein, fuͤr Leip¬
zig wenigſtens, ſeltſames Ereigniß erlebt zu
haben, einen Tumult naͤmlich, den die Stu¬
direnden erregten und zwar aus folgendem
Anlaſſe. Mit den Stadtſoldaten hatten ſich
junge Leute veruneinigt, es war nicht ohne
Thaͤtlichkeiten abgelaufen. Mehrere Studi¬
rende verbanden ſich, die zugefuͤgten Beleidi¬
gungen zu raͤchen. Die Soldaten widerſtan¬
den hartnaͤckig und der Vortheil war nicht
auf der Seite der ſehr unzufriedenen acade¬
miſchen Buͤrger. Nun ward erzaͤhlt, es haͤt¬
ten angeſehene Perſonen wegen tapferen Wi¬
derſtands die Obſiegenden gelobt und belohnt.
und hierdurch ward nun das jugendliche Ehr-
und Rachgefuͤhl maͤchtig aufgefordert. Man er¬
zaͤhlte ſich oͤffentlich, daß den naͤchſten Abend
Fenſter eingeworfen werden ſollten, und einige
Freunde, welche mir die Nachricht brachten,
daß es wirklich geſchehe, mußten mich hinfuͤh¬
ren, da Jugend und Menge wohl immer
durch Gefahr und Tumult angezogen wird.
Es begann wirklich ein ſeltſames Schauſpiel.
Die uͤbrigens freye Straße war an der einen
Seite von Menſchen beſetzt, welche ganz ru¬
hig, ohne Laͤrm und Bewegung abwarteten,
was geſchehen ſolle. Auf der leeren Bahn
gingen etwa ein Duzzend junge Leute einzeln
hin und wieder, in anſcheinender groͤßter Ge¬
laſſenheit; ſobald ſie aber gegen das bezeich¬
nete Haus kamen, ſo warfen ſie im Vorbey¬
gehn Steine nach den Fenſtern, und dieß zu
wiederholten malen hin und wiederkehrend, ſo
lange die Scheiben noch klirren wollten. Eben
ſo ruhig, wie dieſes vorging, verlief ſich auch
endlich alles und die Sache hatte keine weite¬
ren Folgen.
Mit einem ſo gellenden Nachklange acade¬
miſcher Großthaten fuhr ich im September
1768 von Leipzig ab, in dem bequemen Wa¬
gen eines Hauderers und in Geſellſchaft eini¬
ger mir bekannten zuverlaͤſſigen Perſonen. In
der Gegend von Auerſtaͤdt gedachte ich jenes
fruͤheren Unfalls; aber ich konnte nicht ahn¬
den, was viele Jahre nachher mich von dort¬
her mit groͤßerer Gefahr bedrohen wuͤrde,
eben ſo wenig, als in Gotha, wo wir uns
das Schloß zeigen ließen, ich, in dem großen
mit Stuckaturbildern verzierten Saale, den¬
ken durfte, daß mir an eben der Stelle ſo
viel Gnaͤdiges und Liebes widerfahren ſollte.
Jemehr ich mich nun meiner Vaterſtadt
naͤherte, deſtomehr rief ich mir, bedenklicher
Weiſe, zuruͤck, in welchen Zuſtaͤnden, Aus¬
ſichten, Hoffnungen ich von Hauſe weggegan¬
gen, und es war ein ſehr niederſchlagendes
Gefuͤhl, daß ich nunmehr gleichſam als ein
Schiffbruͤchiger zuruͤckkehrte. Da ich mir je¬
doch nicht ſonderlich viel vorzuwerfen hatte, ſo
wußte ich mich ziemlich zu beruhigen; indeſ¬
ſen war der Willkommen nicht ohne Bewe¬
gung. Die große Lebhaftigkeit meiner Natur
durch Krankheit gereizt und erhoͤht, verur¬
ſachte eine leidenſchaftliche Scene. Ich mochte
uͤbler ausſehen als ich ſelbſt wußte: denn ich
hatte lange keinen Spiegel zurath gezogen;
und wer wird ſich denn nicht ſelbſt gewohnt:
genug man kam ſtillſchweigend uͤberein, man¬
cherley Mittheilungen erſt nach und nach zu
bewirken und vor allen Dingen ſowohl koͤr¬
perlich als geiſtig einige Beruhigung eintreten
zu laſſen.
Meine Schweſter geſellte ſich gleich zu
mir, und wie vorlaͤufig aus ihren Briefen, ſo
konnte ich nunmehr umſtaͤndlicher und genauer
die Verhaͤltniſſe und die Lage der Familie ver¬
nehmen. Mein Vater hatte nach meiner Ab¬
reiſe ſeine ganze didactiſche Liebhaberey der
Schweſter zugewendet, und ihr bey einem voͤl¬
lig geſchloſſenen, durch den Frieden geſicherten
und ſelbſt von Miethleuten geraͤumten Hauſe
faſt alle Mittel abgeſchnitten, ſich auswaͤrts
einigermaßen umzuthun und zu erholen. Das
Franzoͤſiſche, Italiaͤniſche, Engliſche mußte ſie
abwechſelnd treiben und bearbeiten, wobey er
ſie einen großen Theil des Tags ſich an dem
Claviere zu uͤben noͤthigte. Das Schreiben
durfte auch nicht verſaͤumt werden, und ich
hatte wohl ſchon fruͤher gemerkt, daß er ihre
Correſpondenz mit mir dirigirt und ſeine Leh¬
ren durch ihre Feder mir hatte zukommen laſ¬
ſen. Meine Schweſter war und blieb ein
indefinibels Weſen, das ſonderbarſte Gemiſch
von Strenge und Weichheit, von Eigenſinn
und Nachgiebigkeit, welche Eigenſchaften bald
vereint, bald durch Willen und Neigung ver¬
einzelt wirkten. So hatte ſie auf eine Weiſe,
die mir fuͤrchterlich erſchien, ihre Haͤrte gegen
den Vater gewendet, dem ſie nicht verzieh,
daß er ihr dieſe drey Jahre lang ſo manche
unſchuldige Freude verhindert oder vergaͤllt,
und von deſſen guten und trefflichen Eigen¬
ſchaften ſie auch ganz und gar keine anerken¬
nen wollte. Sie that alles was er befahl
oder anordnete, aber auf die unlieblichſte Weiſe
von der Welt. Sie that es in hergebrachter
Ordnung, aber auch nichts druͤber und nichts
drunter. Aus Liebe oder Gefaͤlligkeit bequemte
ſie ſich zu nichts, ſo daß dieß eins der erſten
Dinge war, uͤber die ſich die Mutter in ei¬
nem geheimen Geſpraͤch mit mir beklagte. Da
nun aber meine Schweſter ſo liebebeduͤrftig
war, als irgend ein menſchliches Weſen; ſo
wendete ſie nun ihre Neigung ganz auf mich.
Ihre Sorge fuͤr meine Pflege und Unterhal¬
tung verſchlang alle ihre Zeit; ihre Geſpielin¬
nen, die von ihr beherrſcht wurden, ohne daß
ſie daran dachte, mußten gleichfalls allerley
ausſinnen, um mir gefaͤllig und troſtreich zu
ſeyn. Sie war erfinderiſch mich zu erheitern,
und entwickelte ſogar einige Keime von poſ¬
ſenhaftem Humor, den ich an ihr nie gekannt
hatte, und der ihr ſehr gut ließ. Es ent¬
ſpann ſich bald unter uns eine Cotterie-Spra¬
che, wodurch wir vor allen Menſchen reden
konnten, ohne daß ſie uns verſtanden, und
ſie bediente ſich dieſes Rothwelſches oͤfters mit
vieler Keckheit in Gegenwart der Aeltern.
Perſoͤnlich war mein Vater in ziemlicher
Behaglichkeit. Er befand ſich wohl, brachte
einen großen Theil des Tags mit dem Unter¬
richte meiner Schweſter zu, ſchrieb an ſeiner
Reiſebeſchreibung, und ſtimmte ſeine Laute
laͤnger als er darauf ſpielte. Er verhehlte da¬
bey ſo gut er konnte den Verdruß, anſtatt
eines ruͤſtigen, thaͤtigen Sohns, der nun pro¬
moviren und jene vorgeſchriebene Lebensbahn
durchlaufen ſollte, einen Kraͤnkling zu finden,
der noch mehr an der Seele als am Koͤrper
zu leiden ſchien. Er verbarg nicht ſeinen
Wunſch, daß man ſich mit der Cur expediren
moͤge; beſonders aber mußte man ſich mit
hypochondriſchen Aeußerungen in ſeiner Ge¬
genwart in Acht nehmen, weil er alsdann
heftig und bitter werden konnte.
Meine Mutter, von Natur ſehr lebhaft
und heiter, brachte unter dieſen Umſtaͤnden
ſehr langweilige Tage zu. Die kleine Haus¬
haltung war bald beſorgt. Das Gemuͤth der
guten, innerlich niemals unbeſchaͤftigten Frau
wollte auch einiges Intereſſe finden, und das
naͤchſte begegnete ihr in der Religion, das ſie
um ſo lieber ergriff, als ihre vorzuͤglichſten
Freundinnen gebildete und herzliche Gottesver¬
ehrerinnen waren. Unter dieſen ſtand Fraͤu¬
lein von Klettenberg obenan. Es iſt die¬
ſelbe, aus deren Unterhaltungen und Briefen
die Bekenntniſſe der ſchoͤnen Seele entſtanden
ſind, die man in Wilhelm Meiſter eingeſchal¬
tet findet. Sie war zart gebaut, von mitt¬
lerer Groͤße; ein herzliches natuͤrliches Betra¬
gen war durch Welt- und Hofart noch gefaͤl¬
liger geworden. Ihr ſehr netter Anzug erin¬
nerte an die Kleidung Herrnhutiſcher Frauen.
Heiterkeit und Gemuͤthsruhe verließen ſie nie¬
mals. Sie betrachtete ihre Krankheit als ei¬
nen nothwendigen Beſtandtheil ihres voruͤ¬
bergehenden irdiſchen Seyns; ſie litt mit der
groͤßten Geduld, und in ſchmerzloſen Inter¬
vallen war ſie lebhaft und geſpraͤchig. Ihre
liebſte, ja vielleicht einzige Unterhaltung wa¬
ren die ſittlichen Erfahrungen, die der Menſch,
der ſich beobachtet, an ſich ſelbſt machen kann;
woran ſich denn die religioſen Geſinnungen an¬
ſchloſſen, die auf eine ſehr anmuthige, ja ge¬
niale Weiſe bey ihr als natuͤrlich und uͤber¬
natuͤrlich in Betracht kamen. Mehr bedarf es
kaum, um jene ausfuͤhrliche, in ihre Seele ver¬
faßte Schilderung den Freunden ſolcher Dar¬
ſtellungen wieder ins Gedaͤchtniß zu rufen.
Bey dem ganz eignen Gange, den ſie von
Jugend auf genommen hatte, und bey dem vor¬
nehmeren Stande, in dem ſie geboren und er¬
zogen war, bey der Lebhaftigkeit und Eigen¬
heit ihres Geiſtes vertrug ſie ſich nicht zum
Beſten mit den uͤbrigen Frauen, welche den
gleichen Weg zum Heil eingeſchlagen hatten.
Frau Griesbach, die vorzuͤglichſte, ſchien zu
ſtreng, zu trocken, zu gelehrt; ſie wußte, dach¬
te, umfaßte mehr als die andern, die ſich mit
der Entwickelung ihres Gefuͤhls begnuͤgten,
und war ihnen daher laͤſtig, weil nicht jede
einen ſo großen Apparat auf dem Wege zur
Seligkeit mit ſich fuͤhren konnte noch wollte.
Dafuͤr aber wurden denn die meiſten frey¬
lich etwas eintoͤnig, indem ſie ſich an eine ge¬
wiſſe Terminologie hielten, die man mit jener
der ſpaͤteren Empfindſamen wohl verglichen
haͤtte. Fraͤulein von Klettenberg fuͤhrte ihren
Weg zwiſchen beyden Extremen durch, und
ſchien ſich mit einiger Selbſtgefaͤlligkeit in dem
Bilde des Grafen Zinzendorf zu ſpiegeln,
deſſen Geſinnungen und Wirkungen Zeugniß
einer hoͤheren Geburt und eines vornehmeren
Standes ablegten. Nun fand ſie an mir was
ſie bedurfte, ein junges lebhaftes, auch nach
einem unbekannten Heile ſtrebendes Weſen, das,
ob es ſich gleich nicht fuͤr außerordentlich ſuͤnd¬
haft halten konnte, ſich doch in keinem behag¬
lichen Zuſtand befand, und weder an Leib noch
Seele ganz geſund war. Sie erfreute ſich an
dem, was mir die Natur gegeben, ſo wie an
manchem, was ich mir erworben hatte. Und
wenn ſie mir viele Vorzuͤge zugeſtand, ſo war
es keineswegs demuͤthigend fuͤr ſie: denn erſt¬
lich gedachte ſie nicht mit einer Mannsperſon
zu wetteifern, und zweytens glaubte ſie, in
Abſicht auf religioͤſe Bildung ſehr viel vor mir
voraus zu haben. Meine Unruhe, meine Un¬
geduld, mein Streben, mein Suchen, Forſchen
Sinnen und Schwanken, legte ſie auf ihre
Weiſe aus, und verhehlte mir ihre Ueberzeu¬
gung nicht, ſondern verſicherte mir unbewun¬
den, das alles komme daher, weil ich keinen
verſoͤhnten Gott habe. Nun hatte ich von
Jugend auf geglaubt, mit meinem Gott ganz
gut zu ſtehen, ja ich bildete mir, nach man¬
cherley Erfahrungen, wohl ein, daß er gegen
II. 20
mich ſogar im Reſt ſtehen koͤnne, und ich war
kuͤhn genug zu glauben, daß ich ihm einiges
zu verzeihen haͤtte. Dieſer Duͤnkel gruͤndete
ſich auf meinen unendlich guten Willen, dem
er, wie mir ſchien, beſſer haͤtte zu Huͤlfe kom¬
men ſollen. Es laͤßt ſich denken, wie oft ich
und meine Freundinn hieruͤber in Streit ge¬
riethen, der ſich doch immer auf die freundlich¬
ſte Weiſe und manchmal, wie meine Unter¬
haltung mit dem alten Rector, damit endig¬
te: daß ich ein naͤrriſcher Burſche ſey, dem
man manches nachſehen muͤſſe.
Da ich mit der Geſchwulſt am Halſe ſehr
geplagt war, indem Arzt und Chirurgus dieſe
Excrescens erſt vertreiben, hernach, wie ſie
ſagten, zeitigen wollten, und ſie zuletzt aufzu¬
ſchneiden fuͤr gut befanden; ſo hatte ich eine
geraume Zeit mehr an Unbequemlichkeit als an
Schmerzen zu leiden, obgleich gegen das En¬
de der Heilung das immer fortdauernde Be¬
tupfen mit Hoͤllenſtein und andern aͤtzenden
Dingen hoͤchſt verdrießliche Ausſichten auf je¬
den neuen Tag geben mußte. Arzt und Chi¬
rurgus gehoͤrten auch unter die abgeſonderten
Frommen, obgleich beyde von hoͤchſt verſchie¬
denem Naturell waren. Der Chirurgus, ein
ſchlanker wohlgebildeter Mann von leichter
und geſchickter Hand, der, leider etwas hec¬
tiſch, ſeinen Zuſtand mit wahrhaft chriſtlicher
Geduld ertrug, und ſich in ſeinem Berufe
durch ſein Uebel nicht irre machen ließ. Der
Arzt, ein unerklaͤrlicher, ſchlaublickender, freund¬
lich ſprechender, uͤbrigens abſtruſer Mann, der
ſich in dem frommen Kreiſe ein ganz beſonderes
Zutrauen erworben hatte. Thaͤtig und auf¬
merkſam war er den Kranken troͤſtlich; mehr
aber als durch alles erweiterte er ſeine Kund¬
ſchaft durch die Gabe, einige geheimni߬
volle ſelbſtbereitete Arzneyen im Hintergrunde
zu zeigen, von denen Niemand ſprechen durfte,
weil bey uns den Aerzten die eigene Dispen¬
ſation ſtreng verboten war. Mit gewiſſen
Pulvern, die irgend ein Digeſtiv ſeyn mochten,
20 *
that er nicht ſo geheim; aber von jenem wich¬
tigen Salze, das nur in den groͤßten Gefah¬
ren angewendet werden durfte, war nur unter
den Glaͤubigen die Rede, ob es gleich noch
Niemand geſehen, oder die Wirkung davon
geſpuͤrt hatte. Um den Glauben an die Moͤg¬
lichkeit eines ſolchen Univerſalmittels zu erregen
und zu ſtaͤrken, hatte der Arzt ſeinen Patien¬
ten, wo er nur einige Empfaͤnglichkeit fand,
gewiſſe myſtiſche chemiſch-alchemiſche Buͤcher
empfohlen, und zu verſtehen gegeben, daß man
durch eignes Studium derſelben gar wohl da¬
hin gelangen koͤnne, jenes Kleinod ſich ſelbſt zu
erwerben; welches um ſo nothwendiger ſey,
als die Bereitung ſich ſowohl aus phyſiſchen,
als beſonders aus moraliſchen Gruͤnden nicht,
wohl uͤberliefern laſſe, ja daß man, um jenes
große Wert einzuſehen, hervorzubringen und
zu benutzen, die Geheimniſſe der Natur im
Zuſammenhang kennen muͤſſe, weil es nichts
Einzelnes ſondern etwas Univerſelles ſey, und
auch wohl gar unter verſchiedenen Formen und
Geſtalten hervorgebracht werden koͤnne. Meine
Freundinn hatte auf dieſe lockenden Worte ge¬
horcht. Das Heil des Koͤrpers war zu nahe
mit dem Heil der Seele verwandt; und koͤnnte
je eine groͤßere Wohlthat, eine groͤßere Barm¬
herzigkeit auch an Andern ausgeuͤbt werden,
als wenn man ſich ein Mittel zu eigen mach¬
te, wodurch ſo manches Leiden geſtillt, ſo
manche Gefahr abgelehnt werden koͤnnte? Sie
hatte ſchon ins Geheim Wellings Opus
mago-cabaliſticum ſtudirt, wobey ſie jedoch,
weil der Autor das Licht was er mittheilt ſo¬
gleich wieder ſelbſt verfinſtert und aufhebt,
ſich nach einem Freunde umſah, der ihr in
dieſem Wechſel von Licht und Finſterniß Geſell¬
ſchaft leiſtete. Es bedurfte nur einer geringen
Anregung, um auch mir dieſe Krankheit zu in¬
oculiren. Ich ſchaffte das Werk an, das, wie
alle Schriften dieſer Art, ſeinen Stammbaum
in gerader Linie bis zur Neuplatoniſchen Schule
verfolgen konnte. Meine vorzuͤglichſte Bemuͤ¬
hung an dieſem Buche war, die dunklen Hin¬
weiſungen, wo der Verfaſſer von einer Stel¬
le auf die andere deutet, und dadurch das was
er verbirgt, zu enthuͤllen verſpricht, aufs ge¬
nauſte zu bemerken und am Rande die Sei¬
tenzahlen ſolcher ſich einander aufklaͤren ſol¬
lenden Stellen zu bezeichnen. Aber auch ſo
blieb das Buch noch dunkel und unverſtaͤndlich
genug; außer daß man ſich zuletzt in eine ge¬
wiſſe Terminologie hineinſtudirte, und indem
man mit derſelben nach eignem Belieben ge¬
bahrte, etwas wo nicht zu verſtehen, doch we¬
nigſtens zu ſagen glaubte. Gedachtes Werk
erwaͤhnt ſeiner Vorgaͤnger mit vielen Ehren,
und wir wurden daher angeregt jene Quellen
ſelbſt aufzuſuchen. Wir wendeten uns nun an
die Werke des Theophraſtus Paracelſus
und Baſilius Valentinus; nicht weni¬
ger an Helmont, Starkey und andere,
deren mehr oder weniger auf Natur und Ein¬
bildung beruhende Lehren und Vorſchriften
wir einzuſehen und zu befolgen ſuchten. Mir
wollte beſonders die Aurea Catena Homeri ge¬
fallen, wodurch die Natur, wenn auch vielleicht
auf phantaſtiſche Weiſe, in einer ſchoͤnen Ver¬
knuͤpfung dargeſtellt wird; und ſo verwendeten
wir theils einzeln, theils zuſammen, viele Zeit
an dieſe Seltſamkeiten, und brachten die Aben¬
de eines langen Winters, waͤhrend deſſen ich
die Stube huͤten mußte, ſehr vergnuͤgt zu, in¬
dem wir zu Dreyen, meine Mutter mit einge¬
ſchloſſen, uns an dieſen Geheimniſſen mehr
ergetzten, als die Offenbarung derſelben haͤtte
thun koͤnnen.
Mir war indeß noch eine ſehr harte Pruͤ¬
fung vorbereitet: denn eine geſtoͤrte und man
duͤrfte wohl ſagen fuͤr gewiſſe Momente ver¬
nichtete Verdauung brachte ſolche Symptome
hervor, daß ich unter großen Beaͤngſtigungen
das Leben zu verlieren glaubte und keine ange¬
wandten Mittel weiter etwas fruchten wollten.
In dieſen letzten Noͤthen zwang meine bedraͤng¬
te Mutter mit dem groͤßten Ungeſtuͤm den ver¬
legnen Arzt, mit ſeiner Univerſal-Medicin
hervorzuruͤcken; nach langem Widerſtande eilte
er tief in der Nacht nach Hauſe und kam mit
einem Glaͤschen cryſtalliſirten trocknen Salzes
zuruͤck, welches in Waſſer aufgeloͤſt von dem
Patienten verſchluckt wurde und einen entſchie¬
den alcaliſchen Geſchmack hatte. Das Salz
war kaum genommen, ſo zeigte ſich eine Er¬
leichterung des Zuſtandes, und von dem Au¬
genblick an nahm die Krankheit eine Wen¬
dung, die ſtufenweiſe zur Beſſerung fuͤhrte.
Ich darf nicht ſagen, wie ſehr dieſes den
Glauben an unſern Arzt, und den Fleiß uns
eines ſolchen Schatzes theilhaftig zu machen,
ſtaͤrkte und erhoͤhte.
Meine Freundinn, welche aͤltern- und ge¬
ſchwiſterlos in einem großen wohlgelegnen
Hauſe wohnte, hatte ſchon fruͤher angefangen,
ſich einen kleinen Windofen, Kolben und Re¬
torten von maͤßiger Groͤße anzuſchaffen, und
operirte nach Wellingiſchen Fingerzeigen und
nach bedeutenden Winken des Arztes und
Meiſters, beſonders auf Eiſen, in welchem die
heilſamſten Kraͤfte verborgen ſeyn ſollten, wenn
man es aufzuſchließen wiſſe, und weil in allen
uns bekannten Schriften das Luftſalz, welches
herbeygezogen werden mußte, eine große Rolle
ſpielte; ſo wurden zu dieſen Operationen Al¬
calien erfordert, welche indem ſie an der Luft
zerfließen ſich mit jenen uͤberirdiſchen Dingen
verbinden und zuletzt ein geheimnißvolles treff¬
liches Mittelsſalz per ſe hervorbringen ſollten.
Kaum war ich einigermaßen wieder herge¬
ſtellt und konnte mich, durch eine beſſere
Jahrszeit beguͤnſtigt, wieder in meinem alten
Giebelzimmer aufhalten; ſo fing auch ich an,
mir einen kleinen Apparat zuzulegen; ein
Windoͤfchen mit einem Sandbade war zube¬
reitet, ich lernte ſehr geſchwind mit einer
brennenden Lunte die Glaskolben in Schalen
verwandeln, in welchen die verſchiedenen
Miſchungen abgeraucht werden ſollten. Nun
wurden ſonderbare Ingredienzien des Makro¬
kosmus und Mikrokosmus auf eine geheim¬
nißvolle wunderliche Weiſe behandelt, und vor
allem ſuchte man Mittelſalze auf eine uner¬
hoͤrte Art hervorzubringen. Was mich aber
eine ganze Weile am meiſten beſchaͤftigte, war
der ſogenannte Liquor Silicum (Kieſelſaft),
welcher entſteht, wenn man reine Quarzkieſel
mit einem gehoͤrigen Antheil Alcali ſchmilzt,
woraus ein durchſichtiges Glas entſpringt, wel¬
ches an der Luft zerſchmilzt und eine ſchoͤne
klare Fluͤſſigkeit darſtellt. Wer dieſes ein¬
mal ſelbſt verfertigt und mit Augen geſehen
hat, der wird diejenigen nicht tadeln, welche
an eine jungfraͤuliche Erde und an die Moͤg¬
lichkeit glauben, auf und durch dieſelbe weiter
zu wirken. Dieſen Kieſelſaft zu bereiten hat¬
te ich eine beſondere Fertigkeit erlangt: die
ſchoͤnen weißen Kieſel, welche ſich im Main
finden, gaben dazu ein vollkommenes Mate¬
rial; und an dem uͤbrigen ſo wie an Fleiß ließ
ich es nicht fehlen: nur ermuͤdete ich doch zu¬
letzt, indem ich bemerken mußte, daß das Kie¬
ſelhafte keineswegs mit dem Salze ſo innig ver¬
eint ſey, wie ich philoſophiſcherweiſe geglaubt
hatte: denn es ſchied ſich gar leicht wieder
aus, und die ſchoͤnſte mineraliſche Fluͤſſigkeit,
die mir einigemal zu meiner groͤßten Verwun¬
derung in Form einer animaliſchen Gallert
erſchienen war, ließ doch immer ein Pulver
fallen, das ich fuͤr den feinſten Kieſelſtaub an¬
ſprechen mußte, der aber keineswegs irgend
etwas Productives in ſeiner Natur ſpuͤren ließ,
woran man haͤtte hoffen koͤnnen dieſe jung¬
fraͤuliche Erde in den Mutterſtand uͤbergehen
zu ſehen.
So wunderlich und unzuſammenhaͤngend
auch dieſe Operationen waren, ſo lernte ich doch
dabey mancherley. Ich gab genau auf alle
Cryſtalliſationen Acht, welche ſich zeigen mochten,
und ward mit den aͤußern Formen mancher na¬
tuͤrlichen Dinge bekannt, und indem mir wohl
bewußt war, daß man in der neueren Zeit
die chemiſchen Gegenſtaͤnde methodiſcher auf¬
gefuͤhrt; ſo wollte ich mir im Allgemeinen da¬
von einen Begriff machen, ob ich gleich als
Halbadept vor den Apothekern und allen den¬
jenigen, die mit dem gemeinen Feuer operirten,
ſehr wenig Reſpect hatte. Indeſſen zog mich
doch das chemiſche Compendium des Boer¬
have gewaltig an, und verleitete mich meh¬
rere Schriften dieſes Mannes zu leſen, wo¬
durch ich denn, da ohnehin meine langwierige
Krankheit mich dem Aerztlichen naͤher gebracht
hatte, eine Anleitung fand, auch die Aphoris¬
men dieſes trefflichen Mannes zu ſtudiren, die
ich mir gern in den Sinn und ins Gedaͤcht¬
niß einpraͤgen mochte.
Eine andere, etwas menſchlichere und bey
weitem fuͤr die augenblickliche Bildung nuͤtzli¬
chere Beſchaͤftigung war, daß ich die Briefe
durchſah, welche ich von Leipzig aus nach
Hauſe geſchrieben hatte. Nichts giebt uns
mehr Aufſchluß uͤber uns ſelbſt, als wenn wir
das, was vor einigen Jahren von uns aus¬
gegangen iſt, wieder vor uns ſehen, ſo daß wir
uns ſelbſt nunmehr als Gegenſtand betrachten
koͤnnen. Allein freylich war ich damals noch
zu jung und die Epoche noch zu nahe, welche
durch dieſe Papiere dargeſtellt ward. Ueber¬
haupt, da man in jungen Jahren einen ge¬
wiſſen ſelbſtgefaͤlligen Duͤnkel nicht leicht ab¬
legt; ſo aͤußert ſich dieſer beſonders darin,
daß man ſich im kurz Vorhergegangenen ver¬
achtet: denn indem man freylich von Stufe
zu Stufe gewahr wird, daß dasjenige was
man an ſich ſo wie an Andern fuͤr gut und
vortrefflich achtet, nicht Stich haͤlt; ſo glaubt
man uͤber dieſe Verlegenheit am beſten hinaus¬
zukommen, wenn man das ſelbſt wegwirft,
was man nicht retten kann. So ging es auch
mir. Denn wie ich in Leipzig nach und nach
meine kindlichen Bemuͤhungen geringſchaͤtzen
lernte, ſo kam mir nun meine academiſche
Laufbahn gleichfalls geringſchaͤtzig vor, und ich
ſah nicht ein, daß ſie eben darum vielen Werth
fuͤr mich haben muͤßte, weil ſie mich auf eine
hoͤhere Stufe der Betrachtung und Einſicht
gehoben. Der Vater hatte meine Briefe ſo¬
wohl an ihn als an meine Schweſter ſorg¬
faͤltig geſammlet und geheftet; ja er hatte ſie
ſogar mit Aufmerkſamkeit corrigirt und ſowohl
Schreib- als Sprachfehler verbeſſert.
Was mir zuerſt an dieſen Briefen auffiel,
war das Aeußere; ich erſchrak vor einer un¬
glaublichen Vernachlaͤſſigung der Handſchrift,
die ſich vom October 1765 bis in die Haͤlfte
des folgenden Januars erſtreckte. Dann er¬
ſchien aber auf einmal in der Haͤlfte des Maͤr¬
zes eine ganz gefaßte, geordnete Hand, wie
ich ſie ſonst bey Preisbewerbungen anzuwen¬
den pflegte. Meine Verwunderung daruͤber
loͤſte ſich in Dank gegen den guten Gellert auf,
welcher wie ich mich nun wohl erinnerte, uns
bey den Aufſaͤtzen, die wir ihm einreichten,
mit ſeinem herzlichen Tone zur heiligen Pflicht
machte, unſere Hand ſo ſehr, ja mehr als
unſern Styl, zu uͤben. Dieſes wiederholte er
ſo oft, als ihm eine kritzliche, nachlaͤſſige
Schrift zu Geſicht kam; wobey er mehrmals
aͤußerte, daß er ſehr gern die ſchoͤne Hand¬
ſchrift ſeiner Schuͤler zum Hauptzweck ſeines
Unterrichts machen moͤchte, um ſo mehr, weil
er oft genug bemerkt habe, daß eine gute
Hand einen guten Styl nach ſich ziehe.
Sonſt konnte ich auch bemerken, daß die
franzoͤſiſchen und engliſchen Stellen meiner
Briefe obgleich nicht fehlerlos, doch mit Leich¬
tigkeit und Freyheit geſchrieben waren. Dieſe
Sprachen hatte ich auch in meiner Corre¬
ſpondenz mit Georg Schloſſer, der ſich noch
immer in Treptow befand, zu uͤben fortgefah¬
ren, und war mit ihm in beſtaͤndigem Zu¬
ſammenhang geblieben; wodurch ich denn von
manchen weltlichen Zuſtaͤnden (denn immer
ging es ihm nicht ganz ſo wie er gehofft hat¬
te) unterrichtet wurde und zu ſeiner ernſten,
edlen Denkweiſe immer mehr Zutrauen faßte.
Eine andre Betrachtung, die mir beym
Durchſehen jener Briefe nicht entgehen konnte,
war daß der gute Vater mit der beſten Abſicht
mir einen beſondern Schaden zugefuͤgt und mich
zu der wunderlichen Lebensart veranlaßt hatte,
in die ich zuletzt gerathen war. Er hatte mich
naͤmlich wiederholt vom Chartenſpiel abge¬
mahnt; allein Frau Hofrath Boͤhme, ſo
lange ſie lebte, wußte mich nach ihrer Weiſe
zu beſtimmen, indem ſie die Abmahnung
meines Vaters nur von dem Misbrauch er¬
klaͤrte. Da ich nun auch die Vortheile da¬
von in der Societaͤt einſah, ſo ließ ich
mich gern durch ſie regieren. Ich hatte wohl
den Spiel-Sinn, aber nicht den Spiel-
Geiſt; ich lernte alle Spiele leicht und
geſchwind, aber niemals konnte ich die gehoͤ¬
rige Aufmerkſamkeit einen ganzen Abend zu¬
ſammenhalten. Wenn ich alſo recht gut an¬
fing, ſo verfehlte ichs doch immer am Ende
und machte mich und andre verlieren; wodurch
ich denn jederzeit verdrießlich entweder zur
Abendtafel, oder aus der Geſellſchaft ging.
Kaum war Madame Boͤhme verſchieden, die
mich ohnedem waͤhrend ihrer langwierigen
Krankheit nicht mehr zum Spiel angehalten
hatte; ſo gewann die Lehre meines Vaters
Kraft, ich entſchuldigte mich erſt von den
Parthieen, und weil man nun nichts mehr
mit mir anzufangen wußte, ſo ward ich mir
noch mehr als andern laͤſtig, ſchlug die Ein¬
ladungen aus, die denn ſparſamer erfolgten,
und zuletzt ganz aufhoͤrten. Das Spiel, das
jungen Leuten, beſonders denen die einen
practiſchen Sinn haben und ſich in der Welt
umthun wollen, ſehr zu empfehlen iſt, konnte
freylich bey mir niemals zur Liebhaberey wer¬
den, weil ich nicht weiter kam, ich mochte
ſpielen ſo lange ich wollte. Haͤtte mir Je¬
mand einen allgemeinen Blick daruͤber gegeben
und mich bemerken laſſen, wie hier gewiſſe
Zeichen und mehr oder weniger Zufall eine
Art von Stoff bilden, woran ſich Urtheils¬
kraft und Thaͤtigkeit uͤben koͤnnen; hatte man
ll. 21
mich mehrere Spiele auf einmal einſehen laſ¬
ſen, ſo haͤtte ich mich wohl eher damit befreun¬
den koͤnnen. Bey alle dem war ich durch jene
Betrachtungen in der Epoche, von welcher ich
hier ſpreche, zu der Ueberzeugung gekommen,
daß man die geſellſchaftlichen Spiele nicht mei¬
den, ſondern ſich eher nach einer Gewandtheit
in denſelben beſtreben muͤſſe. Die Zeit iſt un¬
endlich lang und ein jeder Tag ein Gefaͤß,
in das ſich ſehr viel eingießen laͤßt, wenn man
es wirklich ausfuͤllen will.
So vielfach war ich in meiner Einſamkeit
beſchaͤftigt, um ſomehr als die verſchiedenen
Geiſter der mancherley Liebhabereyen, denen
ich mich nach und nach gewidmet, Gelegenheit
hatten wieder hervorzutreten. So kam es
auch wieder ans Zeichnen, und da ich immer
unmittelbar an der Natur oder vielmehr am
Wirklichen arbeiten wollte; ſo bildete ich mein
Zimmer nach, mit ſeinen Moͤbeln, die Perſo¬
nen die ſich darin befanden, und wenn mich
das nicht mehr unterhielt, ſtellte ich allerley
Stadtgeſchichten dar, die man ſich eben erzaͤhl¬
te und woran man Intereſſe fand. Das al¬
les war nicht ohne Character und nicht ohne
einen gewiſſen Geſchmack, aber leider fehlte den
Figuren die Proportion und das eigentliche
Mark, ſo wie denn auch die Ausfuͤhrung hoͤchſt
nebuliſtiſch war. Mein Vater, dem dieſe
Dinge Vergnuͤgen zu machen fortfuhren, woll¬
te ſie deutlicher haben; auch ſollte alles fertig
und abgeſchloſſen ſeyn. Er ließ ſie daher auf¬
ziehen und mit Linien einfaſſen; ja der
Maler Morgenſtern, ſein Hauskuͤnſtler
— es iſt derſelbe, der ſich ſpaͤter durch Kir¬
chenproſpecte bekannt, ja beruͤhmt gemacht —
mußte die perſpektiviſchen Linien der Zimmer
und Raͤume hineinziehen, die ſich denn frey¬
lich ziemlich grell gegen die nebuliſtiſch ange¬
deuteten Figuren verhielten. Er glaubte mich
dadurch immer mehr zur Beſtimmtheit zu noͤ¬
thigen, und um ihm gefaͤllig zu ſeyn zeichne¬
te ich mancherley Stillleben, wo ich, indem
das Wirkliche als Muſter vor mir ſtand, deut¬
21 *
licher und entſchiedener arbeiten konnte. End¬
lich fiel mir auch wieder einmal das Radiren
ein. Ich hatte mir eine ziemlich intereſſante
Landſchaft componirt, und fuͤhlte mich ſehr
gluͤcklich, als ich meine allen von Stock uͤber¬
lieferten Recepte vorſuchen, und mich jener
vergnuͤglichen Zeiten bey der Arbeit erinnern
konnte. Ich aͤtzte die Platte bald und ließ
mir Probeabdruͤcke machen. Ungluͤcklicher¬
weiſe war die Compoſition ohne Licht und
Schatten, und ich quaͤlte mich nun beydes
hineinzubringen; weil es mir aber nicht ganz
deutlich war, worauf es ankam, ſo konnte ich
nicht fertig werden. Ich befand mich zu der
Zeit nach meiner Art ganz wohl; allein in die¬
ſen Tagen befiel mich ein Uebel, das mich
noch nie gequaͤlt hatte. Die Kehle naͤmlich
war mir ganz wund geworden, und beſonders
das was man den Zapfen nennt, ſehr entzuͤn¬
det; ich konnte nur mit großen Schmerzen
etwas ſchlingen, und die Aerzte wußten nicht
was ſie daraus machen ſollten. Man quaͤlte
mich mit Gurgeln und Pinſeln, und konnte
mich von dieſer Noth nicht befreyen. End¬
lich ward ich wie durch eine Eingebung ge¬
wahr, daß ich bey dem Aetzen nicht vorſichtig
genug geweſen und daß ich, indem ich es oͤf¬
ters und leidenſchaftlich wiederholt, mir die¬
ſes Uebel zugezogen und ſolches immer wie¬
der erneuert und vermehrt. Den Aerzten
war die Sache plauſibel und gar bald gewiß,
indem ich das Radiren und Aetzen um ſo
mehr unterließ, als der Verſuch keineswegs
gut ausgefallen war, und ich eher Urſache
hatte meine Arbeit zu verbergen als vorzu¬
zeigen, woruͤber ich mich um ſo leichter troͤ¬
ſtete, als ich mich von dem beſchwerlichen Uebel
ſehr bald befreyt ſah. Dabey konnte ich
mich doch der Betrachtung nicht enthalten,
daß wohl die aͤhnlichen Beſchaͤftigungen in
Leipzig manches moͤchten zu jenen Uebeln bey¬
getragen haben, an denen ich ſoviel gelit¬
ten hatte. Freylich iſt es eine langweilige
und mitunter traurige Sache, zu ſehr auf
uns ſelbſt und was uns ſchadet und nutzt
Acht zu haben; allein es iſt keine Frage, daß
bey der wunderlichen Idioſyncraſie der menſch¬
lichen Natur von der einen, und bey der un¬
endlichen Verſchiedenheit der Lebensart und
Genuͤſſe von der andern, es noch ein Wun¬
der iſt, daß das menſchliche Geſchlecht ſich
nicht ſchon lange aufgerieben hat. Es ſcheint
die menſchliche Natur eine eigne Art von Zaͤ¬
higkeit und Vielſeitigkeit zu beſitzen, da ſie
alles was an ſie herankommt oder was ſie
in ſich aufnimmt uͤberwindet, und wenn ſie ſich
es nicht aſſimiliren kann, wenigſtens gleichguͤl¬
tig macht. Freylich muß ſie bey einem gro¬
ßen Exceß trotz alles Widerſtandes den Ele¬
menten nachgeben, wie uns ſo viele endemiſche
Krankheiten und die Wirkungen des Brannt¬
weins uͤberzeugen. Koͤnnten wir, ohne aͤngſt¬
lich zu werden, auf uns Acht geben, was in
unſerem complicirten buͤrgerlichen und geſelli¬
gen Leben auf uns guͤnſtig oder unguͤnſtig
wirkt, und moͤchten wir das was uns als
Genuß freylich behaglich iſt, um der uͤblen
Folgen willen unterlaſſen: ſo wuͤrden wir gar
manche Unbequemlichkeit, die uns bey ſonſt ge¬
ſunden Conſtitutionen oft mehr als eine Krank¬
heit ſelbſt quaͤlt, leicht zu entfernen wiſſen.
Leider iſt es im Diaͤtetiſchen wie im Morali¬
ſchen: wir koͤnnen einen Fehler nicht eher ein¬
ſehen, als bis wir ihn los ſind; wobey denn
nichts gewonnen wird, weil der naͤchſte Fehler
dem vorhergehenden nicht aͤhnlich ſieht und
alſo unter derſelben Form nicht erkannt wer¬
den kann.
Beym Durchleſen jener Briefe, die von
Leipzig aus an meine Schweſter geſchrieben wa¬
ren, konnte mir unter andern auch dieſe Be¬
merkung nicht entgehen, daß ich mich ſogleich
bey dem erſten academiſchen Unterricht fuͤr
ſehr klug und weiſe gehalten, indem ich mich,
ſobald ich etwas gelernt, dem Profeſſor ſub¬
ſtituirte und daher auch auf der Stelle didac¬
tiſch ward. Mir war es luſtig genug zu ſe¬
hen, wie ich dasjenige was Gellert uns im
Collegium uͤberliefert oder gerathen, ſogleich
wieder gegen meine Schweſter gewendet, ohne
einzuſehen, daß ſowohl im Leben als im Leſen
etwas dem Juͤngling gemaͤß ſeyn koͤnne, ohne
ſich fuͤr ein Frauenzimmer zu ſchicken; und wir
ſcherzten gemeinſchaftlich uͤber dieſe Nachaͤffe¬
rey. Auch waren mir die Gedichte, die ich
in Leipzig verfaßt hatte, ſchon zu gering, und
ſie ſchienen mir kalt, trocken und in Abſicht
deſſen was die Zuſtaͤnde des menſchlichen Her¬
zens oder Geiſtes ausdruͤcken ſollte, allzu
oberflaͤchlich. Dieſes bewog mich, als ich nun
abermals das vaͤterliche Haus verlaſſen und
auf eine zweyte Academie ziehen ſollte, wie¬
der ein großes Haupt-Autodafé uͤber meine
Arbeiten zu verhaͤngen. Mehrere angefangene
Stuͤcke, deren einige bis zum dritten oder vier¬
ten Act, andere aber nur bis zu vollendeter
Expoſition gelangt waren, nebſt vielen andern
Gedichten, Briefen und Papieren wurden dem
Feuer uͤbergeben, und kaum blieb etwas ver¬
ſchont außer dem Manuſcript von Behriſch,
die Laune des Verliebten und die Mitſchuldi¬
gen, an welchem letzteren ich immer fort mit
beſonderer Liebe beſſerte, und da das Stuͤck
ſchon fertig war, die Expoſition nochmals
durcharbeitete, um ſie zugleich bewegter und
klarer zu machen. Leſſing hatte in den zwey
erſten Acten der Minna ein unerreichbares
Muſter aufgeſtellt, wie ein Drama zu exponi¬
ren ſey, und es war mir nichts angelegner,
als in ſeinen Sinn und ſeine Abſichten einzu¬
dringen.
