Erſtes Buch.
1.
Auf weißem Zelter ſprengte im ſonnengold¬
durchwirkten Walde, Wally, ein Bild, das die
Schönheit Aphroditens übertraf, da ſich bei ihm
zu jedem klaſſiſchen Reize, der nur aus dem cy¬
priſchen Meerſchaume gefloſſen ſein konnte, noch
alle romantiſchen Zauber geſellten: ja ſelbſt die
Drapperie der modernſten Zeit fehlte nicht, ein
Vorzug, der ſich weniger in der Schönheit ſelbſt,
als in ihrer Atmoſphäre kund zu geben pflegt.
Welche natürliche und ihr doch ſo vollkommen
gegenwärtige Koketterie auf einem Thiere, von
dem ſie wahrſcheinlich ſelbſt nicht wußte, daß
es blind war! Wally gab ſich das Anſehen,
als wäre ſie mit ihrer Situation verſchwi¬
ſtert; aber nichts iſt ſo reizend, als wenn
durch irgend eine faſt gelungene Affektation,
durch die ganze Haltung eines innerlich mehr
reflektirten wie angebornen Weſens einige kleine
Lichtritzen ſchimmern und für den Mann, wel¬
cher ſie ſehen kann, die verſteckten Erleichte¬
rungen einer ſich einbohrenden Neigung wer¬
den. Aber von den zahlreichen Cavalieren,
welche Wally umgaben, ſahe dieſe kleinen Lük¬
ken der Furcht edler Weiblichkeit Niemand.
Jene, die Lücken der Furcht, kannte vielleicht
der Jokey, der auch wußte, daß die weiße
Stute blind war. Aber die Uebrigen hingen
nur wie der Eiſenfeilſtaub am Magnet, wie
die Nachahmung am Genie, wie das Ordinäre
am Wunderbaren.
Am Wege ſchritt, wie es beim Tempera¬
mente ſich von ſelbſt verſteht, im Zweiviertel¬
takte Cäſar, ein Mann, der im Stande war,
eine ſolche Gruppe, wie die vorbeiſprengende,
im Nu zu überſehen und jede darin waltende
Figur ſo zu iſoliren, daß er ſie Alle verarbei¬
tete und an ſeiner eigenen Individualität zerrieb.
Kennt ihr dieſe genialen Charaktere, welche durch
ihr Schweigen immer mehr ausdrücken, als
wenn ſie reden, die nur ihr rollendes, ſiegen¬
des Auge in die Geſellſchaft bringen dürfen,
und jede Perſönlichkeit darin abſorbiren in
eine Huldigung, die ihnen wird ohne ihr
Verlangen? Cäſar ſtand im zweiten Drittel
der zwanziger Jahre. Um Naſe und Mund
ſchlängelten Furchen, in welche die frühe Saat
der Erkenntniß gefallen war, jene Linien, die
ſich von dem lieblichſten Eindrucke bis zu dä¬
moniſcher Unheimlichkeit ſteigern können. Cä¬
ſars Bildung war fertig. Was er noch in ſich
aufnahm, konnte nur dazu dienen, das ſchon
Vorhandene zu befeſtigen, nicht zu verändern.
Cäſar hatte die erſte Stufenleiter idealiſcher
Schwärmerei, welche unſre Zeit auf junge Ge¬
müther eindringen läßt, erſtiegen. Er hatte
einen ganzen Friedhof todter Gedanken, herr¬
licher Ideen, an die er einſt glaubte, hinter
ſich: er fiel nicht mehr vor ſich ſelbſt nieder
und ließ ſeine Vergangenheit die Knie ſeiner
Zukunft umſchlingen und ſie beten: heilige Zu¬
kunft, glühender Moloch, wann hör' ich auf,
mich mir ſelbſt zu opfern? Cäſar begrub keine
Todten mehr: die ſtillen Ideen lagen ſo weit
von ihm, daß ſeine Bewegungen ſie nicht mehr
erdrücken konnten. Er war reif, nur noch
formell, nur noch Skeptiker: er rechnete mit
Begriffsſchatten, mit geweſenem Enthuſiasmus.