Umſtaͤndlich genug iſt zwar ſchon die Er¬
zaͤhlung von dem was mich in dieſen Tagen
beruͤhrt, aufgeregt und beſchaͤftigt; allein ich
muß demohngeachtet wieder zu jenem Intereſſe
zuruͤckkehren, das mir die uͤberſinnlichen Din¬
ge eingefloͤßt hatten, von denen ich ein fuͤr
allemal, in ſofern es moͤglich waͤre, mir ei¬
nen Begriff zu bilden unternahm.
Einen großen Einfluß erfuhr ich dabey
von einem wichtigen Buche, das mir in die
Haͤnde gerieth, es war Arnolds Kirchen¬
und Ketzergeſchichte. Dieſer Mann iſt nicht
ein bloß reflectirender Hiſtoriker, ſondern zu¬
gleich fromm und fuͤhlend. Seine Geſinnun¬
gen ſtimmten ſehr zu den meinigen, und was
mich an ſeinem Werk beſonders ergetzte war,
daß ich von manchen Ketzern, die man mir
bisher als toll oder gottlos vorgeſtellt hatte,
einen vortheilhaftern Begriff erhielt. Der
Geiſt des Widerſpruchs und die Luſt zum
Paradoxen ſteckt in uns allen. Ich ſtudirte
fleißig die verſchiedenen Meynungen, und da
ich oft genug hatte ſagen hoͤren, jeder Menſch
habe am Ende doch ſeine eigene Religion; ſo
kam mir nichts natuͤrlicher vor, als daß ich
mir auch meine eigene bilden koͤnne, und die¬
ſes that ich mit vieler Behaglichkeit. Der
neue Platonismus lag zum Grunde; das Her¬
metiſche, Myſtiſche, Cabbaliſtiſche gab auch
ſeinen Beytrag her, und ſo erbaute ich mir
eine Welt, die ſeltſam genug ausſah.
Ich mochte mir wohl eine Gottheit vor¬
ſtellen, die ſich von Ewigkeit her ſelbſt produ¬
cirt; da ſich aber Production nicht ohne
Mannigfaltigkeit denken laͤßt, ſo mußte ſie ſich
nothwendig ſogleich als ein Zweytes erſcheinen,
welches wir unter dem Namen des Sohns an¬
erkennen; dieſe beyden mußten nun den Act
des Hervorbringens fortſetzen, und erſchienen
ſich ſelbſt wieder im Dritten, welches nun eben
ſo beſtehend lebendig und ewig als das Gan¬
ze war. Hiermit war jedoch der Kreis der
Gottheit geſchloſſen, und es waͤre ihnen ſelbſt
nicht moͤglich geweſen, abermals ein ihnen voͤl¬
lig Gleiches hervorzubringen. Da jedoch der
Productionstrieb immer fortging, ſo erſchufen
ſie ein Viertes, das aber ſchon in ſich einen
Widerſpruch hegte, indem es, wie ſie, unbe¬
dingt und doch zugleich in ihnen enthalten und
durch ſie begraͤnzt ſeyn ſollte. Dieſes war
nun Lucifer, welchem von nun an die ganze
Schoͤpfungskraft uͤbertragen war, und von dem
alles uͤbrige Seyn ausgehen ſollte. Er be¬
wies ſogleich ſeine unendliche Thaͤtigkeit, indem
er die ſaͤmmtlichen Engel erſchuf, alle wieder
nach ſeinem Gleichniß, unbedingt, aber in
ihm enthalten und durch ihn begraͤnzt. Um¬
geben von einer ſolchen Glorie vergaß er ſei¬
nes hoͤhern Urſprungs und glaubte ihn in ſich
ſelbſt zu finden, und aus dieſem erſten Un¬
dank entſprang alles was uns nicht mit dem
Sinne und den Abſichten der Gottheit uͤber¬
einzuſtimmen ſcheint. Jemehr er ſich nun in
ſich ſelbſt concentrirte, je unwohler mußte es
ihm werden, ſo wie allen den Geiſtern, denen
er die ſuͤße Erhebung zu ihrem Urſprung ver¬
kuͤmmerte. Und ſo ereignete ſich das, was
uns unter der Form des Abfalls der Engel
bezeichnet wird. Ein Theil derſelben concen¬
trirte ſich mit Lueifer, der andere wendete ſich
wieder gegen ſeinen Urſprung. Aus dieſer
Concentration der ganzen Schoͤpfung, denn ſie
war von Lucifer ausgegangen und mußte ihm
folgen, entſprang nun alles das, was wir un¬
ter der Geſtalt der Materie gewahr werden,
was wir uns als ſchwer, feſt und finſter vor¬
ſtellen, welches aber, indem es wenn auch
nicht unmittelbar, doch durch Filiation vom
goͤttlichen Weſen herſtammt, eben ſo unbe¬
dingt maͤchtig und ewig iſt, als der Vater
und die Großaͤltern. Da nun das ganze Un¬
heil, wenn wir es ſo nennen duͤrfen, bloß
durch die einſeitige Richtung Lucifers ent¬
ſtand; ſo fehlte freylich dieſer Schoͤpfung die
beſſere Haͤlfte: denn alles was durch Con¬
centration gewonnen wird, beſaß ſie, aber es
fehlte ihr alles was durch Expanſion allein
bewirkt werden kann; und ſo haͤtte die ſaͤmmt¬
liche Schoͤpfung durch immerwaͤhrende Con¬
centration ſich ſelbſt aufreiben, ſich mit ihrem
Vater Lucifer vernichten und alle ihre An¬
ſpruͤche an eine gleiche Ewigkeit mit der
Gottheit verlieren koͤnnen. Dieſem Zuſtand
ſahen die Elohim eine Weile zu, und ſie hat¬
ten die Wahl jene Aeonen abzuwarten, in
welchen das Feld wieder rein geworden und
ihnen Raum zu einer neuen Schoͤpfung ge¬
blieben waͤre, oder ob ſie in das Gegenwaͤr¬
tige eingreifen und dem Mangel nach ihrer
Unendlichkeit zu Huͤlfe kommen wollten. Sie
erwaͤhlten nun das letztere, und ſupplirten
durch ihren bloßen Willen in einem Augen¬
blick den ganzen Mangel, den der Erfolg von
Lucifers Beginnen an ſich trug. Sie gaben
dem unendlichen Seyn die Faͤhigkeit ſich auszu¬
dehnen, ſich gegen ſie zu bewegen; der eigent¬
liche Puls des Lebens war wieder hergeſtellt
und Lucifer ſelbſt konnte ſich dieſer Einwir¬
kung nicht entziehen. Dieſes iſt die Epoche,
wo dasjenige hervortrat, was wir als Licht
kennen, und wo dasjenige begann, was wir
mit dem Worte Schoͤpfung zu bezeichnen
pflegen. So ſehr ſich auch nun dieſe durch
die immer fortwirkende Lebenskraft der Elo¬
him ſtufenweiſe vermannigfaltigte; ſo fehlte
es doch noch an einem Weſen, welches die ur¬
ſpruͤngliche Verbindung mit der Gottheit wie¬
derherzuſtellen geſchickt waͤre, und ſo wurde
der Menſch hervorgebracht, der in allem der
Gottheit aͤhnlich, ja gleich ſeyn ſollte, ſich
aber freylich dadurch abermals in dem Falle
Lucifers befand, zugleich unbedingt und be¬
ſchraͤnkt zu ſeyn, und da dieſer Widerſpruch
durch alle Categorieen des Daſeyns ſich an ihm
manifeſtiren und ein vollkommenes Bewußſeyn
ſo wie ein entſchiedener Wille ſeine Zuſtaͤnde
begleiten ſollte; ſo war voraus zu ſehen, daß
er zugleich das Vollkommenſte und Unvoll¬
kommenſte, das gluͤcklichſte und ungluͤcklichſte
Geſchoͤpf werden muͤſſe. Es waͤhrte nicht lan¬
ge, ſo ſpielte er auch voͤllig die Rolle des Lu¬
cifer. Die Abſonderung vom Wohlthaͤter iſt
der eigentliche Undank, und ſo ward jener
Abfall zum zweytenmal eminent, obgleich die
ganze Schoͤpfung nichts iſt und nichts war,
als ein Abfallen und Zuruͤckkehren zum Ur¬
ſpruͤnglichen.
Man ſieht leicht, wie hier die Erloͤſung
nicht allein von Ewigkeit her beſchloſſen, ſon¬
dern als ewig nothwendig gedacht wird, ja
daß ſie durch die ganze Zeit des Werdens
und Seyns ſich immer wieder erneuern muß.
Nichts iſt in dieſem Sinne natuͤrlicher, als
daß die Gottheit ſelbſt die Geſtalt des Men¬
ſchen annimmt, die ſie ſich zu einer Huͤlle
ſchon vorbereitet hatte, und daß ſie die Schick¬
ſale deſſelben auf kurze Zeit theilt, um durch
dieſe Veraͤhnlichung das Erfreuliche zu erhoͤ¬
hen und das Schmerzliche zu mildern. Die
Geſchichte aller Religionen und Philoſophieen
lehrt uns, daß dieſe große, den Menſchen un¬
entbehrliche Wahrheit von verſchiedenen Na¬
tionen in verſchiedenen Zeiten auf mancher¬
ley Weiſe, ja in ſeltſamen Fabeln und Bil¬
dern der Beſchraͤnktheit gemaͤß uͤberliefert wor¬
den; genug wenn nur anerkannt wird, daß
wir uns in einem Zuſtande befinden, der,
wenn er uns auch niederzuziehen und zu druͤ¬
cken ſcheint, dennoch Gelegenheit giebt, ja zur
Pflicht macht, uns zu erheben und die Ab¬
ſichten der Gottheit dadurch zu erfuͤllen, daß
wir, indem wir von einer Seite uns zu ver¬
ſelbſten genoͤthiget ſind, von der andern in re¬
gelmaͤßigen Pulſen uns zu entſelbſtigen nicht
verſaͤumen.
Neuntes Buch.
II. 22
„Das Herz wird ferner oͤfters zum Vor¬
theil verſchiedener, beſonders geſelliger und
feiner Tugenden geruͤhrt, und die zarteren
Empfindungen werden in ihm erregt und ent¬
wickelt werden. Beſonders werden ſich viele
Zuͤge eindruͤcken, welche dem jungen Leſer ei¬
ne Einſicht in den verborgenern Winkel des
menſchlichen Herzens und ſeiner Leidenſchaf¬
ten geben, eine Kenntniß, die mehr als alles
Latein und Griechiſch werth iſt, und von
welcher Ovid ein gar vortrefflicher Meiſter
war. Aber dieß iſt es noch nicht, warum
man eigentlich der Jugend die alten Dichter
und alſo auch den Ovid in die Haͤnde giebt.
Wir haben von dem guͤtigen Schoͤpfer eine
Menge Seelenkraͤfte, welchen man ihre ge¬
hoͤrige Cultur, und zwar in den erſten Jah¬
22 *
ren gleich, zu geben nicht verabſaͤumen muß,
und die man doch weder mit Logik noch Me¬
taphyſit, Latein oder Griechiſch cultiviren
kann: wir haben eine Einbildungskraft, der
wir, wofern ſie ſich nicht der erſten beſten
Vorſtellungen ſelbſt bemaͤchtigen ſoll, die ſchick¬
lichſten und ſchoͤnſten Bilder vorlegen und da¬
durch das Gemuͤth gewoͤhnen und uͤben muͤſ¬
ſen, das Schoͤne uͤberall und in der Natur
ſelbſt, unter ſeinen beſtimmten, wahren und
auch in den feineren Zuͤgen zu erkennen und
zu lieben. Wir haben eine Menge Begriffe
und allgemeine Kenntniſſe noͤthig, ſowohl fuͤr
die Wiſſenſchaften als fuͤr das taͤgliche Leben,
die ſich aus keinem Compendio erlernen laſ¬
ſen. Unſere Empfindungen, Neigungen, Lei¬
denſchaften ſollen mit Vortheil entwickelt und
gereinigt werden.“
Dieſe bedeutende Stelle, welche ſich in
der allgemeinen deutſchen Bibliothek vorfand,
war nicht die einzige in ihrer Art. Von gar
vielen Seiten her offenbarten ſich aͤhnliche
Grundſaͤtze und gleiche Geſinnungen. Sie
machten auf uns rege Juͤnglinge ſehr großen
Eindruck, der um deſto entſchiedener wirkte,
als er durch Wielands Beyſpiel noch verſtaͤrkt
wurde: denn die Werke ſeiner zweyten glaͤn¬
zenden Epoche bewieſen klaͤrlich, daß er ſich
nach ſolchen Maximen gebildet hatte. Und
was konnten wir mehr verlangen? Die Phi¬
loſophie mit ihren abſtruſen Forderungen war
beſeitigt, die alten Sprachen, deren Erler¬
nung mit ſo viel Muͤhſeligkeit verknuͤpft iſt,
ſah man in den Hintergrund geruͤckt, die
Compendien, uͤber deren Zulaͤnglichkeit uns
Hamlet ſchon ein bedenkliches Wort ins Ohr
geraunt hatte, wurden immer verdaͤchtiger,
man wies uns auf die Betrachtung eines be¬
wegten Lebens hin, das wir ſo gerne fuͤhr¬
ten, und auf die Kenntniß der Leidenſchaften,
die wir in unſerem Buſen theils empfanden,
theils ahndeten, und die, wenn man ſie ſonſt
geſcholten hatte, uns nunmehr als etwas
Wichtiges und Wuͤrdiges vorkommen mußten,
weil ſie der Hauptgegenſtand unſerer Studien
ſeyn ſollten, und die Kenntniß derſelben als
das vorzuͤglichſte Bildungsmittel unſerer Gei¬
ſteskraͤfte angeruͤhmt ward. Ueberdieß war eine
ſolche Denkweiſe meiner eignen Ueberzeugung,
ja meinem poetiſchen Thun und Treiben ganz
angemeſſen. Ich fuͤgte mich daher ohne Wi¬
derſtreben, nachdem ich ſo manchen guten Vor¬
ſatz vereitelt, ſo manche redliche Hoffnung
verſchwinden ſehn, in die Abſicht meines Va¬
ters, mich nach Straßburg zu ſchicken, wo
man mir ein heiteres luſtiges Leben verſprach,
indeſſen ich meine Studien weiter fortſetzen
und am Ende promoviren ſollte.
Im Fruͤhjahre fuͤhlte ich meine Geſund¬
heit, noch mehr aber meinen jugendlichen
Muth wieder hergeſtellt, und ſehnte mich aber¬
mals aus meinem vaͤterlichen Hauſe, obgleich
aus ganz andern Urſachen als das erſte Mal:
denn es waren mir dieſe huͤbſchen Zimmer
und Raͤume, wo ich ſo viel gelitten hatte,
unerfreulich geworden, und mit dem Vater
ſelbſt konnte ſich kein angenehmes Verhaͤltniß
anknuͤpfen; ich konnte ihm nicht ganz verzei¬
hen, daß er, bey den Recidiven meiner Krank¬
heit und bey dem langſamen Geneſen, mehr
Ungeduld als billig ſehen laſſen, ja daß er,
anſtatt durch Nachſicht mich zu troͤſten, ſich
oft auf eine grauſame Weiſe uͤber das was
in keines Menſchen Hand lag, geaͤußert, als
wenn es nur vom Willen abhinge. Aber
auch er ward auf mancherley Weiſe durch
mich verletzt und beleidigt.
Denn junge Leute bringen von Academieen
allgemeine Begriffe zuruͤck, welches zwar ganz
recht und gut iſt; allein weil ſie ſich darin
ſehr weiſe duͤnken, ſo legen ſie ſolche als
Maßſtab an die vorkommenden Gegenſtaͤnde,
welche denn meiſtens dabey verlieren muͤſſen.
So hatte ich von der Baukunſt, der Einrich¬
tung und Verzierung der Haͤuſer eine allge¬
meine Vorſtellung gewonnen, und wendete
dieſe nun unvorſichtig im Geſpraͤch auf unſer
eigen Haus an. Mein Vater hatte die gan¬
ze Einrichtung deſſelben erſonnen und den
Bau mit großer Standhaftigkeit durchgefuͤhrt,
und es ließ ſich auch, in ſofern es eine
Wohnung fuͤr ihn und ſeine Familie aus¬
ſchließlich ſeyn ſollte, nichts dagegen einwen¬
den; auch waren in dieſem Sinne ſehr viele
Haͤuſer von Frankfurt gebaut. Die Treppe
ging frey hinauf und beruͤhrte große Vorſaͤle,
die ſelbſt recht gut haͤtten Zimmer ſeyn koͤn¬
nen; wie wir denn auch die gute Jahreszeit
immer daſelbſt zubrachten. Allein dieſes an¬
muthige heitere Daſeyn einer einzelnen Fami¬
lie, dieſe Communication von oben bis unten
ward zur groͤßten Unbequemlichkeit, ſobald
mehrere Partieen das Haus bewohnten, wie
wir bey Gelegenheit der franzoͤſiſchen Einquar¬
tierung nur zu ſehr erfahren hatten. Denn
jene aͤngſtliche Scene mit dem Koͤnigslieute¬
nant waͤre nicht vorgefallen, ja mein Vater
haͤtte weniger von allen Unannehmlichkeiten em¬
pfunden, wenn unſere Treppe, nach der Leip¬
ziger Art, an die Seite gedraͤngt, und jedem
Stockwerk eine abgeſchloſſene Thuͤre zugetheilt
geweſen waͤre. Dieſe Bauart ruͤhmte ich einſt
hoͤchlich und ſetzte ihre Vortheile heraus, zeig¬
te dem Vater die Moͤglichkeit, auch ſeine
Treppe zu verlegen, woruͤber er in einen un¬
glaublichen Zorn gerieth, der um ſo heftiger
war, als ich kurz vorher einige ſchnoͤrkelhafte
Spiegelrahmen getadelt und gewiſſe chineſiſche
Tapeten verworfen hatte. Es gab eine Sce¬
ne, welche, zwar wieder getuſcht und ausge¬
glichen, doch meine Reiſe nach dem ſchoͤnen
Elſaß beſchleunigte, die ich denn auch, auf
der neu eingerichteten bequemen Diligence,
ohne Aufhalt und in kurzer Zeit vollbrachte.
Ich war im Wirthshaus zum Geiſt ab¬
geſtiegen und eilte ſogleich, das ſehnlichſte
Verlangen zu befriedigen und mich dem Muͤn¬
ſter zu naͤhern, welcher durch Mitreiſende mir
ſchon lange gezeigt und eine ganze Strecke
her im Auge geblieben war. Als ich nun
erſt durch die ſchmale Gaſſe dieſen Coloß ge¬
wahrte, ſodann aber auf dem freylich ſehr
engen Platz allzunah vor ihm ſtand, machte
derſelbe auf mich einen Eindruck ganz eigner
Art, den ich aber auf der Stelle zu entwi¬
ckeln unfaͤhig, fuͤr dießmal nur dunkel mit mir
nahm, indem ich das Gebaͤude eilig beſtieg,
um nicht den ſchoͤnen Augenblick einer hohen
und heitern Sonne zu verſaͤumen, welche mir
das weite reiche Land auf einmal offenbaren
ſollte.
Und ſo ſah ich denn von der Platt–Form
die ſchoͤne Gegend vor mir, in welcher ich
eine Zeit lang wohnen und hauſen durfte: die
anſehnliche Stadt, die weitumherliegenden,
mit herrlichen dichten Baͤumen beſetzten und
durchflochtenen Auen, dieſen auffallenden Reich¬
thum der Vegetation, der dem Laufe des
Rheins folgend, die Ufer, Inſeln und Wer¬
der bezeichnet. Nicht weniger mit mannig¬
faltigem Gruͤn geſchmuͤckt iſt der von Suͤ¬
den herab ſich ziehende flache Grund, welchen
die Iller bewaͤſſert; ſelbſt weſtwaͤrts, nach
dem Gebirge zu, finden ſich manche Niede¬
rungen, die einen eben ſo reizenden Anblick
von Wald und Wieſenwuchs gewaͤhren, ſo wie
der noͤrdliche mehr huͤgelige Theil von unend¬
lichen kleinen Baͤchen durchſchnitten iſt, die
uͤberall ein ſchnelles Wachsthum beguͤnſtigen.
Denkt man ſich nun zwiſchen dieſen uͤppig
ausgeſtreckten Matten, zwiſchen dieſen froͤh¬
lich ausgeſaͤeten Hainen alles zum Frucht¬
bau ſchickliche Land trefflich bearbeitet, gruͤ¬
nend und reifend, und die beſten und reich¬
ſten Stellen deſſelben durch Doͤrfer und Meyer¬
hoͤfe bezeichnet, und eine ſolche große und un¬
uͤberſehliche, wie ein neues Paradies fuͤr den
Menſchen recht vorbereitete Flaͤche, naͤher und
ferner von theils angebauten, theils waldbe¬
wachſenen Bergen begrenzt; ſo wird man das
Entzuͤcken begreifen, mit dem ich mein Schick¬
ſal ſegnete, das mir fuͤr einige Zeit einen
ſo ſchoͤnen Wohnplatz beſtimmt hatte.
Ein ſolcher friſcher Anblick in ein neues
Land, in welchem wir uns eine Zeit lang auf¬
halten ſollen, hat noch das Eigne, ſo ange¬
nehme als ahndungsvolle, daß das Ganze wie
eine unbeſchriebene Tafel vor uns liegt. Noch
ſind keine Leiden und Freuden, die ſich auf
uns beziehen, darauf verzeichnet; dieſe hei¬
tre, bunte, belebte Flaͤche iſt noch ſtumm fuͤr
uns; das Auge haftet nur an den Gegen¬
ſtaͤnden in ſofern ſie an und fuͤr ſich bedeu¬
tend ſind, und noch haben weder Neigung
noch Leidenſchaft dieſe oder jene Stelle beſon¬
ders herauszuheben; aber eine Ahndung deſ¬
ſen was kommen wird, beunruhigt ſchon das
junge Herz, und ein unbefriedigtes Beduͤrf¬
niß fordert im Stillen dasjenige, was kom¬
men ſoll und mag, und welches auf alle
Faͤlle, es ſey nun Wohl oder Weh, unmerk¬
lich den Character der Gegend, in der wir
uns befinden, annehmen wird.
Herabgeſtiegen von der Hoͤhe verweilte ich
noch eine Zeit lang vor dem Angeſicht des
ehrwuͤrdigen Gebaͤudes; aber was ich mir
weder das erſte Mal, noch in der naͤchſten
Zeit ganz deutlich machen konnte, war, daß
ich dieſes Wunderwerk als ein Ungeheures ge¬
wahrte, das mich haͤtte erſchrecken muͤſſen,
wenn es mir nicht zugleich als ein Geregeltes
faßlich und als ein Ausgearbeitetes ſogar an¬
genehm vorgekommen waͤre. Ich beſchaͤftigte
mich doch keineswegs dieſem Widerſpruch
nachzudenken, ſondern ließ ein ſo erſtaunli¬
ches Denkmal durch ſeine Gegenwart ruhig
auf mich fortwirken.
Ich bezog ein kleines aber wohlgelegenes
und anmuthiges Quartier an der Sommer¬
ſeite des Fiſchmarkts, einer ſchoͤnen langen
Straße, wo immerwaͤhrende Bewegung je¬
dem unbeſchaͤftigten Augenblick zu Huͤlfe kam.
Dann gab ich meine Empfehlungsſchreiben ab,
und fand unter meinen Goͤnnern einen Han¬
delsmann, der mit ſeiner Familie jenen from¬
men, mir genugſam bekannten Geſinnungen
ergeben war, ob er ſich gleich, was den
aͤußeren Gottesdienſt betrifft, nicht von der
Kirche getrennt hatte. Er war dabey ein ver¬
ſtaͤndiger Mann und keineswegs kopfhaͤngeriſch
in ſeinem Thun und Laſſen. Die Tiſchgeſell¬
ſchaft, die man mir und der man mich em¬
pfahl, war ſehr angenehm und unterhaltend.
Ein Paar alte Jungfrauen hatten dieſe Pen¬
ſion ſchon lange mit Ordnung und gutem Er¬
folg gefuͤhrt; es konnten ohngefaͤhr zehen
Perſonen ſeyn, aͤltere und juͤngere. Von die¬
ſen letztern iſt mir am gegenwaͤrtigſten einer,
genannt Meyer, von Lindau gebuͤrtig. Man
haͤtte ihn, ſeiner Geſtalt und ſeinem Geſicht
nach, fuͤr den ſchoͤnſten Menſchen halten koͤn¬
nen, wenn er nicht zugleich etwas Schlottri¬
ges in ſeinem ganzen Weſen gehabt haͤtte.
Eben ſo wurden ſeine herrlichen Naturgaben
durch einen unglaublichen Leichtſinn, und ſein
koͤſtliches Gemuͤth durch eine unbaͤndige Lie¬
derlichkeit verunſtaltet. Er hatte ein mehr
rundes als ovales, offnes, frohes Geſicht; die
Werkzeuge der Sinne, Augen, Naſe, Mund,
Ohren, konnte man reich nennen, ſie zeugten
von einer entſchiedenen Fuͤlle, ohne uͤbertrie¬
ben groß zu ſeyn. Der Mund beſonders war
allerliebſt durch uͤbergeſchlagene Lippen, und
ſeiner ganzen Phyſiognomie gab es einen eige¬
nen Ausdruck, daß er ein Raͤzel war, d.h.
daß ſeine Augenbrauen uͤber der Naſe zuſam¬
menſtießen, welches bey einem ſchoͤnen Ge¬
ſichte immer einen angenehmen Ausdruck von
Sinnlichkeit hervorbringt. Durch Jovialitaͤt,
Aufrichtigkeit und Gutmuͤthigkeit machte er
ſich bey allen Menſchen beliebt; ſein Gedaͤcht¬
niß war unglaublich, die Aufmerkſamkeit in
den Collegien koſtete ihm nichts; er behielt
alles was er hoͤrte und war geiſtreich genug,
an allem einiges Intereſſe zu finden, und um
ſo leichter, da er Medicin ſtudirte. Alle Ein¬
druͤcke blieben ihm lebhaft, und ſein Muth¬
wille in Wiederholung der Collegien und Nach¬
aͤffen der Profeſſoren ging manchmal ſo weit,
daß wenn er drey verſchiedene Stunden des
Morgens gehoͤrt hatte, er Mittags bey Tiſche
paragraphenweis, ja manchmal noch abgebro¬
chener, die Profeſſoren mit einander ab¬
wechſeln ließ: welche buntſchaͤckige Vorleſung
uns oft unterhielt, oft aber auch beſchwer¬
lich fiel.
Die uͤbrigen waren mehr oder weniger
feine, geſetzte, ernſthafte Leute. Ein penſio¬
nirter Ludwigsritter befand ſich unter denſel¬
ben; doch waren Studirende die Ueberzahl,
alle wirklich gut und wohlgeſinnt, nur mu߬
ten ſie ihr gewoͤhnliches Weindeputat nicht
uͤberſchreiten. Daß dieſes nicht leicht geſchah,
war die Sorge unſeres Praͤſidenten, eines
Doctor Salzmann. Schon in den Sechzi¬
gen, unverheuratet, hatte er dieſen Mit¬
tagstiſch ſeit vielen Jahren beſucht und in
Ordnung und Anſehen erhalten. Er beſaß
ein ſchoͤnes Vermoͤgen; in ſeinem Aeußeren
hielt er ſich knapp und nett, ja er gehoͤrte
zu denen, die immer in Schuh und Struͤm¬
pfen und den Hut unter dem Arm gehen.
Den Hut aufzuſetzen war bey ihm eine au¬
ßerordentliche Handlung. Einen Regenſchirm
fuͤhrte er gewoͤhnlich mit ſich, wohl eingedenk,
daß die ſchoͤnſten Sommertage oft Gewitter
und Streifſchauer uͤber das Land bringen.
Mit dieſem Manne beredete ich meinen
Vorſatz, mich hier in Straßburg der Rechts¬
wiſſenſchaft ferner zu befleißigen, um bald
moͤglichſt promoviren zu koͤnnen. Da er
von allem genau unterrichtet war, ſo be¬
fragte ich ihn uͤber die Collegia, die ich zu
hoͤren haͤtte, und was er allenfalls von der
Sache denke? Darauf erwiederte er mir,
daß es ſich in Straßburg nicht etwa wie auf
deutſchen Academieen verhalte, wo man wohl
II. 23
Juriſten im weiten und gelehrten Sinne zu
bilden ſuche. Hier ſey alles, dem Verhaͤltniß
gegen Frankreich gemaͤß, eigentlich auf das
Practiſche gerichtet und nach dem Sinne der
Franzoſen eingeleitet, welche gern bey dem
Gegebnen verharren. Gewiſſe allgemeine
Grundſaͤtze, gewiſſe Vorkenntniſſe ſuche man
einem Jeden beyzubringen, man faſſe ſich ſo
kurz wie moͤglich und uͤberliefere nur das
Nothwendigſte. Er machte mich darauf mit
einem Manne bekannt, zu dem man, als
Repetenten, ein großes Vertrauen hegte;
welches dieſer ſich auch bey mir ſehr bald zu
erwerben wußte. Ich fing an mit ihm zur
Einleitung uͤber Gegenſtaͤnde der Rechtswiſ¬
ſenſchaft zu ſprechen, und er wunderte ſich
nicht wenig uͤber mein Schwadroniren: denn
mehr als ich in meiner bisherigen Darſtel¬
lung aufzufuͤhren Gelegenheit nahm, hatte
ich bey meinem Aufenthalte in Leipzig an
Einſicht in die Rechtserforderniſſe gewonnen,
obgleich mein ganzer Erwerb nur als ein all¬
gemeiner encyclopaͤdiſcher Ueberblick, und nicht
als eigentliche beſtimmte Kenntniß gelten konn¬
te. Das academiſche Leben, wenn wir uns
auch bey demſelben des eigentlichen Fleißes
nicht zu ruͤhmen haben, gewaͤhrt doch in je¬
der Art von Ausbildung unendliche Vortheile,
weil wir ſtets von Menſchen umgeben ſind,
welche die Wiſſenſchaft beſitzen oder ſuchen,
ſo daß wir aus einer ſolchen Atmoſphaͤre,
wenn auch unbewußt, immer einige Nah¬
rung ziehen.
Mein Repetent, nachdem er mit meinem
Umhervagiren im Discurſe einige Zeit Ge¬
duld gehabt, machte mir zuletzt begreiflich,
daß ich vor allen Dingen meine naͤchſte Ab¬
ſicht im Auge behalten muͤſſe, die naͤmlich,
mich examiniren zu laſſen, zu promoviren und
alsdann allenfalls in die Praxis uͤberzugehen.
Um bey dem erſten ſtehen zu bleiben, ſagte
er, ſo wird die Sache keineswegs im Weiten
geſucht. Es wird nicht nachgefragt, wie und
23 *
wo ein Geſetz entſprungen, was die innere
oder aͤußere Veranlaſſung dazu gegeben; man
unterſucht nicht, wie es ſich durch Zeit und
Gewohnheit abgeaͤndert, ſo wenig als in wie¬
fern es ſich durch falſche Auslegung oder ver¬
kehrten Gerichtsbrauch vielleicht gar umge¬
wendet. In ſolchen Forſchungen bringen ge¬
lehrte Maͤnner ganz eigens ihr Leben zu;
wir aber fragen nach dem was gegenwaͤrtig
beſteht, dieß praͤgen wir unſerm Gedaͤchtniß
feſt ein, daß es uns ſtets gegenwaͤrtig ſey,
wenn wir uns deſſen zu Nutz und Schutz
unſerr Clienten bedienen wollen. So ſtatten
wir unſre jungen Leute fuͤrs naͤchſte Leben
aus, und das Weitere findet ſich nach Ver¬
haͤltniß ihrer Talente und ihrer Thaͤtigkeit.
Er uͤbergab mir hierauf ſeine Hefte, welche
in Fragen und Antworten geſchrieben waren
und woraus ich mich ſogleich ziemlich konnte
examiniren laſſen, weil Hopps kleiner juriſti¬
ſcher Katechismus mir noch vollkommen im
Gedaͤchtniß ſtand; das Uebrige ſupplirte ich
mit einigem Fleiße und qualificirte mich, wi¬
der meinen Willen, auf die leichteſte Art zum
Candidaten.
Da mir aber auf dieſem Wege jede eigne
Thaͤtigkeit in dem Studium abgeſchnitten
ward; denn ich hatte fuͤr nichts Poſitives ei¬
nen Sinn, ſondern wollte alles wo nicht ver¬
ſtaͤndig, doch hiſtoriſch erklaͤrt haben; ſo fand
ich fuͤr meine Kraͤfte einen groͤßern Spiel¬
raum, den ich auf die wunderlichſte Weiſe
benutzte, indem ich einem Intereſſe nachgab,
das mir zufaͤllig von außen gebracht wurde.
Die meiſten meiner Tiſchgenoſſen waren
Mediciner. Dieſe ſind, wie bekannt, die
einzigen Studirenden, die ſich von ihrer Wiſ¬
ſenſchaft, ihrem Metier, auch außer den Lehr¬
ſtunden mit Lebhaftigkeit unterhalten. Es
liegt dieſes in der Natur der Sache. Die
Gegenſtaͤnde ihrer Bemuͤhungen ſind die ſinn¬
lichſten und zugleich die hoͤchſten, die einfach¬
ſten und die complicirteſten. Die Medicin
beſchaͤftigt den ganzen Menſchen, weil ſie ſich
mit dem ganzen Menſchen beſchaͤftigt. Alles
was der Juͤngling lernt, deutet ſogleich auf
eine wichtige, zwar gefaͤhrliche, aber doch in
manchem Sinn belohnende Praxis. Er wirft
ſich daher mit Leidenſchaft auf das, was zu
erkennen und zu thun iſt, theils weil es ihn
an ſich intereſſirt, theils weil es ihm die frohe
Ausſicht von Selbſtſtaͤndigkeit und Wohlha¬
ben eroͤffnet.
Bey Tiſche alſo hoͤrte ich nichts anderes
als mediciniſche Geſpraͤche, eben wie vormals
in der Penſion des Hofraths Ludwig. Auf
Spazirgaͤngen und bey Luſtpartieen kam auch
nicht viel anderes zur Sprache: denn meine
Tiſchgeſellen, als gute Kumpane, waren mir
auch Geſellen fuͤr die uͤbrige Zeit geworden,
und an ſie ſchloſſen ſich jedesmal Gleichgeſinn¬
te und Gleiches Studirende von allen Seiten
an. Die mediciniſche Facultaͤt glaͤnzte uͤber¬
haupt vor den uͤbrigen, ſowohl in Abſicht
auf die Beruͤhmtheit der Lehrer als die Fre¬
quenz der Lernenden, und ſo zog mich der
Strom dahin, um ſo leichter, als ich von
allen dieſen Dingen gerade ſo viel Kenntniß
hatte, daß meine Wiſſensluſt bald vermehrt
und angefeuert werden konnte. Beym Ein¬
tritt des zweyten Semeſters beſuchte ich da¬
her Chemie bey Spielmann, Anatomie
bey Lobſtein, und nahm mir vor, recht
fleißig zu ſeyn, weil ich bey unſerer Societaͤt,
durch meine wunderlichen Vor- oder vielmehr
Ueberkenntniſſe, ſchon einiges Anſehen und
Zutrauen erworben hatte.
Doch es war an dieſer Zerſtreuung und
Zerſtuͤckelung meiner Studien nicht genug, ſie
ſollten abermals bedeutend geſtoͤrt werden:
denn eine merkwuͤrdige Staatsbegebenheit
ſetzte alles in Bewegung und verſchaffte uns
eine ziemliche Reihe Feyertage. Marie An¬
toinette, Erzherzoginn von Oeſterreich, Koͤni¬
ginn von Frankreich, ſollte auf ihrem Wege
nach Paris uͤber Straßburg gehen. Die
Feyerlichkeiten, durch welche das Volk auf¬
merkſam gemacht wird, daß es Große in der
Welt giebt, wurden emſig und haͤufig vorbe¬
reitet, und mir beſonders war dabey das Ge¬
baͤude merkwuͤrdig, das zu ihrem Empfang
und zur Uebergabe in die Haͤnde der Abge¬
ſandten ihres Gemahls, auf einer Rheininſel
zwiſchen den beyden Bruͤcken aufgerichtet ſtand.
Es war nur wenig uͤber den Boden erhoben,
hatte in der Mitte einen großen Saal, an
beyden Seiten kleinere, dann folgten andere
Zimmer, die ſich noch etwas hinterwaͤrts er¬
ſtreckten; genug es haͤtte, dauerhafter gebaut,
gar wohl fuͤr ein Luſthaus hoher Perſonen
gelten koͤnnen. Was mich aber daran beſon¬
ders intereſſirte, und weswegen ich manches
Buͤſel (ein kleines damals currentes Silber¬
ſtuͤck) nicht ſchonte, um mir von dem Pfoͤrt¬
ner einen wiederholten Eintritt zu verſchaffen,
waren die gewirkten Tapeten, mit denen man
das Ganze inwendig ausgeſchlagen hatte. Hier
ſah ich zum erſten Mal ein Exemplar je¬
ner nach Raphaels Cartonen gewirkten Tep¬
piche, und dieſer Anblick war fuͤr mich von
ganz entſchiedener Wirkung, indem ich das
Rechte und Vollkommene, obgleich nur nach¬
gebildet, in Maſſe kennen lernte. Ich ging
und kam und kam und ging, und konnte
mich nicht ſatt ſehen; ja ein vergebliches
Streben quaͤlte mich, weil ich das was mich
ſo außerordentlich anſprach auch gern begrif¬
fen haͤtte. Hoͤchſt erfreulich und erquick¬
lich fand ich dieſe Nebenſaͤle, deſto ſchreck¬
licher aber den Hauptſaal. Dieſen hatte man
mit viel groͤßern, glaͤnzendern, reichern und
von gedraͤngten Zierraten umgebenen Haute¬
liſſen behaͤngt, die nach Gemaͤlden neuerer
Franzoſen gewirkt waren.
Nun haͤtte ich mich wohl auch mit dieſer
Manier befreundet, weil meine Empfindung
wie mein Urtheil nicht leicht etwas voͤllig aus¬
ſchloß; aber aͤußerſt empoͤrte mich der Gegen¬
ſtand. Dieſe Bilder enthielten die Geſchichte
von Jaſon, Medea und Creuſa, und alſo ein
Beiſpiel der ungluͤcklichſten Heirat. Zur Lin¬
ken des Throns ſah man die mit dem grau¬
ſamſten Tode ringende Braut, umgeben von
jammervollen Theilnehmenden; zur Rechten
entſetzte ſich der Vater uͤber die ermordeten
Kinder zu ſeinen Fuͤßen, waͤhrend die Furie
auf dem Drachenwagen in die Luft zog. Und
damit ja dem Grauſamen und Abſcheulichen
nicht auch ein Abgeſchmacktes fehle, ſo ringel¬
te ſich, hinter dem rothen Sammt des gold¬
geſtickten Thronruͤckens, rechter Hand der
weiße Schweif jenes Zauberſtiers hervor, in¬
zwiſchen die feuerſpeyende Beſtie ſelbſt und
der ſie bekaͤmpfende Jaſon von jener koſtba¬
ren Drapperie gaͤnzlich bedeckt waren.
Hier nun wurden alle Maximen, welche
ich in Oeſers Schule mir zu eigen gemacht,
in meinem Buſen rege. Daß man Chriſtum
und die Apoſtel in die Seitenſaͤle eines Hoch¬
zeitgebaͤudes gebracht, war ſchon ohne Wahl
und Einſicht geſchehen, und ohne Zweifel hat¬
te das Maß der Zimmer den koͤniglichen Tep¬
pichverwahrer geleitet; allein das verzieh ich
gern, weil es mir zu ſo großem Vortheil ge¬
reichte: nun aber ein Misgriff wie der im
großen Saale brachte mich ganz aus der
Faſſung, und ich forderte, lebhaft und heftig,
meine Gefaͤhrtin zu Zeugen auf eines ſolchen
Verbrechens gegen Geſchmack und Gefuͤhl. —
Was! rief ich aus, ohne mich um die Um¬
ſtehenden zu bekuͤmmern: iſt es erlaubt, einer
jungen Koͤniginn das Beyſpiel der graͤßlich¬
ſten Hochzeit, die vielleicht jemals vollzogen
worden, bey dem erſten Schritt in ihr Land
ſo unbeſonnen vor's Auge zu bringen! Giebt
es denn unter den franzoͤſiſchen Architecten,
Decorateuren, Tapezirern gar keinen Men¬
ſchen, der begreift, daß Bilder etwas vorſtel¬
len, daß Bilder auf Sinn und Gefuͤhl wir¬
ken, daß ſie Eindruͤcke machen, daß ſie Ahn¬
dungen erregen! Iſt es doch nicht anders,
als haͤtte man dieſer ſchoͤnen und, wie man
hoͤrt, lebensluſtigen Dame das abſcheulichſte
Geſpenſt bis an die Grenze entgegen geſchickt.
Ich weiß nicht was ich noch alles weiter ſag¬
te, genug meine Gefaͤhrten ſuchten mich zu
beſchwichtigen und aus dem Hauſe zu ſchaffen,
damit es nicht Verdruß ſetzen moͤchte. Als¬
dann verſicherten ſie mir, es waͤre nicht Je¬
dermanns Sache, Bedeutung in den Bildern
zu ſuchen; ihnen wenigſtens waͤre nichts da¬
bey eingefallen, und auf dergleichen Grillen
wuͤrde die ganze Population Straßburgs und
der Gegend, wie ſie auch herbeyſtroͤmen ſoll¬
te, ſo wenig als die Koͤniginn ſelbſt mit ih¬
rem Hofe jemals gerathen.
Der ſchoͤnen und vornehmen, ſo heitren
als impoſanten Miene dieſer jungen Dame er¬
innere ich mich noch recht wohl. Sie ſchien
in ihrem Glaswagen, uns allen vollkommen
ſichtbar, mit ihren Begleiterinnen in vertrau¬
licher Unterhaltung uͤber die Menge, die ih¬
rem Zug entgegenſtroͤmte, zu ſcherzen. Abends
zogen wir durch die Straßen, um die ver¬
ſchiedenen illuminirten Gebaͤude, beſonders
aber den brennenden Gipfel des Muͤnſters zu
ſehen, an dem wir, ſowohl in der Naͤhe als
in der Ferne, unſere Augen nicht genugſam
weiden konnten.
Die Koͤniginn verfolgte ihren Weg; das
Landvolk verlief ſich, und die Stadt war bald
ruhig wie vorher. Vor Ankunft der Koͤniginn
hatte man die ganz vernuͤnftige Anordnung
gemacht, daß ſich keine misgeſtalteten Perſo¬
nen, keine Kruͤppel und ekelhafte Kranke auf
ihrem Wege zeigen ſollten. Man ſcherzte
hieruͤber, und ich machte ein kleines franzoͤ¬
ſiſches Gedicht, worin ich die Ankunft Chriſti,
welcher beſonders der Kranken und Lahmen
wegen auf der Welt zu wandeln ſchien, und
die Ankunft der Koͤniginn, welche dieſe Un¬
gluͤcklichen verſcheuchte, in Vergleichung brach¬
te. Meine Freunde ließen es paſſiren; ein
Franzoſe hingegen, der mit uns lebte, kriti¬
ſirte ſehr unbarmherzig Sprache und Versmaß,
obgleich, wie es ſchien, nur allzugruͤndlich,
und ich erinnere mich nicht, nachher je wieder
ein franzoͤſiſches Gedicht gemacht zu haben.
Kaum erſcholl aus der Hauptſtadt die
Nachricht von der gluͤcklichen Ankunft der Koͤni¬
ginn, als eine Schreckenſpoſt ihr folgte, bey
dem feſtlichen Feuerwerke ſey, durch ein Po¬
lizeyverſehen, in einer von Baumaterialien
verſperrten Straße eine Unzahl Menſchen mit
Pferden und Wagen zu Grunde gegangen,
und die Stadt bey dieſen Hochzeitfeyerlichkei¬
ten in Trauer und Leid verſetzt worden. Die
Groͤße des Ungluͤcks ſuchte man ſowohl dem
jungen koͤniglichen Paare als der Welt zu
verbergen, indem man die umgekommenen
Perſonen heimlich begrub, ſo daß viele Fami¬
lien nur durch das voͤllige Außenbleiben der
Ihrigen uͤberzeugt wurden, daß auch dieſe
von dem ſchrecklichen Ereigniß mit hingerafft
ſeyen. Daß mir lebhaft bey dieſer Gelegen¬
heit jene graͤßlichen Bilder des Hauptſaales
wieder vor die Seele traten, brauche ich kaum
zu erwaͤhnen: denn jedem iſt bekannt, wie
maͤchtig gewiſſe ſittliche Eindruͤcke ſind, wenn
ſie ſich an ſinnlichen gleichſam verkoͤrpern.
Dieſe Begebenheit ſollte jedoch auch die
Meinigen durch eine Poſſe, die ich mir er¬
laubte, in Angſt und Noth verſetzen. Unter
uns jungen Leuten, die wir in Leipzig zuſam¬
men waren, hatte ſich auch nachher ein ge¬
wiſſer Kitzel erhalten, einander etwas aufzu¬
binden und wechſelsweiſe zu myſtificiren. In
ſolchem frevelhaften Muthwillen ſchrieb ich an
einen Freund in Frankfurt (es war derſelbe,
der mein Gedicht an den Kuchenbaͤcker Hen¬
del amplificirt auf Medon angewendet und
deſſen allgemeine Verbreitung verurſacht hat¬
te) einen Brief von Verſailles aus datirt,
worin ich ihm meine gluͤckliche Ankunft da¬
ſelbſt, meine Theilnahme an den Feyerlichkei¬
ten und was dergleichen mehr war vermelde¬
te, ihm zugleich aber das ſtrengſte Stillſchwei¬
gen gebot. Dabey muß ich noch bemerken,
daß unſere kleine Leipziger Societaͤt von
jenem Streich an, der uns ſo manchen Ver¬
druß gemacht, ſich angewoͤhnt hatte, ihn von
Zeit zu Zeit mit Myſtificationen zu verfolgen,
und das um ſo mehr, da er der drolligſte
Menſch von der Welt war, und niemals lie¬
benswuͤrdiger als wenn er den Irrthum ent¬
deckte, in den man ihn vorſaͤtzlich hineinge¬
fuͤhrt hatte. Kurz darauf als ich dieſen Brief
geſchrieben, machte ich eine kleine Reiſe und
blieb wohl vierzehn Tage aus. Indeſſen war
die Nachricht jenes Ungluͤcks nach Frankfurt
gekommen; mein Freund glaubte mich in Pa¬
ris, und ſeine Neigung ließ ihn beſorgen, ich
ſey in jenes Ungluͤck mit verwickelt. Er er¬
kundigte ſich bey meinen Aeltern und andern
Perſonen, an die ich zu ſchreiben pflegte, ob
keine Briefe angekommen, und weil eben je¬
ne Reiſe mich verhinderte dergleichen abzulaſ¬
ſen, ſo fehlten ſie uͤberall. Er ging in gro¬
ßer Angſt umher und vertraute es zuletzt un¬
ſern naͤchſten Freunden, die ſich nun in glei¬
cher Sorge befanden. Gluͤcklicherweiſe gelang¬
te dieſe Vermuthung nicht eher zu meinen
Aeltern, als bis ein Brief angekommen war,
der meine Ruͤckkehr nach Straßburg meldete.
Meine jungen Freunde waren zufrieden, mich
lebendig zu wiſſen, blieben aber voͤllig uͤber¬
zeugt, daß ich in der Zwiſchenzeit in Paris
geweſen. Die herzlichen Nachrichten von den
Sorgen, die ſie um meinetwillen gehabt,
ruͤhrten mich dermaßen, daß ich dergleichen
Poſſen auf ewig verſchwor, mir aber doch
leider in der Folge manchmal etwas Aehnli¬
ches habe zu Schulden kommen laſſen. Das
wirkliche Leben verliert oft dergeſtalt ſeinen
Glanz, daß man es manchmal mit dem Fir¬
niß der Fiction wieder auffriſchen muß.
II. 24
Jener gewaltige Hof- und Prachtſtrom war
nunmehr voruͤbergeronnen und hatte mir keine
andre Sehnſucht zuruͤckgelaſſen, als nach je¬
nen Raphael'ſchen Teppichen, welche ich gern
jeden Tag und Stunde betrachtet, verehrt,
ja angebetet haͤtte. Gluͤcklicherweiſe gelang es
meinen leidenſchaftlichen Bemuͤhungen, meh¬
rere Perſonen von Bedeutung dafuͤr zu intereſſi¬
ren, ſo daß ſie erſt ſo ſpaͤt als moͤglich abgenom¬
men und eingepackt wurden. Wir uͤberließen
uns nunmehr wieder unſerm ſtillen gemaͤchlichen
Univerſitaͤts- und Geſellſchaftsgang, und bey
dem letzten blieb Actuarius Salzmann, unſer
Tiſchpraͤſident, der allgemeine Paͤdagog. Sein
Verſtand, ſeine Nachgiebigkeit, ſeine Wuͤrde,
die er bey allem Scherz und ſelbſt manchmal
bey kleinen Ausſchweifungen, die er uns er¬
laubte, immer zu erhalten wußte, machten
ihn der ganzen Geſellſchaft lieb und werth,
und ich wuͤßte nur wenige Faͤlle, wo er ſein
ernſtliches Misfallen bezeigt, oder mit Auto¬
ritaͤt zwiſchen kleine Haͤndel und Streitigkei¬
ten eingetreten waͤre. Unter allen jedoch war
ich derjenige, der ſich am meiſten an ihn an¬
ſchloß, und er nicht weniger geneigt ſich mit
mir zu unterhalten, weil er mich mannigfal¬
tiger gebildet fand als die uͤbrigen und nicht
ſo einſeitig im Urtheil. Auch richtete ich mich
im Aeußern nach ihm, damit er mich fuͤr
ſeinen Geſellen und Genoſſen oͤffentlich ohne
Verlegenheit erklaͤren konnte: denn ob er
gleich nur eine Stelle bekleidete, die von ge¬
ringem Einfluß zu ſeyn ſcheint, ſo verſah er ſie
doch auf eine Weiſe, die ihm zur groͤßten Eh¬
re gereichte. Er war Actuarius beym Pupil¬
len-Collegium und hatte freylich daſelbſt, wie
der perpetuirliche Secretair einer Academie,
eigentlich das Heft in Haͤnden. Indem er
nun dieſes Geſchaͤft viele Jahre lang auf das
genauſte beſorgte, ſo gab es keine Familie
von der erſten bis zu der letzten, die ihm nicht
Dank ſchuldig geweſen waͤre; wie denn beynahe
in der ganzen Staatsverwaltung kaum Je¬
mand mehr Segen oder Fluch aͤrndten kann,
24 *
als einer der fuͤr die Waiſen ſorgt, oder ihr
Haab und Gut vergeudet, oder vergeuden laͤßt.
Die Straßburger ſind leidenſchaftliche Spa¬
zirgaͤnger und ſie haben wohl Recht es zu
ſeyn. Man mag ſeine Schritte hinwenden,
wohin man will, ſo findet man theils natuͤr¬
liche, theils in alten und neuern Zeiten kuͤnſt¬
lich angelegte Luſtoͤrter, einen wie den andern
beſucht und von einem heitern luſtigen Voͤlk¬
chen genoſſen. Was aber hier den Anblick
einer großen Maſſe Spazirender noch erfreu¬
licher machte als an andern Orten, war die
verſchiedene Tracht des weiblichen Geſchlechts.
Die Mittelclaſſe der Buͤrgermaͤdchen behielt
noch die aufgewundenen mit einer großen Na¬
del feſtgeſteckten Zoͤpfe bey; nicht weniger ei¬
ne gewiſſe knappe Kleidungsart, woran jede
Schleppe ein Misſtand geweſen waͤre; und
was das Angenehme war, dieſe Tracht
ſchnitt ſich nicht mit den Staͤnden ſcharf ab:
denn es gab noch einige wohlhabende vorneh¬
me Haͤuſer, welche den Toͤchtern ſich von die¬
ſem Coſtum zu entfernen nicht erlauben woll¬
ten. Die uͤbrigen gingen franzoͤſiſch, und dieſe
Partie machte jedes Jahr einige Proſelyten.
Salzmann hatte viel Bekanntſchaften und uͤber¬
all Zutritt; eine große Annehmlichkeit fuͤr ſeinen
Begleitenden, beſonders im Sommer, weil
man uͤberall in Gaͤrten nah und fern gute
Aufnahme, gute Geſellſchaft und Erfriſchung
fand, auch zugleich mehr als eine Einladung
zu dieſem oder jenem frohen Tage erhielt. In
einem ſolchen Falle traf ich Gelegenheit, mich
einer Familie, die ich erſt zum zweyten Male
beſuchte, ſehr ſchnell zu empfehlen. Wir wa¬
ren eingeladen und ſtellten uns zur beſtimm¬
ten Zeit ein. Die Geſellſchaft war nicht groß,
einige ſpielten und einige ſpazirten wie ge¬
woͤhnlich. Spaͤterhin, als es zu Tiſche ge¬
hen ſollte, ſah ich die Wirthinn und ihre Schwe¬
ſter lebhaft und wie in einer beſondern Ver¬
legenheit mit einander ſprechen. Ich begeg¬
nete ihnen eben und ſagte: Zwar habe ich
kein Recht, meine Frauenzimmer, in Ihre
Geheimniſſe einzudringen; vielleicht bin ich
aber im Stande einen guten Rath zu geben,
oder wohl gar zu dienen. Sie eroͤffneten mir
hierauf ihre peinliche Lage: daß ſie naͤmlich
zwoͤlf Perſonen zu Tiſche gebeten, und in
dieſem Augenblick ſey ein Verwandter von der
Reiſe zuruͤckgekommen, der nun als der drey¬
zehnte, wo nicht ſich ſelbſt, doch gewiß eini¬
gen der Gaͤſte ein fatales Memento mori
werden wuͤrde. — Der Sache iſt ſehr leicht
abzuhelfen, verſetzte ich: Sie erlauben mir,
daß ich mich entferne und mir die Entſchaͤdi¬
gung vorbehalte. Da es Perſonen von An¬
ſehen und guter Lebensart waren, ſo woll¬
ten ſie es keinesweges zugeben, ſondern ſchick¬
ten in der Nachbarſchaft umher, um den
vierzehnten aufzufinden. Ich ließ es geſche¬
hen, doch da ich den Bedienten unverrichte¬
ter Sache zur Gartenthuͤre hereinkommen ſah,
entwiſchte ich, und brachte meinen Abend
vergnuͤgt unter den alten Linden der Wan¬
zenau hin. Daß mir dieſe Entſagung reichlich
vergolten worden, war wohl eine natuͤrliche
Folge.
Eine gewiſſe allgemeine Geſelligkeit laͤßt
ſich ohne das Kartenſpiel nicht mehr denken.
Salzmann erneuerte die guten Lehren der
Madam Boͤhme, und ich war um ſo folg¬
ſamer, als ich wirklich eingeſehen hatte, daß
man ſich durch dieſe kleine Aufopferung, wenn
es ja eine ſeyn ſollte, manches Vergnuͤgen,
ja ſogar eine groͤßere Freyheit in der Socie¬
taͤt verſchaffen koͤnne, als man ſonſt genie¬
ßen wuͤrde. Das alte eingeſchlafene Piquet
wurde daher hervorgeſucht; ich lernte Whiſt,
richtete mir nach Anleitung meines Mentors
einen Spielbeutel ein, welcher unter allen
Umſtaͤnden unantaſtbar ſeyn ſollte; und nun
fand ich Gelegenheit, mit meinem Freunde
die meiſten Abende in den beſten Cirkeln zu¬
zubringen, wo man mir meiſtens wohl wollte,
und manche kleine Unregelmaͤßigkeit verzieh,
auf die mich jedoch der Freund, wiewohl
milde genug, aufmerkſam zu machen pflegte.
Damit ich aber dabey ſymboliſch erfuͤhre,
wie ſehr man ſich auch im Aeußern in die
Geſellſchaft zu ſchicken und nach ihr zu rich¬
ten hat, ſo ward ich zu etwas genoͤthigt,
welches mir das Unangenehmſte von der Welt
ſchien. Ich hatte zwar ſehr ſchoͤne Haare,
aber mein Straßburger Friſeur verſicherte mir
ſogleich, daß ſie viel zu tief nach hinten hin ver¬
ſchnitten ſeyen und daß es ihm unmoͤglich werde,
daraus eine Friſur zu bilden, in welcher ich
mich produciren duͤrfe, weil nur wenig kurze
und gekrauſte Vorderhaare ſtatuirt wuͤrden,
alles Uebrige vom Scheitel an in den Zopf
oder Haarbeutel gebunden werden muͤſſe. Hier¬
bey bleibe nun nichts uͤbrig, als mir eine Haar¬
tour gefallen zu laſſen, bis der natuͤrliche
Wachsthum ſich wieder nach den Erforderniſſen
der Zeit hergeſtellt habe. Er verſprach mir, daß
Niemand dieſen unſchuldigen Betrug, gegen
den ich mich erſt ſehr ernſtlich wehrte, jemals
bemerken ſolle, wenn ich mich ſogleich dazu
entſchließen koͤnnte. Er hielt Wort und ich
galt immer fuͤr den beſtfriſirten und beſtbe¬
haarten jungen Mann. Da ich aber vom
fruͤhen Morgen an ſo aufgeſtutzt und gepu¬
dert bleiben und mich zugleich in Acht neh¬
men mußte, nicht durch Erhitzung und hefti¬
ge Bewegung den falſchen Schmuck zu verra¬
then; ſo trug dieſer Zwang wirklich viel bey,
daß ich mich eine Zeit lang ruhiger und geſit¬
teter benahm, mir angewoͤhnte, mit dem Hut
unterm Arm und folglich auch in Schuh und
Struͤmpfen zu gehen; doch durfte ich nicht ver¬
ſaͤumen, feinlederne Unter-Struͤmpfe zu
tragen, um mich gegen die Rheinſchnaken zu
ſichern, welche ſich an ſchoͤnen Sommeraben¬
den uͤber die Auen und Gaͤrten zu verbreiten
pflegen. War mir nun unter dieſen Umſtaͤn¬
den eine heftige koͤrperliche Bewegung verſagt,
ſo entfalteten ſich unſere geſelligen Geſpraͤche
immer lebhafter und leidenſchaftlicher, ja ſie
waren die intereſſanteſten, die ich bis dahin
jemals gefuͤhrt hatte.
Bey meiner Art zu empfinden und zu den¬
ken koſtete es mich gar nichts, einen Jeden
gelten zu laſſen fuͤr das was er war, ja ſo¬
gar fuͤr das was er gelten wollte, und ſo
machte die Offenheit eines friſchen jugendlichen
Muthes, der ſich faſt zum erſtenmal in ſeiner
vollen Bluͤthe hervorthat, mir ſehr viele Freun¬
de und Anhaͤnger. Unſere Tiſchgeſellſchaft ver¬
mehrte ſich wohl auf zwanzig Perſonen, und
weil unſer Salzmann bey ſeiner hergebrachten
Methode beharrte; ſo blieb alles im alten
Gange, ja die Unterhaltung ward beynahe
ſchicklicher, indem ſich ein Jeder vor Mehre¬
ren in Acht zu nehmen hatte. Unter den
neuen Ankoͤmmlingen befand ſich ein Mann,
der mich beſonders intereſſirte; er hieß Jung,
und iſt derſelbe, der nachher unter dem Na¬
men Stilling zuerſt bekannt geworden.
Seine Geſtalt, ungeachtet einer veralteten
Kleidungsart, hatte, bey einer gewiſſen Derb¬
heit, etwas Zartes. Eine Haarbeutel-Pe¬
ruͤcke entſtellte nicht ſein bedeutendes und ge¬
faͤlliges Geſicht. Seine Stimme war ſanft,
ohne weich und ſchwach zu ſeyn, ja ſie wur¬
de wohltoͤnend und ſtark, ſobald er in Eifer
gerieth, welches ſehr leicht geſchah. Wenn
man ihn naͤher kennen lernte, ſo fand man
an ihm einen geſunden Menſchenverſtand, der
auf dem Gemuͤth ruhte, und ſich deswegen
von Neigungen und Leidenſchaften beſtimmen
ließ, und aus eben dieſem Gemuͤth entſprang
ein Enthuſiasmus fuͤr das Gute, Wahre,
Rechte in moͤglichſter Reinheit. Denn der
Lebensgang dieſes Mannes war ſehr einfach
geweſen und doch gedraͤngt an Begebenheiten
und mannigfaltiger Thaͤtigkeit. Das Element
ſeiner Energie war ein unverwuͤſtlicher Glaube
an Gott und an eine unmittelbar von daher
fließende Huͤlfe, die ſich in einer ununterbro¬
chenen Vorſorge und in einer unfehlbaren
Rettung aus aller Noth, von jedem Uebel
augenſcheinlich beſtaͤtige. Jung hatte derglei¬
chen Erfahrungen in ſeinem Leben ſo viele
gemacht, ſie hatten ſich ſelbſt in der neuern
Zeit, in Straßburg, oͤfters wiederholt, ſo
daß er mit der groͤßten Freudigkeit ein zwar
maͤßiges aber doch ſorgloſes Leben fuͤhrte und
ſeinen Studien auf's ernſtlichſte oblag, wie¬
wohl er auf kein ſicheres Auskommen von
einem Vierteljahre zum andern rechnen konnte.
In ſeiner Jugend, auf dem Wege Kohlen¬
brenner zu werden, ergriff er das Schneider¬
handwerk, und nachdem er ſich nebenher von
hoͤheren Dingen ſelbſt belehrt, ſo trieb ihn
ſein lehrluſtiger Sinn zu einer Schulmeiſter¬
ſtelle. Dieſer Verſuch mislang, und er kehrte
zum Handwerk zuruͤck, von dem er jedoch zu
wiederholten Malen, weil Jedermann fuͤr
ihn leicht Zutrauen und Neigung faßte, ab¬
gerufen ward, um abermals eine Stelle als
Hauslehrer zu uͤbernehmen. Seine innerlich¬
ſte und eigentlichſte Bildung aber hatte er je¬
ner ausgebreiteten Menſchenart zu danken,
welche auf ihre eigne Hand ihr Heil ſuchten,
und indem ſie ſich durch Leſung der Schrift
und wohlgemeynter Buͤcher, durch wechſel¬
ſeitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen
trachteten, dadurch einen Grad von Cultur
erhielten, der Bewunderung erregen mußte.
Denn indem das Intereſſe, das ſie ſtets be¬
gleitete und das ſie in Geſellſchaft unterhielt,
auf dem einfachſten Grunde der Sittlichkeit,
des Wohlwollens und Wohlthuns ruhte, auch
die Abweichungen, welche bey Menſchen von
ſo beſchraͤnkten Zuſtaͤnden vorkommen koͤnnen,
von geringer Bedeutung ſind, und daher ihr
Gewiſſen meiſtens rein und ihr Geiſt gewoͤhn¬
lich heiter blieb: ſo entſtand keine kuͤnſtliche,
ſondern eine wahrhaft natuͤrliche Cultur, die
noch darin vor andern den Vorzug hatte, daß
ſie allen Altern und Staͤnden gemaͤß und ih¬
rer Natur nach allgemein geſellig war; des¬
halb auch dieſe Perſonen, in ihrem Kreiſe,
wirklich beredt und faͤhig waren, uͤber alle
Herzensangelegenheiten, die zarteſten und tuͤch¬
tigſten, ſich gehoͤrig und gefaͤllig auszudruͤcken.
In demſelben Falle nun war der gute Jung.
Unter wenigen, wenn auch nicht gerade
Gleichgeſinnten, doch ſolchen, die ſich ſeiner
Denkweiſe nicht abgeneigt erklaͤrten, fand
man ihn nicht allein redſelig, ſondern beredt;
beſonders erzaͤhlte er ſeine Lebensgeſchichte
auf das anmuthigſte, und wußte dem Zuhoͤ¬
rer alle Zuſtaͤnde deutlich und lebendig zu
vergegenwaͤrtigen. Ich trieb ihn, ſolche auf¬
zuſchreiben, und er verſprach's. Weil er
aber in ſeiner Art ſich zu aͤußern einem
Nachtwandler glich, den man nicht anrufen
darf, wenn er nicht von ſeiner Hoͤhe herab¬
fallen, einem ſanften Strom, dem man
nichts entgegenſtellen darf, wenn er nicht
brauſen ſoll; ſo mußte er ſich in groͤßerer
Geſellſchaft oft unbehaglich fuͤhlen. Sein
Glaube duldete keinen Zweifel und ſeine Ueber¬
zeugung keinen Spott. Und wenn er in
freundlicher Mittheilung unerſchoͤpflich war;
ſo ſtockte gleich alles bey ihm, wenn er Wi¬
derſpruch erlitt. Ich half ihm in ſolchen
Faͤllen gewoͤhnlich uͤber, wofuͤr er mich mit
aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir ſeine
Sinnesweiſe nichts Fremdes war und ich die¬
ſelbe vielmehr an meinen beſten Freunden
und Freundinnen ſchon genau hatte kennen
lernen, ſie mir auch in ihrer Natuͤrlichkeit
und Naivetaͤt uͤberhaupt wohl zuſagte; ſo
konnte er ſich mit mir durchaus am beſten
finden. Die Richtung ſeines Geiſtes war
mir angenehm und ſeinen Wunderglauben,
der ihm ſo wohl zu Statten kam, ließ ich
unangetaſtet. Auch Salzmann betrug ſich
ſchonend gegen ihn; ſchonend, ſage ich, weil
Salzmann, ſeinem Character, Weſen, Al¬
ter und Zuſtaͤnden nach, auf der Seite der
vernuͤnftigen, oder vielmehr verſtaͤndigen Chri¬
ſten ſtehen und halten mußte, deren Reli¬
gion eigentlich auf der Rechtſchaffenheit des
Characters und auf einer maͤnnlichen Selbſt¬
ſtaͤndigkeit beruhte, und die ſich daher nicht
gern mit Empfindungen, die ſie leicht ins
Truͤbe, und Schwaͤrmerey, die ſie bald ins
Dunkle haͤtte fuͤhren koͤnnen, abgaben und
vermengten. Auch dieſe Claſſe war reſpecta¬
bel und zahlreich; alle ehrliche tuͤchtige Leute
verſtanden ſich und waren von gleicher Ueber¬
zeugung ſo wie von gleichem Lebensgang.
Lerſe, ebenmaͤßig unſer Tiſchgeſelle, ge¬
hoͤrte auch zu dieſer Zahl; ein vollkommen
rechtlicher und bey beſchraͤnkten Gluͤcksguͤtern
maͤßiger und genauer junger Mann. Seine
Lebens- und Haushaltungsweiſe war die knapp¬
ſte, die ich unter Studirenden je kannte. Er
trug ſich am ſauberſten von uns allen, und
doch erſchien er immer in denſelben Kleidern;
aber er behandelte auch ſeine Garderobe mit
der groͤßten Sorgfalt, er hielt ſeine Umge¬
bung reinlich und ſo verlangte er auch nach
ſeinem Beyſpiel alles im gemeinen Le¬
ben. Es begegnete ihm nicht, daß er ſich
irgendwo angelehnt oder ſeinen Ellbogen auf
den Tiſch geſtemmt haͤtte; niemals vergaß er
ſeine Serviette zu zeichnen, und der Magd
gerieth es immer zum Unheil, wenn die
Stuͤhle nicht hoͤchſt ſauber gefunden wurden.
Bey allem dieſen hatte er nichte Steifes in
ſeinem Aeußeren. Er ſprach treuherzig, be¬
ſtimmt und trocken lebhaft, wobey ein leich¬
ter ironiſcher Scherz ihn gar wohl kleidete.
An Geſtalt war er gut gebildet, ſchlank und
von ziemlicher Groͤße, ſein Geſicht pockennar¬
big und unſcheinbar, ſeine kleinen blauen Au¬
am heiter und durchdringend. Wenn er uns
nun von ſo mancher Seite zu hofmeiſtern
Urſache hatte, ſo ließen wir ihn auch noch
außerdem fuͤr unſern Fechtmeiſter gelten: denn
er fuͤhrte ein ſehr gutes Rappier, und es
ſchien ihm Spaß zu machen, bey dieſer Ge¬
legenheit alle Pedanterie dieſes Metiers an
uns auszuuͤben. Auch profitirten wir bey
ihm wirklich und mußten ihm dankbar ſeyn
fuͤr manche geſellige Stunde, die er uns in
guter Bewegung und Uebung verbringen hieß.
II. 25
Durch alle dieſe Eigenſchaften qualificirte
ſich nun Lerſe voͤllig zu der Stelle eines
Schieds- und Kampfrichters bey allen kleinen
und groͤßern Haͤndeln, die in unſerm Kreiſe,
wiewohl ſelten, vorfielen, und welche Salz¬
mann auf ſeine vaͤterliche Art nicht beſchwich¬
tigen konnte. Ohne die aͤußeren Formen,
welche auf Academieen ſo viel Unheil anrich¬
ten, ſtellten wir eine durch Umſtaͤnde und gu¬
ten Willen geſchloſſene Geſellſchaft vor, die
wohl mancher Andere zufaͤllig beruͤhren, aber
ſich nicht in dieſelbe eindraͤngen konnte. Bey
Beurtheilung nun innerer Verdrießlichkeiten
zeigte Lerſe ſtets die groͤßte Unparteylichkeit,
und wußte, wenn der Handel nicht mehr mit
Worten und Erklaͤrungen ausgemacht werden
konnte, die zu erwartende Genugthuung auf
ehrenvolle Weiſe ins Unſchaͤdliche zu leiten.
Hiezu war wirklich kein Menſch geſchickter
als er; auch pflegte er oft zu ſagen, da ihn
der Himmel weder zu einem Kriegs- noch Lie¬
beshelden beſtimmt habe, ſo wolle er ſich,
im Romanen- und Fechterſinn, mit der Rol¬
le des Secundanten begnuͤgen. Da er ſich
nun durchaus gleich blieb und als ein rechtes
Muſter einer guten und beſtaͤndigen Sinnes¬
art angeſehen werden konnte; ſo praͤgte ſich
der Begriff von ihm ſo tief als liebenswuͤr¬
dig bey mir ein, und als ich den Goͤtz von
Berlichingen ſchrieb, fuͤhlte ich mich veran¬
laßt, unſerer Freundſchaft ein Denkmal zu
ſetzen und der wackern Figur, die ſich auf ſo
eine wuͤrdige Art zu ſubordiniren weiß, den
Namen Franz Lerſe zu geben.
Indeß er nun mit ſeiner fortgeſetzten hu¬
moriſtiſchen Trockenheit uns immer zu erin¬
nern wußte, was man ſich und andern ſchul¬
dig ſey, und wie man ſich einzurichten habe,
um mit den Menſchen ſo lange als moͤglich
in Frieden zu leben, und ſich deshalb gegen
ſie in einige Poſitur zu ſetzen; ſo hatte ich
innerlich und aͤußerlich mit ganz andern Ver¬
haͤltniſſen und Gegnern zu kaͤmpfen, indem
25 *
ich mit mir ſelbſt, mit den Gegenſtaͤnden,
ja mit den Elementen im Streit lag. Ich
befand mich in einem Geſundheitszuſtand, der
mich bey allem was ich unternehmen wollte
und ſollte hinreichend foͤrderte; nur war mir
noch eine gewiſſe Reizbarkeit uͤbrig geblieben,
die mich nicht immer im Gleichgewicht ließ.
Ein ſtarker Schall war mir zuwider, krank¬
hafte Gegenſtaͤnde erregten mir Ekel und Ab¬
ſcheu. Beſonders aber aͤngſtigte mich ein
Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn
ich von einer Hoͤhe herunter blickte. Allen
dieſen Maͤngeln ſuchte ich abzuhelfen, und
zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte,
auf eine etwas heftige Weiſe. Abends beym
Zapfenſtreich ging ich neben der Menge Trom¬
meln her, deren gewaltſame Wirbel und Schlaͤ¬
ge das Herz im Buſen haͤtten zerſprengen
moͤgen. Ich erſtieg ganz allein den hoͤchſten
Gipfel des Muͤnſterthurms, und ſaß in dem
ſogenannten Hals, unter dem Knopf oder der
Krone, wie man's nennt, wohl eine Viertel¬
ſtunde lang, bis ich es wagte wieder heraus
in die freye Luft zu treten, wo man auf ei¬
ner Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte
haben wird, ohne ſich ſonderlich anhalten zu
koͤnnen, ſtehend das unendliche Land vor ſich
ſieht, indeſſen die naͤchſten Umgebungen und
Zieraten die Kirche und alles, worauf und
woruͤber man ſteht, verbergen. Es iſt voͤllig
als wenn man ſich auf einer Mongolfiere in
die Luft erhoben ſaͤhe. Dergleichen Angſt und
Qual wiederholte ich ſo oft, bis der Eindruck
mir ganz gleichguͤltig ward, und ich habe
nachher bey Bergreiſen und geologiſchen Stu¬
dien, bey großen Bauten, wo ich mit den
Zimmerleuten um die Wette uͤber die freylie¬
genden Balken und uͤber die Geſimſe des Ge¬
baͤudes herlief, ja in Rom, wo man eben
dergleichen Wagſtuͤcke ausuͤben muß, um be¬
deutende Kunſtwerke naͤher zu ſehen, von je¬
nen Voruͤbungen großen Vortheil gezogen.
Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt
werth, weil ſie mich den widerwaͤrtigſten An¬
blick ertragen lehrte, indem ſie meine Wi߬
begierde befriedigte. Und ſo beſuchte ich auch
das Clinicum des aͤltern Doctor Ehrmann,
ſo wie die Lectionen der Entbindungskunſt
ſeines Sohns, in der doppelten Abſicht, alle
Zuſtaͤnde kennen zu lernen und mich von al¬
ler Apprehenſion gegen widerwaͤrtige Dinge
zu befreyen. Ich habe es auch wirklich darin
ſo weit gebracht, daß nichts dergleichen mich
jemals aus der Faſſung ſetzen konnte. Aber
nicht allein gegen dieſe ſinnlichen Eindruͤcke,
ſondern auch gegen die Anfechtungen der Ein¬
bildungskraft ſuchte ich mich zu ſtaͤhlen. Die
ahndungs- und ſchauervollen Eindruͤcke der
Finſterniß, der Kirchhoͤfe, einſamer Oerter,
naͤchtlicher Kirchen und Capellen und was
hiemit verwandt ſeyn mag, wußte ich mir
ebenfalls gleichguͤltig zu machen; und auch
darin brachte ich es ſo weit, daß mir Tag
und Nacht und jedes Local voͤllig gleich war,
ja daß, als in ſpaͤter Zeit mich die Luſt an¬
kam, wieder einmal in ſolcher Umgebung die
angenehmen Schauer der Jugend zu fuͤhlen,
ich dieſe in mir kaum durch die ſeltſamſten
und fuͤrchterlichſten Bilder, die ich hervorrief,
wieder einigermaßen erzwingen konnte.
Dieſer Bemuͤhung, mich von dem Drang
und Druck des Allzuernſten und Maͤchtigen
zu befreyen, was in mir fortwaltete, und
nur bald als Kraft bald als Schwaͤche er¬
ſchien, kam durchaus jene freye, geſellige, be¬
wegliche Lebensart zu Huͤlfe, welche mich im¬
mer mehr anzog, an die ich mich gewoͤhnte,
und zuletzt derſelben mit voller Freyheit ge¬
nießen lernte. Es iſt in der Welt nicht ſchwer
zu bemerken, daß ſich der Menſch am frey¬
ſten und am voͤlligſten von ſeinen Gebrechen
los und lebig fuͤhlt, wenn er ſich die Maͤn¬
gel Anderer vergegenwaͤrtigt und ſich daruͤber
mit behaglichem Tadel verbreitet. Es iſt
ſchon eine ziemlich angenehme Empfindung,
uns durch Misbilligung und Misreden uͤber
unſers Gleichen hinauszuſetzen, weswegen auch
hierin die gute Geſellſchaft, ſie beſtehe aus
wenigen oder mehrern, ſich am liebſten er¬
geht. Nichts aber gleicht der behaglichen
Selbſtgefaͤlligkeit, wenn wir uns zu Richtern
der Obern und Vorgeſetzten, der Fuͤrſten und
Staatsmaͤnner erheben, oͤffentliche Anſtalten
ungeſchickt und zweckwidrig finden, nur die
moͤglichen und wirklichen Hinderniſſe beachten,
und weder die Groͤße der Intention noch die
Mitwirkung anerkennen, die bey jedem Un¬
ternehmen von Zeit und Umſtaͤnden zu er¬
warten iſt.
Wer ſich der Lage des franzoͤſiſchen Reichs
erinnert und ſie aus ſpaͤteren Schriften genau
und umſtaͤndlich kennt, wird ſich leicht verge¬
genwaͤrtigen, wie man damals in dem elſaſ¬
ſiſchen Halbfrankreich uͤber Koͤnig und Mini¬
ſter, uͤber Hof und Guͤnſtlinge ſprach. Fuͤr
meine Luſt mich zu unterrichten, waren es
neue, und fuͤr Naſeweisheit und jugendlichen
Duͤnkel ſehr willkommne Gegenſtaͤnde; ich
merkte mir alles genau, ſchrieb fleißig auf,
und ſehe jetzt an dem wenigen Uebriggeblie¬
benen, daß ſolche Nachrichten, wenn gleich
nur aus Fabeln und unzuverlaͤſſigen allgemei¬
nen Geruͤchten im Augenblick aufgefaßt, doch
immer in der Folge einen gewiſſen Werth
haben, weil ſie dazu dienen, das endlich be¬
kanntgewordne Geheime mit dem damals ſchon
Aufgedeckten und Oeffentlichen, das von Zeit¬
genoſſen richtig oder falſch Geurtheilte mit
den Ueberzeugungen der Nachwelt zuſammen¬
zuhalten und zu vergleichen.
Auffallend und uns Pflaſtertretern taͤglich
vor Augen war das Project zu Verſchoͤnerung
der Stadt, deſſen Ausfuͤhrung von den Riſ¬
ſen und Planen auf die ſeltſamſte Weiſe in
die Wirklichkeit uͤberzugehen anfing. Inten¬
dant Gayot hatte ſich vorgenommen, die
winkligen und ungleichen Gaſſen Straßburgs
umzuſchaffen und eine wohl nach der Schnur
geregelte, anſehnliche, ſchoͤne Stadt zu gruͤn¬
den. Blondel, ein Pariſer Baumeiſter,
zeichnete darauf einen Vorſchlag, durch wel¬
chen hundert und vierzig Hausbeſitzer an
Raum gewannen, achtzig verloren und die
uͤbrigen in ihrem vorigen Zuſtande blieben.
Dieſer genehmigte, aber nicht auf einmal in
Ausfuͤhrung zu bringende Plan ſollte nun
durch die Zeit ſeiner Vollſtaͤndigkeit entgegen
wachſen, indeſſen die Stadt, wunderlich ge¬
nug, zwiſchen Form und Unform ſchwankte.
Sollte z. B. eine eingebogene Straßenſeite
gerad werden, ſo ruͤckte der erſte Bauluſtige
auf die beſtimmte Linie vor; vielleicht ſein
naͤchſter Nachbar, vielleicht aber auch der drit¬
te, vierte Beſitzer von da, durch welche Vor¬
ſpruͤnge die ungeſchickteſten Vertiefungen als
Vorhoͤfe der hinterliegenden Haͤuſer zuruͤck¬
blieben. Gewalt wollte man nicht brauchen,
aber ohne Noͤthigung waͤre man gar nicht
vorwaͤrts gekommen, deswegen durfte Niemand
an ſeinem einmal verurtheilten Hauſe etwas
beſſern oder herſtellen, was ſich auf die Stra¬
ße bezog. Alle die ſeltſamen zufaͤlligen Un¬
ſchicklichkeiten gaben uns wandelnden Muͤßig¬
gaͤngern den willkommenſten Anlaß unſern
Spott zu uͤben, Vorſchlaͤge zu Beſchleunigung
der Vollendung nach Behriſchens Art zu thun,
und die Moͤglichkeit derſelben immer zu be¬
zweifeln, ob uns gleich manches neu entſte¬
hende ſchoͤne Gebaͤude haͤtte auf andere Ge¬
danken bringen ſollen. In wie weit jener
Vorſatz durch die lange Zeit beguͤnſtigt wor¬
den, wuͤßte ich nicht zu ſagen.
Ein anderer Gegenſtand, wovon ſich die
proteſtantiſchen Straßburger gern unterhiel¬
ten, war die Vertreibung der Jeſuiten. Die¬
ſe Vaͤter hatten, ſobald als die Stadt den
Franzoſen zu Theil geworden, ſich gleichfalls
eingefunden und um ein Domicilium nachge¬
ſucht. Bald breiteten ſie ſich aber aus und
bauten ein herrliches Collegium, das an den
Muͤnſter dergeſtalt anſtoͤßt, daß das Hinter¬
theil der Kirche ein Drittheil ſeiner Face be¬
deckt. Es ſollte ein voͤlliges Viereck werden
und in der Mitte einen Garten haben; drey
Seiten davon waren fertig geworden. Es iſt
von Steinen, ſolid, wie alle Gebaͤude dieſer
Vaͤter. Daß die Proteſtanten von ihnen ge¬
draͤngt, wo nicht bedraͤngt wurden, lag in
dem Plane der Geſellſchaft, welche die alte
Religion in ihrem ganzen Umfange wieder
herzuſtellen ſich zur Pflicht machte. Ihr Fall
erregte daher die groͤßte Zufriedenheit des Ge¬
gentheils, und man ſah nicht ohne Behagen,
wie ſie ihre Weine verkauften, ihre Buͤcher
wegſchafften und das Gebaͤude einem andern,
vielleicht weniger thaͤtigen Orden beſtimmt
ward. Wie froh ſind die Menſchen, wenn
ſie einen Widerſacher, ja nur einen Huͤter los
ſind, und die Heerde bedenkt nicht, daß da,
wo der Ruͤde fehlt, ſie den Woͤlfen ausge¬
ſetzt iſt.
Weil denn nun auch jede Stadt ihre
Tragoͤdie haben muß, wovor ſich Kinder und
Kindeskinder entſetzen, ſo ward in Stra߬
burg oft des ungluͤcklichen Praͤtors Kling¬
ling gedacht, der, nachdem er die hoͤchſte
Stufe irdiſcher Gluͤckſeligkeit erſtiegen, Stadt
und Land faſt unumſchraͤnkt beherrſcht und
alles genoſſen, was Vermoͤgen, Rang und
Einfluß nur gewaͤhren koͤnnen, endlich die
Hofgunſt verloren habe, und wegen alles deſ¬
ſen, was man ihm bisher nachgeſehn, zur
Verantwortung gezogen worden, ja ſogar in
den Kerker gebracht, wo er, uͤber ſiebenzig
Jahre alt, eines zweydeutigen Todes ver¬
blichen.