Er war durch die Schule hindurch und hätte nur
noch handeln können; denn wozu ihn ſeine tod¬
ten Ideen machten, er war ein ſtarker Cha¬
rakter. Unglückliche Jugend! Das Feld der Thätig¬
keit iſt dir verſchloſſen, im Strome der Bege¬
benheiten kann deine wiſſensmatte Seele nicht
wieder neu geboren werden; du kannſt nur
lächeln, ſeufzen, ſpotten, und die Frauen, wenn
du liebſt, unglücklich machen!
Cäſar, wie er einſam wandelte, fühlte, daß
er weinen ſollte, und lachte, um die Thränen
zu vertreiben.
Da flog Wally mit ihren Begleitern an ihm
vorüber. Sie ſchlug mit ihrer Gerte in die
Seiten des ſchönen, aber blinden Gaules (ſie
wußte es wahrhaftig nicht!) — ein ſonderbarer
Glanz klang durch die Luft, und zu Cäſars
Füßen lagen fünf koſtbare Ringe.
Sie mußten an der Reitgerte geſteckt haben.
Wally ſah, was der Unbekannte am Wege
aufnahm; ſie machte Miene anzuhalten; aber
als der Fremde mit der Zurückgabe zögerte,
blickte ſie bös und trieb ihren Schimmel wei¬
ter. Die Cavaliere hatten nichts geſehen.
Cäſar aber, da er die Reiterin ſogleich aus
den Augen verlor, mußte ſich auf Alles beſin¬
nen. Er gefiel ſich darin, an eine alte Sage
zu glauben, an die Prinzeſſin im Walde und
ſich ſelbſt mit irgend einem Zauber in Verbin¬
dung zu bringen.
Er ſteckte die Ringe zu ſich und hatte ſie
wieder vergeſſen, wie er innerhalb der Stadt
war.
2.
Ein gewiſſer Regierungs-Präſident gab einen
beinahe ländlichen Ball. Wally und Cäſar ſa¬
hen ſich hier. Cäſar hatte in einem Anfalle
guter Laune die fünf Ringe über ſeine Hand¬
ſchuhe gezogen. Wally frug ihn, wie er dar¬
auf käme?
„Weil meine rechte Hand,“ antwortete er,
„beim Tanzen immer ungeſchickt iſt. Die Ringe
verhindern ſie, von dem glatten Rücken der
Tänzerinnen abzugleiten.“
Wally ließ ihn ſtehen: dieſer junge Mann
mißfiel ihr. Aber ſie fühlte, daß ſie ſich zer¬
ſtreuen müſſe, und tanzte mit Vorliebe. Sie
wurde erhitzt, verfolgte Cäſar und ſahe, daß
er die Ringe wieder fortgenommen hatte.
Sie wollte ſie wieder haben und rief einem
ihrer Employés, einem blondharigen Referen¬
där, der eine keinekleine Schrift über das Unzeit¬
gemäße politiſcher Garantien geſchrieben hatte.
Sie ſetzte ihm die Lage der Dinge auseinander.
„Ich bin gewohnt,“ ſagte ſie, „für jeden
Monat im Jahre einen andern Anbeter zu ha¬
ben, und ich nehme Niemanden an, der ſich
nicht durch einen Ring in meine Gunſt einkauft.
An meinem Finger will ich die Ringe nicht:
ich trage ſie an meiner Reitgerte, und mache
mir ein Vergnügen daraus, wenn ich von Juli
zu Juli ins Bad reiſe und armen preßhaften
Leuten ſie alle zwölf nach einander in die heißen
Sprudelbecher werfe.“
Darauf erklärte ſie ihm, wie ſie fünf davon
verloren hätte, und verlangte, daß ſie ihr wie¬
der zu Handen, das heißt zur Reitgerte, kämen.
Der junge Mann, welcher über das Unzeit¬
gemäße politiſcher Garantien geſchrieben hatte,
verſprach ſein Möglichſtes und redete Cäſar an.
Cäſar betrachtete ihn und beſann ſich auf
den Verfaſſer der kleinen Brochüre. „Sie ver¬
ſtehen ſich darauf,“ ſagte er dann, „als St.
Georg gegen die Ungethüme der Zeit zu kämpfen.
Die Ringe der Dame paſſen zu meinem Schup¬
penleibe: ich ſtehe als Lindwurm zu Ihren
Dienſten!“
„Wie verſteh' ich das?“ fragte der junge
Mann, welcher über das Unzeitgemäße politi¬
ſcher Garantien geſchrieben hatte.
Cäſar ließ ihn ſtehen. Der Bote wagte
nicht unverrichteter Sache zu Wally zurückzu¬
gehen; eben tanzte ſie, ſie hatte ſeine Abwei¬
ſung glücklicherweiſe nicht bemerkt.
Der junge Mann half ſich: er wußte, von
wem die fünf Ringe kamen: vier von ſeinen
Freunden, die mit ihm theils auf dem Stadt¬
amte fungirten, theils auf das nächſte militä¬
riſche Avancement warteten; einer gehörte ihm,
denn Wally's Sonne ſtand zufällig während
dieſes Monats in ſeinem Zeichen. Die Sache
wurde unvermeidlich ein Ehrenhandel; aber er
war perfid genug, dem Gegner das Spiel fünf¬
fach zu erſchweren. Cäſar bekam noch an dem¬
ſelben Abend fünf Ausforderungen ins Ohr
geflüſtert.
Er nickte lächelnd zu jeder; für den fol¬
genden Morgen war Alles anberaumt, aber
er entfernte ſich früh.
Wally tanzte bis in die Nacht. O welch
ein Glück, ſich mit dem faden Mittelgut in
ewig gleichen Kreiſen herumzudrehen!
3.
Es war ſchon um die eilfte Vormittagsſtunde
des folgenden Tages, als Wally unter den Hän¬
den ihres Kammermädchens ſaß und ihr Haar
flechten ließ. Sie hatte einen kleinen Tiſch vor
ſich gerückt, worauf die Erzeugniſſe der neueſten
Literatur lagen. Natürlich kamen ſie friſch aus
dem Buchladen; anſtändige Leute leſen nicht
aus Leihbibliotheken.
Sie blätterte in dem jüngſten Muſenalma¬
nach von Schwab und Chamiſſo. „Dieſe guten
Waldſänger,“ ſprach ſie vor ſich hin, „nehmen
ſich die Freiheit, ſehr ennüyant zu ſein. Wenn
uns die Reime nicht in einer Art von melodi¬
ſcher Spannung hielten, die Monotonie der Ge¬
Gutzkow's Wally. 2
fühle und Anſchauungen wäre tödtlich. Ich
ziehe Proſa vor. Heine's Proſa iſt mir lieber,
als Uhland und ſein ganzer Bardenhain.“
Sie griff nach Heine's Salon, zweiter Band.
„Willſt du Philoſophie ſtudieren, Aurora?“
fragte ſie ihr Kammermädchen: „hier ſind all
die gelehrten, bemoosten Karpfen der deutſchen
Philoſophie mit Frühlingspeterſilie und Vanille
zubereitet. Man ſollte die Bonbons in Apho¬
rismen aus Heine's Salon einſchlagen. Welch
geſunkenes Volk müſſen die Franzoſen ſein, daß
ſie gerad' auf der Stufe in den Wiſſenſchaf¬
ten ſtehen, wo in Deutſchland die Mädchen.“
Einige Schriften vom jungen Deutſchland
lagen zur Hand, von Wienbarg, Laube, Mundt.