Dieſe und andere Geſchichten wußte jener
Ludwigsritter, unſer Tiſchgenoſſe, mit Leiden¬
ſchaft und Lebhaftigkeit zu erzaͤhlen, deswe¬
gen ich auch gern auf Spazirgaͤngen mich zu
ihm geſellte, anders als die Uebrigen, die
ſolchen Einladungen auswichen und mich mit
ihm allein ließen. Da ich mich bey neuen
Bekanntſchaften meiſtentheils eine Zeit lang
gehn ließ, ohne viel uͤber ſie, noch uͤber die
Wirkung zu denken, die ſie auf mich aus¬
uͤbten, ſo merkte ich erſt nach und nach, daß
ſeine Erzaͤhlungen und Urtheile mich mehr
beunruhigten und verwirrten als unterrichte¬
ten und aufklaͤrten. Ich wußte niemals wor¬
an ich mit ihm war, obgleich das Raͤthſel
ſich leicht haͤtte entziffern laſſen. Er gehoͤrte
zu den Vielen, denen das Leben keine Reſul¬
tate giebt, und die ſich daher im Einzelnen,
vor wie nach, abmuͤhen. Ungluͤcklicher Weiſe
hatte er dabey eine entſchiedne Luſt, ja Lei¬
denſchaft zum Nachdenken, ohne zum Denken
geſchickt zu ſeyn, und in ſolchen Menſchen
ſetzt ſich leicht ein gewiſſer Begriff feſt, den
man als eine Gemuͤthskrankheit anſehen kann.
Auf eine ſolche fixe Anſicht kam auch er im¬
mer wieder zuruͤck, und ward dadurch auf die
Dauer hoͤchſt laͤſtig. Er pflegte ſich naͤmlich
bitter uͤber die Abnahme ſeines Gedaͤchtniſſes
zu beklagen, beſonders was die naͤchſten Er¬
eigniſſe betraf, und behauptete, nach einer
eignen Schlußfolge, alle Tugend komme von
dem guten Gedaͤchtniß her, alle Laſter hinge¬
gen aus der Vergeſſenheit. Dieſe Lehre wu߬
te er mit vielem Scharfſinn durchzuſetzen;
wie ſich denn alles behaupten laͤßt, wenn man
ſich erlaubt, die Worte ganz unbeſtimmt, bald
in weiterem, bald engerm, in einem naͤher
oder ferner verwandten Sinne zu gebrauchen
und anzuwenden.
Die erſten Male unterhielt es wohl ihn
zu hoͤren, ja ſeine Suade ſetzte in Verwun¬
derung. Man glaubte vor einem redneriſchen
Sophiſten zu ſtehen, der, zu Scherz und
Uebung, den ſeltſamſten Dingen einen Schein
zu verleihen weiß. Leider ſtumpfte ſich die¬
ſer erſte Eindruck nur allzubald ab: denn am
Ende jedes Geſpraͤchs kam der Mann wieder
auf daſſelbe Thema, ich mochte mich auch
anſtellen wie ich wollte. Er war bey aͤlteren
Begebenheiten nicht feſtzuhalten, ob ſie ihn
gleich ſelbſt intereſſirten, ob er ſie ſchon mit
den kleinſten Umſtaͤnden gegenwaͤrtig hatte.
Vielmehr ward er oͤfters, durch einen gerin¬
gen Umſtand, mitten aus einer weltgeſchicht¬
lichen Erzaͤhlung herausgeriſſen und auf ſei¬
nen feindſeligen Lieblingsgedanken hingeſtoßen.
Einer unſerer nachmittaͤgigen Spazirgaͤnge
war hierin beſonders ungluͤcklich; die Ge¬
ſchichte deſſelben ſtehe hier ſtatt aͤhnlicher Faͤl¬
le, welche den Leſer ermuͤden, wo nicht gar
betruͤben koͤnnten.
Auf dem Wege durch die Stadt begegne¬
te uns eine bejahrte Bettlerinn, die ihn,
durch Bitten und Andringen, in ſeiner Er¬
zaͤhlung ſtoͤrte. — Pack dich, alte Hexe!
ſagte er, und ging voruͤber. Sie rief ihm
den bekannten Spruch hinterdrein, nur et¬
was veraͤndert, da ſie wohl bemerkte, daß
der unfreundliche Mann ſelbſt alt ſey: Wenn
Ihr nicht alt werden wolltet, ſo haͤttet Ihr
Euch in der Jugend ſollen haͤngen laſſen!
Er kehrte ſich heftig herum, und ich fuͤrchtete
einen Auftritt. — Haͤngen laſſen! rief er,
mich haͤngen laſſen! Nein das waͤre nicht
gegangen, dazu war ich ein zu braver Kerl;
aber mich haͤngen, mich ſelbſt aufhaͤngen, das
iſt wahr, das haͤtte ich thun ſollen; einen
Schuß Pulver ſollt' ich an mich wenden, um
nicht zu erleben, daß ich keinen mehr werth
bin. Die Frau ſtand wie verſteinert, er
aber fuhr fort: Du haſt eine große Wahr¬
heit geſagt, Hexenmutter! und weil man dich
noch nicht erſaͤuft oder verbrannt hat, ſo ſollſt
du fuͤr dein Spruͤchlein belohnt werden. Er
reichte ihr ein Buͤſel, das man nicht leicht
an einen Bettler zu wenden pflegte.
Wir waren uͤber die erſte Rheinbruͤcke ge¬
kommen und gingen nach dem Wirthshauſe,
wo wir einzukehren gedachten, und ich ſuchte
ihn auf das vorige Geſpraͤch zuruͤckzufuͤhren,
als unerwartet auf dem angenehmen Fußpfad
ein ſehr huͤbſches Maͤdchen uns entgegen kam,
II. 26
vor uns ſtehen blieb, ſich artig verneigte und
ausrief: Ey ey, Herr Hauptmann, wohin?
und was man ſonſt bey ſolcher Gelegenheit
zu ſagen pflegt. — Mademoiſelle, verſetzte
er, etwas verlegen, ich weiß nicht . . . Wie?
ſagte ſie, mit anmuthiger Verwunderung, ver¬
geſſen Sie Ihre Freunde ſo bald? Das
Wort Vergeſſen machte ihn verdrießlich, er
ſchuͤttelte den Kopf und erwiederte muͤrriſch
genug: wahrhaftig, Mademoiſelle, ich wuͤßte
nicht! — Nun verſetzte ſie mit einigem Hu¬
mor, doch ſehr gemaͤßigt: nehmen Sie ſich
in Acht, Herr Hauptmann, ich duͤrfte Sie
ein andermal auch verkennen! Und ſo eilte
ſie an uns vorbey, ſtark zuſchreitend, ohne
ſich umzuſehen. Auf einmal ſchlug ſich mein
Weggeſell mit den beyden Faͤuſten heftig vor
den Kopf: O ich Eſel! rief er aus; ich al¬
ter Eſel! da ſeht Ihr's nun, ob ich recht
habe oder nicht. Und nun erging er ſich auf
eine ſehr heftige Weiſe in ſeinem gewohnten
Reden und Meynen, in welchem ihn dieſer
Fall nur noch mehr beſtaͤrkte. Ich kann und
mag nicht wiederholen, was er fuͤr eine Phi¬
lippiſche Rede wider ſich ſelbſt hielt. Zuletzt
wendete er ſich zu mir und ſagte: Ich rufe
Euch zum Zeugen an! Erinnert Ihr Euch
jener Kraͤmerinn, an der Ecke, die weder
jung noch huͤbſch iſt? Jedesmal gruͤße ich
ſie, wenn wir vorbeygehen, und rede manch¬
mal ein paar freundliche Worte mit ihr; und
doch ſind ſchon dreyßig Jahre vorbey, daß
ſie mir guͤnſtig war. Nun aber, nicht vier
Wochen, ſchwoͤr' ich, ſind's, da erzeigte ſich
dieſes Maͤdchen gegen mich gefaͤlliger als bil¬
lig, und nun will ich ſie nicht kennen und
beleidige ſie fuͤr ihre Artigkeit! Sage ich es
nicht immer, Undank iſt das groͤßte Laſter,
und kein Menſch waͤre undankbar, wenn er
nicht vergeßlich waͤre!
Wir traten ins Wirthshaus, und nur die
zechende, ſchwaͤrmende Menge in den Vorſaͤ¬
len hemmte die Invectiven, die er gegen ſich
26 *
und ſeine Altersgenoſſen ausſtieß. Er war
ſtill und ich hoffte ihn beguͤtigt, als wir in
ein oberes Zimmer traten, wo wir einen jun¬
gen Mann allein auf- und abgehend fanden,
den der Hauptmann mit Namen begruͤßte.
Es war mir angenehm ihn kennen zu ler¬
nen : denn der alte Geſell hatte mir viel Gu¬
tes von ihm geſagt und mir erzaͤhlt, daß
dieſer, beym Kriegsbuͤreau angeſtellt, ihm
ſchon manchmal, wenn die Penſionen geſtockt,
uneigennuͤtzig ſehr gute Dienſte geleiſtet habe.
Ich war froh, daß das Geſpraͤch ſich in's
Allgemeine lenkte, und wir tranken eine Fla¬
ſche Wein, indem wir es fortſetzten. Hier
entwickelte ſich aber zum Ungluͤck ein anderer
Fehler, den mein Ritter mit ſtarrſinnigen
Menſchen gemein hatte. Denn wie er im
Ganzen von jenem fixen Begriff nicht loskom¬
men konnte, eben ſo ſehr hielt er an einem
augenblicklichen unangenehmen Eindruck feſt,
und ließ ſeine Empfindungen dabey ohne
Maͤßigung abſchnurren. Der letzte Verdruß
uͤber ſich ſelbſt war noch nicht verklungen und
nun trat abermals etwas Neues hinzu, frey¬
lich von ganz anderer Art. Er hatte naͤm¬
lich nicht lange die Augen hin und her ge¬
wandt, ſo bemerkte er auf dem Tiſche eine
doppelte Portion Caffee und zwey Taſſen;
daneben mochte er auch, er der ſelbſt ein fei¬
ner Zeiſig war, irgend ſonſt eine Andeutung
aufgeſpuͤrt haben, daß dieſer junge Mann
ſich nicht eben immer ſo allein befunden. Und
kaum war die Vermuthung in ihm aufgeſtie¬
gen und zur Wahrſcheinlichkeit geworden, das
huͤbſche Maͤdchen habe einen Beſuch hier ab¬
geſtattet; ſo geſellte ſich zu jenem erſten Ver¬
druß noch die wunderlichſte Eiferſucht, um
ihn vollends zu verwirren.
Ehe ich nun irgend etwas ahnden konn¬
te, denn ich hatte mich bisher ganz harmlos
mit dem jungen Mann unterhalten, ſo fing
der Hauptmann, mit einem unangenehmen
Ton, den ich ihm wohl kannte, zu ſticheln
an, auf das Taſſenpaar und auf dieſes und
jenes. Der Juͤngere, betroffen, ſuchte heiter
und verſtaͤndig auszuweichen, wie es unter
Menſchen von Lebensart die Gewohnheit iſt;
allein der Alte fuhr fort ſchonungslos unar¬
tig zu ſeyn, daß dem andern nichts uͤbrig
blieb, als Hut und Stock zu ergreifen, und
beym Abſchiede eine ziemlich unzweydeutige
Ausforderung zuruͤckzulaſſen. Nun brach die
Furie des Hauptmanns und um deſto hefti¬
ger los, als er in der Zwiſchenzeit noch eine
Flaſche Wein beynahe ganz allein ausgetrun¬
ken hatte. Er ſchlug mit der Fauſt auf den
Tiſch und rief mehr als einmal: den ſchlag
ich todt. Es war aber eigentlich ſo boͤs nicht
gemeynt, denn er gebrauchte dieſe Phraſe
mehrmals, wenn ihm Jemand widerſtand,
oder ſonſt misfiel. Eben ſo unerwartet ver¬
ſchlimmerte ſich die Sache auf dem Ruͤckweg:
denn ich hatte die Unvorſichtigkeit, ihm ſei¬
nen Undank gegen den jungen Mann vorzu¬
halten und ihn zu erinnern, wie ſehr er mir
die zuvorkommende Dienſtfertigkeit dieſes An¬
geſtellten geruͤhmt habe. Nein! ſolche Wuth
eines Menſchen gegen ſich ſelbſt iſt mir nie
wieder vorgekommen; es war die leidenſchaft¬
lichſte Schlußrede zu jenen Anfaͤngen, wozu
das huͤbſche Maͤdchen Anlaß gegeben hatte.
Hier ſah ich Reue und Buße bis zur Cari¬
catur getrieben, und, wie alle Leidenſchaft
das Genie erſetzt, wirklich genialiſch. Denn
er nahm die ſaͤmmtlichen Vorfallenheiten un¬
ſerer Nachmittagswanderung wieder auf, be¬
nutzte ſie redneriſch zur Selbſtſcheltung, ließ
zuletzt die Hexe nochmals gegen ſich auftre¬
ten, und verwirrte ſich dergeſtalt, daß ich
fuͤrchten mußte, er werde ſich in den Rhein
ſtuͤrzen. Waͤre ich ſicher geweſen, ihn, wie
Mentor ſeinen Telemach, ſchnell wieder auf¬
zufiſchen, ſo mochte er ſpringen, und ich haͤt¬
te ihn fuͤr dießmal abgekuͤhlt nach Hauſe ge¬
bracht.
Ich vertraute ſogleich die Sache Lerſen,
und wir gingen des andern Morgens zu dem
jungen Manne, den mein Freund, mit ſeiner
Trockenheit, zum Lachen brachte. Wir wur¬
den eins, ein ohngefaͤhres Zuſammentreffen
einzuleiten, wo eine Ausgleichung vor ſich ge¬
hen ſollte. Das Luſtigſte dabey war, daß
der Hauptmann, auch dießmal ſeine Unart
verſchlafen hatte, und zur Beguͤtigung des
jungen Mannes, dem auch an keinen Haͤn¬
deln gelegen war, ſich bereit finden ließ. Al¬
les war an einem Morgen abgethan, und
da die Begebenheit nicht ganz verſchwiegen
blieb, ſo entging ich nicht den Scherzen mei¬
ner Freunde, die mir aus eigner Erfahrung
haͤtten vorausſagen koͤnnen, wie laͤſtig mir ge¬
legentlich die Freundſchaft des Hauptmanns
werden duͤrfte.
Indem ich nun aber darauf ſinne, was
wohl zunaͤchſt weiter mitzutheilen waͤre, ſo
kommt mir, durch ein ſeltſames Spiel der
Erinnerung, das ehrwuͤrdige Muͤnſtergebaͤude
wieder in die Gedanken, dem ich gerade in
jenen Tagen eine beſondere Aufmerkſamkeit
widmete und welches uͤberhaupt in der Stadt
ſowohl als auf dem Lande ſich den Augen
beſtaͤndig darbietet.
Jemehr ich die Façade deſſelben betrach¬
tete, deſto mehr beſtaͤrkte und entwickelte ſich
jener erſte Eindruck, daß hier das Erhabene
mit dem Gefaͤlligen in Bund getreten ſey.
Soll das Ungeheuere, wenn es uns als Maſ¬
ſe entgegentritt, nicht erſchrecken, ſoll es nicht
verwirren, wenn wir ſein Einzelnes zu er¬
forſchen ſuchen: ſo muß es eine unnatuͤrliche,
ſcheinbar unmoͤgliche Verbindung eingehen, es
muß ſich das Angenehme zugeſellen. Da uns
nun aber allein moͤglich wird den Eindruck
des Muͤnſters auszuſprechen, wenn wir uns
jene beyden unvertraͤglichen Eigenſchaften ver¬
einigt denken; ſo ſehen wir ſchon hieraus, in
welchem hohen Werth wir dieſes alte Denk¬
mal zu halten haben, und beginnen mit Ernſt
eine Darſtellung, wie ſo widerſprechende Ele¬
mente ſich friedlich durchdringen und verbin¬
den konnten.
Vor allem widmen wir unſere Betrach¬
tungen, ohne noch an die Thuͤrme zu denken,
allein der Façade, die als ein aufrecht geſtell¬
tes laͤngliches Viereck unſern Augen maͤchtig
entgegnet. Naͤhern wir uns derſelben in der
Daͤmmerung, bey Mondſchein, bey ſtern¬
heller Nacht, wo die Theile mehr oder weni¬
ger undeutlich werden und zuletzt verſchwin¬
den; ſo ſehen wir nur eine coloſſale Wand,
deren Hoͤhe zur Breite ein wohlthaͤtiges Ver¬
haͤltniß hat. Betrachten wir ſie bey Tage
und abſtrahiren durch Kraft unſeres Geiſtes
vom Einzelnen; ſo erkennen wir die Vorder¬
ſeite eines Gebaͤudes, welche deſſen innere
Raͤume nicht allein zuſchließt, ſondern auch
manches Danebenliegende verdeckt. Die Oeff¬
nungen dieſer ungeheueren Flaͤche deuten auf
innere Beduͤrfniſſe, und nach dieſen koͤnnen
wir ſie ſogleich in neun Felder abtheilen. Die
große Mittelthuͤre, die auf das Schiff der
Kirche gerichtet iſt, faͤllt uns zuerſt in die
Augen. Zu beyden Seiten derſelben liegen
zwey kleinere, den Kreuzgaͤngen angehoͤrig.
Ueber der Hauptthuͤre trifft unſer Blick auf
das radfoͤrmige Fenſter, das in die Kirche
und deren Gewoͤlbe ein ahndungsvolles Licht
verbreiten ſoll. An den Seiten zeigen ſich
zwey große ſenkrechte, laͤnglichviereckte Oeff¬
nungen, welche mit der mittelſten bedeutend
contraſtiren und darauf hindeuten, daß ſie zu
der Baſe emporſtrebender Thuͤrme gehoͤren.
In dem dritten Stockwerke reihen ſich drey
Oeffnungen an einander, welche zu Glocken¬
ſtuͤhlen und ſonſtigen kirchlichen Beduͤrfniſſen
beſtimmt ſind. Zu oberſt ſieht man das
Ganze durch die Balluſtrade der Gallerie,
anſtatt eines Geſimſes, horizontal abgeſchloſ¬
ſen. Jene beſchriebenen neun Raͤume wer¬
den durch vier vom Boden aufſtrebende Pfei¬
ler geſtuͤtzt, eingefaßt und in drey große per¬
pendiculare Abtheilungen getrennt.
Wie man nun der ganzen Maſſe ein ſchoͤ¬
nes Verhaͤltniß der Hoͤhe zur Breite nicht
abſprechen kann, ſo erhaͤlt ſie auch durch die¬
ſe Pfeiler, durch die ſchlanken Eintheilungen
dazwiſchen, im Einzelnen etwas gleichmaͤßig
Leichtes.
Verharren wir aber bey unſerer Abſtrac¬
tion und denken uns dieſe ungeheuere Wand
ohne Zieraten mit feſten Strebepfeilern, in
derſelben die noͤthigen Oeffnungen, aber auch
nur in ſofern ſie das Beduͤrfniß fordert; ge¬
ſtehn wir auch dieſen Hauptabtheilungen gute
Verhaͤltniſſe zu: ſo wird das Ganze zwar
ernſt und wuͤrdig, aber doch immer noch
laͤſtig unerfreulich und als zierdelos unkuͤnſt¬
lich erſcheinen. Denn ein Kunſtwerk, deſſen
Ganzes in großen, einfachen, harmoniſchen
Theilen begriffen wird, macht wohl einen ed¬
len und wuͤrdigen Eindruck, aber der eigent¬
liche Genuß, den das Gefallen erzeugt, kann
nur bey Uebereinſtimmung aller entwickelten
Einzelnheiten ſtatt finden.
Hierin aber gerade befriedigt uns das Ge¬
baͤude, das wir betrachten, im hoͤchſten Gra¬
de: denn wir ſehen alle und jede Zieraten je¬
dem Theil, den ſie ſchmuͤcken, voͤllig ange¬
meſſen, ſie ſind ihm untergeordnet, ſie ſchei¬
nen aus ihm entſprungen. Eine ſolche Man¬
nigfaltigkeit giebt immer ein großes Behagen,
indem ſie ſich aus dem Gehoͤrigen herleitet
und deshalb zugleich das Gefuͤhl der Einheit
erregt, und nur in ſolchem Falle wird die
Ausfuͤhrung als Gipfel der Kunſt geprieſen.
Durch ſolche Mittel ſollte nun eine feſte
Mauer, eine undurchdringliche Wand, die
ſich noch dazu als Baſe zweyer himmelhohen
Thuͤrme anzukuͤndigen hatte, dem Auge zwar
als auf ſich ſelbſt ruhend, in ſich ſelbſt beſte¬
hend, aber auch dabey leicht und zierlich er¬
ſcheinen, und, obgleich tauſendfach durchbro¬
chen, den Begriff von unerſchuͤtterlicher Feſtig¬
keit geben.
Dieſes Raͤthſel iſt auf das gluͤcklichſte ge¬
loͤſt. Die Oeffnungen der Mauer, die ſoli¬
den Stellen derſelben, die Pfeiler, jedes hat
ſeinen beſonderen Character, der aus der eig¬
nen Beſtimmung hervortritt; dieſer communi¬
cirt ſich ſtufenweis den Unterabtheilungen, da¬
her alles im gemaͤßen Sinne verziert iſt, das
Große wie das Kleine ſich an der rechten
Stelle befindet, leicht gefaßt werden kann,
und ſo das Angenehme im Ungeheueren ſich
darſtellt. Ich erinnere nur an die perſpecti¬
viſch in die Mauerdicke ſich einſenkenden, bis
ins Unendliche an ihren Pfeilern und Spitz¬
bogen verzierten Thuͤren, an das Fenſter und
deſſen aus der runden Form entſpringende
Kunſtroſe, an das Profil ihrer Staͤbe, ſo
wie an die ſchlanken Rohrſaͤulen der perpen¬
dicularen Abtheilungen. Man vergegenwaͤrti¬
ge ſich die ſtufenweis zuruͤcktretenden Pfeiler,
von ſchlanken, gleichfalls in die Hoͤhe ſtreben¬
den, zum Schutz der Heiligenbilder baldachin¬
artig beſtimmten, leichtſaͤuligen Spitzgebaͤud¬
chen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe,
jeder Knopf als Blumenknauf und Blattrei¬
he, oder als irgend ein anderes im Stein¬
ſinn umgeformtes Naturgebilde erſcheint. Man
vergleiche das Gebaͤude, wo nicht ſelbſt, doch
Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen,
zu Beurtheilung und Belebung meiner Aus¬
ſage. Sie koͤnnte manchem uͤbertrieben ſchei¬
nen: denn ich ſelbſt, zwar im erſten Anblicke
zur Neigung gegen dieſes Werk hingeriſſen,
brauchte doch lange Zeit, mich mit ſeinem
Werth innig bekannt zu machen.
Unter Tadlern der gothiſchen Baukunſt
aufgewachſen, naͤhrte ich meine Abneigung ge¬
gen die vielfach uͤberladenen, verworrenen
Zieraten, die durch ihre Willkuͤhrlichkeit einen
religioͤs duͤſteren Character hoͤchſt widerwaͤrtig
machten; ich beſtaͤrkte mich in dieſem Unwil¬
len, da mir nur geiſtloſe Werke dieſer Art,
an denen man weder gute Verhaͤltniſſe, noch
eine reine Conſequenz gewahr wird, vors Ge¬
ſicht gekommen waren. Hier aber glaubte
ich eine neue Offenbarung zu erblicken, indem
mir jenes Tadelnswerthe keineswegs erſchien,
ſondern vielmehr das Gegentheil davon ſich
aufdrang.
Wie ich nun aber immer laͤnger ſah und
uͤberlegte, glaubte ich uͤber das Vorgeſagte
noch groͤßere Verdienſte zu entdecken. Her¬
ausgefunden war das richtige Verhaͤltniß der
groͤßeren Abtheilungen, die ſo ſinnige als rei¬
che Verzierung bis ins Kleinſte; nun aber
erkannte ich noch die Verknuͤpfung dieſer man¬
nigfaltigen Zieraten unter einander, die Hin¬
leitung von einem Haupttheile zum andern,
die Verſchraͤnkung zwar gleichartiger, aber
doch an Geſtalt hoͤchſt abwechſelnder Einzeln¬
heiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer,
vom Blatt bis zum Zacken. Jemehr ich un¬
terſuchte, deſto mehr gerieth ich in Erſtau¬
nen; jemehr ich mich mit Meſſen und Zeich¬
nen unterhielt und abmuͤdete, deſto mehr
wuchs meine Anhaͤnglichkeit, ſo daß ich viele
Zeit darauf verwendete, theils das Vorhan¬
dene zu ſtudiren, theils das Fehlende, Unvoll¬
endete, beſonders der Thuͤrme, in Gedanken
und auf dem Blatte wiederherzuſtellen.
Da ich nun an alter deutſcher Staͤtte die¬
ſes Gebaͤude gegruͤndet und in aͤchter deutſcher
Zeit ſo weit gediehen fand, auch der Name
des Meiſters auf dem beſcheidenen Grabſtein
gleichfalls vaterlaͤndiſchen Klanges und Ur¬
ſprungs war; ſo wagte ich, die bisher ver¬
rufene Benennung Gothiſche Bauart, aufge¬
fordert durch den Werth dieſes Kunſtwerks,
abzuaͤndern und ſie als deutſche Baukunſt un¬
ſerer Nation zu vindiciren, ſodann aber ver¬
fehlte ich nicht, erſt muͤndlich, und hernach
II. 27
in einem kleinen Aufſatz D. M. Erwini a
Steinbach gewidmet, meine patriotiſchen Ge¬
ſinnungen an den Tag zu legen.
Gelangt meine biographiſche Erzaͤhlung
zu der Epoche, in welcher gedachter Bogen
im Druck erſchien, den Herder ſodann in ſein
Heft, Von deutſcher Art und Kunſt,
aufnahm, ſo wird noch manches uͤber dieſen
wichtigen Gegenſtand zur Sprache kommen.
Ehe ich mich aber dießmal von demſelben ab¬
wende, ſo will ich die Gelegenheit benutzen,
um das dem gegenwaͤrtigen Bande vorgeſetzte
Motto bey denjenigen zu rechtfertigen, welche
einigen Zweifel daran hegen ſollten. Ich
weiß zwar recht gut, daß gegen das brave
und hoffnungsreiche altdeutſche Wort: Was
einer in der Jugend wuͤnſcht, hat er im Al¬
ter genug! manche umgekehrte Erfahrung an¬
zufuͤhren, manches daran zu deuteln ſeyn
moͤchte; aber auch viel Guͤnſtiges ſpricht da¬
fuͤr, und ich erklaͤre was ich dabey denke.
Unſere Wuͤnſche ſind Vorgefuͤhle der Faͤ¬
higkeiten, die in uns liegen, Vorboten desje¬
nigen, was wir zu leiſten im Stande ſeyn
werden. Was wir koͤnnen und moͤchten, ſtellt
ſich unſerer Einbildungskraft außer uns und
in der Zukunft dar; wir fuͤhlen eine Sehn¬
ſucht nach dem, was wir ſchon im Stillen
beſitzen. So verwandelt ein leidenſchaftliches
Vorausergreifen das wahrhaft Moͤgliche in
ein ertraͤumtes Wirkliche. Liegt nun eine ſol¬
che Richtung entſchieden in unſerer Natur,
ſo wird mit jedem Schritt unſerer Entwicke¬
lung ein Theil des erſten Wunſches erfuͤllt,
bey guͤnſtigen Umſtaͤnden auf dem geraden
Wege, bey unguͤnſtigen auf einem Umwege,
von dem wir immer wieder nach jenem ein¬
lenken. So ſieht man Menſchen durch Be¬
harrlichkeit zu irdiſchen Guͤtern gelangen, ſie
umgeben ſich mit Reichthum, Glanz und
aͤußerer Ehre. Andere ſtreben noch ſicherer
nach geiſtigen Vortheilen, erwerben ſich eine
klare Ueberſicht der Dinge, eine Beruhigung
27 *
des Gemuͤths und eine Sicherheit fuͤr die
Gegenwart und Zukunft.
Nun giebt es aber eine dritte Richtung,
die aus beyden gemiſcht iſt und deren Erfolg
am ſicherſten gelingen muß. Wenn naͤmlich
die Jugend des Menſchen in eine praͤgnante
Zeit trifft, wo das Hervorbringen das Zer¬
ſtoͤren uͤberwiegt, und in ihm das Vorgefuͤhl
bey Zeiten erwacht, was eine ſolche Epoche
fordre und verſpreche; ſo wird er, durch aͤu¬
ßere Anlaͤſſe zu thaͤtiger Theilnahme gedraͤngt,
bald da bald dorthin greifen, und der
Wunſch nach vielen Seiten wirkſam zu ſeyn
wird in ihm lebendig werden. Nun geſellen
ſich aber zur menſchlichen Beſchraͤnktheit noch
ſo viele zufaͤllige Hinderniſſe, daß hier ein
Begonnenes liegen bleibt, dort ein Ergriffenes
aus der Hand faͤllt, und ein Wunſch nach
dem andern ſich verzettelt. Waren aber dieſe
Wuͤnſche aus einem reinen Herzen entſprun¬
gen, dem Beduͤrfniß der Zeit gemaͤß; ſo darf
man ruhig rechts und links liegen und fallen
laſſen, und kann verſichert ſeyn, daß nicht
allein dieſes wieder aufgefunden und aufgeho¬
ben werden muß, ſondern daß auch noch gar
manches Verwandte, das man nie beruͤhrt,
ja woran man nie gedacht hat, zum Vor¬
ſchein kommen werde. Sehen wir nun waͤh¬
rend unſeres Lebensganges dasjenige von An¬
dern geleiſtet, wozu wir ſelbſt fruͤher einen
Beruf fuͤhlten, ihn aber, mit manchem An¬
dern, aufgeben mußten; dann tritt das ſchoͤ¬
ne Gefuͤhl ein, daß die Menſchheit zuſammen
erſt der wahre Menſch iſt, und daß der Ein¬
zelne nur froh und gluͤcklich ſeyn kann, wenn
er den Muth hat, ſich im Ganzen zu fuͤhlen.
Dieſe Betrachtung iſt hier recht am Pla¬
tze; denn wenn ich die Neigung bedenke, die
mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn
ich die Zeit berechne, die ich allein dem
Straßburger Muͤnſter gewidmet, die Aufmerk¬
ſamkeit, mit der ich ſpaͤterhin den Dom zu
Koͤlln und den zu Freyburg betrachtet und
den Werth dieſer Gebaͤude immer mehr em¬
pfunden; ſo koͤnnte ich mich tadeln, daß ich
ſie nachher ganz aus den Augen verloren,
ja, durch eine entwickeltere Kunſt angezogen,
voͤllig im Hintergrunde gelaſſen. Sehe ich
nun aber in der neuſten Zeit die Aufmerk¬
ſamkeit wieder auf jene Gegenſtaͤnde hinge¬
lenkt, Neigung, ja Leidenſchaft gegen ſie her¬
vortreten und bluͤhen, ſehe ich tuͤchtige junge
Leute, von ihr ergriffen, Kraͤfte, Zeit, Sorg¬
falt, Vermoͤgen dieſen Denkmalen einer ver¬
gangenen Welt ruͤckſichtlos widmen; ſo werde
ich mit Vergnuͤgen erinnert, daß das was
ich ſonſt wollte und wuͤnſchte einen Werth
hatte. Mit Zufriedenheit ſehe ich, wie man
nicht allein das von unſern Vorvordern Ge¬
leiſtete zu ſchaͤtzen weiß, ſondern wie man ſo¬
gar aus vorhandenen unausgefuͤhrten Anfaͤn¬
gen, wenigſtens im Bilde, die erſte Abſicht
darzuſtellen ſucht, um uns dadurch mit dem
Gedanken, welcher doch das Erſte und Letzte
alles Vornehmens bleibt, bekannt zu machen,
und eine verworren ſcheinende Vergangenheit
mit beſonnenem Ernſt aufzuklaͤren und zu be¬
leben ſtrebt. Vorzuͤglich belobe ich hier den
wackern Sulpiz Boiſſer é e, der unermuͤ¬
det beſchaͤftigt iſt, in einem praͤchtigen Kupfer¬
werke, den Koͤllniſchen Dom aufzuſtellen als
Muſterbild jener ungeheuren Conceptionen,
deren Sinn babyloniſch in den Himmel ſtreb¬
te, und die zu den irdiſchen Mitteln derge¬
ſtalt außer Verhaͤltniß waren, daß ſie noth¬
wendig in der Ausfuͤhrung ſtocken mußten.
Haben wir bisher geſtaunt, daß ſolche Bau¬
werke nur ſoweit gediehen, ſo werden wir
mit der groͤßten Bewunderung erfahren, was
eigentlich zu leiſten die Abſicht war.
Moͤchten doch litterariſch-artiſtiſche Unter¬
nehmungen dieſer Art durch alle, welche Kraft,
Vermoͤgen und Einfluß haben, gebuͤhrend be¬
foͤrdert werden, damit uns die große und rie¬
ſenmaͤßige Geſinnung unſerer Vorfahren zur
Anſchauung gelange und wir uns einen Be¬
griff machen koͤnnen von dem was ſie wollen
durften. Die hieraus entſpringende Einſicht
wird nicht unfruchtbar bleiben und das Ur¬
theil ſich endlich einmal mit Gerechtigkeit an
jenen Werken zu uͤben im Stande ſeyn. Ja
dieſes wird auf das gruͤndlichſte geſchehen,
wenn unſer thaͤtiger junger Freund, außer der
dem Koͤllniſchen Dome gewidmeten Mono¬
graphie, die Geſchichte der Baukunſt unſerer
Mittelzeit bis ins Einzelne verfolgt. Wird
ferner an den Tag gefoͤrdert was irgend uͤber
wertmaͤßige Ausuͤbung dieſer Kunſt zu erfah¬
ren iſt, wird ſie durch Vergleichung mit der
griechiſch-roͤmiſchen und der orientaliſch-aͤgyp¬
tiſchen in allen Grundzuͤgen dargeſtellt; ſo
kann in dieſem Fache wenig zu thun uͤbrig
bleiben. Ich aber werde, wenn die Reſul¬
tate ſolcher vaterlaͤndiſchen Bemuͤhungen oͤf¬
fentlich vorliegen, ſo wie jetzt bey freundlichen
Privatmittheilungen, mit wahrer Zufrieden¬
heit jenes Wort im beſten Sinne wiederho¬
len koͤnnen: Was man in der Jugend wuͤnſcht,
hat man im Alter genug.
Kann man aber bey ſolchen Wirkungen,
welche Jahrhunderten angehoͤren, ſich auf die
Zeit verlaſſen und die Gelegenheit erharren;
ſo giebt es dagegen andere Dinge, die in
der Jugend, friſch, wie reife Fruͤchte, weg¬
genoſſen werden muͤſſen. Es ſey mir erlaubt,
mit dieſer raſchen Wendung, des Tanzes zu
erwaͤhnen, an den das Ohr, ſo wie das
Auge an den Muͤnſter, jeden Tag, jede
Stunde in Straßburg, im Elſaß erinnert
wird. Von fruͤher Jugend an hatte mir und
meiner Schweſter der Vater ſelbſt im Tanzen
Unterricht gegeben, welches einen ſo ernſt¬
haften Mann wunderlich genug haͤtte kleiden
ſollen; allein er ließ ſich auch dabey nicht
aus der Faſſung bringen, unterwies uns auf
das beſtimmteſte in den Poſitionen und Schrit¬
ten, und als er uns weit genug gebracht
hatte, um eine Menuet zu tanzen, ſo blies
er auf einer Flute-douce uns etwas Faßli¬
ches im Dreyviertel-Tact vor, und wir be¬
wegten uns darnach ſo gut wir konnten. Auf
dem franzoͤſiſchen Theater hatte ich gleichfalls
von Jugend auf wo nicht Ballette doch So¬
lo's und Pas-de-deux geſehn und mir davon
mancherley wunderliche Bewegungen der Fuͤſſe
und allerley Spruͤnge gemerkt. Wenn wir nun
der Menuet genug hatten, ſo erſuchte ich den
Vater um andere Tanzmuſiken, dergleichen die
Notenbuͤcher in ihren Giguen und Murkis
reichlich darboten; und ich erfand mir ſo¬
gleich die Schritte und uͤbrigen Bewegun¬
gen dazu, indem der Tact meinen Gliedern
ganz gemaͤß und mit denſelben geboren war.
Dieß beluſtigte meinen Vater bis auf einen
gewiſſen Grad, ja er machte ſich und uns
manchmal den Spaß, die Affen auf dieſe
Weiſe tanzen zu laſſen. Nach meinem Un¬
fall mit Gretchen und waͤhrend meines gan¬
zen Aufenthalts in Leipzig kam ich nicht
wieder auf den Plan; vielmehr weiß ich
noch, daß, als man mich auf einem Balle
zu einer Menuet noͤthigte, Tact und Be¬
wegung aus meinen Gliedern gewichen
ſchien, und ich mich weder der Schritte
noch der Figuren mehr erinnerte; ſo daß ich
mit Schimpf und Schanden beſtanden waͤre,
wenn nicht der groͤßere Theil der Zuſchauer
behauptet haͤtte, mein ungeſchicktes Betragen
ſey bloßer Eigenſinn, in der Abſicht den
Frauenzimmern alle Luſt zu benehmen, mich
wider Willen aufzufordern und in ihre Rei¬
hen zu ziehen.
Waͤhrend meines Aufenthalts in Frank¬
furt war ich von ſolchen Freuden ganz abge¬
ſchnitten; aber in Straßburg regte ſich bald,
mit der uͤbrigen Lebensluſt, die Tactfaͤhig¬
keit meiner Glieder. An Sonn- und Wer¬
keltagen ſchlenderte man keinen Luſtort vorbey,
ohne daſelbſt einen froͤhlichen Haufen zum
Tanze verſammelt, und zwar meiſtens im Krei¬
ſe drehend zu finden. Ingleichen waren auf
den Landhaͤuſern Privat-Baͤlle, und man
ſprach ſchon von den brillanten Redouten des
zukommenden Winters. Hier waͤre ich nun
freylich nicht an meinem Platz und der Ge¬
ſellſchaft unnuͤtz geweſen; da rieth mir ein
Freund, der ſehr gut walzte, mich erſt in
minder guten Geſellſchaften zu uͤben, damit
ich hernach in der beſten etwas gelten koͤnn¬
te. Er brachte mich zu einem Tanzmeiſter,
der fuͤr geſchickt bekannt war; dieſer verſprach
mir, wenn ich nur einigermaßen die erſten
Anfangsgruͤnde wiederholt und mir zu eigen
gemacht haͤtte, mich dann weiter zu leiten.
Er war eine von den trockenen gewandten
franzoͤſiſchen Naturen, und nahm mich freund¬
lich auf. Ich zahlte ihm den Monat vor¬
aus, und erhielt zwoͤlf Billette, gegen die
er mir gewiſſe Stunden Unterricht zuſagte.
Der Mann war ſtreng, genau, aber nicht
pedantiſch; und da ich ſchon einige Vor¬
uͤbung hatte, ſo machte ich es ihm bald zu
Danke und erhielt ſeinen Beyfall.
Den Unterricht dieſes Lehrers erleichterte
jedoch ein Umſtand gar ſehr: er hatte naͤm¬
lich zwey Toͤchter, beyde huͤbſch und noch un¬
ter zwanzig Jahren. Von Jugend auf in
dieſer Kunſt unterrichtet zeigten ſie ſich darin
ſehr gewandt und haͤtten als Moitie auch
dem ungeſchickteſten Scholaren bald zu eini¬
ger Bildung verhelfen koͤnnen. Sie waren
beyde ſehr artig, ſprachen nur franzoͤſiſch,
und ich nahm mich von meiner Seite zuſam¬
men, um vor ihnen nicht linkiſch und laͤcher¬
lich zu erſcheinen. Ich hatte das Gluͤck, daß
auch ſie mich lobten, immer willig waren,
nach der kleinen Geige des Vaters eine Me¬
nuet zu tanzen, ja ſogar, was ihnen freylich
beſchwerlicher ward, mir nach und nach das
Walzen und Drehen einzulernen. Uebrigens
ſchien der Vater nicht viele Kunden zu haben,
und ſie fuͤhrten ein einſames Leben. Des¬
halb erſuchten ſie mich manchmal nach der
Stunde bey ihnen zu bleiben und die Zeit
ein wenig zu verſchwaͤtzen; das ich denn auch
ganz gerne that, um ſo mehr als die juͤn¬
gere mir wohl gefiel und ſie ſich uͤberhaupt
ſehr anſtaͤndig betrugen. Ich las manchmal
aus einem Roman etwas vor, und ſie tha¬
ten das Gleiche. Die aͤltere, die ſo huͤbſch,
vielleicht noch huͤbſcher war als die zweyte,
mir aber nicht ſo gut wie dieſe zuſagte, be¬
trug ſich durchaus gegen mich verbindlicher
und in allem gefaͤlliger. Sie war in der
Stunde immer bey der Hand und zog ſie
manchmal in die Laͤnge; daher ich mich eini¬
gemal verpflichtet glaubte, dem Vater zwey
Billette anzubieten, die er jedoch nicht an¬
nahm. Die juͤngere hingegen, ob ſie gleich
nicht unfreundlich gegen mich that, war doch
eher ſtill fuͤr ſich, und ließ ſich durch den
Vater herbeyrufen, um die aͤltere abzuloͤſen.