„Wienbarg iſt zu demokratiſch: ich habe nie ge¬
wußt, daß ich vom Adel bin,“ ſagte ſie; „aber mit
Schrecken denk' ich daran, ſeit ich dieſen Autor
leſe. Laube ſcheint den Adel nicht abſchaffen, ſon¬
dern überflügeln zu wollen. Doch bleibt es arg: er
iſt zudringlich. Er gibt ſich in ſeinen Schrif¬
ten das Anſehen, als kenne er jede ſeiner Le¬
ſerinnen und verlange von ihr eine Hingebung,
um die er nicht ein Mal bittet. Mundt goutir'
ich nur halb: denn er wird, je mehr er ſich
ſelbſt klar zu werden ſcheint, für Andere im¬
mer unverſtändlicher. Verſtehſt du, Aurora?“
Aurora hatte etwas in den Mund bekom¬
men und mußte abſcheulich huſten. Wally lachte.
Unter den Büchern lag zuletzt die neueſte
Lieferung der Carlsruher Bilderbibel, auf welche
Wally abonnirt hatte.
„Wie ſonderbar doch das Chriſtenthum auf
Velinpapier ausſieht!“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt.
„Dienen dieſe Kupfer zu etwas anderem, als
die Aufmerkſamkeit noch mehr von dem heili¬
gen Buche abzulenken! Siehe, da ſteht ein
Druckfehler! Ein umgekehrter Buchſtabe! Es
iſt hübſch, in der Bibel Irrthümer zu ent¬
decken.“
2 *
Wally ſahe nur auf das Aeußre, auf den
Einband, dann las ſie etwas. Sie las einige
Verſe, ein halbes Kapitel und fragte ihr Mäd¬
chen, wann ſie zuletzt in der Kirche geweſen
wäre?
Aurora war nicht frivol: ſie war vor vier
Wochen da geweſen.
Wally las, ohne zu hören. Dann fragte
ſie: „warum biſt du ſo ſtill?“
Aurora war nicht mehr im Zimmer: Wally
blickte ſich ſcheu um, und las weiter. Ihr
Auge haftete ſtier auf den Buchſtaben: ſie
ſchlug eine Seite nach der andern um: dann
lehnte ſie ſich zurück, eine Thräne ſtand in
ihrem Auge. Sie ſah mit einem flehenden, ver¬
zweifelnden Blick auf den kleinen Tiſch, der
ſo viel Widerſprechendes friedlich umſchloß. Sie
ſtützte den Kopf auf die Lehne ihres Seſſels;
es war Sonntag. Die Glocken läuteten, aus
der nahen Kirche brauſten die Töne der Orgel
herüber. Wally war in Thränen aufgelöſt.
Kann man dem Himmel ein ſchöneres Opfer
bringen? Dieſe Thränen floſſen aus dem Weihe¬
becken einer unſichtbaren Kirche. Die Gottheit
iſt nirgends näher, als wo ein Herz an ihr
verzweifelt.
Aurora kam zurück. Es war Beſuch im
Geſellſchaftszimmer. Wally hätte abſagen müſ¬
ſen; aber ſie war willenlos. Sie fand die Ritter
von den fünf Ringen, einige von ihnen leicht
verwundet.
Wally erſchrak, als ſie von dem Vorfalle
hörte. Cäſar war am Arme bleſſirt. Aber
ſchon die Nachricht, daß keine Gefahr vorhan¬
den ſei, richtete ſie auf; und wie in der menſch¬
lichen Seele Schmerz und Freude ſich ergän¬
zen, und das Linderungsmittel des einen Uebels
auch alle übrigen Sorgen heilt, die mit ihm in
keiner Verbindung ſtanden, ſo wandte ſie ſich
theilnehmend dem Geſpräche zu. Es war fade,
wie immer; aber verzeihlich der Tageszeit we¬
gen. Man ſoll vor Tiſche von keinem Men¬
ſchen verlangen, daß er geiſtreich ſei.
Wally konnte lachen und lachte übermäßig.
4.
Beide ſahen ſich eine Woche ſpäter. Wally
hatte nicht das Herz, von dem Vorfalle zu
ſprechen. Aber es währte nicht lange, ſo ſpra¬
chen ſie über den Muth.