Die Urſache davon ward mir eines Abends
deutlich. Denn als ich mit der aͤlteſten, nach
vollendetem Tanz, in das Wohnzimmer gehen
wollte, hielt ſie mich zuruͤck und ſagte: Blei¬
ben wir noch ein wenig hier; denn ich will
es Ihnen nur geſtehen, meine Schweſter
hat eine Kartenſchlaͤgerinn bey ſich, die ihr
offenbaren ſoll, wie es mit einem auswaͤrti¬
gen Freund beſchaffen iſt, an dem ihr gan¬
zes Herz haͤngt, auf den ſie alle ihre Hoff¬
nung geſetzt hat. Das meinige iſt frey, fuhr
ſie fort, und ich werde mich gewoͤhnen muͤſ¬
ſen, es verſchmaͤht zu ſehen. Ich ſagte ihr
darauf einige Artigkeiten, indem ich verſetzte,
daß ſie ſich, wie es damit ſtehe, am erſten
uͤberzeugen koͤnne, wenn ſie die weiſe Frau
gleichfalls befragte; ich wolle es auch thun,
denn ich haͤtte ſchon laͤngſt ſo etwas zu erfah¬
ren gewuͤnſcht, woran mir bisher der Glau¬
be gefehlt habe. Sie tadelte mich deshalb
und betheuerte, daß nichts in der Welt ſich¬
rer ſey, als die Ausſpruͤche dieſes Orakels,
nur muͤſſe man es nicht aus Scherz und Fre¬
vel, ſondern nur in wahren Anliegenheiten
befragen. Ich noͤthigte ſie jedoch zuletzt mit
mir in jenes Zimmer zu gehen, ſobald ſie
ſich verſichert hatte, daß die Function vorbey
ſey. Wir fanden die Schweſter ſehr aufge¬
raͤumt und auch gegen mich war ſie zuthu¬
licher als ſonſt, ſcherzhaft und beynahe geiſt¬
reich: denn da ſie eines abweſenden Freundes
ſicher geworden zu ſeyn ſchien, ſo mochte ſie
es fuͤr unverfaͤnglich halten, mit einem ge¬
genwaͤrtigen Freund ihrer Schweſter, denn
dafuͤr hielt ſie mich, ein wenig artig zu thun.
Der Alten wurde nun geſchmeichelt und
ihr gute Bezahlung zugeſagt, wenn ſie der
aͤlteren Schweſter und auch mir das Wahr¬
hafte ſagen wollte. Mit den gewoͤhnlichen
Vorbereitungen und Ceremonien legte ſie nun
ihren Kram aus, und zwar, um der Schoͤ¬
nen zuerſt zu weiſſagen. Sie betrachtete die
Lage der Karten ſorgfaͤltig, ſchien aber zu
ſtocken und wollte mit der Sprache nicht her¬
aus. — Ich ſehe ſchon, ſagte die juͤngere,
die mit der Auslegung einer ſolchen magiſchen
Tafel ſchon naͤher bekannt war, Ihr zaudert
und wollt meiner Schweſter nichts Unange¬
nehmes eroͤffnen; aber das iſt eine verwuͤnſch¬
te Karte! Die aͤltere wurde blaß, doch fa߬
te ſie ſich und ſagte: So ſprecht nur; es
wird ja den Kopf nicht koſten! Die Alte,
nach einem tiefen Seufzer, zeigte ihr nun
an, daß ſie liebe, daß ſie nicht geliebt wer¬
de, daß eine andere Perſon dazwiſchen ſtehe
und was dergleichen Dinge mehr waren.
Man ſah dem guten Maͤdchen die Verlegen¬
heit an. Die Alte glaubte die Sache wie¬
der etwas zu verbeſſern, indem ſie auf Brie¬
fe und Geld Hoffnung machte. — Briefe,
ſagte das ſchoͤne Kind, erwarte ich nicht und
Geld mag ich nicht. Wenn es wahr iſt, wie
Ihr ſagt, daß ich liebe, ſo verdiene ich ein
Herz das mich wieder liebt. — Wir wol¬
len ſehen, ob es nicht beſſer wird, verſetzte
die Alte, indem ſie die Karten miſchte und
zum zweyten Mal auflegte; allein es war
vor unſer aller Augen nur noch ſchlimmer ge¬
worden. Die Schoͤne ſtand nicht allein ein¬
II. 28
ſamer, ſondern auch mit mancherley Verdruß
umgeben; der Freund war etwas weiter und
die Zwiſchenfiguren naͤher geruͤckt. Die Alte
wollte zum dritten Mal auslegen, in Hoff¬
nung einer beſſern Anſicht; allein das ſchoͤne
Kind hielt ſich nicht laͤnger, ſie brach in un¬
baͤndiges Weinen aus, ihr holder Buſen be¬
wegte ſich auf eine gewaltſame Weiſe, ſie
wandte ſich um und rannte zum Zimmer hin¬
aus. Ich wußte nicht was ich thun ſollte.
Die Neigung hielt mich bey der Gegenwaͤr¬
tigen, das Mitleid trieb mich zu jener;
meine Lage war peinlich genug. — Troͤſten
Sie Lucinden, ſagte die juͤngere, gehen Sie
ihr nach. Ich zauderte; wie durfte ich ſie
troͤſten, ohne ſie wenigſtens einer Art von Nei¬
gung zu verſichern, und konnte das wohl
in einem ſolchen Augenblick auf eine kalte
maͤßige Weiſe! — Laſſen Sie uns zuſammen
gehn, ſagte ich zu Emilien. — Ich weiß
nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl thun
wird, verſetzte dieſe. Doch gingen wir, fan¬
den aber die Thuͤr verriegelt. Lucinde ant¬
wortete nicht, wir mochten pochen, rufen,
bitten wie wir wollten. — Wir muͤſſen ſie
gewaͤhren laſſen, ſagte Emilie, ſie will nun
nicht anders! Und wenn ich mir freylich ihr
Weſen von unſerer erſten Bekanntſchaft an
erinnerte, ſo hatte ſie immer etwas Heftiges
und Ungleiches, und ihre Neigung zu mir
zeigte ſie am meiſten dadurch, daß ſie ihre
Unart nicht an mir bewies. Was wollte ich
thun! Ich zahlte die Alte reichlich fuͤr das
Unheil, das ſie geſtiftet hatte, und wollte
gehen, als Emilie ſagte: Ich bedinge mir,
daß die Karte nun auch auf Sie geſchlagen
werde. Die Alte war bereit. — Laſſen Sie
mich nicht dabey ſeyn! rief ich, und eilte die
Treppe hinunter.
Den andern Tag hatte ich nicht Muth
hinzugehen. Den dritten ließ mir Emilie
durch einen Knaben, der mir ſchon manche
Botſchaft von den Schweſtern gebracht und
28 *
Blumen und Fruͤchte dagegen an ſie getragen
hatte, in aller Fruͤhe ſagen, ich moͤchte heute
ja nicht fehlen. Ich kam zur gewoͤhnlichen
Stunde und fand den Vater allein, der an
meinen Tritten und Schritten, an meinem
Gehen und Kommen, an meinem Tragen und
Behaben noch manches ausbeſſerte und uͤbri¬
gens mit mir zufrieden ſchien. Die juͤngſte
kam gegen das Ende der Stunde und tanzte
mit mir eine ſehr grazioͤſe Menuet, in der ſie
ſich außerordentlich angenehm bewegte, und
der Vater verſicherte, nicht leicht ein huͤbſche¬
res und gewandteres Paar auf ſeinem Plane
geſehen zu haben. Nach der Stunde ging
ich wie gewoͤhnlich ins Wohnzimmer; der Va¬
ter ließ uns allein, ich vermißte Lucinden. —
Sie liegt im Bette, ſagte Emilie, und ich
ſehe es gern: haben Sie deshalb keine Sor¬
ge. Ihre Seelenkrankheit lindert ſich am er¬
ſten, wenn ſie ſich koͤrperlich fuͤr krank haͤlt;
ſterben mag ſie nicht gern, und ſo thut ſie als¬
dann was wir wollen. Wir haben gewiſſe
Hausmittel, die ſie zu ſich nimmt und aus¬
ruht; und ſo legen ſich nach und nach die
tobenden Wellen. Sie iſt gar zu gut und
liebenswuͤrdig bey ſo einer eingebildeten Krank¬
heit, und da ſie ſich im Grunde recht wohl
befindet und nur von Leidenſchaft angegriffen
iſt, ſo ſinnt ſie ſich allerhand romanenhafte
Todesarten aus, vor denen ſie ſich auf eine
angenehme Weiſe fuͤrchtet, wie Kinder, denen
man von Geſpenſtern erzaͤhlt. So hat ſie
mir geſtern Abend noch mit großer Heftigkeit
erklaͤrt, daß ſie dießmal gewiß ſterben wuͤrde,
und man ſollte den undankbaren falſchen
Freund, der ihr erſt ſo ſchoͤn gethan und ſie
nun ſo uͤbel behandle, nur dann wieder zu
ihr fuͤhren, wenn ſie wirklich ganz nahe am
Tode ſey: ſie wolle ihm recht bittre Vorwuͤr¬
fe machen und auch ſogleich den Geiſt auf¬
geben. — Ich weiß mich nicht ſchuldig! rief
ich aus, daß ich irgend eine Neigung zu ihr
geaͤußert. Ich kenne Jemand, der mir dieſes
Zeugniß am beſten ertheilen kann. Emilie
laͤchelte und verſetzte: Ich verſtehe Sie, und
wenn wir nicht klug und entſchloſſen ſind ſo
kommen wir alle zuſammen in eine uͤble Lage.
Was werden Sie ſagen, wenn ich Sie erſuche,
Ihre Stunden nicht weiter fortzuſetzen? Sie
haben von dem letzten Monat allenfalls noch
vier Billette, und mein Vater aͤußerte ſchon,
daß er es unverantwortlich finde, Ihnen noch
laͤnger Geld abzunehmen: es muͤßte denn ſeyn,
daß Sie ſich der Tanzkunſt auf eine ernſtlichere
Weiſe widmen wollten; was ein junger Mann
in der Welt brauchte, beſaßen Sie nun. —
Und dieſen Rath, Ihr Haus zu meiden, ge¬
ben Sie mir, Emilie? verſetzte ich. — Eben
ich, ſagte ſie, aber nicht aus mir ſelbſt. Hoͤ¬
ren Sie nur. Als Sie vorgeſtern wegeilten,
ließ ich die Karte auf Sie ſchlagen, und der¬
ſelbe Ausſpruch wiederholte ſich dreymal und
immer ſtaͤrker. Sie waren umgeben von al¬
lerley Gutem und Vergnuͤglichen, von Freun¬
den und großen Herren, an Geld fehlte es
auch nicht. Die Frauen hielten ſich in eini¬
ger Entfernung. Meine arme Schweſter be¬
ſonders ſtand immer am weiteſten; eine an¬
dere ruͤckte Ihnen immer naͤher, kam aber
nie an Ihre Seite: denn es ſtellte ſich ein
Dritter dazwiſchen. Ich will Ihnen nur ge¬
ſtehen, daß ich mich unter der zweyten Dame
gedacht hatte, und nach dieſem Bekenntniſſe
werden Sie meinen wohlmeynenden Rath am
beſten begreifen. Einem entfernten Freund
habe ich mein Herz und meine Hand zugeſagt,
und bis jetzt liebt' ich ihn uͤber alles; doch
es waͤre moͤglich, daß Ihre Gegenwart mir
bedeutender wuͤrde als bisher, und was wuͤr¬
den Sie fuͤr einen Stand zwiſchen zwey
Schweſtern haben, davon Sie die eine durch
Neigung und die andere durch Kaͤlte ungluͤck¬
lich gemacht haͤtten, und alle dieſe Qual um
nichts und auf kurze Zeit. Denn wenn wir
nicht ſchon wuͤßten, wer Sie ſind und was Sie
zu hoffen haben, ſo haͤtte mir es die Karte
aufs deutlichſte vor Augen geſtellt. Leben Sie
wohl, ſagte ſie, und reichte mir die Hand.
Ich zauderte. — Nun ſagte ſie, indem ſie
mich gegen die Thuͤre fuͤhrte, damit es
wirklich das letzte Mal ſey, daß wir uns
ſprechen, ſo nehmen Sie was ich Ihnen ſonſt
verſagen wuͤrde. Sie fiel mir um den Hals
und kuͤßte mich aufs zaͤrtlichſte. Ich umfaßte
ſie und druͤckte ſie an mich.
In dieſem Augenblicke flog die Seitenthuͤr
auf, und die Schweſter ſprang in einem leich¬
ten aber anſtaͤndigen Nachtkleide hervor und
rief: Du ſollſt nicht allein von ihm Abſchied
nehmen! Emilie ließ mich fahren und Lucin¬
de ergriff mich, ſchloß ſich feſt an mein Herz,
druͤckte ihre ſchwarzen Locken an meine Wan¬
gen und blieb eine Zeit lang in dieſer Lage.
Und ſo fand ich mich denn in der Klemme
zwiſchen beyden Schweſtern, wie mir's Emi¬
lie einen Augenblick vorher geweiſſagt hatte.
Lucinde ließ mich los und ſah mir ernſt ins
Geſicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und
ihr etwas Freundliches ſagen; allein ſie wand¬
te ſich weg, ging mit ſtarken Schritten eini¬
gemal im Zimmer auf und ab und warf ſich
dann in die Ecke des Sopha's. Emilie trat
zu ihr, ward aber ſogleich weggewieſen, und
hier entſtand eine Scene, die mir noch in der
Erinnerung peinlich iſt, und die, ob ſie gleich
in der Wirklichkeit nichts Theatraliſches hatte,
ſondern einer lebhaften jungen Franzoͤſinn
ganz angemeſſen war, dennoch nur von einer
guten empfindenden Schauſpielerinn auf dem
Theater wuͤrdig wiederholt werden koͤnnte.
Lucinde uͤberhaͤufte ihre Schweſter mit
tauſend Vorwuͤrfen. Es iſt nicht das erſte
Herz, rief ſie aus, das ſich zu mir neigt,
und das Du mir entwendeſt. War es doch
mit dem Abweſenden eben ſo, der ſich zuletzt
unter meinen Augen mit Dir verlobte. Ich
mußte es anſehen, ich ertrug's; ich weiß
aber wie viele tauſend Thraͤnen es mich ge¬
koſtet hat. Dieſen haſt Du mir nun auch
weggefangen, ohne jenen fahren zu laſſen,
und wie viele verſtehſt Du nicht auf einmal
zu halten. Ich bin offen und gutmuͤthig,
und Jedermann glaubt mich bald zu kennen
und mich vernachlaͤſſigen zu duͤrfen; Du biſt
verſteckt und ſtill, und die Leute glauben
Wunder was hinter dir verborgen ſey. Aber
es iſt nichts dahinter als ein kaltes, ſelbſti¬
ſches Herz, das ſich alles aufzuopfern weiß;
das aber kennt Niemand ſo leicht, weil es
tief in Deiner Bruſt verborgen liegt, ſo wenig
als mein warmes treues Herz, das ich offen
trage, wie mein Geſicht.
Emilie ſchwieg und hatte ſich neben ihre
Schweſter geſetzt, die ſich im Reden immer
mehr erhitzte, und ſich uͤber gewiſſe beſondere
Dinge herausließ, die mir zu wiſſen eigent¬
lich nicht frommte. Emilie dagegen, die ih¬
re Schweſter zu beguͤtigen ſuchte, gab mir
hinterwaͤrts ein Zeichen, daß ich mich ent¬
fernen ſollte; aber wie Eiferſucht und Arg¬
wohn mit tauſend Augen ſehen, ſo ſchien
auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie
ſprang auf und ging auf mich los, aber
nicht mit Heftigkeit. Sie ſtand vor mir und
ſchien auf etwas zu ſinnen. Drauf ſagte ſie:
Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich
mache keine weitern Anſpruͤche auf Sie. Aber
Du ſollſt ihn auch nicht haben, Schweſter!
Sie faßte mich mit dieſen Worten ganz ei¬
gentlich beym Kopf, indem ſie mir mit bey¬
den Haͤnden in die Locken fuhr, mein Ge¬
ſicht an das ihre druͤckte und mich zu wieder¬
holten Malen auf den Mund kuͤßte. Nun,
rief ſie aus, fuͤrchte meine Verwuͤnſchung.
Ungluͤck uͤber Ungluͤck fuͤr immer und immer
auf diejenige, die zum erſten Male nach mir
dieſe Lippen kuͤßt! Wage es nun wieder mit
ihm anzubinden; ich weiß, der Himmel er¬
hoͤrt mich dießmal. Und Sie, mein Herr,
eilen Sie nun, eilen Sie was Sie koͤnnen!
Ich flog die Treppe hinunter mit dem
feſten Vorſatze, das Haus nie wieder zu be¬
treten.
Zehntes Buch.
Die deutſchen Dichter, da ſie nicht mehr
als Gildeglieder fuͤr Einen Mann ſtanden,
genoſſen in der buͤrgerlichen Welt nicht der
mindeſten Vortheile. Sie hatten weder Halt,
Stand noch Anſehn, als in ſofern ſonſt ein
Verhaͤltniß ihnen guͤnſtig war, und es kam
daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent
zu Ehren oder Schanden geboren ſeyn ſollte.
Ein armer Erdenſohn, im Gefuͤhl von Geiſt
und Faͤhigkeiten, mußte ſich kuͤmmerlich ins
Leben hineinſchleppen und die Gabe, die
er allenfalls von den Muſen erhalten hatte,
von dem augenblicklichen Beduͤrfniß gedraͤngt,
vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die er¬
ſte und aͤchteſte aller Dichtarten, ward ver¬
aͤchtlich auf einen Grad, daß die Nation
noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen
Werthes deſſelben gelangen kann, und ein
Poet, wenn er nicht gar den Weg Guͤn¬
thers einſchlug, erſchien in der Welt auf die
traurigſte Weiſe ſubordinirt, als Spaßmacher
und Schmarutzer, ſo daß er ſowohl auf dem
Theater als auf der Lebensbuͤhne eine Figur
vorſtellte, der man nach Belieben mitſpie¬
len konnte.
Geſellte ſich hingegen die Muſe zu Maͤn¬
nern von Anſehen, ſo erhielten dieſe dadurch
einen Glanz, der auf die Geberinn zuruͤck¬
fiel. Lebensgewandte Edelleute, wie Hage¬
dorn, ſtattliche Buͤrger, wie Brockes, ent¬
ſchiedene Gelehrte, wie Haller, erſchienen
unter den Erſten der Nation, den Vornehm¬
ſten und Geſchaͤtzteſten gleich. Beſonders wur¬
den auch ſolche Perſonen verehrt, die, ne¬
ben jenem angenehmen Talente, ſich noch als
emſige, treue Geſchaͤftsmaͤnner auszeichneten.
Deshalb erfreuten ſich Uz, Rabener, Weiße
einer Achtung ganz eigner Art, weil man
die heterogenſten, ſelten mit einander ver¬
bundenen Eigenſchaften hier vereint zu ſchaͤ¬
tzen hatte.
Nun ſollte aber die Zeit kommen, wo
das Dichtergenie ſich ſelbſt gewahr wuͤrde,
ſich ſeine eignen Verhaͤltniſſe ſelbſt ſchuͤfe und
den Grund zu einer unabhaͤngigen Wuͤrde
zu legen verſtuͤnde. Alles traf in Klopſtock
zuſammen, um eine ſolche Epoche zu begruͤn¬
den. Er war, von der ſinnlichen wie von
der ſittlichen Seite betrachtet, ein reiner Juͤng¬
ling. Ernſt und gruͤndlich erzogen legt er,
von Jugend an, einen großen Werth auf
ſich ſelbſt und auf alles was er thut, und
indem er die Schritte ſeines Lebens bedaͤch¬
tig vorausmißt, wendet er ſich, im Vorge¬
fuͤhl der ganzen Kraft ſeines Innern, gegen
den hoͤchſten denkbaren Gegenſtand. Der
Meſſias, ein Name, der unendliche Ei¬
genſchaften bezeichnet, ſollte durch ihn aufs
Neue verherrlicht werden. Der Erloͤſer ſollte
II. 29
der Held ſeyn, den er, durch irdiſche Ge¬
meinheit und Leiden, zu den hoͤchſten himm¬
liſchen Triumphen zu begleiten gedachte. Al¬
les was Goͤttliches, Engliſches, Menſchli¬
ches in der jungen Seele lag, ward hier in
Anſpruch genommen. Er, an der Bibel er¬
zogen und durch ihre Kraft genaͤhrt, lebt
nun mit Erzvaͤtern, Propheten und Vorlaͤu¬
fern als Gegenwaͤrtigen; doch alle ſind ſeit
Jahrhunderten nur dazu berufen, einen lich¬
ten Kreis um den Einen zu ziehn, deſſen
Erniedrigung ſie mit Staunen beſchauen, und
an deſſen Verherrlichung ſie glorreich Theil
nehmen ſollen. Denn endlich, nach truͤben
und ſchrecklichen Stunden, wird der ewige
Richter ſein Antlitz entwoͤlken, ſeinen Sohn
und Mitgott wieder anerkennen, und dieſer
wird ihm dagegen die abgewendeten Men¬
ſchen, ja ſogar einen abgefallenen Geiſt wie¬
der zufuͤhren. Die lebendigen Himmel jauch¬
zen in tauſend Engelſtimmen um den Thron,
und ein Liebesglanz uͤbergießt das Weltall,
das ſeinen Blick kurz vorher auf eine graͤu¬
liche Opferſtaͤtte geſammelt hielt. Der himm¬
liſche Friede, welchen Klopſtock bey Concep¬
tion und Ausfuͤhrung dieſes Gedichtes em¬
pfunden, theilt ſich noch jetzt einem Jeden
mit, der die erſten zehn Geſaͤnge lieſt, ohne
die Forderungen bey ſich laut werden zu laſ¬
ſen, auf die eine fortruckende Bildung nicht
gerne Verzicht thut.
Die Wuͤrde des Gegenſtands erhoͤhte dem
Dichter das Gefuͤhl eigner Perſoͤnlichkeit. Daß
er ſelbſt dereinſt zu dieſen Choͤren eintreten,
daß der Gottmenſch ihn auszeichnen, ihm
von Angeſicht zu Angeſicht den Dank fuͤr ſei¬
ne Bemuͤhungen abtragen wuͤrde, den ihm
ſchon hier jedes gefuͤhlvolle, fromme Herz,
durch manche reine Zaͤhre, lieblich genug ent¬
richtet hatte: dieß waren ſo unſchuldige kind¬
liche Geſinnungen und Hoffnungen, als ſie
nur ein wohlgeſchaffenes Gemuͤth haben und
hegen kann. So erwarb nun Klopſtock das
29 *
voͤllige Recht, ſich als eine geheiligte Perſon
anzuſehn, und ſo befliß er ſich auch in ſei¬
nem Thun der aufmerkſamſten Reinigkeit. Noch
in ſpaͤtem Alter beunruhigte es ihn ungemein,
daß er ſeine erſte Liebe einem Frauenzimmer
zugewendet hatte, die ihn, da ſie einen An¬
dern heiratete, in Ungewißheit ließ, ob ſie
ihn wirklich geliebt habe, ob ſie ſeiner werth
geweſen ſey. Die Geſinnungen, die ihn mit
Meta verbanden, dieſe innige, ruhige Nei¬
gung, der kurze, heilige Eheſtand, des uͤber¬
bliebenen Gatten Abneigung vor einer zwey¬
ten Verbindung, alles iſt von der Art, um
ſich deſſelben einſt im Kreiſe der Seligen
wohl wieder erinnern zu duͤrfen.
Dieſes ehrenhafte Verfahren gegen ſich
ſelbſt ward noch dadurch erhoͤht, daß er in
dem wohlgeſinnten Daͤnemark, in dem Hau¬
ſe eines großen, und auch menſchlich betrach¬
tet, fuͤrtrefflichen Staatsmanns eine Zeit lang
wohl aufgenommen war. Hier, in einem
hoͤheren Kreiſe, der zwar in ſich abgeſchloſ¬
ſen, aber auch zugleich der aͤußeren Sitte,
der Aufmerkſamkeit gegen die Welt gewidmet
war, entſchied ſich ſeine Richtung noch mehr.
Ein gefaßtes Betragen, eine abgemeſſene Re¬
de, ein Laconismus, ſelbſt wenn er offen
und entſcheidend ſprach, gaben ihm durch
ſein ganzes Leben ein gewiſſes diplomati¬
ſches, miniſterielles Anſehn, das mit jenen
zarten Naturgeſinnungen im Widerſtreit zu
liegen ſchien, obgleich beyde aus Einer Quel¬
le entſprangen. Von allem dieſen geben ſeine
erſten Werke ein reines Ab- und Vorbild,
und ſie mußten daher einen unglaublichen
Einfluß gewinnen. Daß er jedoch perſoͤnlich
Andere ſtrebende im Leben und Dichten ge¬
foͤrdert, iſt kaum als eine ſeiner entſchiede¬
nen Eigenſchaften zur Sprache gekommen.
Aber eben ein ſolches Foͤrderniß junger
Leute im litterariſchen Thun und Treiben,
eine Luſt, hoffnungsvolle, vom Gluͤck nicht
beguͤnſtigte Menſchen vorwaͤrts zu bringen und
ihnen den Weg zu erleichtern, hat einen
deutſchen Mann verherrlicht, der, in Abſicht
auf Wuͤrde die er ſich ſelbſt gab, wohl als
der Zweyte, in Abſicht aber auf lebendige
Wirkung, als der Erſte genannt werden darf.
Niemanden wird entgehen, daß hier Gleim
gemeynt ſey. Im Beſitz einer zwar dunkeln,
aber eintraͤglichen Stelle, wohnhaft an ei¬
nem wohlgelegenen, nicht allzugroßen, durch
militariſche, buͤrgerliche, litterariſche Betrieb¬
ſamkeit belebten Orte, von wo die Einkuͤnfte
einer großen und reichen Stiftung ausgingen,
nicht ohne daß ein Theil derſelben zum Vor¬
theil des Platzes zuruͤckblieb, fuͤhlte er einen
lebhaften productiven Trieb in ſich, der je¬
doch bey aller Staͤrke ihm nicht ganz genuͤg¬
te, deswegen er ſich einem andern vielleicht
maͤchtigern Triebe hingab, dem naͤmlich. An¬
dere etwas hervorbringen zu machen. Beyde
Thaͤtigkeiten flochten ſich waͤhrend ſeines gan¬
zen langen Lebens unablaͤſſig durch einander.
Er haͤtte eben ſowohl des Athemholens ent¬
behrt als des Dichtens und Schenkens, und,
indem er beduͤrftigen Talenten aller Art uͤber
fruͤhere oder ſpaͤtere Verlegenheiten hinaus
und dadurch wirklich der Litteratur zu Ehren
half, gewann er ſich ſo viele Freunde, Schuld¬
ner und Abhaͤngige, daß man ihm ſeine brei¬
te Poeſie gerne gelten ließ, weil man ihm
fuͤr die reichlichen Wohlthaten nichts zu er¬
wiedern vermochte als Duldung ſeiner Gedichte.
Jener hohe Begriff nun, den ſich beyde
Maͤnner von ihrem Werth bilden durften,
und wodurch Andere veranlaßt wurden, ſich
auch fuͤr etwas zu halten, hat im Oeffentli¬
chen und Geheimen ſehr große und ſchoͤne
Wirkungen hervorgebracht. Allein dieſes Be¬
wußtſeyn, ſo ehrwuͤrdig es iſt, fuͤhrte fuͤr
ſie ſelbſt, fuͤr ihre Umgebungen, ihre Zeit
ein eignes Uebel herbey. Darf man beyde
Maͤnner, nach ihren geiſtigen Wirkungen,
unbedenklich groß nennen, ſo blieben ſie ge¬
gen die Welt doch nur klein, und gegen ein
bewegteres Leben betrachtet, waren ihre aͤu¬
ßeren Verhaͤltniſſe nichtig. Der Tag iſt lang
und die Nacht dazu; man kann nicht im¬
mer dichten, thun oder geben; ihre Zeit
konnte nicht ausgefuͤllt werden, wie die der
Weltleute, Vornehmen und Reichen; ſie leg¬
ten daher auf ihre beſondern engen Zuſtaͤnde
einen zu hohen Werth, in ihr taͤgliches Thun
und Treiben eine Wichtigkeit, die ſie ſich
nur unter einander zugeſtehn mochten; ſie
freuten ſich mehr als billig ihrer Scherze,
die, wenn ſie den Augenblick anmuthig mach¬
ten, doch in der Folge keineswegs fuͤr bedeu¬
tend gelten konnten. Sie empfingen von An¬
dern Lob und Ehre wie ſie verdienten, ſie
gaben ſolche zuruͤck, wohl mit Maß, aber
doch immer zu reichlich, und eben weil ſie
fuͤhlten, daß ihre Neigung viel werth ſey,
ſo gefielen ſie ſich, dieſelbe wiederholt aus¬
zudruͤcken, und ſchonten hierbey weder Pa¬
pier noch Dinte. So entſtanden jene Brief¬
wechſel, uͤber deren Gehaltsmangel die neue¬
re Welt ſich verwundert, der man nicht ver¬
argen kann, wenn ſie kaum die Moͤglichkeit
einſieht, wie vorzuͤgliche Menſchen ſich an
einer ſolchen Wechſelnichtigkeit ergetzen konn¬
ten, wenn ſie den Wunſch laut werden laͤßt,
dergleichen Blaͤtter moͤchten ungedruckt geblie¬
ben ſeyn. Allein man laſſe jene wenigen Baͤn¬
de doch immer neben ſo viel andern auf dem
Buͤcherbrette ſtehn, wenn man ſich daran
belehrt hat, daß der vorzuͤglichſte Menſch auch
nur vom Tage lebt und nur kuͤmmerlichen
Unterhalt genießt, wenn er ſich zu ſehr auf
ſich ſelbſt zuruͤckwirft und in die Fuͤlle der
aͤußeren Welt zu greifen verſaͤumt, wo er al¬
lein Nahrung fuͤr ſein Wachsthum und zu¬
gleich einen Maßſtab deſſelben finden kann.
Die Thaͤtigkeit jener Maͤnner ſtand in ihrer
ſchoͤnſten Bluͤthe, als wir jungen Leute uns
auch in unſerem Kreiſe zu regen anfingen,
und ich war ſo ziemlich auf dem Wege
mit juͤngeren Freunden, wo nicht auch mit
aͤlteren Perſonen, in ein ſolches wechſelſeiti¬
ges Schoͤnethun, Geltenlaſſen, Heben und
Tragen zu gerathen. In meiner Sphaͤre
konnte das was ich hervorbrachte immer fuͤr
gut gehalten werden. Frauenzimmer, Freun¬
de, Goͤnner werden nicht ſchlecht finden was
man ihnen zu Liebe unternimmt und dichtet;
aus ſolchen Verbindlichkeiten entſpringt zuletzt
der Ausdruck eines leeren Behagens an ein¬
ander, in deſſen Phraſen ſich ein Character
leicht verliert, wenn er nicht von Zeit zu Zeit
zu hoͤherer Tuͤchtigkeit geſtaͤhlt wird.
Und ſo hatte ich von Gluͤck zu ſagen,
daß, durch eine unerwartete Bekanntſchaft,
alles was in mir von Selbſtgefaͤlligkeit, Be¬
ſpiegelungsluſt, Eitelkeit, Stolz und Hoch¬
muth ruhen oder wirken mochte, einer ſehr
harten Pruͤfung ausgeſetzt ward, die in ihrer
Art einzig, der Zeit keineswegs gemaͤß, und
nur deſto eindringender und empfindlicher war.
Denn das bedeutendſte Ereigniß, was die
wichtigſten Folgen fuͤr mich haben ſollte, war
die Bekanntſchaft und die daran ſich knuͤpfen¬
de naͤhere Verbindung mit Herder. Er hat¬
te den Prinzen von Holſtein-Eutin, der
ſich in traurigen Gemuͤthszuſtaͤnden befand,
auf Reiſen begleitet und war mit ihm bis
Straßburg gekommen. Unſere Societaͤt, ſo¬
bald ſie ſeine Gegenwart vernahm, trug ein
großes Verlangen ſich ihm zu naͤhern, und
mir begegnete dieß Gluͤck zuerſt ganz un¬
vermuthet und zufaͤllig. Ich war naͤmlich in
den Gaſthof zum Geiſt gegangen, ich weiß
nicht welchen bedeutenden Fremden aufzuſu¬
chen. Gleich unten an der Treppe fand ich
einen Mann, der eben auch hinaufzuſteigen im
Begriff war, und den ich fuͤr einen Geiſtli¬
chen halten konnte. Sein gepudertes Haar
war in eine runde Locke aufgeſteckt, das
ſchwarze Kleid bezeichnete ihn gleichfalls, mehr
noch aber ein langer ſchwarzer ſeidner Mantel,
deſſen Ende er zuſammengenommen und in die
Taſche geſteckt hatte. Dieſes einigermaßen auf¬
fallende, aber doch im Ganzen galante und ge¬
faͤllige Weſen, wovon ich ſchon hatte ſprechen
hoͤren, ließ mich keineswegs zweifeln, daß er der
beruͤhmte Ankoͤmmling ſey, und meine Anrede
mußte ihn ſogleich uͤberzeugen, daß ich ihn
kenne. Er fragte nach meinem Namen, der
ihm von keiner Bedeutung ſeyn konnte; allein
meine Offenheit ſchien ihm zu gefallen, indem er
ſie mit großer Freundlichkeit erwiederte, und als
wir die Treppe hinaufſtiegen, ſich ſogleich zu
einer lebhaften Mittheilung bereit finden ließ.
Es iſt mir entfallen, wen wir damals beſuch¬
ten; genug, beym Scheiden bat ich mir die
Erlaubniß aus, ihn bey ſich zu ſehen, die er
mir denn auch freundlich genug ertheilte. Ich
verſaͤumte nicht, mich dieſer Verguͤnſtigung
wiederholt zu bedienen, und ward immer mehr
von ihm angezogen. Er hatte etwas Weiches
in ſeinem Betragen, das ſehr ſchicklich und
anſtaͤndig war, ohne daß es eigentlich adrett
geweſen waͤre. Ein rundes Geſicht, eine be¬
deutende Stirn, eine etwas ſtumpfe Naſe,
einen etwas aufgeworfenen, aber hoͤchſt indi¬
viduell angenehmen, liebenswuͤrdigen Mund.
Unter ſchwarzen Augenbrauen ein Paar kohl¬
ſchwarze Augen, die ihre Wirkung nicht ver¬
fehlten, obgleich das eine roth und entzuͤndet
zu ſeyn pflegte. Durch mannigfaltige Fragen
ſuchte er ſich mit mir und meinem Zuſtande
bekannt zu machen, und ſeine Anziehungskraft
wirkte immer ſtaͤrker auf mich. Ich war
uͤberhaupt ſehr zutraulicher Natur, und vor
ihm beſonders hatte ich gar kein Geheimniß.
Es waͤhrte jedoch nicht lange, als der abſto¬
ßende Puls ſeines Weſens eintrat und mich
in nicht geringes Misbehagen verſetzte. Ich
erzaͤhlte ihm mancherley von meinen Jugend¬
beſchaͤftigungen und Liebhabereyen, unter an¬
dern von einer Siegelſammlung, die ich haupt¬
ſaͤchlich durch des correſpondenzreichen Haus¬
freundes Theilnahme zuſammengebracht. Ich
hatte ſie nach dem Staats-Calender eingerich¬
tet, und war bey dieſer Gelegenheit mit
ſaͤmmtlichen Potentaten, groͤßern und gerin¬
gern Maͤchten und Gewalten, bis auf den
Adel herunter wohl bekannt geworden, und
meinem Gedaͤchtniß waren dieſe heraldiſchen
Zeichen gar oft, und vorzuͤglich bey der
Kroͤnungsfeyerlichkeit zu Statten gekommen.
Ich ſprach von dieſen Dingen mit einiger
Behaglichkeit; allein er war anderer Mey¬
nung, verwarf nicht allein dieſes ganze Inter¬
eſſe, ſondern wußte es mir auch laͤcherlich zu
machen, ja beynahe zu verleiden.
Von dieſem ſeinen Widerſprechungsgeiſte
ſollte ich noch gar manches ausſtehen: denn er
entſchloß ſich, theils weil er ſich vom Prinzen
abzuſondern gedachte, theils eines Augenuͤbels
wegen, in Straßburg zu verweilen. Dieſes
Uebel iſt eins der beſchwerlichſten und unange¬
nehmſten, und um deſto laͤſtiger, als es nur
durch eine ſchmerzliche, hoͤchſtverdrießliche und
unſichere Operation geheilt werden kann. Das
Thraͤnenſaͤckchen naͤmlich iſt nach unten zu ver¬
ſchloſſen, ſo daß die darin enthaltene Feuchtig¬
keit nicht nach der Naſe hin und um ſo weni¬
ger abfließen kann als auch dem benachbarten
Knochen die Oeffnung fehlt, wodurch dieſe
Secretion naturgemaͤß erfolgen ſollte. Der
Boden des Saͤckchens muß daher aufgeſchnit¬
ten und der Knochen durchbohrt werden; da
denn ein Pferdehaar durch den Thraͤnenpunct,
ferner durch das eroͤffnete Saͤckchen und durch
den damit in Verbindung geſetzten neuen Ca¬
nal gezogen und taͤglich hin und wieder be¬
wegt wird, um die Communication zwiſchen
beyden Theilen herzuſtellen, welches alles nicht
gethan noch erreicht werden kann, wenn nicht
erſt in jener Gegend aͤußerlich ein Einſchnitt
gemacht worden.
Herder war nun vom Prinzen getrennt,
in ein eignes Quartier gezogen, der Entſchluß
war gefaßt, ſich durch Lobſtein operiren zu
laſſen. Hier kamen mir jene Uebungen gut
zu Statten, durch die ich meine Empfindlich¬
keit abzuſtumpfen verſucht hatte; ich konnte der
Operation beywohnen und einem ſo werthen
Manne auf mancherley Weiſe dienſtlich und be¬
huͤfllich ſeyn. Hier fand ich nun alle Urſache,
ſeine große Standhaſtigkeit und Geduld zu
bewundern: denn weder bey den vielfachen
chirurgiſchen Verwundungen, noch bey dem
oftmals wiederholten ſchmerzlichen Verbande
bewies er ſich im mindeſten verdrießlich, und
er ſchien derjenige von uns zu ſeyn, der am
wenigſten litt; aber in der Zwiſchenzeit hatten
wir freylich den Wechſel ſeiner Laune vielfach
zu ertragen. Ich ſage wir: denn es war au¬
ßer mir ein behaglicher Ruſſe, Namens Peg¬
low, meiſtens um ihn. Dieſer war ein fruͤ¬
herer Bekannter von Herder in Riga gewe¬
ſen, und ſuchte ſich, obgleich kein Juͤngling
mehr, noch in der Chirurgie unter Lobſteins
Anleitung zu vervollkommnen. Herder konnte
allerliebſt einnehmend und geiſtreich ſeyn, aber
eben ſo leicht eine verdrießliche Seite hervor¬
kehren. Dieſes Anziehen und Abſtoßen haben
zwar alle Menſchen ihrer Natur nach, einige
mehr, einige weniger, einige in langſamern,
andere in ſchnelleren Pulſen; wenige koͤnnen
ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen,
viele zum Schein. Was Herdern betrifft, ſo
ſchrieb ſich das Uebergewicht ſeines widerſpre¬
chenden, bittern, biſſigen Humors gewiß von
ſeinem Uebel und den daraus entſpringenden
Leiden her. Dieſer Fall kommt im Leben oͤf¬
ters vor, und man beachtet nicht genug die
moraliſche Wirkung krankhafter Zuſtaͤnde, und
beurtheilt daher manche Charactere ſehr un¬
gerecht, weil man alle Menſchen fuͤr geſund
nimmt und von ihnen verlangt, daß ſie ſich
auch in ſolcher Maße betragen ſollen.
Die ganze Zeit dieſer Cur beſuchte ich
Herdern Morgens und Abends; ich blieb
auch wohl ganze Tage bey ihm und gewoͤhn¬
te mich in kurzem um ſo mehr an ſein Schel¬
ten und Tadeln, als ich ſeine ſchoͤnen und
großen Eigenſchaften, ſeine ausgebreiteten
II. 30
Kenntniſſe, ſeine tiefen Einſichten taͤglich mehr
ſchaͤtzen lernte. Die Einwirkung dieſes gut¬
muͤthigen Polterers war groß und bedeutend.
Er hatte fuͤnf Jahre mehr als ich, welches
in juͤngeren Tagen ſchon einen großen Unter¬
ſchied macht; und da ich ihn fuͤr das aner¬
kannte was er war, da ich dasjenige zu ſchaͤ¬
tzen ſuchte was er ſchon geleiſtet hatte, ſo
mußte er eine große Superioritaͤt uͤber mich
gewinnen. Aber behaglich war der Zuſtand
nicht: denn aͤltere Perſonen, mit denen ich
bisher umgegangen, hatten mich mit Scho¬
nung zu bilden geſucht, vielleicht auch durch
Nachgiebigkeit verzogen; von Herdern aber
konnte man niemals eine Billigung erwarten,
man mochte ſich anſtellen wie man wollte.
Indem nun alſo auf der einen Seite meine
große Neigung und Verehrung fuͤr ihn, und
auf der andern das Misbehagen, das er in
mir erweckte, beſtaͤndig mit einander im Streit
lagen; ſo entſtand ein Zwieſpalt in mir, der
erſte in ſeiner Art, den ich in meinem Leben
empfunden hatte. Da ſeine Geſpraͤche jeder¬
zeit bedeutend waren, er mochte fragen, ant¬
worten oder ſich ſonſt auf eine Weiſe mit¬
theilen; ſo mußte er mich zu neuen Anſich¬
ten taͤglich, ja ſtuͤndlich befoͤrdern. In Leip¬
zig hatte ich mir eher ein enges und abgezir¬
keltes Weſen angewoͤhnt, und meine allge¬
meinen Kenntniſſe der deutſchen Litteratur
konnten durch meinen Frankfurter Zuſtand
nicht erweitert werden; ja mich hatten jene
myſtiſch-religioͤſen chemiſchen Beſchaͤftigungen
in dunkle Regionen gefuͤhrt, und was ſeit ei¬
nigen Jahren in der weiten literariſchen Welt
vorgegangen, war mir meiſtens fremd geblie¬
ben. Nun wurde ich auf einmal durch Her¬
der mit allem neuen Streben und mit allen
den Richtungen bekannt, welche daſſelbe zu
nehmen ſchien. Er ſelbſt hatte ſich ſchon ge¬
nugſam beruͤhmt gemacht, und durch ſeine
Fragmente, die kritiſchen Waͤlder
und anderes unmittelbar an die Seite der vor¬
zuͤglichſten Maͤnner geſetzt, welche ſeit laͤnge¬
30 *
rer Zeit die Augen des Vaterlands auf ſich zo¬
gen. Was in einem ſolchen Geiſte fuͤr eine
Bewegung, was in einer ſolchen Natur fuͤr
eine Gaͤhrung muͤſſe geweſen ſeyn, laͤßt ſich
weder faſſen noch darſtellen. Groß aber war
gewiß das eingehuͤllte Streben, wie man leicht
eingeſtehn wird, wenn man bedenkt, wie vie¬
le Jahre nachher, und was er alles gewirkt
und geleiſtet hat.