Sie wollte wiſſen, ob der Muthige die Ge¬
fahr abſichtlich verkleinere oder geringer achte,
ob der Muth noch während der Gefahr daure
oder nur das Vorſpiel der Gefahr ſei. Cäſar
ſagte, er habe nie über den Muth nachgedacht,
beſäße ihn auch nicht hinreichend dafür. Wally
brannte der Vorfall auf den Lippen; aber ſie
hielt an ſich und lächelte blos.
„Ich glaube,“ ſagte Cäſar, „daß es Men¬
ſchen gibt, deren Muth darin beſteht, daß ſie
die Gefahr gar nicht ſehen. Das ſind diejeni¬
gen, welche als die vorzugsweiſe Muthigen über¬
all gefürchtet werden: auf den Univerſitäten
jene unverſchämten Knaben, die gegen Jeder¬
mann die Hand in die Seite ſtemmen und von
Verachtung und Malice überſprudeln; unterm
Militär diejenigen, welche ihren Säbel gern
ſo hängen, daß ſie ihn hinter ſich klirren hö¬
ren. Man kann aber ſagen, daß wenn dieſe Men¬
ſchen Einbildungskraft genug hätten, die Ge¬
fahr zu ſehen, ſie die verzagteſten ſein würden.
Der Beſonnene iſt von Natur niemals muthig.
Er folgt nur den Rückſichten, und iſt uner¬
ſchrocken, weil die Sache einmal nicht zu
ändern iſt.“
Wally fand dieſe Aeußerungen durchaus nicht
ſo liebenswürdig, wie ſie gewohnt war, der¬
gleichen von ihren männlichen Umgebungen zu
hören. Es war in ihrem innerlichen Urtheile
etwas, was einen guten Schein hatte. Sie
vermißte an Cäſar den Reiz der Natürlichkeit.
Seine Reflexion zog an, befriedigte aber das
Temperament nicht. Nichts deſto weniger traf
ſie ſehr gut die Gedankenreihe Cäſars, indem
ſie fortfuhr: „Ich glaube faſt, Sie halten die
Tugend für eine Berechnung?“
„Die Tugend nicht,“ entgegnete Cäſar;
„aber Alles, was man gern für Inſtinkt an¬
zuſehen gewohnt iſt. Unſre Handlungen ſollen
berechnet ſein, unſre Empfindungen ſind es.
Ich erinnere Sie nur an das Unbequeme man¬
cher Empfindung, mit der wir gern kokettiren,
die uns aber in gewiſſen Zeiten recht zur Un¬
zeit kömmt.“
„Sie ſind ohne Natur;“ ſagte Wally.
„Ich bin ohne Verſtellung;“ fiel Cäſar ein.
„Ohne Verſtellung? Jeder Satz in Ihren
Theorien ſcheint von Ihren zufälligen Zwek¬
ken abhängig zu ſein.“
Cäſar mußte lächeln; er hatte etwas ge¬
ſagt, was er nicht meinte.
„Glauben Sie,“ fragte er, „daß es in
der Liebe eine Höflichkeit gibt?“
„Das verſteh' ich nicht.“
Cäſar blickte finſter und wollte abbrechen.
„Was iſt Ihnen?“ fragte Wally.
„Ich denke, Sie vermeiden über einen Zu¬
ſtand zu ſprechen, den Sie vielleicht nicht zu
kennen vorgeben.“
„Halten Sie mich für eine Närrin?“
fragte Wally, erſt bös, dann aber hellte ſich
ihr Antlitz zu einer Liebenswürdigkeit auf, die
Cäſarn faſt einen Augenblick zu verwirren ſchien.
„Nehmen Sie nur an,“ ſagte er, „wie
unzeitig und unbequem man werden kann, wenn
man ſeinen Leidenſchaften immer den natürlichen
Raum läßt. Ich verſpreche zum Beiſpiel einer
Dame, ſie einen Tag um den andern zu beſuchen.