Wir hatten nicht lange auf dieſe Weiſe
zuſammengelebt, als er mir vertraute, daß
er ſich um den Preis, welcher auf die beſte
Schrift uͤber den Urſprung der Sprachen
von Berlin ausgeſetzt war, mit zu bewerben
gedenke. Seine Arbeit war ſchon ihrer Voll¬
endung nahe, und wie er eine ſehr reinliche
Hand ſchrieb, ſo konnte er mir bald ein les¬
bares Manuſcript heftweiſe mittheilen. Ich
hatte uͤber ſolche Gegenſtaͤnde niemals nachge¬
dacht; ich war noch zu ſehr in der Mitte der
Dinge befangen, als daß ich haͤtte an An¬
fang und Ende denken ſollen. Auch ſchien
mir die Frage einigermaßen muͤßig: denn
wenn Gott den Menſchen als Menſchen er¬
ſchaffen hatte, ſo war ihm ja ſo gut die
Sprache als der aufrechte Gang anerſchaffen;
ſo gut er gleich merken mußte, daß er gehen
und greifen koͤnne, ſo gut mußte er auch ge¬
wahr werden, daß er mit der Kehle zu ſin¬
gen, und dieſe Toͤne durch Zunge, Gaumen
und Lippen noch auf verſchiedene Weiſe zu
modificiren vermoͤge. War der Menſch goͤtt¬
lichen Urſprungs, ſo war es ja auch die
Sprache ſelbſt, und war der Menſch in dem
Umkreis der Natur betrachtet, ein natuͤrliches
Weſen, ſo war die Sprache gleichfalls na¬
tuͤrlich. Dieſe beyden Dinge konnte ich wie
Seel' und Leib niemals auseinander bringen.
Silberſchlag, bey einem cruden Realis¬
mus doch etwas phantaſtiſch geſinnt, hatte
ſich fuͤr den goͤttlichen Urſprung entſchieden,
das heißt, daß Gott den Schulmeiſter bey
den erſten Menſchen geſpielt habe. Herders
Abhandlung ging darauf hinaus, zu zeigen,
wie der Menſch als Menſch wohl aus eig¬
nen Kraͤften zu einer Sprache gelangen koͤn¬
ne und muͤſſe. Ich las die Abhandlung mit
großem Vergnuͤgen und zu meiner beſondern
Kraͤftigung; allein ich ſtand nicht hoch genug,
weder im Wiſſen noch im Denken, um ein
Urtheil daruͤber zu begruͤnden. Ich bezeigte
dem Verfaſſer daher meinen Beyfall, indem
ich nur wenige Bemerkungen, die aus meiner
Sinnesweiſe herfloſſen, hinzufuͤgte. Eins
aber wurde wie das andre aufgenommen; man
wurde geſcholten und getadelt, man mochte
nun bedingt oder unbedingt zuſtimmen. Der
dicke Chirurgus hatte weniger Geduld als ich;
er lehnte die Mittheilung dieſer Preisſchrift
humoriſtiſch ab, und verſicherte, daß er gar
nicht eingerichtet ſey, uͤber ſo abſtracte Mate¬
rien zu denken. Er drang vielmehr auf's
L'hombre, welches wir gewoͤhnlich Abends zu¬
ſammen ſpielten.
Bey einer ſo verdrießlichen und ſchmerz¬
haften Cur verlor unſer Herder nicht an ſei¬
ner Lebhaftigkeit; ſie ward aber immer weni¬
ger wohlthaͤtig. Er konnte nicht ein Billet
ſchreiben, um etwas zu verlangen, das nicht
mit irgend einer Verhoͤhnung gewuͤrzt gewe¬
ſen waͤre. So ſchrieb er mir zum Beyſpiel
einmal:
Wenn des Brutus Briefe dir ſind in Cicero's
Briefen,
Dir, den die Troͤſter der Schulen von wohlge¬
hobelten Brettern,
Prachtgeruͤſtete, troͤſten, doch mehr von außen
als innen,
Der von Goͤttern du ſtammſt, von Gothen oder
vom Kothe,
Goethe, ſende mir ſie.
Es war freylich nicht fein, daß er ſich
mit meinem Namen dieſen Spaß erlaubte:
denn der Eigenname eines Menſchen iſt nicht
etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her
haͤngt und an dem man allenfalls noch zupfen
und zerren kann, ſondern ein vollkommen paſ¬
ſendes Kleid, ja wie die Haut ſelbſt ihm
uͤber und uͤber angewachſen, an der man nicht
ſchaben und ſchinden darf, ohne ihn ſelbſt zu
verletzen.
Der erſte Vorwurf hingegen war gegruͤn¬
deter. Ich hatte naͤmlich die von Langern
eingetauſchten Autoren, und dazu noch ver¬
ſchiedene ſchoͤne Ausgaben aus meines Vaters
Sammlung, mit nach Straßburg genommen
und ſie auf einem reinlichen Buͤcherbrett auf¬
geſtellt, mit dem beſten Willen, ſie zu be¬
nutzen. Wie ſollte aber die Zeit zureichen,
die ich in hunderterley Thaͤtigkeiten zerſplit¬
terte. Herder, der auf Buͤcher hoͤchſt auf¬
merkſam war, weil er deren jeden Augenblick
bedurfte, gewahrte beym erſten Beſuch meine
ſchoͤne Sammlung, aber auch bald, daß ich
mich derſelben gar nicht bediente; deswegen
er, als der große Feind alles Scheins und
aller Oſtentation, bey Gelegenheit mich damit
aufzuziehen pflegte.
Noch ein anderes Spottgedicht faͤllt mir
ein, das er mir Abends nachſendete, als ich
ihm von der Dresdner Galerie viel erzaͤhlt
hatte. Freylich war ich in den hoͤhern Sinn
der italiaͤniſchen Schule nicht eingedrungen,
aber Dominico Feti, ein trefflicher Kuͤnſtler,
wiewohl Humoriſt und alſo nicht vom erſten
Range, hatte mich ſehr angeſprochen. Geiſt¬
liche Gegenſtaͤnde mußten gemalt werden. Er
hielt ſich an die neuteſtamentlichen Parabeln
und ſtellte ſie gern dar, mit viel Eigenheit,
Geſchmack und guter Laune. Er fuͤhrte ſie
dadurch ganz ans gemeine Leben heran, und
die ſo geiſtreichen als naiven Einzelnheiten
ſeiner Compoſitionen, durch einen freyen Pin¬
ſel empfohlen, hatten ſich mir lebendig einge¬
druͤckt. Ueber dieſen meinen kindlichen Kunſt¬
enthuſiasmus ſpottete Herder folgendergeſtalt:
Aus Sympathie
Behagt mir beſonders ein Meiſter,
Dominico Feti heißt er.
Der parodirt die bibliſche Parabel
So huͤbſch zu einer Narrenfabel,
Aus Sympathie. — Du naͤrriſche Parabel!
Dergleichen mehr oder weniger heitre oder
abſtruſe, muntre oder bittre Spaͤße koͤnnte
ich noch manche anfuͤhren. Sie verdroſſen
mich nicht, waren mir aber unbequem. Da
ich jedoch alles, was zu meiner Bildung bey¬
trug, hoͤchlich zu ſchaͤtzen wußte, und ich ja
mehrmals fruͤhere Meynungen und Neigun¬
gen aufgegeben hatte; ſo fand ich mich gar
bald darein und ſuchte nur, ſoviel mir auf
meinem damaligen Standpuncte moͤglich war,
gerechten Tadel von ungerechten Invectiven
zu unterſcheiden. Und ſo war denn auch kein
Tag, der nicht auf das fruchtbarſte lehrreich
fuͤr mich geweſen waͤre.
Ich ward mit der Poeſie von einer ganz
andern Seite, in einem andern Sinne be¬
kannt als bisher, und zwar in einem ſolchen,
der mir ſehr zuſagte. Die hebraͤiſche Dicht¬
kunſt, welche er nach ſeinem Vorgaͤnger Lowth
geiſtreich behandelte, die Volkspoeſie, deren
Ueberlieferungen im Elſaß aufzuſuchen er uns
antrieb, die aͤlteſten Urkunden als Poeſie, ga¬
ben das Zeugniß, daß die Dichtkunſt uͤber¬
haupt eine Welt- und Voͤlkergabe ſey, nicht
ein Privaterbtheil einiger feinen, gebildeten
Maͤnner. Ich verſchlang das alles, und je
heftiger ich im Empfangen, deſto freygebiger
war er im Geben, und wir brachten die in¬
tereſſanteſten Stunden zuſammen zu. Meine
uͤbrigen angefangenen Naturſtudien ſuchte ich
fortzuſetzen, und da man immer Zeit genug
hat, wenn man ſie gut anwenden will; ſo
gelang mir mitunter das Doppelte und Drey¬
fache. Was die Fuͤlle dieſer wenigen Wochen
betrifft, welche wir zuſammen lebten, kann
ich wohl ſagen, daß alles, was Herder nach¬
her allmaͤhlich ausgefuͤhrt hat, im Keim an¬
gedeutet ward, und daß ich dadurch in die
gluͤckliche Lage gerieth, alles was ich bisher
gedacht, gelernt, mir zugeeignet hatte, zu
completiren, an ein Hoͤheres anzuknuͤpfen, zu
erweitern. Waͤre Herder methodiſcher gewe¬
ſen, ſo haͤtte ich auch fuͤr eine dauerhafte Rich¬
tung meiner Bildung die koͤſtlichſte Anleitung
gefunden; aber er war mehr geneigt zu pruͤ¬
fen und anzuregen, als zu fuͤhren und zu
leiten. So machte er mich zuerſt mit Ha¬
manns Schriften bekannt, auf die er einen
ſehr großen Werth ſetzte. Anſtatt mich aber
uͤber dieſelben zu belehren und mir den Hang
und Gang dieſes außerordentlichen Geiſtes be¬
greiflich zu machen; ſo diente es ihm gewoͤhn¬
lich nur zur Beluſtigung, wenn ich mich, um
zu dem Verſtaͤndniß ſolcher Sibylliſchen Blaͤt¬
ter zu gelangen, freylich wunderlich genug ge¬
baͤrdete. Indeſſen fuͤhlte ich wohl, daß mir
in Hamanns Schriften etwas zuſagte, dem
ich mich uͤberließ, ohne zu wiſſen, woher es
komme und wohin es fuͤhre.
Nachdem die Cur laͤnger als billig gedau¬
ert, Lobſtein in ſeiner Behandlung zu ſchwan¬
ken und ſich zu wiederholen anfing, ſo daß
die Sache kein Ende nehmen wollte, auch
Peglow mir ſchon heimlich anvertraut hatte,
daß wohl ſchwerlich ein guter Ausgang zu
hoffen ſey; ſo truͤbte ſich das ganze Verhaͤlt¬
niß: Herder ward ungeduldig und mismuthig,
es wollte ihm nicht gelingen, ſeine Thaͤtig¬
keit wie bisher fortzuſetzen, und er mußte
ſich um ſo mehr einſchraͤnken, als man die
Schuld des misrathenen chirurgiſchen Unter¬
nehmens auf Herders allzugroße geiſtige An¬
ſtrengung und ſeinen ununterbrochenen lebhaf¬
ten, ja luſtigen Umgang mit uns zu ſchieben
anfing. Genug, nach ſo viel Qual und Lei¬
den wollte die kuͤnſtliche Thraͤnenrinne ſich nicht
bilden und die beabſichtigte Communication
nicht zu Stande kommen. Man ſah ſich ge¬
noͤthigt, damit das Uebel nicht aͤrger wuͤrde,
die Wunde zugehn zu laſſen. Wenn man
nun bey der Operation Herders Standhaftig¬
keit unter ſolchen Schmerzen bewundern mu߬
te, ſo hatte ſeine melancholiſche, ja grimmi¬
ge Reſignation in den Gedanken, zeitlebens
einen ſolchen Makel tragen zu muͤſſen, etwas
wahrhaft Erhabenes, wodurch er ſich die Ver¬
ehrung derer, die ihn ſchauten und liebten,
fuͤr immer zu eigen machte. Dieſes Uebel,
das ein ſo bedeutendes Angeſicht entſtellte, mu߬
te ihm um ſo aͤrgerlicher ſeyn, als er ein
vorzuͤgliches Frauenzimmer in Darmſtadt ken¬
nen gelernt und ſich ihre Neigung erworben
hatte. Hauptſaͤchlich in dieſem Sinne mochte
er ſich jener Cur unterwerfen, um bey der
Ruͤckreiſe freyer, froͤhlicher, wohlgebildeter vor
ſeine Halbverlobte zu treten, und ſich gewiſ¬
ſer und unverbruͤchlicher mit ihr zu verbinden.
Er eilte jedoch, ſobald als moͤglich von Stra߬
burg wegzukommen, und weil ſein bisheriger
Aufenthalt ſo koſtbar als unangenehm gewe¬
ſen, erborgte ich eine Summe Geldes fuͤr
ihn, die er auf einen beſtimmten Termin zu
erſtatten verſprach. Die Zeit verſtrich, ohne
daß das Geld ankam. Mein Glaͤubiger mahn¬
te mich zwar nicht, aber ich war doch meh¬
rere Wochen in Verlegenheit. Endlich kam
Brief und Geld, und auch hier verlaͤugnete
er ſich nicht: denn anſtatt eines Dankes, ei¬
ner Entſchuldigung, enthielt ſein Schreiben
lauter ſpoͤttliche Dinge in Knittelverſen, die
einen Andern irre, oder gar abwendig ge¬
macht haͤtten; mich aber ruͤhrte das nicht wei¬
ter, da ich von ſeinem Werth einen ſo gro¬
ßen und maͤchtigen Begriff gefaßt hatte, der
alles Widerwaͤrtige verſchlang, was ihm haͤt¬
te ſchaden koͤnnen.
Man ſoll jedoch von eignen und fremden
Fehlern niemals, am wenigſten oͤffentlich reden,
wenn man nicht dadurch etwas Nuͤtzliches zu
bewirken denkt; deshalb will ich hier gewiſſe
zubringende Bemerkungen einſchalten.
Dank und Undank gehoͤren zu denen, in
der moraliſchen Welt jeden Augenblick hervor¬
tretenden Ereigniſſen, woruͤber die Menſchen
ſich unter einander niemals beruhigen koͤnnen.
Ich pflege einen Unterſchied zu machen zwi¬
ſchen Nichtdankbarkeit, Undank und Wider¬
willen gegen den Dank. Jene erſte iſt dem
Menſchen angeboren, ja anerſchaffen: denn
ſie entſpringt aus einer gluͤcklichen, leichtſin¬
nigen Vergeſſenheit des Widerwaͤrtigen wie
des Erfreulichen, wodurch ganz allein die Fort¬
ſetzung des Lebens moͤglich wird. Der Menſch
bedarf ſo unendlich vieler aͤußeren Vor- und
Mitwirkungen zu einem leidlichen Daſeyn, daß
wenn er der Sonne und der Erde, Gott
und der Natur, Vorvordern und Aeltern,
Freunden und Geſellen immer den gebuͤhren¬
den Dank abtragen wollte, ihm weder Zeit
noch Gefuͤhl uͤbrig bliebe, um neue Wohl¬
thaten zu empfangen und zu genießen. Laͤßt
nun freylich der natuͤrliche Menſch jenen Leicht¬
ſinn in und uͤber ſich walten, ſo nimmt eine
kalte Gleichguͤltigkeit immer mehr uͤberhand,
und man ſieht den Wohlthaͤter zuletzt als ei¬
nen Fremden an, zu deſſen Schaden man
allenfalls, wenn es uns nuͤtzlich waͤre, auch
etwas unternehmen duͤrfte. Dieß allein kann
eigentlich Undank genannt werden, der aus
der Rohheit entſpringt, worin die ungebildete
Natur ſich am Ende nothwendig verlieren muß.
Widerwille gegen das Danken jedoch, Erwie¬
derung einer Wohlthat durch unmuthiges und
verdrießliches Weſen iſt ſehr ſelten und kommt
nur bey vorzuͤglichen Menſchen vor: ſolchen,
die mit großen Anlagen und dem Vorgefuͤhl
derſelben, in einem niederen Stande oder in
einer huͤlfloſen Lage geboren, ſich von Ju¬
gend auf Schritt vor Schritt durchdraͤngen
und von allen Orten her Huͤlfe und Beyſtand
annehmen muͤſſen, die ihnen denn manchmal
durch Plumpheit der Wohlthaͤter vergaͤllt und
widerwaͤrtig werden, indem das, was ſie
empfangen, irdiſch und das, was ſie dage¬
gen leiſten, hoͤherer Art iſt, ſo daß eine ei¬
II. 31
gentliche Compenſation nicht gedacht werden
kann. Leſſing hat bey dem ſchoͤnen Bewußt¬
ſeyn, das ihm, in ſeiner beſten Lebenszeit,
uͤber irdiſche Dinge zu Theil ward, ſich hier¬
uͤber einmal derb aber heiter ausgeſprochen.
Herder hingegen vergaͤllte ſich und Andern im¬
merfort die ſchoͤnſten Tage, da er jenen Un¬
muth, der ihn in der Jugend nothwendig
ergriffen hatte, in der Folgezeit durch Gei¬
ſteskraft nicht zu maͤßigen wußte.
Dieſe Forderung kann man gar wohl an
ſich machen: denn der Bildungsfaͤhigkeit ei¬
nes Menſchen kommt das Licht der Natur,
welches immer thaͤtig iſt, ihn uͤber ſeine Zu¬
ſtaͤnde aufzuklaͤren, auch hier gar freundlich
zu Statten; und uͤberhaupt ſollte man in
manchen ſittlichen Bildungsfaͤllen die Maͤngel
nicht zu ſchwer nehmen, und ſich nicht nach
allzuernſten, weitliegenden Mitteln umſehen,
da ſich gewiſſe Fehler ſehr leicht, ja ſpielend
abthun laſſen. So koͤnnen wir zum Bey¬
ſpiel die Dankbarkeit in uns durch bloße Ge¬
wohnheit erregen, lebendig erhalten, ja zum
Beduͤrfniß machen.
In einem biographiſchen Verſuch ziemt es
wohl, von ſich ſelbſt zu reden. Ich bin, von
Natur ſo wenig dankbar als irgend ein Menſch,
und beym Vergeſſen empfangenes Guten konn¬
te das heftige Gefuͤhl eines augenblicklichen
Misverhaͤltniſſes mich ſehr leicht zum Undank
verleiten.
Dieſem zu begegnen, gewoͤhnte ich mich
zufoͤrderſt, bey allem was ich beſitze, mich
gern zu erinnern, wie ich dazu gelangt, von
wem ich es erhalten, es ſey durch Geſchenk,
Tauſch oder Kauf, oder auf irgend eine an¬
dre Art. Ich habe mich gewoͤhnt, beym
Vorzeigen meiner Sammlungen der Perſonen
zu gedenken, durch deren Vermittelung ich
das Einzelne erhielt, ja der Gelegenheit, dem
Zufall, der entfernteſten Veranlaſſung und
31 *
Mitwirkung, wodurch mir Dinge geworden,
die mir lieb und werth ſind, Gerechtigkeit
wiederfahren zu laſſen. Das was uns um¬
giebt erhaͤlt dadurch ein Leben, wir ſehen es
in geiſtiger, liebevoller, genetiſcher Verknuͤp¬
fung, und durch das Vergegenwaͤrtigen ver¬
gangener Zuſtaͤnde wird das augenblickliche
Daſeyn erhoͤht und bereichert, die Urheber
der Gaben ſteigen wiederholt vor der Ein¬
bildungskraft hervor, man verknuͤpft mit ih¬
rem Bilde eine angenehme Erinnerung, macht
ſich den Undank unmoͤglich und ein gelegent¬
liches Erwiedern leicht und wuͤnſchenswerth.
Zugleich wird man auf die Betrachtung des¬
jenigen gefuͤhrt, was nicht ſinnlicher Beſitz
iſt, und man recapitulirt gar gern, woher
ſich unſere hoͤheren Guͤter ſchreiben und datiren.
Ehe ich nun von jenem fuͤr mich ſo be¬
deutenden und folgereichen Verhaͤltniſſe zu Her¬
dern den Blick hinwegwende, finde ich noch
einiges nachzubringen. Es war nichts natuͤr¬
licher, als daß ich nach und nach in Mit¬
theilung deſſen, was bisher zu meiner Bil¬
dung beygetragen, beſonders aber ſolcher Din¬
ge, die mich noch in dem Augenblicke ernſt¬
lich beſchaͤftigten, gegen Herdern immer kar¬
ger und karger ward. Er hatte mir den
Spaß an ſo manchem, was ich fruͤher ge¬
liebt, verdorben und mich beſonders wegen
der Freude, die ich an Ovids Metamorpho¬
ſen gehabt, aufs ſtrengſte getadelt. Ich moch¬
te meinen Liebling in Schutz nehmen wie ich
wollte, ich mochte ſagen, daß fuͤr eine ju¬
gendliche Phantaſie nichts erfreulicher ſeyn koͤn¬
ne, als in jenen heitern und herrlichen Ge¬
genden mit Goͤttern und Halbgoͤttern zu ver¬
weilen und ein Zeuge ihres Thuns und ihrer
Leidenſchaften zu ſeyn; ich mochte jenes oben
erwaͤhnte Gutachten eines ernſthaften Man¬
nes umſtaͤndlich beybringen und ſolches durch
meine eigne Erfahrung bekraͤftigen: das alles
ſollte nicht gelten, es ſollte ſich keine eigent¬
liche unmittelbare Wahrheit in dieſen Gedich¬
ten finden; hier ſey weder Griechenland noch
Italien, weder eine Urwelt noch eine gebil¬
dete, alles vielmehr ſey Nachahmung des
ſchon Dageweſenen und eine manierirte Dar¬
ſtellung, wie ſie ſich nur von einem Ueber¬
cultivirten erwarten laſſe. Und wenn ich denn
zuletzt behaupten wollte: was ein vorzuͤgliches
Individuum hervorbringe, ſey doch auch Na¬
tur, und unter allen Voͤlkern, fruͤhern und ſpaͤ¬
tern, ſey doch immer nur der Dichter Dichter
geweſen; ſo wurde mir dieß nun gar nicht gut
gehalten, und ich mußte manches deswegen
ausſtehen, ja mein Ovid war mir beynah
dadurch verleidet: denn es iſt keine Neigung,
keine Gewohnheit ſo ſtark, daß ſie gegen die
Misreden vorzuͤglicher Menſchen, in die man
Vertrauen ſetzt, auf die Laͤnge ſich erhalten
koͤnnte. Immer bleibt etwas haͤngen, und
wenn man nicht unbedingt lieben darf, ſieht
es mit der Liebe ſchon mislich aus.
Am ſorgfaͤltigſten verbarg ich ihm das In¬
tereſſe an gewiſſen Gegenſtaͤnden, die ſich bey
mir eingewurzelt hatten und ſich nach und
nach zu poetiſchen Geſtalten ausbilden woll¬
ten. Es war Goͤtz von Berlichingen und
Fauſt. Die Lebensbeſchreibung des erſteru
hatte mich im Innerſten ergriffen. Die Ge¬
ſtalt eines rohen, wohlmeynenden Selbſthel¬
fers in wilder anarchiſcher Zeit erregte mei¬
nen tiefſten Antheil. Die bedeutende Pup¬
penſpielfabel des andern klang und ſummte
gar vieltoͤnig in mir wieder. Auch ich hatte
mich in allem Wiſſen umhergetrieben und war
fruͤh genug auf die Eitelkeit deſſelben hinge¬
wieſen worden. Ich hatte es auch im Leben
auf allerley Weiſe verſucht, und war immer
unbefriedigter und gequaͤlter zuruͤckgekommen.
Nun trug ich dieſe Dinge, ſo wie manche
andre, mit mir herum und ergetzte mich dar¬
an in einſamen Stunden, ohne jedoch etwas
davon aufzuſchreiben. Am meiſten aber ver¬
barg ich vor Herdern meine myſtiſch-cabbaliſti¬
ſche Chemie und was ſich darauf bezog, ob
ich mich gleich noch ſehr gern heimlich be¬
ſchaͤftigte, ſie conſequenter auszubilden, als
man ſie mir uͤberliefert hatte. Von poetiſchen
Arbeiten glaube ich ihm die Mitſchuldi¬
gen vorgelegt zu haben, doch erinnere ich
mich nicht, daß mir irgend eine Zurechtwei¬
ſung oder Aufmunterung von ſeiner Seite
hieruͤber zu Theil geworden waͤre. Aber bey
dieſem allen blieb er der er war; was von
ihm ausging wirkte, wenn auch nicht erfreu¬
lich, doch bedeutend; ja ſeine Handſchrift ſo¬
gar uͤbte auf mich eine magiſche Gewalt aus.
Ich erinnere mich nicht, daß ich eins ſeiner
Blaͤtter, ja nur ein Couvert von ſeiner Hand,
zerriſſen oder verſchleudert haͤtte; dennoch iſt
mir, bey den ſo mannigfaltigen Ort- und
Zeitwechſeln, kein Document jener wunderba¬
ren, ahndungsvollen und gluͤcklichen Tage
uͤbrig geblieben.
Daß uͤbrigens Herders Anziehungskraft
ſich ſo gut auf Andre als auf mich wirkſam
erwies, wuͤrde ich kaum erwaͤhnen, haͤtte ich
nicht zu bemerken, daß ſie ſich beſonders auf
Jung, genannt Stilling, erſtreckt habe. Das
treue redliche Streben dieſes Mannes mußte
jeden, der nur irgend Gemuͤth hatte, hoͤchlich
intereſſiren, und ſeine Empfaͤnglichkeit jeden,
der etwas mitzutheilen im Stande war, zur
Offenheit reizen. Auch betrug ſich Herder ge¬
gen ihn nachſichtiger als gegen uns Andre:
denn ſeine Gegenwirkung ſchien jederzeit mit
der Wirkung, die auf ihn geſchah, im Ver¬
haͤltniß zu ſtehn. Jungs Umſchraͤnktheit war
von ſo viel gutem Willen, ſein Vordringen
von ſo viel Sanftheit und Ernſt begleitet,
daß ein Verſtaͤndiger gewiß nicht hart gegen
ihn ſeyn, und ein Wohlwollender ihn nicht
verhoͤhnen noch zum beſten haben konnte.
Auch war Jung durch Herdern dergeſtalt exal¬
tirt, daß er ſich in allem ſeinen Thun geſtaͤrkt
und gefoͤrdert fuͤhlte, ja ſeine Neigung gegen
mich ſchien in eben dieſem Maße abzuneh¬
men; doch blieben wir immer gute Geſellen,
wir trugen einander vor wie nach und erzeig¬
ten uns wechſelſeitig die freundlichſten Dienſte.
Entfernen wir uns jedoch nunmehr von
der freundſchaftlichen Krankenſtube und von
den allgemeinen Betrachtungen, welche eher
auf Krankkeit als auf Geſundheit des Geiſtes
deuten; begeben wir uns in die freye Luft,
auf den hohen und breiten Altan des Muͤn¬
ſters, als waͤre die Zeit noch da, wo wir
junge Geſellen uns oͤfters dorthin auf den
Abend beſchieden, um mit gefuͤllten Roͤmern
die ſcheidende Sonne zu begruͤßen. Hier ver¬
lor ſich alles Geſpraͤch in die Betrachtung der
Gegend, alsdann wurde die Schaͤrfe der Au¬
gen gepruͤft, und jeder beſtrebte ſich die ent¬
fernteſten Gegenſtaͤnde gewahr zu werden, ja
deutlich zu unterſcheiden. Gute Fernroͤhre
wurden zu Huͤlfe genommen, und ein Freund
nach dem andern bezeichnete genau die Stel¬
le, die ihm die liebſte und wertheſte gewor¬
den; und ſchon fehlte es auch mir nicht an
einem ſolchen Plaͤtzchen, das, ob es gleich
nicht bedeutend in der Landſchaft hervortrat,
mich doch mehr als alles Andere mit einem
lieblichen Zauber an ſich zog. Bey ſolchen
Gelegenheiten ward nun durch Erzaͤhlung die
Einbildungskraft angeregt und manche kleine
Reiſe verabredet, ja oft aus dem Stegreife
unternommen, von denen ich nur eine ſtatt
vieler umſtaͤndlich erzaͤhlen will, da ſie in
manchem Sinne fuͤr mich folgereich geweſen.
Mit zwey werthen Freunden und Tiſchge¬
noſſen, Engelbach und Weyland, bey¬
de aus dem untern Elſaß gebuͤrtig, begab ich
mich zu Pferde nach Zabern, wo uns, bey
ſchoͤnem Wetter, der kleine freundliche Ort
gar anmuthig anlachte. Der Anblick des bi¬
ſchoͤflichen Schloſſes erregte unſere Bewunde¬
rung; eines neuen Stalles Weitlaͤuftigkeit,
Groͤße und Pracht zeugten von dem uͤbrigen
Wohlbehagen des Beſitzers. Die Herrlichkeit
der Treppe uͤberraſchte uns, die Zimmer und
Saͤle betraten wir mit Ehrfurcht, nur con¬
traſtirte die Perſon des Cardinals, ein kleiner
zuſammengefallener Mann, den wir ſpeiſen
ſahen. Der Blick in den Garten iſt herrlich,
und ein Canal drey Viertelſtunden lang,
ſchnurgerade auf die Mitte des Schloſſes ge¬
richtet, giebt einen hohen Begriff von dem
Sinn und den Kraͤften der vorigen Beſitzer.
Wir ſpazirten daran hin und wieder und ge¬
noſſen mancher Partieen dieſes ſchoͤn gelege¬
nen Ganzen, zu Ende der herrlichen Elſaſſer
Ebene, am Fuße der Vogeſen.
Nachdem wir uns nun an dieſem geiſtli¬
chen Vorpoſten einer koͤniglichen Macht er¬
freut, und es uns in ſeiner Region wohl
ſeyn laſſen, gelangten wir fruͤh den andern
Morgen zu einem oͤffentlichen Werk, das
hoͤchſt wuͤrdig den Eingang in ein maͤchtiges
Koͤnigreich eroͤffnet. Von der aufgehenden
Sonne beſchienen erhob ſich vor uns die be¬
ruͤhmte Zaberner Steige, ein Werk von un¬
uͤberdenklicher Arbeit. Schlangenweis, uͤber
die fuͤrchterlichſten Felſen aufgemauert, fuͤhrt
eine Chauſſee, fuͤr drey Wagen neben einan¬
der breit genug, ſo leiſe bergauf, daß man
es kaum empfindet. Die Haͤrte und Glaͤtte
des Wegs, die geplatteten Erhoͤhungen an
beyden Seiten fuͤr die Fußgaͤnger, die ſteiner¬
nen Rinnen zum Ableiten der Bergwaſſer,
alles iſt ſo reinlich als kuͤnſtlich und dauerhaft
hergerichtet, daß es einen genuͤgenden Anblick
gewaͤhrt. So gelangt man allmaͤhlich nach
Pfalzburg, einer neueren Feſtung. Sie liegt
auf einem maͤßigen Huͤgel; die Werke ſind
elegant auf ſchwaͤrzlichen Felſen von gleichem
Geſtein erbaut, die mit Kalk weiß ausgeſtri¬
chenen Fugen bezeichnen genau die Groͤße der
Quadern und geben von der reinlichen Arbeit
ein auffallendes Zeugniß. Den Ort ſelbſt fan¬
den wir, wie ſich's fuͤr eine Feſtung geziemt,
regelmaͤßig, von Steinen gebaut, die Kirche
geſchmackvoll. Als wir durch die Straßen
wandelten — es war Sonntags fruͤh um
neun — hoͤrten wir Muſik; man walzte ſchon
im Wirthshauſe nach Herzensluſt, und da
ſich die Einwohner durch die große Theurung,
ja durch die drohende Hungersnoth, in ihrem
Vergnuͤgen nicht irre machen ließen, ſo ward
auch unſer jugendlicher Frohſinn keineswegs
getruͤbt, als uns der Baͤcker einiges Brodt
auf die Reiſe verſagte und uns in den Gaſt¬
hof verwies, wo wir es allenfalls an Ort und
Stelle verzehren duͤrften.
Sehr gern ritten wir nun wieder die
Steige hinab, um dieſes architectoniſche
Wunder zum zweyten Male anzuſtaunen, und
uns der erquickenden Ausſicht uͤber das Elſaß
nochmals zu erfreuen. Wir gelangten bald
nach Buchsweiler, wo uns Freund Wey¬
land eine gute Aufnahme vorbereitet hatte.
Dem friſchen jugendlichen Sinne iſt der Zu¬
ſtand einer kleinen Stadt ſehr gemaͤß; die
Familienverhaͤltniſſe ſind naͤher und fuͤhlbarer,
das Hausweſen, das zwiſchen laͤßlicher Amts¬
beſchaͤftigung, ſtaͤdtiſchem Gewerb, Feld- und
Gartenbau, mit maͤßiger Thaͤtigkeit ſich hin
und wieder bewegt, laͤdt uns ein zu freund¬
licher Theilnahme, die Geſelligkeit iſt noth¬
wendig, und der Fremde befindet ſich in den
beſchraͤnkten Kreiſen ſehr angenehm, wenn ihn
nicht etwa die Mishelligkeiten der Einwohner,
die an ſolchen Orten fuͤhlbarer ſind, irgendwo
beruͤhren. Dieſes Staͤdtchen war der Haupt¬
platz der Grafſchaft Hanau-Lichtenberg, dem
Landgrafen von Darmſtadt unter franzoͤſiſcher
Hoheit gehoͤrig. Eine daſelbſt angeſtellte Re¬
gierung und Cammer machten den Ort zum
bedeutenden Mittelpunct eines ſehr ſchoͤnen
und wuͤnſchenswerthen fuͤrſtlichen Beſitzes. Wir
vergaßen leicht die ungleichen Straßen, die
unregelmaͤßige Bauart des Orts, wenn wir
heraustraten, um das alte Schloß und die
an einem Huͤgel vortrefflich angelegten Gaͤr¬
ten zu beſchauen. Mancherley Luſtwaͤldchen,
eine zahme und wilde Phaſanerie und die
Reſte mancher aͤhnlichen Anſtalten zeigten;
wie angenehm dieſe kleine Reſidenz ehemals
muͤſſe geweſen ſeyn.
Doch alle dieſe Betrachtungen uͤbertraf der
Anblick, wenn man von dem nahgelegenen
Baſchberg die voͤllig paradieſiſche Gegend
uͤberſchaute. Dieſe Hoͤhe, ganz aus verſchie¬
denen Muſcheln zuſammengehaͤuft, machte mich
zum erſten Male auf ſolche Documente der
Vorwelt aufmerkſam; ich hatte ſie noch nie¬
mals in ſo großer Maſſe beyſammen geſehn.
Doch wendete ſich der ſchauluſtige Blick bald
ausſchließlich in die Gegend. Man ſteht auf
dem letzten Vorgebirge nach dem Lande zu;
gegen Norden liegt eine fruchtbare, mit klei¬
nen Waͤldchen durchzogene Flaͤche, von einem
ernſten Gebirge begrenzt, das ſich gegen
Abend nach Zabern hinerſtreckt, wo man den
biſchoͤflichen Palaſt und die eine Stunde
davon liegende Abtey St. Johann deutlich
erkennen mag. Von da verfolgt das Auge
die immer mehr ſchwindende Bergkette der
Vogeſen bis nach Suͤden hin. Wendet man
ſich gegen Nordoſt, ſo ſieht man das Schloß
Lichtenberg auf einem Felſen, und gegen Suͤd¬
oſt hat das Auge die unendliche Flaͤche des
Elſaſſes zu durchforſchen, die ſich in immer
mehr abduftenden Landſchaftsgruͤnden dem Ge¬
ſicht entzieht, bis zuletzt die ſchwaͤbiſchen Ge¬
birge ſchattenweis in den Horizont verfließen.
Schon bey meinen wenigen Wanderungen
durch die Welt hatte ich bemerkt, wie bedeu¬
tend es ſey, ſich auf Reiſen nach dem Laufe
der Waſſer zu erkundigen, ja bey dem klein¬
ſten Bache zu fragen, wohin er denn eigent¬
lich laufe. Man erlangt dadurch eine Ueber¬
ſicht von jeder Flußregion, in der man eben
befangen iſt, einen Begriff von den Hoͤhen
und Tiefen, die auf einander Bezug haben,
und windet ſich am ſicherſten an dieſen Leit¬
faͤden, welche ſowohl dem Anſchauen als dem
II. 32
Gedaͤchtniß zu Huͤlfe kommen, aus geologi¬
ſchem und politiſchem Laͤndergewirre. In die¬
ſer Betrachtung nahm ich feyerlichen Abſchied
von dem theuren Elſaß, da wir uns den an¬
dern Morgen nach Lothringen zu wenden ge¬
dachten.
Der Abend ging hin in vertraulichen Ge¬
ſpraͤchen, wo man ſich uͤber eine unerfreuliche
Gegenwart durch Erinnerung an eine beſſere
Vergangenheit zu erheitern ſuchte. Vor allem
andern war hier, wie im ganzen Laͤndchen,
der Name des letzten Grafen Reinhard von
Hanau in Segen, deſſen großer Verſtand und
Tuͤchtigkeit in allem ſeinen Thun und Laſſen
hervortrat, und von deſſen Daſeyn noch man¬
ches ſchoͤne Denkmal uͤbrig geblieben war.
Solche Maͤnner haben den Vorzug doppelte
Wohlthaͤter zu ſeyn, einmal fuͤr die Gegen¬
wart, die ſie begluͤcken, und ſodann fuͤr die
Zukunft, deren Gefuͤhl und Muth ſie naͤhren
und aufrecht erhalten.
Als wir nun uns nordweſtwaͤrts in das
Gebirg wendeten und bey Luͤtzelſtein, ei¬
nem alten Bergſchloß in einer ſehr huͤgelvollen
Gegend, vorbeyzogen, und in die Region der
Saar und Moſel hinabſtiegen, fing der Him¬
mel an ſich zu truͤben, als wollte er uns den
Zuſtand des rauheren Weſtreiches noch fuͤhl¬
barer machen. Das Thal der Saar, wo wir
zuerſt Bockenheim, einen kleinen Ort, an¬
trafen, und gegenuͤber Neuſaarwerden,
gut gebaut, mit einem Luſtſchloß, erblickten,
iſt zu beyden Seiten von Bergen begleitet,
die traurig heißen koͤnnten, wenn nicht an ih¬
rem Fuß eine unendliche Folge von Wieſen
und Matten, die Huhnau genannt, ſich bis
Saaralbe und weiter hin unuͤberſehlich er¬
ſtreckte. Große Gebaͤude eines ehmaligen Ge¬
ſtuͤtes der Herzoge von Lothringen ziehen hier
den Blick an; ſie dienen gegenwaͤrtig, zu ſolchen
Zwecken freylich ſehr wohl gelegen, als Meye¬
rey. Wir gelangten uͤber Saargemuͤnd
nach Saarbruͤck, und dieſe kleine Reſidenz
32 *
war ein lichter Punct in einem ſo felſig wal¬
digen Lande. Die Stadt, klein und huͤglich,
aber durch den letzten Fuͤrſten wohl ausgeziert,
macht ſogleich einen angenehmen Eindruck, weil
die Haͤuſer alle grauweiß angeſtrichen ſind und
die verſchiedene Hoͤhe derſelben einen mannig¬
faltigen Anblick gewaͤhrt. Mitten auf einem
ſchoͤnen mit anſehnlichen Gebaͤuden umgebenen
Platze ſteht die Lutheriſche Kirche, in einem
kleinen, aber dem Ganzen entſprechenden Ma߬
ſtabe. Die Vorderſeite des Schloſſes liegt mit
der Stadt auf ebenem Boden, die Hinterſeite
dagegen am Abhange eines ſteilen Felſens.
Dieſen hat man nicht allein terraſſenweis ab¬
gearbeitet, um bequem in das Thal zu gelan¬
gen, ſondern man hat ſich auch unten einen
laͤnglich viereckten Gartenplatz, durch Verdraͤn¬
gung des Fluſſes an der einen und durch Ab¬
ſchroten des Felſens an der andern Seite,
verſchafft, worauf denn dieſer ganze Raum erſt
mit Erde ausgefuͤllt und bepflanzt worden.
Die Zeit dieſer Unternehmung fiel in die
Epoche, da man bey Gartenanlagen den Ar¬
chitecten zu Rathe zog, wie man gegenwaͤrtig
das Auge des Landſchaftsmalers zu Huͤlfe
nimmt. Die ganze Einrichtung des Schloſ¬
ſes, das Koſtbare und Angenehme, das Rei¬
che und Zierliche, deuteten auf einen lebens¬
luſtigen Beſitzer, wie der verſtorbene Fuͤrſt ge¬
weſen war; der gegenwaͤrtige befand ſich nicht
am Orte. Praͤſident von Guͤnderode em¬
pfing uns auf's verbindlichſte und bewirthete
uns drey Tage beſſer als wir es erwarten
durften. Ich benutzte die mancherley Bekannt¬
ſchaften, zu denen wir gelangten, um mich
vielſeitig zu unterrichten. Das genußreiche Le¬
ben des vorigen Fuͤrſten gab Stoff genug zur
Unterhaltung, nicht weniger die mannigfaltigen
Anſtalten, die er getroffen, um Vortheile, die
ihm die Natur ſeines Landes darbot, zu be¬
nutzen. Hier wurde ich nun eigentlich in das
Intereſſe der Berggegenden eingeweiht, und
die Luſt zu oͤconomiſchen und techniſchen Be¬
trachtungen, welche mich einen großen Theil
meines Lebens beſchaͤftigt haben, zuerſt erregt.
Wir hoͤrten von den reichen Dutweiler
Steinkohlengruben, von Eiſen- und Alaun¬
werken, ja ſogar von einem brennenden Berge,
und ruͤſteten uns, dieſe Wunder in der Naͤhe
zu beſchauen.
Nun zogen wir durch waldige Gebirge,
die demjenigen, der aus einem herrlichen
fruchtbaren Lande kommt, wuͤſt und traurig
erſcheinen muͤſſen, und die nur durch den in¬
nern Gehalt ihres Schooßes uns anziehen
koͤnnen. Kurz hinter einander wurden wir
mit einem einfachen und einem complicirten
Maſchinenwerke bekannt, mit einer Senſen¬
ſchmiede und einem Drathzug. Wenn man
ſich an jener ſchon erfreut, daß ſie ſich an
die Stelle gemeiner Haͤnde ſetzt, ſo kann man
dieſen nicht genug bewundern, indem er in
einem hoͤheren organiſchen Sinne wirkt, von
dem Verſtand und Bewußtſeyn kaum zu tren¬
nen ſind. In der Alaunhuͤtte erkundigten wir
uns genau nach der Gewinnung und Reini¬
gung dieſes ſo noͤthigen Materials, und als
wir große Haufen eines weißen, fetten, locke¬
ren, erdigen Weſens bemerkten und deſſen
Nutzen erforſchten, antworteten die Arbeiter
laͤchelnd, es ſey der Schaum, der ſich beym
Alaunſieden obenauf werfe, und den Herr
Stauf ſammeln laſſe, weil er denſelben
gleichfalls hoffe zu Gute zu machen. — Lebt
Herr Stauf noch? rief mein Begleiter ver¬
wundert aus. Man bejahte es und verſicher¬
te, daß wir, nach unſerm Reiſeplan, nicht
weit von ſeiner einſamen Wohnung vorbey¬
kommen wuͤrden.
Unſer Weg ging nunmehr an den Rinnen
hinauf, in welchen das Alaunwaſſer herunter¬
geleitet wird, und an dem vornehmſten Stol¬
len vorbey, den ſie die Landgrube nennen,
woraus die beruͤhmten Dutweiler Steinkohlen
gezogen werden. Sie haben, wenn ſie trocken
ſind, die blaue Farbe eines dunkel angelaufe¬
nen Stahls, und die ſchoͤnſte Irisfolge ſpielt
bey jeder Bewegung uͤber die Oberflaͤche hin.
Die finſteren Stollenſchluͤnde zogen uns je¬
doch um ſo weniger an, als der Gehalt der¬
ſelben reichlich um uns her ausgeſchuͤttet lag.
Nun gelangten wir zu offnen Gruben, in
welchen die geroͤſteten Alaunſchiefer ausgelaugt
werden, und bald darauf uͤberraſchte uns, ob¬
gleich vorbereitet, ein ſeltſames Begegniß.
Wir traten in eine Klamme und fanden uns
in der Region des brennenden Berges. Ein
ſtarker Schwefelgeruch umzog uns; die eine
Seite der Hohle war nahezu gluͤhend, mit
roͤthlichem, weißgebrannten Stein bedeckt; ein
dicker Dampf ſtieg aus den Klunſen hervor,
und man fuͤhlte die Hitze des Bodens auch
durch die ſtarken Sohlen. Ein ſo zufaͤlliges
Ereigniß, denn man weiß nicht wie dieſe
Strecke ſich entzuͤndete, gewaͤhrt der Alaun¬
fabrication den großen Vortheil, daß die Schie¬
fer, woraus die Oberflaͤche des Berges be¬
ſteht, vollkommen geroͤſtet daliegen und nur
kurz und gut ausgelaugt werden duͤrfen. Die
ganze Klamme war entſtanden, daß man nach
und nach die calcinirten Schiefer abgeraͤumt
und verbraucht hatte. Wir kletterten aus die¬
ſer Tiefe hervor und waren auf dem Gipfel
des Berges. Ein anmuthiger Buchenwald
umgab den Platz, der auf die Hohle folgte
und ſich ihr zu beyden Seiten verbreitete.
Mehrere Baͤume ſtanden ſchon verdorrt, an¬
dere welkten in der Naͤhe von andern, die, noch
ganz friſch, jene Gluth nicht ahndeten, welche
ſich auch ihren Wurzeln bedrohend naͤherte.
Auf dem Platze dampften verſchiedene Oeff¬
nungen, andere hatten ſchon ausgeraucht, und
ſo glomm dieſes Feuer bereits zehen Jahre
durch alte verbrochene Stollen und Schaͤchte,
mit welchen der Berg unterminirt iſt. Es
mag ſich auch auf Kluͤften durch friſche Koh¬
lenlager durchziehn: denn einige hundert
Schritte weiter in den Wald gedachte man
bedeutende Merkmale von ergiebigen Stein¬
kohlen zu verfolgen; man war aber nicht
weit gelangt, als ein ſtarker Dampf den Ar¬
beitern entgegendrang und ſie vertrieb. Die
Oeffnung ward wieder zugeworfen; allein wir
fanden die Stelle noch rauchend, als wir dar¬
an vorbey den Weg zur Reſidenz unſeres ein¬
ſiedleriſchen Chemikers verfolgten. Sie liegt
zwiſchen Bergen und Waͤldern; die Thaͤler
nehmen daſelbſt ſehr mannigfaltige und ange¬
nehme Kruͤmmungen, rings umher iſt der
Boden ſchwarz und kohlenartig, die Lager ge¬
hen haͤufig zu Tage aus. Ein Kohlenphilo¬
ſoph — Philosophus per ignem, wie man
ſonſt ſagte — haͤtte ſich wohl nicht ſchicklicher
anſiedeln koͤnnen.
Wir traten vor ein kleines, zur Wohnung
nicht uͤbel dienliches Haus und fanden Herrn
Stauf, der meinen Freund ſogleich erkann¬
te und mit Klagen uͤber die neue Regierung
empfing, Freylich konnten wir aus ſeinen
Reden vermerken, daß das Alaunwerk, ſo
wie manche andre wohlgemeynte Anstalt, we¬
gen aͤußerer, vielleicht auch innerer Umſtaͤnde,
die Unkoſten nicht trage, und was dergleichen
mehr war. Er gehoͤrte unter die Chemiker
jener Zeit, die, bey einem innigen Gefuͤhl deſ¬
ſen was mit Naturproducten alles zu leiſten
waͤre, ſich in einer abſtruſen Betrachtung von
Kleinigkeiten und Nebenſachen gefielen, und
bey unzulaͤnglichen Kenntniſſen, nicht fertig
genug dasjenige zu leiſten verſtanden, woraus
eigentlich oͤconomiſcher und mercantiliſcher Vor¬
theil zu ziehn iſt. So lag der Nutzen, den
er ſich von jenem Schaum verſprach, ſehr im
Weiten; ſo zeigte er nichts als einen Kuchen
Salmiak, den ihm der brennende Berg ge¬
liefert hatte.
Bereitwillig und froh, ſeine Klagen einem
menſchlichen Ohre mitzutheilen, ſchleppte ſich
das hagere, abgelebte Maͤnnchen in Einem
Schuh und Einem Pantoffel, mit herabhaͤn¬
genden, vergebens wiederholt von ihm herauf¬
gezogenen Struͤmpfen, den Berg hinauf, wo
die Harzhuͤtte ſteht, die er ſelbſt errichtet hat
und nun mit großem Leidweſen verfallen ſieht.
Hier fand ſich eine zuſammenhangende Ofen¬
reihe, wo Steinkohlen abgeſchwefelt und zum
Gebrauch bey Eiſenwerken tauglich gemacht
werden ſollten; allein zu gleicher Zeit wollte
man Oel und Harz auch zu Gute machen,
ja ſogar den Ruß nicht miſſen, und ſo unter¬
lag den vielfachen Abſichten alles zuſammen.
Bey Lebzeiten des vorigen Fuͤrſten trieb man
das Geſchaͤft aus Liebhaberey, aus Hoffnung;
jetzt fragte man nach dem unmittelbaren Nutzen,
der nicht nachzuweiſen war.
Nachdem wir unſern Adepten ſeiner Ein¬
ſamkeit uͤberlaſſen, eilten wir, — denn es
war ſchon ſpaͤt geworden — der Friedrichs¬
thaler Glashuͤtte zu, wo wir eine der
wichtigſten und wunderbarſten Werkthaͤtigkei¬
ten des menſchlichen Kunſtgeſchickes im Vor¬
uͤbergehen kennen lernten.
Doch faſt mehr als dieſe bedeutenden Er¬
fahrungen intereſſirten uns junge Burſche ei¬
nige luſtige Abenteuer, und bey einbrechender
Finſterniß, ohnweit Neukirch, ein uͤberra¬
ſchendes Feuerwerk. Denn wie vor einigen
Naͤchten, an den Ufern der Saar, leuchtende
Wolken Johanniswuͤrmer zwiſchen Fels und
Buſch um uns ſchwebten, ſo ſpielten uns nun
die funkenwerfenden Eſſen ihr luſtiges Feuer¬
werk entgegen. Wir betraten bey tiefer Nacht
die im Thalgrunde liegenden Schmelzhuͤtten,
und vergnuͤgten uns an dem ſeltſamen Halb¬
dunkel dieſer Bretter-Hoͤhlen, die nur durch
des gluͤhenden Ofens geringe Oeffnung kuͤm¬
merlich erleuchtet werden. Das Geraͤuſch des
Waſſers und der von ihm getriebenen Blas¬
baͤlge, das fuͤrchterliche Sauſen und Pfeifen
des Windſtroms, der, in das geſchmolzene
Erz wuͤthend, die Ohren betaͤubt und die
Sinne verwirrt, trieb uns endlich hinweg,
um in Neukirch einzukehren, das an dem
Berg hinaufgebaut iſt.
Aber ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und
Unruhe des Tags konnte ich hier noch keine
Raſt finden. Ich uͤberließ meinen Freund
einem gluͤcklichen Schlafe und ſuchte das hoͤ¬
her gelegene Jagdſchloß. Es blickt weit uͤber
Berg und Waͤlder hin, deren Umriſſe nur
an dem heitern Nachthimmel zu erkennen, de¬
ren Seiten und Tiefen aber meinem Blick
undurchdringlich waren. So leer als einſam
ſtand das wohlerhaltene Gebaͤude; kein Ca¬
ſtellan, kein Jaͤger war zu finden. Ich ſaß
vor den großen Glasthuͤren auf den Stufen,
die um die ganze Terraſſe hergehn. Hier,
mitten im Gebirg, uͤber einer waldbewachſe¬
nen finſteren Erde, die gegen den heitern Ho¬
rizont einer Sommernacht nur noch finſterer
erſchien, das brennende Sterngewoͤlbe uͤber
mir, ſaß ich an der verlaſſenen Staͤtte lange
mit mir ſelbſt und glaubte niemals eine ſolche
Einſamkeit empfunden zu haben. Wie lieb¬
lich uͤberraſchte mich daher aus der Ferne der
Ton von ein Paar Waldhoͤrnern, der auf
einmal wie ein Balſamduft die ruhige At¬
moſphaͤre belebte. Da erwachte in mir das
Bild eines holden Weſens, das vor den bun¬
ten Geſtalten dieſer Reiſetage in den Hinter¬
grund gewichen war, es enthuͤllte ſich immer
mehr und mehr, und trieb mich von meinem
Platze nach der Herberge, wo ich Anſtalten
traf, mit dem fruͤhſten abzureiſen.
Der Ruͤckweg wurde nicht benutzt wie der
Herweg. So eilten wir durch Zweybruͤ¬
cken, das, als eine ſchoͤne und merkwuͤrdige
Reſidenz, wohl auch unſere Aufmerkſamkeit
verdient haͤtte. Wir warfen einen Blick auf
das große, einfache Schloß, auf die weit¬
laͤuftigen, regelmaͤßig mit Lindenſtaͤmmen be¬
pflanzten, zum Dreſſiren der Parforcepferde
wohleingerichteten Esplanaden, auf die gro¬
ßen Staͤlle, auf die Buͤrgerhaͤuſer, welche
der Fuͤrſt baute, um ſie ausſpielen zu laſſen.
Alles dieſes, ſo wie Kleidung und Betragen
der Einwohner, beſonders der Frauen und
Maͤdchen, deutete auf ein Verhaͤltniß in die
Ferne, und machte den Bezug aus Paris
anſchaulich, dem alles Ueberrheiniſche ſeit ge¬
raumer Zeit ſich nicht entziehen konnte. Wir
beſuchten auch den vor der Stadt liegenden
herzoglichen Keller, der weitlaͤuftig iſt, mit
großen und kuͤnſtlichen Faͤſſern verſehn. Wir
zogen weiter und fanden das Land zuletzt wie
im Saarbruͤckiſchen. Zwiſchen wilden und
rauhen Bergen wenig Doͤrfer; man verlernt
hier ſich nach Getraide umzuſehn. Den Horn¬
bach zur Seite ſtiegen wir nach Bitſch,
das an dem bedeutenden Platze liegt, wo die
Gewaͤſſer ſich ſcheiden, und ein Theil in die
Saar, ein Theil dem Rheine zufaͤllt; dieſe
letztern ſollten uns bald nach ſich ziehn. Doch
konnten wir dem Staͤdtchen Bitſch, das ſich
ſehr maleriſch um einen Berg herumſchlingt,
und der oben liegenden Feſtung unſere Auf¬
merkſamkeit nicht verſagen. Dieſe iſt theils
auf Felſen gebaut, theils in Felſen gehauen.
Die unterirdiſchen Raͤume ſind beſonders merk¬
wuͤrdig; hier iſt nicht allein hinreichender
Platz zum Aufenthalt einer Menge Men¬
ſchen und Vieh, ſondern man trifft ſogar
große Gewoͤlbe zum Exerciren, eine Muͤhle,
eine Capelle und was man unter der Erde
ſonſt fordern koͤnnte, wenn die Oberflaͤche be¬
unruhigt wuͤrde.
Den hinabſtuͤrzenden Baͤchen folgten wir
nunmehr durchs Baͤrenthal. Die dicken
Waͤlder auf beyden Hoͤhen ſind unbenutzt.
Hier faulen Staͤmme zu Tauſenden uͤber ein¬
ander, und junge Sproͤßlinge keimen in Un¬
zahl auf halbvermoderten Vorfahren. Hier
kam uns durch Geſpraͤche einiger Fußbegleiter
der Name von Dieterich wieder in die
Ohren, den wir ſchon oͤfter in dieſen Wald¬
gegenden ehrenvoll hatten ausſprechen hoͤren.
Die Thaͤtigkeit und Gewandtheit dieſes Man¬
nes, ſein Reichthum, die Benutzung und
Anwendung deſſelben, alles erſchien im Gleich¬
II. 33
gewicht; er konnte ſich mit Recht des Erwor¬
benen erfreuen, das er vermehrte, und das
Verdiente genießen, das er ſicherte. Jemehr
ich die Welt ſah, jemehr erfreute ich mich,
außer den allgemein beruͤhmten Namen, auch
beſonders an denen, die in einzelnen Gegen¬
den mit Achtung und Liebe genannt wurden;
und ſo erfuhr ich auch hier bey einiger Nach¬
frage gar leicht, daß von Dieterich fruͤher
als andre ſich der Gebirgsſchaͤtze, des Eiſens,
der Kohlen und des Holzes, mit gutem Er¬
folg zu bedienen gewußt und ſich zu einem
immer wachſenden Wohlhaben herangearbei¬
tet habe.
Niederbrunn, wohin wir gelangten,
war ein neues Zeugniß hiervon. Er hatte
dieſen kleinen Ort den Grafen von Leiningen
und andern Theilbeſitzern abgekauft, um in
der Gegend bedeutende Eiſenwerke einzu¬
richten.
Hier in dieſen von den Roͤmern ſchon
angelegten Baͤdern umſpuͤhlte mich der Geiſt
des Alterthums, deſſen ehrwuͤrdige Truͤmmer
in Reſten von Basreliefs und Inſchriften,
Saͤulenknaͤufen und Schaͤften mir aus Bau¬
erhoͤfen, zwiſchen wirthſchaftlichem Wuſt und
Geraͤthe, gar wunderſam entgegenleuchteten.
So verehrte ich auch, als wir die nahe
gelegene Waſenburg beſtiegen, an der gro¬
ßen Felsmaſſe, die den Grund der einen
Seite ausmacht, eine gut erhaltene Inſchrift,
die dem Mercur ein dankbares Geluͤbd ab¬
ſtattet. Die Burg ſelbſt liegt auf dem letz¬
ten Berge von Bitſch her gegen das Land
zu. Es ſind die Ruinen eines deutſchen, auf
roͤmiſche Reſte gebauten Schloſſes. Von dem
Thurm uͤberſah man abermals das ganze El¬
ſaß, und des Muͤnſters deutliche Spitze be¬
zeichnete die Lage von Straßburg. Zunaͤchſt
jedoch verbreitete ſich der große Hagenauer
33 *
Forſt, und die Thuͤrme dieſer Stadt ragten
dahinter ganz deutlich hervor. Dorthin wur¬
de ich gezogen. Wir ritten durch Reichs¬
hofen, wo von Dieterich ein bedeutendes
Schloß erbauen ließ, und nachdem wir, von
den Huͤgeln bey Niedermodern, den an¬
genehmen Lauf des Moderfluͤßchens am Ha¬
genauer Wald her betrachtet hatten, ließ ich
meinen Freund bey einer laͤcherlichen Stein¬
kohlengruben-Viſitation, die zu Dutweiler
freylich etwas ernſthafter wuͤrde geweſen ſeyn,
und ritt durch Hagenau, auf Richtwegen,
welche mir die Neigung ſchon andeutete, nach
dem geliebten Seſenheim.
Denn jene ſaͤmmlichen Ausſichten in eine
wilde Gebirgsgegend und ſodann wieder in
ein heiteres, fruchtbares, froͤhliches Land
konnten meinen innern Blick nicht feſſeln, der
auf einen liebenswuͤrdigen anziehenden Gegen¬
ſtand gerichtet war. Auch dießmal erſchien
mir der Herweg reizender als der Hinweg,
weil er mich wieder in die Naͤhe eines Frau¬
enzimmers brachte, der ich von Herzen er¬
geben war und welche ſoviel Achtung als Lie¬
be verdiente. Mir ſey jedoch, ehe ich meine
Freunde zu ihrer laͤndlichen Wohnung fuͤhre,
vergoͤnnt, eines Umſtandes zu erwaͤhnen, der
ſehr viel beytrug, meine Neigung und die
Zufriedenheit, welche ſie mir gewaͤhrte, zu
beleben und zu erhoͤhen.
Wie ſehr ich in der neuern Litteratur zu¬
ruͤckſeyn mußte, laͤßt ſich aus der Lebensart
ſchließen, die ich in Frankfurt gefuͤhrt, aus
den Studien, denen ich mich gewidmet hat¬
te, und mein Aufenthalt in Straßburg konn¬
te mich darin nicht foͤrdern. Nun kam Her¬
der und brachte neben ſeinen großen Kennt¬
niſſen noch manche Huͤlfsmittel und uͤberdieß
auch neuere Schriften mit. Unter dieſen kuͤn¬
digte er uns den Landprieſter von Wa¬
kefield als ein fuͤrtreffliches Werk an, von
dem er uns die deutſche Ueberſetzung durch
ſelbſteigne Vorleſung bekannt machen wolle.
Seine Art zu leſen war ganz eigen; wer
ihn predigen gehoͤrt hat, wird ſich davon ei¬
nen Begriff machen koͤnnen. Er trug alles,
und ſo auch dieſen Roman, ernſt und ſchlicht
vor; voͤllig entfernt von aller dramatiſchmi¬
miſchen Darſtellung, vermied er ſogar jene
Mannigfaltigkeit, die bey einem epiſchen Vor¬
trag nicht allein erlaubt iſt, ſondern wohl
gefordert wird: eine geringe Abwechſelung des
Tons, wenn verſchiedene Perſonen ſprechen,
wodurch das was eine jede ſagt, herausge¬
hoben und der Handelnde von dem Erzaͤh¬
lenden abgeſondert wird. Ohne monoton zu
ſeyn ließ Herder alles in Einem Ton hinter
einander folgen, eben als wenn nichts gegen¬
waͤrtig, ſondern alles nur hiſtoriſch waͤre, als
wenn die Schatten dieſer poetiſchen Weſen
nicht lebhaft vor ihm wirkten, ſondern nur
ſanft voruͤbergleiteten. Doch hatte dieſe Art
des Vortrags, aus ſeinem Munde, einen
unendlichen Reiz: denn weil er alles aufs
tiefſte empfand, und die Mannigfaltigkeit ei¬
nes ſolchen Werts hochzuſchaͤtzen wußte, ſo
trat das ganze Verdienſt einer Production rein
und um ſo deutlicher hervor, als man nicht
durch ſcharf ausgeſprochene Einzelnheiten ge¬
ſtoͤrt und aus der Empfindung geriſſen wurde,
welche das Ganze gewaͤhren ſollte.
Ein proteſtantiſcher Landgeiſtlicher iſt viel¬
leicht der ſchoͤnſte Gegenſtand einer modernen
Idylle; er erſcheint, wie Melchiſedech, als
Prieſter und Koͤnig in Einer Perſon. An
den unſchuldigſten Zuſtand, der ſich auf Er¬
den denken laͤßt, an den des Ackermanns, iſt
er meiſtens durch gleiche Beſchaͤftigung, ſo
wie durch gleiche Familienverhaͤltniſſe geknuͤpft;
er iſt Vater, Hausherr, Landmann und ſo
vollkommen ein Glied der Gemeine. Auf die¬
ſem reinen, ſchoͤnen, irdiſchen Grunde ruht
ſein hoͤherer Beruf; ihm iſt uͤbergeben, die
Menſchen ins Leben zu fuͤhren, fuͤr ihre gei¬
ſtige Erziehung zu ſorgen, ſie bey allen Haupt¬
epochen ihres Daſeyns zu ſegnen, ſie zu be¬
lehren, zu kraͤftigen, zu troͤſten, und, wenn
der Troſt fuͤr die Gegenwart nicht ausreicht,
die Hoffnung einer gluͤcklicheren Zukunft her¬
anzurufen und zu verbuͤrgen. Denke man
ſich einen ſolchen Mann, mit rein menſchli¬
chen Geſinnungen, ſtark genug, um unter
keinen Umſtaͤnden davon zu weichen, und ſchon
dadurch uͤber die Menge erhaben, von der
man Reinheit und Feſtigkeit nicht erwarten
kann; gebe man ihm die zu ſeinem Amte
noͤthigen Kenntniſſe, ſo wie eine heitere, glei¬
che Thaͤtigkeit, welche ſogar leidenſchaftlich iſt,
indem ſie keinen Augenblick verſaͤumt das Gute
zu wirken — und man wird ihn wohl aus¬
geſtattet haben. Zugleich aber fuͤge man die
noͤthige Beſchraͤnktheit hinzu, daß er nicht
allein in einem kleinen Kreiſe verharren, ſon¬
dern auch allenfalls in einen kleineren uͤberge¬
hen moͤge; man verleihe ihm Gutmuͤthigkeit,
Verſoͤhnlichkeit, Standhaftigkeit und was ſonſt
noch aus einem entſchiedenen Character Loͤb¬
liches hervorſpringt, und uͤber dieß alles eine
heitere Nachgiebigkeit und laͤchelnde Duldung
eigner und fremder Fehler: ſo hat man das
Bild unſeres trefflichen Wakefield ſo ziemlich
beyſammen.
Die Darſtellung dieſes Characters auf ſei¬
nem Lebensgange durch Freuden und Leiden,
das immer wachſende Intereſſe der Fabel,
durch Verbindung des ganz Natuͤrlichen mit
dem Sonderbaren und Seltſamen, macht die¬
ſen Roman zu einem der beſten, die je ge¬
ſchrieben worden; der noch uͤberdieß den gro¬
ßen Vorzug hat, daß er ganz ſittlich, ja im
reinen Sinne chriſtlich iſt, die Belohnung
des guten Willens, des Beharrens bey dem
Rechten darſtellt, das unbedingte Zutrauen
auf Gott beſtaͤtigt und den endlichen Triumph
des Guten uͤber das Boͤſe beglaubigt, und
dieß alles ohne eine Spur von Froͤmmeley
oder Pedantismus. Vor beyden hatte den
Verfaſſer der hohe Sinn bewahrt, der ſich
hier durchgaͤngig als Ironie zeigt, wodurch
dieſes Werkchen uns eben ſo weiſe als liebens¬
wuͤrdig entgegenkommen muß. Der Verfaſ¬
ſer, Doctor Goldſmith, hat ohne Frage gro¬
ße Einſicht in die moraliſche Welt, in ihren
Werth und in ihre Gebrechen; aber zugleich
mag er nur dankbar anerkennen, daß er ein
Englaͤnder iſt, und die Vortheile, die ihm
ſein Land, ſeine Nation darbietet, hoch an¬
rechnen. Die Familie, mit deren Schilde¬
rung er ſich beſchaͤftigt, ſteht auf einer der
letzten Stufen des buͤrgerlichen Behagens, und
doch kommt ſie mit dem Hoͤchſten in Beruͤh¬
rung; ihr enger Kreis, der ſich noch mehr
verengt, greift, durch den natuͤrlichen und
buͤrgerlichen Lauf der Dinge, in die große
Welt mit ein; auf der reichen bewegten Wo¬
ge des engliſchen Lebens ſchwimmt dieſer klei¬
ne Kahn, und in Wohl und Weh hat er
Schaden oder Huͤlfe von der ungeheueren
Flotte zu erwarten, die um ihn herſeegelt.
Ich kann vorausſetzen, daß meine Leſer
dieſes Werk kennen und im Gedaͤchtniß haben;
wer es zuerſt hier nennen hoͤrt, ſo wie der,
welcher aufgeregt wird, es wieder zu leſen,
beyde werden mir danken. Fuͤr jene bemerke
ich nur im Voruͤbergehn, daß des Landgeiſt¬
lichen Hausfrau von der thaͤtigen, guten Art
iſt, die es ſich und den Ihrigen an nichts
fehlen laͤßt, aber auch dafuͤr auf ſich und die
Ihrigen etwas einbildiſch iſt. Zwey Toͤchter,
Olivie, ſchoͤn und mehr nach Außen, So¬
phie, reizend und mehr nach Innen geſinnt;
einen fleißigen, dem Vater nacheifernden et¬
was herben Sohn, Moſes, will ich zu nen¬
nen nicht unterlaſſen.
Wenn Herder bey ſeiner Vorleſung eines
Fehlers beſchuldigt werden konnte, ſo war es
der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zu¬
hoͤrer einen gewiſſen Theil des Verlaufs ver¬
nommen und gefaßt haͤtte, um richtig dabey
empfinden und gehoͤrig denken zu koͤnnen: vor¬
eilig wollte er ſogleich Wirkungen ſehen, und
doch war er auch mit dieſen unzufrieden,
wenn ſie hervortraten. Er tadelte das Ueber¬
maß von Gefuͤhl, das bey mir von Schritt
zu Schritt mehr uͤberfloß. Ich empfand als
Menſch, als junger Menſch; mir war alles
lebendig, wahr, gegenwaͤrtig. Er, der bloß
Gehalt und Form beachtete, ſah freylich wohl,
daß ich vom Stoff uͤberwaͤltigt ward, und
das wollte er nicht gelten laſſen. Peglows
Reflexionen zunaͤchſt, die nicht von den fein¬
ſten waren, wurden noch uͤbler aufgenommen;
beſonders aber erzuͤrnte er ſich uͤber unſern
Mangel an Scharfſinn, daß wir die Contra¬
ſte, deren ſich der Verfaſſer oft bedient, nicht
vorausſahen, uns davon ruͤhren und hinrei¬
ßen ließen, ohne den oͤfters wiederkehrenden
Kunſtgriff zu merken. Daß wir aber gleich
zu Anfang, wo Burchel, indem er bey einer
Erzaͤhlung aus der dritten Perſon in die erſte
uͤbergeht, ſich zu verrathen im Begriff iſt,
daß wir nicht gleich eingeſehn oder wenigſtens
gemuthmaßt hatten, daß er der Lord, von
dem er ſpricht, ſelbſt ſey, verzieh er uns nicht,
und als wir zuletzt, bey Entdeckung und Ver¬
wandlung des armen kuͤmmerlichen Wanderers
in einen reichen, maͤchtigen Herrn, uns kind¬
lich freuten, rief er erſt jene Stelle zuruͤck,
die wir nach der Abſicht des Autors uͤber¬
hoͤrt hatten, und hielt uͤber unſern Stumpf¬
ſinn eine gewaltige Strafpredigt. Man ſieht
hieraus, daß er das Werk bloß als Kunſtpro¬
duct anſah und von uns das Gleiche verlang¬
te, die wir noch in jenen Zuſtaͤnden wandel¬
ten, wo es wohl erlaubt iſt, Kunſtwerke wie
Naturerzeugniſſe auf ſich wirken zu laſſen.
Ich ließ mich durch Herders Invectiven
keineswegs irre machen; wie denn junge Leu¬
te das Gluͤck oder Ungluͤck haben, daß, wenn
einmal etwas auf ſie gewirkt hat, dieſe Wir¬
kung in ihnen ſelbſt verarbeitet werden muß,
woraus denn manches Gute, ſo wie manches
Unheil entſteht. Gedachtes Werk hatte bey
mir einen großen Eindruck zuruͤckgelaſſen, von
dem ich mir ſelbſt nicht Rechenſchaft geben
konnte; eigentlich fuͤhlte ich mich aber in Ue¬
bereinſtimmung mit jener ironiſchen GeſinnuugGeſinnung,
die ſich uͤber die Gegenſtaͤnde, uͤber Gluͤck
und Ungluͤck, Gutes und Boͤſes, Tod und
Leben erhebt, und ſo zum Beſitz einer wahr¬
haft poetiſchen Welt gelangt. Freylich konnte
dieſes nur ſpaͤter bey mir zum Bewußtſeyn
kommen, genug, es machte mir fuͤr den Au¬
genblick viel zu ſchaffen; keineswegs aber haͤt¬
te ich erwartet alſobald aus dieſer fingirten
Welt in eine aͤhnliche wirkliche verſetzt zu
werden.
Mein Tiſchgenoſſe Weyland, der ſein ſtil¬
les fleißiges Leben dadurch erheiterte, daß er,
aus dem Elſaß gebuͤrtig, bey Freunden und
Verwandten in der Gegend von Zeit zu Zeit
einſprach, leiſtete mir auf meinen kleinen Ex¬
curſionen manchen Dienſt, indem er mich in
verſchiedenen Ortſchaften und Familien theils
perſoͤnlich, theils durch Empfehlungen einfuͤhr¬
te. Dieſer hatte mir oͤfters von einem Land¬
geiſtlichen geſprochen, der nahe bey Druſen¬
heim, ſechs Stunden von Straßburg, im
Beſitz einer guten Pfarre mit einer verſtaͤn¬
digen Frau und ein Paar liebenswuͤrdigen Toͤch¬
tern lebe. Die Gaſtfreyheit und Anmuth die¬
ſes Hauſes ward immer dabey hoͤchlich ge¬
ruͤhmt. Soviel bedurfte es kaum, um einen
jungen Ritter anzureizen, der ſich ſchon ange¬
woͤhnt hatte, alle abzumuͤßigenden Tage und
Stunden zu Pferde und in freyer Luft zuzu¬
bringen. Alſo entſchloſſen wir uns auch zu
dieſer Partie, wobey mir mein Freund ver¬
ſprechen mußte, daß er bey der Einfuͤhrung
weder Gutes noch Boͤſes von mir ſagen, uͤber¬
haupt aber mich gleichguͤltig behandeln wolle,
ſogar erlauben, wo nicht ſchlecht, doch etwas
aͤrmlich und nachlaͤſſig gekleidet zu erſcheinen.
Er willigte darein und verſprach ſich ſelbſt ei¬
nigen Spaß davon.
Es iſt eine verzeihliche Grille bedeutender
Menſchen, gelegentlich einmal aͤußere Vorzuͤge
in's Verborgene zu ſtellen, um den eignen
innern menſchlichen Gehalt deſto reiner wir¬
ken zu laſſen; deswegen hat das Incognito
der Fuͤrſten und die daraus entſpringenden
Abenteuer immer etwas hoͤchſt Angenehmes:
es erſcheinen verkleidete Gottheiten, die alles
Gute, was man ihrer Perſoͤnlichkeit erweiſt,
doppelt hoch anrechnen duͤrfen und im Fall
ſind, das Unerfreuliche entweder leicht zu neh¬
men, oder ihm ausweichen zu koͤnnen. Daß
Jupiter bey Philemon und Baucis, Heinrich
der vierte, nach einer Jagdpartie, unter ſei¬
nen Bauern ſich in ihrem Incognito wohlge¬
fallen, iſt ganz der Natur gemaͤß, und man
mag es gern; daß aber ein junger Menſch
ohne Bedeutung und Namen ſich einfallen
laͤßt, aus dem Incognito einiges Vergnuͤgen
zu ziehen, moͤchte mancher fuͤr einen unver¬
zeihlichen Hochmuth auslegen. Da aber hier
die Rede nicht iſt von Geſinnungen und
Handlungen, in wiefern ſie lobens- oder ta¬
delnswuͤrdig, ſondern wiefern ſie ſich offenba¬
ren und ereignen koͤnnen; ſo wollen wir fuͤr
dießmal, unſerer Unterhaltung zu Liebe, dem
Juͤngling ſeinen Duͤnkel verzeihen, um ſo
mehr, als ich hier anfuͤhren muß, daß von
Jugend auf in mir eine Luſt mich zu verklei¬
II. 34
den ſelbſt durch den ernſten Vater erregt
worden.
Auch dießmal hatte ich mich, theils durch
eigne aͤltere, theils durch einige geborgte Klei¬
dungsſtuͤcke und durch die Art die Haare zu
kaͤmmen, wo nicht entſtellt, doch wenigſtens
ſo wunderlich zugeſtutzt, daß mein Freund un¬
terwegs ſich des Lachens nicht erwehren konn¬
te, beſonders wenn ich Haltung und Gebaͤrde
ſolcher Figuren, wenn ſie zu Pferde ſitzen,
und die man lateiniſche Reiter nennt, voll¬
kommen nachzuahmen wußte. Die ſchoͤne
Chauſſee, das herrlichſte Wetter und die Naͤ¬
he des Rheins gaben uns den beſten Humor.
In Druſenheim hielten wir einen Augenblick
an, er, um ſich nett zu machen, und ich,
um mir meine Rolle zuruͤckzurufen, aus der
ich gelegentlich zu fallen fuͤrchtete. Die Ge¬
gend hier hat den Character des ganz freyen
ebenen Elſaſſes. Wir ritten einen anmuthi¬
gen Fußpfad uͤber Wieſen, gelangten bald
nach Seſenheim, ließen unſere Pferde im
Wirthshauſe und gingen gelaſſen nach dem
Pfarrhofe. — Laß dich, ſagte Weyland, in¬
dem er mir das Haus von weitem zeigte,
nicht irren, daß es einem alten und ſchlechten
Bauerhauſe aͤhnlich ſieht; inwendig iſt es de¬
ſto juͤnger. — Wir traten in den Hof; das
Ganze gefiel mir wohl: denn es hatte gerade
das, was man maleriſch nennt, und was
mich in der niederlaͤndiſchen Kunſt ſo zaube¬
riſch angeſprochen hatte. Jene Wirkung war
gewaltig ſichtbar, welche die Zeit uͤber alles
Menſchenwerk ausuͤbt. Haus und Scheune
und Stall befanden ſich in dem Zuſtande des
Verfalls gerade auf dem Puncte, wo man
unſchluͤßig, zwiſchen Erhalten und Neuauf¬
richten zweifelhaft, das Eine unterlaͤßt, ohne
zu dem Andern gelangen zu koͤnnen.
34 *
Alles war ſtill und menſchenleer, wie im
Dorfe ſo im Hofe. Wir fanden den Vater,
einen kleinen, in ſich gekehrten aber doch
freundlichen Mann, ganz allein: denn die Fa¬
milie war auf dem Felde. Er hieß uns will¬
kommen, bot uns eine Erfriſchung an, die
wir ablehnten. Mein Freund eilte die
Frauenzimmer aufzuſuchen, und ich blieb mit
unſerem Wirth allein. — Sie wundern ſich
vielleicht, ſagte er, daß Sie mich in einem
reichen Dorfe und bey einer eintraͤglichen
Stelle ſo ſchlecht quartiert finden; das kommt
aber, fuhr er fort, von der Unentſchloſſen¬
heit. Schon lange iſt mir's von der Gemei¬
ne, ja von den oberen Stellen zugeſagt, daß
das Haus neu aufgerichtet werden ſoll; meh¬
rere Riſſe ſind ſchon gemacht, gepruͤft, ver¬
aͤndert, keiner ganz verworfen und keiner aus¬
gefuͤhrt worden. Es hat ſo viele Jahre ge¬
dauert, daß ich mich vor Ungeduld kaum zu
faſſen weiß. — Ich erwiederte ihm, was ich
fuͤr ſchicklich hielt, um ſeine Hoffnung zu naͤh¬
ren und ihn aufzumuntern, daß er die Sache
ſtaͤrker betreiben moͤchte. Er fuhr darauf fort,
mit Vertrauen die Perſonen zu ſchildern, von
denen ſolche Sachen abhingen, und obgleich
er kein ſonderlicher Characterzeichner war, ſo
konnte ich doch recht gut begreifen, wie das
ganze Geſchaͤft ſtocken mußte. Die Zutrau¬
lichkeit des Mannes hatte was Eignes; er
ſprach zu mir als wenn er mich zehen Jahre
gekannt haͤtte, ohne daß irgend etwas in ſei¬
nem Blick geweſen waͤre, woraus ich einige
Aufmerkſamkeit auf mich haͤtte muthmaßen
koͤnnen. Endlich trat mein Freund mit der
Mutter herein. Dieſe ſchien mich mit ganz
andern Augen anzuſehn. Ihr Geſicht war
regelmaͤßig und der Ausdruck deſſelben ver¬
ſtaͤndig; ſie mußte in ihrer Jugend ſchoͤn ge¬
weſen ſeyn. Ihre Geſtalt war lang und ha¬
ger, doch nicht mehr als ſolchen Jahren ge¬
ziemt; ſie hatte vom Ruͤcken her noch ein
ganz jugendliches, angenehmes Anſehen. Die
aͤlteſte Tochter kam darauf lebhaft hereinge¬
ſtuͤrmt; ſie fragte nach Friedricken, ſo wie
die andern beyden auch nach ihr gefragt hat¬
ten. Der Vater verſicherte, ſie nicht geſehen
zu haben, ſeit dem alle drey fortgegangen.
Die Tochter fuhr wieder zur Thuͤre hinaus,
um die Schweſter zu ſuchen; die Mutter
brachte uns einige Erfriſchungen, und Wey¬
land ſetzte mit den beyden Gatten das Ge¬
ſpraͤch fort, das ſich auf lauter bewußte Per¬
ſonen und Verhaͤltniſſe bezog, wie es zu ge¬
ſchehn pflegt, wenn Bekannte nach einiger
Zeit zuſammenkommen, von den Gliedern
eines großen Zirkels Erkundigung einziehn
und ſich wechſelsweiſe berichten. Ich hoͤrte
zu und erfuhr nunmehr, wie viel ich mir
von dieſem Kreiſe zu verſprechen hatte.
Die aͤlteſte Tochter kam wieder haſtig in
die Stube, unruhig, ihre Schweſter nicht
gefunden zu haben. Man war beſorgt um
ſie und ſchalt auf dieſe oder jene boͤſe Ge¬
wohnheit, nur der Vater ſagte ganz ruhig:
laßt ſie immer gehn, ſie kommt ſchon wieder!
In dieſem Augenblick trat ſie wirklich in die
Thuͤre; und da ging fuͤrwahr an dieſem laͤnd¬
lichen Himmel ein allerliebſter Stern auf.
Beyde Toͤchter trugen ſich noch deutſch, wie
man es zu nennen pflegte, und dieſe faſt ver¬
draͤngte Nationaltracht kleidete Friedricken be¬
ſonders gut. Ein kurzes weißes rundes Roͤck¬
chen mit einer Falbel, nicht laͤnger als daß
die nettſten Fuͤßchen bis an die Knoͤchel ſicht¬
bar blieben; ein knappes weißes Mieder und
eine ſchwarze Taffetſchuͤrze — ſo ſtand ſie
auf der Grenze zwiſchen Baͤuerinn und Staͤd¬
terinn. Schlank und leicht, als wenn ſie
nichts an ſich zu tragen haͤtte, ſchritt ſie, und
beynahe ſchien fuͤr die gewaltigen blonden
Zoͤpfe des niedlichen Koͤpfchens der Hals zu
zart. Aus heiteren blauen Augen blickte ſie
ſehr deutlich umher, und das artige Stumpf¬
naͤschen forſchte ſo frey in die Luft, als wenn
es in der Welt keine Sorge geben koͤnnte;
der Strohhut hing ihr am Arm, und ſo
hatte ich das Vergnuͤgen, ſie beym erſten
Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth
und Lieblichkeit zu ſehn und zu erkennen.
Ich fing nun an meine Rolle mit Maͤßi¬
gung zu ſpielen, halb beſchaͤmt, ſo gute Men¬
ſchen zum beſten zu haben, die zu beobachten
es mir nicht an Zeit fehlte: denn die Maͤd¬
chen ſetzten jenes Geſpraͤch fort und zwar mit
Leidenſchaft und Laune. Saͤmmtliche Nach¬
barn und Verwandte wurden abermals vor¬
gefuͤhrt, und es erſchien meiner Einbildungs¬
kraft ein ſolcher Schwarm von Onclen und
Tanten, Vettern, Baſen, Kommenden, Ge¬
henden, Gevattern und Gaͤſten, daß ich in
der belebteſten Welt zu hauſen glaubte. Alle
Familienglieder hatten einige Worte mit mir
geſprochen, die Mutter betrachtete mich jedes¬
mal, ſo oft ſie kam oder ging, aber Fried¬
ricke ließ ſich zuerſt mit mir in ein Geſpraͤch
ein, und indem ich umherliegende Noten auf¬
nahm und durchſah, fragte ſie, ob ich auch
ſpiele. Als ich es bejahte, erſuchte ſie mich
etwas vorzutragen; aber der Vater ließ mich
nicht dazu kommen: denn er behauptete, es
ſey ſchicklich, dem Gaſte zuerſt mit irgend ei¬
nem Muſikſtuͤck oder einem Liede zu dienen.
Sie ſpielte verſchiedenes mit einiger Fer¬
tigkeit, in der Art, wie man es auf dem
Lande zu hoͤren pflegt, und zwar auf einem
Clavier, das der Schulmeiſter ſchon laͤngſt
haͤtte ſtimmen ſollen, wenn er Zeit gehabt
haͤtte. Nun ſollte ſie auch ein Lied ſingen,
ein gewiſſes zaͤrtlich-trauriges; das gelang
ihr nun gar nicht. Sie ſtand auf und ſagte
laͤchelnd, oder vielmehr mit dem auf ihrem
Geſicht immerfort ruhenden Zuge von heiterer
Freude: wenn ich ſchlecht ſinge, ſo kann ich
die Schuld nicht auf das Clavier und den
Schulmeiſter werfen; laſſen Sie uns aber
nur hinauskommen, dann ſollen Sie meine
Elſaſſer- und Schweizerliedchen hoͤren, die
klingen ſchon beſſer.
Beym Abendeſſen beſchaͤftigte mich eine
Vorſtellung, die mich ſchon fruͤher uͤberfallen
hatte, dergeſtalt, daß ich nachdenklich und
ſtumm wurde, obgleich die Lebhaftigkeit der
aͤlteren Schweſter und die Anmuth der juͤn¬
gern mich oft genug aus meinen Betrachtun¬
gen ſchuͤttelten. Meine Verwunderung war
uͤber allen Ausdruck, mich ſo ganz leibhaftig
in der Wakefieldſchen Familie zu finden. Der
Vater konnte freylich nicht mit jenem treffli¬
chen Manne verglichen werden; allein wo
gaͤbe es auch ſeinesgleichen! Dagegen ſtellte
ſich alle Wuͤrde, welche jenem Ehegatten ei¬
gen iſt, hier in der Gattinn dar. Man konn¬
te ſie nicht anſehen, ohne ſie zugleich zu eh¬
ren und zu ſcheuen. Man bemerkte bey ihr
die Folgen einer guten Erziehung; ihr Betra¬
gen war ruhig, frey, heiter und einladend.
Hatte die aͤltere Tochter nicht die geruͤhm¬
te Schoͤnheit Oliviens, ſo war ſie doch wohl
gebaut, lebhaft und eher heftig; ſie zeigte
ſich uͤberall thaͤtig und ging der Mutter in
allem an Handen. Friedricken an die Stelle
von Primroſens Sophie zu ſetzen, war nicht
ſchwer: denn von jener iſt wenig geſagt, man
giebt nur zu, daß ſie liebenswuͤrdig ſey; die¬
ſe war es wirklich. Wie nun daſſelbe Ge¬
ſchaͤft, derſelbe Zuſtand uͤberall, wo er vor¬
kommen mag, aͤhnliche, wo nicht gleiche Wir¬
kungen hervorbringt; ſo kam auch hier man¬
ches zur Sprache, es geſchah gar manches,
was in der Wakefieldſchen Familie ſich auch
ſchon ereignet hatte. Als nun aber gar zu¬
letzt ein laͤngſt angekuͤndigter und von dem
Vater mit Ungeduld erwarteter juͤngerer Sohn
ins Zimmer ſprang und ſich dreuſt zu uns
ſetzte, indem er von den Gaͤſten wenig No¬
tiz nahm, ſo enthielt ich mich kaum auszu¬
rufen: Moſes, biſt du auch da!
Die Unterhaltung bey Tiſche erweiterte
die Anſicht jenes Land- und Familienkreiſes,
indem von mancherley luſtigen Begebenheiten,
die bald da bald dort vorgefallen, die Rede
war. Friedricke, die neben mir ſaß, nahm
daher Gelegenheit, mir verſchiedene Ortſchaf¬
ten zu beſchreiben, die es wohl zu beſuchen
der Muͤhe werth ſey. Da immer ein Ge¬
ſchichtchen das andere hervorruft, ſo konnte
ich nun auch mich deſto beſſer in das Geſpraͤch
miſchen und aͤhnliche Begebenheiten erzaͤhlen,
und weil hiebey ein guter Landwein keines¬
wegs geſchont wurde, ſo ſtand ich in Gefahr,
aus meiner Rolle zu fallen, weshalb der vor¬
ſichtigere Freund den ſchoͤnen Mondſchein zum
Vorwand nahm und auf einen Spazirgang
antrug, welcher denn auch ſogleich beliebt
wurde. Er bot der aͤlteſten den Arm, ich
der juͤngſten, und ſo zogen wir durch die wei¬
ten Fluren, mehr den Himmel uͤber uns zum
Gegenſtande habend, als die Erde, die ſich
neben uns in der Breite verlor. Friedrickens
Reden jedoch hatten nichts Mondſcheinhaftes;
durch die Klarheit, womit ſie ſprach, machte
ſie die Nacht zum Tage, und es war nichts
darin was eine Empfindung angedeutet oder
erweckt haͤtte, nur bezogen ſich ihre Aeuße¬
rungen mehr als bisher auf mich, indem ſie
ſowohl ihren Zuſtand als die Gegend und ihre
Bekannten mir von der Seite vorſtellte, wie¬
fern ich ſie wuͤrde kennen lernen: denn ſie
hoffe, ſetzte ſie hinzu, daß ich keine Ausnah¬
me machen und ſie wieder beſuchen wuͤrde,
wie jeder Fremde gern gethan, der einmal
bey ihnen eingekehrt ſey.
Es war mir ſehr angenehm, ſtillſchwei¬
gend der Schilderung zuzuhoͤren, die ſie von
der kleinen Welt machte, in der ſie ſich be¬
wegte, und von denen Menſchen, die ſie be¬
ſonders ſchaͤtzte. Sie brachte mir dadurch ei¬
nen klaren und zugleich ſo liebenswuͤrdigen
Begriff von ihrem Zuſtande bey, der ſehr
wunderlich auf mich wirkte: denn ich empfand
auf einmal einen tiefen Verdruß, nicht fruͤher
mit ihr gelebt zu haben, und zugleich ein recht
peinliches, neidiſches Gefuͤhl gegen alle, welche
das Gluͤck gehabt hatten, ſie bisher zu umgeben.
Ich paßte ſogleich, als wenn ich ein Recht dazu
gehabt hatte, genau auf alle ihre Schilderungen
von Maͤnnern, ſie mochten unter den Namen
von Nachbarn, Vettern oder Gevattern auf¬
treten, und lenkte bald da bald dorthin meine
Vermuthung; allein wie haͤtte ich etwas ent¬
decken ſollen in der voͤlligen Unbekanntſchaft al¬
ler Verhaͤltniſſe. Sie wurde zuletzt immer
redſeliger und ich immer ſtiller. Es hoͤrte
ſich ihr gar ſo gut zu, und da ich nur ihre
Stimme vernahm, ihre Geſichtsbildung aber
ſo wie die uͤbrige Welt in Daͤmmerung
ſchwebte, ſo war es mir, als ob ich in ihr
Herz ſaͤhe, das ich hoͤchſt rein finden mußte,
da es ſich in ſo unbefangener Geſchwaͤtzigkeit
vor mir eroͤffnete.
Als mein Gefaͤhrte mit mir in das fuͤr
uns zubereitete Gaſtzimmer gelangte, brach
er ſogleich mit Selbſtgefaͤlligkeit in behaglichen
Scherz aus und that ſich viel darauf zu Gu¬
te, mich mit der Aehnlichkeit der Primroſi¬
ſchen Familie ſo ſehr uͤberraſcht zu haben.
Ich ſtimmte mit ein, indem ich mich dankbar
erwies. — Fuͤrwahr! rief er aus, das Maͤhr¬
chen iſt ganz beyſammen. Dieſe Familie ver¬
gleicht ſich jener ſehr gut, und der verkappte
Herr da mag ſich die Ehre anthun, fuͤr Herrn
Burchel gelten zu wollen; ferner, weil wir im
gemeinen Leben die Boͤſewichter nicht ſo noͤ¬
thig haben als in Romanen, ſo will ich fuͤr
dießmal die Rolle des Neffen uͤbernehmen und
mich beſſer auffuͤhren als er. Ich verließ je¬
doch ſogleich dieſes Geſpraͤch, ſo angenehm es
mir auch ſeyn mochte, und fragte ihn vor
allen Dingen auf ſein Gewiſſen, ob er mich
wirklich nicht verrathen habe. Er betheuerte
nein! und ich durfte ihm glauben. Sie haͤt¬
ten ſich vielmehr, ſagte er, nach dem luſtigen
Tiſchgeſellen erkundigt, der in Straßburg mit
ihm in Einer Penſion ſpeiſe und von dem man
ihnen allerley verkehrtes Zeug erzaͤhlt habe.
Ich ſchritt nun zu andern Fragen: ob ſie ge¬
liebt habe? ob ſie liebe? ob ſie verſprochen
ſey? Er verneinte das alles. — Fuͤrwahr!
verſetzte ich, eine ſolche Heiterkeit von Natur
aus iſt mir unbegreiflich. Haͤtte ſie geliebt
und verloren und ſich wieder gefaßt, oder waͤ¬
re ſie Braut, in beyden Faͤllen wollte ich es
gelten laſſen.
So ſchwatzten wir zuſammen tief in die
Nacht, und ich war ſchon wieder munter als
es tagte. Das Verlangen ſie wieder zu ſe¬
hen ſchien unuͤberwindlich; allein indem ich
mich anzog, erſchrak ich uͤber die verwuͤnſch¬
te Garderobe, die ich mir ſo freventlich aus¬
geſucht hatte. Je weiter ich kam, meine
Kleidungsſtuͤcke anzulegen, deſto niedertraͤchti¬
ger erſchien ich mir: denn alles war ja auf
dieſen Effect berechnet. Mit meinen Haaren
waͤre ich allenfalls noch fertig geworden; aber
wie ich mich zuletzt in den geborgten, abge¬
tragenen grauen Rock einzwaͤngte und die
kurzen Aermel mir das abgeſchmackteſte Anſe¬
hen gaben, fiel ich deſto entſchiedener in Ver¬
zweifelung, als ich mich in einem kleinen
Spiegel nur theilweiſe betrachten konnte; da
denn immer ein Theil laͤcherlicher ausſah als
der andre.
ll. 35
Ueber dieſer Toilette war mein Freund
aufgewacht und blickte, mit der Zufriedenheit
eines guten Gewiſſens und im Gefuͤhl einer
freudigen Hoffnung fuͤr den Tag, aus der ge¬
ſtopften ſeidenen Decke. Ich hatte ſchon ſeine
huͤbſchen Kleider, wie ſie uͤber den Stuhl hin¬
gen, laͤngſt beneidet, und waͤre er von meiner
Taille geweſen, ich haͤtte ſie ihm vor den Au¬
gen weggetragen, mich draußen umgezogen und
ihm meine verwuͤnſchte Huͤlle, in den Garten
eilend, zuruͤckgelaſſen; er haͤtte guten Humor
genug gehabt, ſich in meine Kleider zu ſte¬
cken, und das Maͤhrchen waͤre bey fruͤhem
Morgen zu einem luſtigen Ende gelangt.
Daran war aber nun gar nicht zu denken,
ſo wenig als wie an irgend eine ſchickliche
Vermittelung. In der Figur, in der mich
mein Freund fuͤr einen zwar fleißigen und ge¬
ſchickten aber armen Studioſen der Theologie
ausgeben konnte, wieder vor Friedricken hin¬
zutreten, die geſtern Abend an mein verkleide¬
tes Selbſt ſo freundlich geſprochen hatte, das
war mir ganz unmoͤglich. Aergerlich und ſin¬
nend ſtand ich da und bot all mein Erfin¬
dungsvermoͤgen auf; allein es verließ mich.
Als nun aber gar der behaglich Ausgeſtreckte,
nachdem er mich eine Weile fixirt hatte, auf
einmal in ein lautes Lachen ausbrach und aus¬
rief: Nein! es iſt wahr, du ſiehſt ganz ver¬
wuͤnſcht aus! verſetzte ich heftig: Und ich
weiß was ich thue, leb wohl und entſchuldige
mich! — Biſt du toll! rief er, indem er aus
dem Bette ſprang und mich aufhalten wollte.
Ich war aber ſchon zur Thuͤre hinaus, die
Treppe hinunter, aus Haus und Hof, nach
der Schenke; im Nu war mein Pferd geſat¬
telt und ich eilte in raſendem Unmuth galop¬
pirend nach Druſenheim, den Ort hindurch
und immer weiter.
Da ich mich nun in Sicherheit glaubte,
ritt ich langſamer und fuͤhlte nun erſt, wie
35*
unendlich ungern ich mich entfernte. Ich er¬
gab mich aber in mein Schickſal, vergegenwaͤr¬
tigte mir den Spazirgang von geſtern Abend mit
der groͤßten Ruhe und naͤhrte die ſtille Hoff¬
nung, Sie bald wieder zu ſehn. Doch ver¬
wandelte ſich dieſes ſtille Gefuͤhl bald wieder
in Ungeduld, und nun beſchloß iſt, ſchnell in
die Stadt zu reiten, mich umzuziehen, ein
gutes friſches Pferd zu nehmen; da ich denn
wohl allenfalls, wie mir die Leidenſchaft vorſpie¬
gelte, noch vor Tiſche, oder, wie es wahrſchein¬
licher war, zum Nachtiſche oder gegen Abend ge¬
wiß wieder eintreffen und meine Vergebung er¬
bitten konnte.
Eben wollte ich meinem Pferde die Spo¬
ren geben, um dieſen Vorſatz auszufuͤhren,
als mir ein anderer und, wie mich daͤuchte,
ſehr gluͤcklicher Gedanke durch den Geiſt fuhr.
Schon geſtern hatte ich im Gaſthofe zu Dru¬
ſenheim einen ſehr ſauber gekleideten Wirths¬
ſohn bemerkt, der auch heute fruͤh, mit laͤnd¬
lichen Anordnungen beſchaͤftigt, mich aus ſei¬
nem Hofe begruͤßte. Er war von meiner Ge¬
ſtalt und hatte mich fluͤchtig an mich ſelbſt er¬
innert. Gedacht, gethan! Mein Pferd war
kaum umgewendet, ſo befand ich mich in
Druſenheim; ich brachte es in den Stall und
machte dem Burſchen kurz und gut den Vor¬
trag: er ſolle mir ſeine Kleider borgen, weil
ich in Seſenheim etwas Luſtiges vorhabe.
Da brauchte ich nicht auszureden; er nahm
den Vorſchlag mit Freuden an und lobte
mich, daß ich den Mamſells einen Spaß
machen wolle; ſie waͤren ſo brav und gut,
beſonders Mamſell Rieckchen, und auch die
Aeltern ſaͤhen gerne, daß es immer luſtig und
vergnuͤgt zuginge. Er betrachtete mich auf¬
merkſam, und da er mich nach meinem Auf¬
zug fuͤr einen armen Schlucker halten mochte,
ſo ſagte er: wenn Sie ſich inſinuiren wollen,
ſo iſt das der rechte Weg. Wir waren in¬
deſſen ſchon weit in unſerer Umkleidung ge¬
kommen, und eigentlich ſollte er mir ſeine
Feſttagskleider gegen die meinigen nicht anver¬
trauen; doch er war treuherzig und hatte ja
mein Pferd im Stalle. Ich ſtand bald und
recht ſchmuck da, warf mich in die Bruſt,
und mein Freund ſchien ſein Ebenbild mit
Behaglichkeit zu betrachten. — Top Herr
Bruder! ſagte er, indem er mir die Hand
hinreichte, in die ich wacker einſchlug, komme
er meinem Maͤdel nicht zu nah, ſie moͤchte ſich
vergreifen.
Meine Haare, die nunmehr wieder ihren
voͤlligen Wuchs hatten, konnte ich ohngefaͤhr
wie die ſeinigen ſcheiteln, und da ich ihn
wiederholt betrachtete, ſo fand ichs luſtig,
ſeine dichteren Augenbrauen mit einem gebrann¬
ten Korkſtoͤpſel maͤßig nachzuahmen und ſie
in der Mitte naͤher zuſammenzuziehen, um
mich bey meinem raͤthſelhaften Vornehmen
auch aͤußerlich zum Raͤthſel zu bilden. Habt
Ihr nun, ſagte ich, als er mir den bebaͤn¬
derten Hut reichte, nicht irgend etwas in der
Pfarre auszurichten, daß ich mich auf eine
natuͤrliche Weiſe dort anmelden koͤnnte? —
Gut! verſetzte er, aber da muͤſſen Sie noch
zwey Stunden warten. Bey uns iſt eine
Woͤchnerinn; ich will mich erbieten, den Ku¬
chen der Frau Pfarrinn zu bringen, den moͤ¬
gen Sie dann hinuͤbertragen. Hoffarth muß
Noth leiden und der Spaß denn auch. —
Ich entſchloß mich zu warten, aber dieſe
zwey Stunden wurden mir unendlich lang und
ich verging vor Ungeduld, als die dritte ver¬
floß, ehe der Kuchen aus dem Ofen kam.
Ich empfing ihn endlich ganz warm, und eil¬
te, bey dem ſchoͤnſten Sonnenſchein, mit
meinem Creditiv davon, noch eine Strecke
von meinem Ebenbild begleitet, welches gegen
Abend nachzukommen und mir meine Kleider
zu bringen verſprach, die ich aber lebhaft
ablehnte und mir vorbehielt, ihm die ſeinigen
wieder zuzuſtellen.
Ich war nicht weit mit meiner Gabe ge¬
ſprungen, die ich in einer ſauberen zuſam¬
mengeknuͤpften Serviette trug, als ich in der
Ferne meinen Freund mit den beyden Frau¬
enzimmern mir entgegen kommen ſah. Mein
Herz war beklommen, wie ſich's eigentlich un¬
ter dieſer Jacke nicht ziemte. Ich blieb ſte¬
hen, holte Athem und ſuchte zu uͤberlegen,
was ich beginnen ſolle; und nun bemerkte ich
erſt, daß das Terrain mir ſehr zu Statten
kam: denn ſie gingen auf der andern Seite
des Baches, der, ſo wie die Wieſenſtreifen,
durch die er hinlief, zwey Fußpfade ziemlich
aus einander hielt. Als ſie gegen mir uͤber
waren rief Friedricke, die mich ſchon lange
gewahrt hatte: Georges, was bringſt du?
Ich war klug genug, das Geſicht mit dem
Hute, den ich abnahm, zu bedecken, indem
ich die beladene Serviette hoch in die Hoͤhe
hielt. — Ein Kindtaufkuchen! rief ſie da¬
gegen; wie geht's der Schweſter? — Guet,
ſagte ich, indem ich, wo nicht Elſaſſiſch,
doch fremd zu reden ſuchte. — Trag ihn
nach Hauſe! ſagte die aͤlteſte, und wenn du
die Mutter nicht findeſt, gieb ihn der Magd;
aber wart' auf uns, wir kommen bald wie¬
der, hoͤrſt du! — Ich eilte meinen Pfad
hin, im Frohgefuͤhl der beſten Hoffnung, daß
alles gut ablaufen muͤſſe, da der Anfang
gluͤcklich war, und hatte bald die Pfarrwoh¬
nung erreicht. Ich fand Niemand weder im
Haus noch in der Kuͤche; den Herrn, den
ich beſchaͤftigt in der Studirſtube vermuthen
konnte, wollte ich nicht aufregen, ich ſetzte
mich deshalb auf die Bank vor der Thuͤre,
den Kuchen neben mich und druͤckte den Hut
ins Geſicht.
Ich erinnere mich nicht leicht einer ange¬
nehmern Empfindung. Hier an dieſer Schwel¬
le wieder zu ſitzen, uͤber die ich vor kurzem
in Verzweiflung hinausgeſtolpert war; ſie ſchon
wieder geſehn, ihre liebe Stimme ſchon wie¬
der gehoͤrt zu haben, kurz nachdem mein Un¬
muth mir eine lange Trennung vorgeſpiegelt
hatte; jeden Augenblick ſie ſelbſt und eine
Entdeckung zu erwarten, vor der mir das
Herz klopfte, und doch, in dieſem zweydeu¬
tigen Falle, eine Entdeckung ohne Beſchaͤ¬
mung; dann, gleich zum Eintritt einen ſo
luſtigen Streich, als keiner derjenigen, die
geſtern belacht worden waren! Liebe und Noth
ſind doch die beſten Meiſter, hier wirkten ſie
zuſammen und der Lehrling war ihrer nicht
unwerth geblieben.
Die Magd kam aber aus der Scheune
getreten. — Nun! ſind die Kuchen gerathen?
rief ſie mich an, wie gehts der Schweſter?
— Alles guet, ſagte ich und deutete auf den
Kuchen, ohne aufzuſehen. Sie faßte die
Serviette und murrte: Nun was haſt du
heute wieder? hat Baͤrbchen wieder einmal
einen Andern angeſehn? Laß es uns nicht ent¬
gelten! Das wird eine ſaubere Ehe werden,
wenn's ſo fort geht. Da ſie ziemlich laut
ſprach, kam der Pfarrer ans Fenſter und
fragte, was es gebe? Sie bedeutete ihn; ich
ſtand auf und kehrte mich nach ihm zu, doch
hielt ich den Hut wieder uͤber's Geſicht. Als
er etwas Freundliches geſprochen und mich zu
bleiben geheißen hatte, ging ich nach dem
Garten und wollte eben hineintreten, als die
Pfarrinn, die zum Hofthore hereinkam, mich
anrief. Da mir die Sonne gerade in's Ge¬
ſicht ſchien, ſo bediente ich mich abermals des
Vortheils, den mir der Hut gewaͤhrte, gruͤ߬
te ſie mit einem Scharrfuß, ſie aber ging in
das Haus, nachdem ſie mir zugeſprochen hat¬
te, ich moͤchte nicht weggehen, ohne etwas
genoſſen zu haben. Ich ging nunmehr in
dem Garten auf und ab; alles hatte bisher
den beſten Erfolg gehabt, doch holte ich tief
Athem, wenn ich dachte, daß die jungen Leu¬
te nun bald herankommen wuͤrden. Aber un¬
vermuthet trat die Mutter zu mir und wollte
eben eine Frage an mich thun, als ſie mir
ins Geſicht ſah, das ich nicht mehr verber¬
gen konnte, und ihr das Wort im Munde
ſtockte. — Ich ſuche Georgen, ſagte ſie nach
einer Pauſe, und wen finde ich! Sind Sie
es, junger Herr? wie viel Geſtalten haben
Sie denn? — Im Ernſt nur Eine, verſetzte
ich, zum Scherz ſoviel Sie wollen. — Den
will ich nicht verderben, laͤchelte ſie; gehen
Sie hinten zum Garten hinaus und auf der
Wieſe hin, bis es Mittag ſchlaͤgt, dann keh¬
ren Sie zuruͤck und ich will den Spaß ſchon
eingeleitet haben. Ich that's; allein da ich
aus den Hecken der Dorfgaͤrten heraus war
und die Wieſen hingehen wollte, kamen ge¬
rade einige Landleute den Fußpfad her, die
mich in Verlegenheit ſetzten. Ich lenkte des¬
halb nach einem Waͤldchen, das ganz nah
eine Erderhoͤhung bekroͤnte, um mich darin
bis zur beſtimmten Zeit zu verbergen. Doch
wie wunderlich ward mir zu Muthe als ich
hineintrat: denn es zeigte ſich mir ein rein¬
licher Platz mit Baͤnken, von deren jeder man
eine huͤbſche Ausſicht in die Gegend gewann.
Hier war das Dorf und der Kirchthurm,
hier Druſenheim und dahinter die waldigen
Rheininſeln, gegenuͤber die Vogeſiſchen Ge¬
birge und zuletzt der Straßburger Muͤnſter.
Dieſe verſchiedenen himmelhellen Gemaͤlde
waren durch buſchige Rahmen eingefaßt, ſo
daß man nichts Erfreulicheres und Angeneh¬
meres ſehen konnte. Ich ſetzte mich auf eine
der Baͤnke und bemerkte an dem ſtaͤrkſten
Baum ein kleines laͤngliches Brett mit der
Inſchrift: Friedrickens Ruhe. Es fiel mir
nicht ein, daß ich gekommen ſeyn koͤnnte, die¬
ſe Ruhe zu ſtoͤren: denn eine aufkeimende
Leidenſchaft hat das Schoͤne, daß, wie ſie
ſich ihres Urſprungs unbewußt iſt, ſie auch
keinen Gedanken eines Endes haben, und
wie ſie ſich froh und heiter fuͤhlt, nicht ahn¬
den kann; daß ſie wohl auch Unheil ſtiften
duͤrfte.
Kaum hatte ich Zeit gehabt mich umzu¬
ſehn, und verlor mich eben in ſuͤße Traͤume¬
reyen, als ich Jemand kommen hoͤrte; es
war Friedricke ſelbſt. — Georges, was machſt
du hier? rief ſie von weitem. — Nicht Geor¬
ges! rief ich, indem ich ihr entgegenlief;
aber einer, der tauſendmal um Verzeihung
bittet. Sie betrachtete mich mit Erſtaunen,
nahm ſich aber gleich zuſammen und ſagte
nach einem tieferen Athemholen: Garſtiger
Menſch, wie erſchrecken Sie mich! — Die
erſte Masque hat mich in die zweyte getrie¬
ben, rief ich aus; jene waͤre unverzeihlich ge¬
weſen, wenn ich nur einigermaßen gewußt
haͤtte, zu wem ich ging, dieſe vergeben Sie
gewiß: denn es iſt die Geſtalt von Menſchen,
denen Sie ſo freundlich begegnen. — Ihre
blaͤßlichen Wangen hatten ſich mit dem ſchoͤn¬
ſten Roſenrothe gefaͤrbt. — Schlimmer ſollen
Sie's wenigſtens nicht haben als Georges!
Aber laſſen Sie uns ſitzen! Ich geſtehe es,
der Schreck iſt mir in die Glieder gefahren.
— Ich ſetzte mich zu ihr, aͤußerſt bewegt. —
Wir wiſſen alles bis heute fruͤh durch Ihren
Freund, ſagte ſie, nun erzaͤhlen Sie mir das
Weitere. Ich ließ mir das nicht zweymal
ſagen, ſondern beſchrieb ihr meinen Abſcheu
vor der geſtrigen Figur, mein Fortſtuͤrmen
aus dem Hauſe ſo komiſch, daß ſie herzlich
und anmuthig lachte; dann ließ ich das Ue¬
brige folgen, mit aller Beſcheidenheit zwar,
doch leidenſchaftlich genug, daß es gar wohl
fuͤr eine Liebeserklaͤrung in hiſtoriſcher Form
haͤtte gelten koͤnnen. Das Vergnuͤgen ſie
wieder zu finden, feyerte ich zuletzt mit einem
Kuſſe auf ihre Hand, die ſie in den meini¬
gen ließ. Hatte ſie bey dem geſtrigen Mond¬
ſcheingang die Unkoſten des Geſpraͤchs uͤber¬
nommen, ſo erſtattete ich die Schuld nun
reichlich von meiner Seite. Das Vergnuͤgen,
ſie wiederzuſehn und ihr alles ſagen zu koͤn¬
nen, was ich geſtern zuruͤckhielt, war ſo groß,
daß ich in meiner Redſeligkeit nicht bemerkte,
wie ſie ſelbſt nachdenkend und ſchweigend war.
Sie holte einige Mal tief Athem, und ich
bat ſie aber und abermal um Verzeihung
wegen des Schrecks, den ich ihr verurſacht
hatte. Wie lange wir moͤgen geſeſſen haben,
weiß ich nicht; aber auf einmal hoͤrten wir
Rieckchen! Rieckchen! rufen. Es war die
Stimme der Schweſter. — Das wird eine
ſchoͤne Geſchichte geben, ſagte das liebe Maͤd¬
chen, zu ihrer voͤlligen Heiterkeit wieder her¬
geſtellt. Sie kommt an meiner Seite her,
fuͤgte ſie hinzu, indem ſie ſich vorbog, mich
halb zu verbergen: wenden Sie ſich weg, da¬
mit man Sie nicht gleich erkennt. Die
Schweſter trat in den Platz, aber nicht allein,
Weyland ging mit ihr, und beyde, da ſie uns
erblickten, blieben wie verſteinert.
Wenn wir auf einmal aus einem ruhigen
Dache eine Flamme gewaltſam ausbrechen ſaͤ¬
hen, oder einem Ungeheuer begegneten, deſ¬
ſen Misgeſtalt zugleich empoͤrend und fuͤrch¬
terlich waͤre, ſo wuͤrden wir von keinem ſo
grimmigen Entſetzen befallen werden als das¬
jenige iſt, das uns ergreift, wenn wir etwas
unerwartet mit Augen ſehen, das wir mora¬
liſch unmoͤglich glaubten. — Was heißt das?
rief jene mit der Haſtigkeit eines Erſchrocke¬
nen: was iſt das? Du mit Georgen! Hand
in Hand! Wie begreif' ich das? — Liebe
Schweſter, verſetzte Friedricke ganz bedenk¬
lich, der arme Menſch, er bittet mir was
ab, er hat dir auch was abzubitten, du
II. 36
mußt ihm aber zum Voraus verzeihen. —
Ich verſtehe nicht, ich begreife nicht, ſagte
die Schweſter, indem ſie den Kopf ſchuͤttelte
und Weylanden anſah, der, nach ſeiner ſtil¬
len Art, ganz ruhig daſtand und die Sce¬
ne ohne irgend eine Aeußerung betrachtete.
Friedricke ſtand auf und zog mich nach ſich.
Nicht gezaudert! rief ſie, Pardon gebeten
und gegeben! Nun ja! ſagte ich, indem ich
der aͤlteſten ziemlich nahe trat: Pardon habe
ich von Noͤthen! Sie fuhr zuruͤck, that ei¬
nen lauten Schrey und wurde roth uͤber und
uͤber; dann warf ſie ſich aufs Gras, lachte
uͤberlaut und wollte ſich gar nicht zufrieden
geben. Weyland laͤchelte behaglich und rief:
Du biſt ein excellenter Junge! Dann ſchuͤt¬
telte er meine Hand in der ſeinigen. Ge¬
woͤhnlich war er mit Liebkoſungen nicht frey¬
gebig, aber ſein Haͤndedruck hatte etwas Herz¬
liches und Belebendes; doch war er auch mit
dieſem ſparſam.
Nach einiger Erholung und Sammlung
traten wir unſern Ruͤckweg nach dem Dorfe
an. Unterwegs erfuhr ich, wie dieſes wun¬
derbare Zuſammentreffen veranlaßt worden.
Friedricke hatte ſich von dem Spazirgange zu¬
letzt abgeſondert, um auf ihrem Plaͤtzchen
noch einen Augenblick vor Tiſche zu ruhen,
und als jene beyden nach Hauſe gekommen,
hatte die Mutter ſie abgeſchickt, Friedricken
eiligſt zu holen, weil das Mittagseſſen bereit ſey.
Die Schweſter zeigte den ausgelaſſenſten
Humor, und als ſie erfuhr, daß die Mut¬
ter das Geheimniß ſchon entdeckt habe, rief
ſie aus: Nun iſt noch uͤbrig, daß Vater,
Bruder, Knecht und Magd gleichfalls ange¬
fuͤhrt werden. Als wir uns an dem Garten¬
zaun befanden, mußte Friedricke mit dem
Freund voraus nach dem Hauſe gehen. Die
Magd war im Hausgarten beſchaͤftigt und
Olivie (ſo mag auch hier die aͤltere Schwe¬
36 *
ſter heißen) rief ihr zu: Warte, ich habe
dir was zu ſagen! Mich ließ ſie an der He¬
cke ſtehn und ging zu dem Maͤdchen. Ich
ſah, daß ſie ſehr ernſthaft ſprachen. Olivie
bildete ihr ein, George habe ſich mit Baͤr¬
ben uͤberworfen und ſchien Luſt zu haben ſie
zu heiraten. Das gefiel der Dirne nicht uͤbel;
nun ward ich gerufen und ſollte das Geſagte
bekraͤftigen. Das huͤbſche derbe Kind ſenkte
die Augen nieder und blieb ſo, bis ich ganz
nahe vor ihr ſtand. Als ſie aber auf einmal
das fremde Geſicht erblickte, that auch ſie
einen lauten Schrey und lief davon. Olivie
hieß mich ihr nachlaufen und ſie feſthalten,
daß ſie nicht ins Haus gerieth und Laͤrm
machte; ſie aber wolle ſelbſt hingehen und
ſehen, wie es mit dem Vater ſtehe. Unter¬
wegs traf Olivie auf den Knecht, welcher der
Magd gut war; ich hatte indeſſen das Maͤd¬
chen ereilt und hielt ſie feſt. — Denk ein¬
mal! welch ein Gluͤck, rief Olivie, mit Baͤr¬
ben iſt's aus, und George heiratet Lieſen. —
Das habe ich lange gedacht, ſagte der gute
Kerl und blieb verdrießlich ſtehen.
Ich hatte dem Maͤdchen begreiflich ge¬
macht, daß es nur darauf ankomme, den
Papa anzufuͤhren. Wir gingen auf den Bur¬
ſchen los, der ſich umkehrte und ſich zu ent¬
fernen ſuchte; aber Lieſe holte ihn herbey
und auch er machte, indem er enttaͤuſcht
ward, die wunderlichſten Gebaͤrden. Wir
gingen zuſammen nach dem Hauſe. Der Tiſch
war gedeckt und der Vater ſchon im Zimmer.
Olivie, die mich hinter ſich hielt, trat an
die Schwelle und ſagte: Vater, es iſt Dir
doch recht, daß Georges heute mit uns ißt?
Du mußt ihm aber erlauben, daß er den
Hut aufbehaͤlt. — Meinetwegen! ſagte der
Alte, aber warum ſo was Ungewoͤhnliches?
Hat er ſich beſchaͤdigt? Sie zog mich vor
wie ich ſtand und den Hut aufhatte. Nein!
ſagte ſie, indem ſie mich in die Stube fuͤhr¬
te, aber er hat eine Vogelhecke darunter, die
moͤchten hervorfliegen und einen verteufelten
Spuck machen: denn es ſind lauter loſe Voͤ¬
gel. Der Vater ließ ſich den Scherz gefal¬
len, ohne daß er recht wußte was es hei¬
ßen ſollte. In dem Augenblick nahm ſie mir
den Hut ab, machte einen Scharrfuß und
verlangte von mir das Gleiche. Der Alte
ſah mich an, erkannte mich, kam aber nicht
aus ſeiner prieſterlichen Faſſung. Ey ey!
Herr Candidat! rief er aus, indem er einen
drohenden Finger aufhob: Sie haben ge¬
ſchwind umgeſattelt, und ich verliere uͤber
Nacht einen Gehuͤlfen, der mir erſt geſtern
ſo treulich zuſagte, manchmal die Wochenkan¬
zel fuͤr mich zu beſteigen. Darauf lachte er
von Herzen, hieß mich willkommen, und
wir ſetzten uns zu Tiſche. Moſes kam um
vieles ſpaͤter; denn er hatte ſich, als der
verzogene Juͤngſte, angewoͤhnt, die Mittags¬
glocke zu verhoͤren. Außerdem gab er wenig
Acht auf die Geſellſchaft, auch kaum wenn
er widerſprach. Man hatte mich, um ihn
ſicherer zu machen, nicht zwiſchen die Schwe¬
ſtern, ſondern an das Ende des Tiſches ge¬
ſetzt, wo Georges manchmal zu ſitzen pflegte.
Als er, mir im Ruͤcken, zur Thuͤr herein¬
gekommen war, ſchlug er mir derb auf die
Achſel und ſagte: Georges, geſegnete Mahl¬
zeit! — Schoͤnen Dank, Junker! erwiederte
ich. — Die fremde Stimme, das fremde
Geſicht erſchreckten ihn. — Was ſagſt du?
rief Olivie, ſieht er ſeinem Bruder nicht recht
aͤhnlich? — Ja wohl, von hinten, verſetz¬
te Moſes, der ſich gleich wieder zu faſſen
wußte, wie allen Leuten. Er ſah mich gar
nicht wieder an und beſchaͤftigte ſich bloß, die
Gerichte, die er nachzuholen hatte, eifrig
hinunterzuſchlingen. Dann beliebte es ihm
auch, gelegentlich aufzuſtehen und ſich in Hof
und Garten etwas zu ſchaffen zu machen.
Zum Nachtiſche trat der wahrhafte Georges
herein und belebte die ganze Scene noch mehr.
Man wollte ihn wegen ſeiner Eiferſucht auf¬
ziehen und nicht billigen, daß er ſich an mir
einen Rival geſchaffen haͤtte; allein er war
beſcheiden und gewandt genug und miſchte
auf eine halb duſſelige Weiſe ſich, ſeine Braut,
ſein Ebenbild und die Mamſells dergeſtalt
durcheinander, daß man zuletzt nicht mehr
wußte, von wem die Rede war, und daß
man ihn das Glas Wein und ein Stuͤck von
ſeinem eignen Kuchen in Ruhe gar zu gern
verzehren ließ.
Nach Tiſche war die Rede, daß man ſpa¬
ziren gehen wolle; welches doch in meinen
Bauerkleidern nicht wohl anging. Die Frau¬
enzimmer aber hatten ſchon heute fruͤh, als
ſie erfuhren, wer ſo uͤbereilt fortgelaufen war,
ſich erinnert, daß eine ſchoͤne Pekeſche eines
Vettern im Schrank haͤnge, mit der er, bey
ſeinem Hierſeyn, auf die Jagd zu gehen
pflege. Allein ich lehnte es ab, aͤußerlich
zwar mit allerley Spaͤßen, aber innerlich mit
dem eitlen Gefuͤhl, daß ich den guten Ein¬
druck, den ich als Bauer gemacht, nicht wie¬
der durch den Vetter zerſtoͤren wolle. Der
Vater hatte ſich entfernt, ſein Mittagsſchlaͤf¬
chen zu halten, die Mutter war in der Haus¬
haltung beſchaͤftigt wie immer. Der Freund
aber that den Vorſchlag, ich ſolle etwas er¬
zaͤhlen, worein ich ſogleich willigte. Wir be¬
gaben uns in eine geraͤumige Laube, und ich
trug ein Maͤhrchen vor, das ich hernach un¬
ter dem Titel, „die neue Meluſine“ auf¬
geſchrieben habe. Es verhaͤlt ſich zum neuen
Paris wie ohngefaͤhr der Juͤngling zum Kna¬
ben, und ich wuͤrde es hier einruͤcken, wenn ich
nicht der laͤndlichen Wirklichkeit und Einfalt,
die uns hier gefaͤllig umgiebt, durch wunder¬
liche Spiele der Phantaſie zu ſchaden fuͤrchte¬
te. Genug mir gelang, was den Erfinder
und Erzaͤhler ſolcher Productionen belohnt,
die Neugierde zu erregen, die Aufmerkſamkeit
zu feſſeln, zu voreiliger Aufloͤſung undurch¬
dringlicher Raͤthſel zu reizen, die Erwartun¬
gen zu taͤuſchen, durch das Seltſamere, das
an die Stelle des Seltſamen tritt, zu verwir¬
ren, Mitleid und Furcht zu erregen, beſorgt
zu machen, zu ruͤhren und endlich durch Um¬
wendung eines ſcheinbaren Ernſtes in geiſtrei¬
chen und heitern Scherz das Gemuͤth zu be¬
friedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen
Bildern und dem Verſtande zu fernerm Nach¬
denken zu hinterlaſſen.
Sollte Jemand kuͤnftig dieſes Maͤhrchen
gedruckt leſen und zweifeln, ob es eine ſolche
Wirkung habe hervorbringen koͤnnen; ſo bedenke
derſelbe, daß der Menſch eigentlich nur berufen
iſt, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben iſt
ein Misbrauch der Sprache, ſtille fuͤr ſich le¬
ſen ein trauriges Surrogat der Rede. Der
Menſch wirkt alles was er vermag auf den
Menſchen durch ſeine Perſoͤnlichkeit, die Ju¬
gend am ſtaͤrkſten auf die Jugend, und hier
entſpringen auch die reinſten Wirkungen. Die¬
ſe ſind es, welche die Welt beleben und weder
moraliſch noch phyſiſch ausſterben laſſen. Mir
war von meinem Vater eine gewiſſe lehrhafte
Redſeligkeit angeerbt; von meiner Mutter die
Gabe, alles was die Einbildungskraft hervor¬
bringen, faſſen kann, heiter und kraͤftig dar¬
zuſtellen, bekannte Maͤhrchen aufzufriſchen,
andere zu erfinden und zu erzaͤhlen, ja im Er¬
zaͤhlen zu erfinden. Durch jene vaͤterliche
Mitgift wurde ich der Geſellſchaft mehrentheils
unbequem: denn wer mag gern die Meynungen
und Geſinnungen des Andern hoͤren, beſonders
eines Juͤnglings, deſſen Urtheil, bey luͤckenhaf¬
ter Erfahrung, immer unzulaͤnglich erſcheint.
Meine Mutter hingegen hatte mich zur geſell¬
ſchaftlichen Unterhaltung eigentlich recht aus¬
geſtattet. Das leerſte Maͤhrchen hat fuͤr die
Einbildungskraft ſchon einen hohen Reiz und
der geringſte Gehalt wird vom Verſtande
dankbar aufgenommen.
Durch ſolche Darſtellungen, die mich gar
nichts koſteten, machte ich mich bey Kindern
beliebt, erregte und ergetzte die Jugend und
zog die Aufmerkſamkeit aͤlterer Perſonen auf
mich. Nur mußte ich in der Societaͤt, wie
ſie gewoͤhnlich iſt, ſolche Uebungen gar bald
einſtellen, und ich habe nur zu ſehr an Lebens¬
genuß und freyer Geiſtesfoͤrderung dadurch
verloren; doch begleiteten mich jene beyden
aͤlterlichen Gaben durch's ganze Leben, mit ei¬
ner dritten verbunden, mit dem Beduͤrfniß,
mich figuͤrlich und gleichnißweiſe auszudruͤcken.
In Ruͤckſicht dieſer Eigenſchaften, welche der
ſo einſichtige als geiſtreiche Doctor Gall,
nach ſeiner Lehre, an mir anerkannte, betheuer¬
te derſelbe, ich ſey eigentlich zum Volksredner
geboren. Ueber dieſe Eroͤffnung erſchrak ich
nicht wenig: denn haͤtte ſie wirklich Grund,
ſo waͤre, da ſich bey meiner Nation nichts zu
reden fand, alles Uebrige, was ich vornehmen
konnte, leider ein verfehlter Beruf geweſen.