Was heißt das? Sie iſt einen Tag um den an¬
dern in der Spannung, wo ſie glaubt beglücken
zu können. Ihre Gedankenreihen werden im¬
mer einen Tag überſchlagen, einen Tag, wo
ſie nicht untreu aber ohne Rapport und Illu¬
ſion iſt. Man kann nicht unhöflicher ſein, als
an dieſem Tage, der überſchlagen werden ſollte,
der für die Liebe gar nicht da iſt, ſeine Braut
zu überraſchen.“
Wally lachte laut auf. Jetzt hielt ſie Cä¬
ſarn für einen Narren und fragte ihn, welche
Frau ihm dieſe Geſtändniſſe gemacht habe.
Cäſar war kein Pedant, er lachte mit, fuhr
aber fort: „Ich verſichre Sie, es iſt nichts
abſcheulicher, als das Ungeſchickte und Unbe¬
queme. Der Inſtinkt mag hier manche üble
Empfindung hintertreiben; aber ſicher geht
allein die Combination der Pſychologie. Ich
möchte um alles in der Welt zu einer gewiſſen
Zeit, unter gewiſſen Umſtänden von der Freund¬
ſchaft kein Opfer, von der Liebe keine Zärt¬
lichkeit verlangen. Mit unſrer rohen Natür¬
lichkeit ſind wir immer gewohnt zu übertreiben;
in nichts ſind wir aber übertriebener, als in
unſern Forderungen. Iſt es erhört, was der
Enthuſiasmus nicht alles in den gefühlvollen
Beziehungen der Geſchlechter oder in der Freund¬
ſchaft zu entdecken glaubte! Wer kann das
alles leiſten! Wer kann ſo unhöflich ſein, alle
dieſe Leiſtungen in Anſpruch nehmen? Sa¬
gen Sie!“
„Ich habe vergeſſen, Rumohr zu leſen;“
antwortete Wally.
„Rumohr!“ ſprach Cäſar; „Rumohr hatte
vielleicht Anſtand, aber nicht Geiſt und Muth
genug, eine Schule der Höflichkeit zu ſchreiben.
Rumohr glaubt an ſeine Vorſchriften und ſcheut
ſich doch, die meiſten davon anders, als in
einem gewiſſen Helldunkel zu geben. Rumohr
glaubte, er müſſe ſich immer noch eine Hinter¬
thür offen laſſen, um nicht für einen Fant zu
gelten. Auch iſt dieſer Mann ſo ſehr in die
Claſſicität verrannt, daß er alle Tugenden und
Untugenden des Alterthums aufzählt, aber ein
wichtiges, modernes Laſter ganz mit Stillſchwei¬
gen übergeht, ein Laſter, wofür die Alten gar
keinen Ausdruck hatten. Rumohr konnte davon
nicht ſprechen, weil er ſelbſt darin ganz ver¬
ſtrickt iſt. Dies iſt die Langeweile. Aber was
Rumohr? Es gibt eine weit tiefere Höflich¬
keitstheorie, welche auf äſthetiſchen und mora¬
liſchen Prinzipien zu gleicher Zeit beruht. Soll
ich ihren Grundſatz nennen? Laſſen Sie aus
einem chriſtlichen Gebote nur einen Buchſtaben
weg. Rathen Sie!“
Wally wurde roth: nicht des Räthſels we¬
gen, ſondern des Chriſtenthums.
Cäſar ergänzte ſich ſelbſt und ſagte: „Lebe
deinen Nächſten, wie dich ſelbſt! Sei Egoiſt,
ohne deinen Nachbar zu verwunden! Wenn ich
mich in die innerſten Falten Ihrer Seele (Fal¬
ten! Ihre junge Seele! Aber die Seele iſt
immer alt, der Theil der jahrtauſendjährigen
Urſeele und Weltſeele, der in uns wohnt),
wenn ich mich in ſie verſetze, ſo bin ich ge¬
wiß, immer die Wirkungen zu veranlaſſen, die
ich eine Minute vorher ſchon beſtimmen kann.
Sie hören mich nicht mehr. Es iſt wahr, ich
habe zu laut geſprochen.“
Der gute Cäſar mit ſeinen langweiligen
Theorien! Er mochte Wunder glauben, wie
zart er die Fibern des menſchlichen Herzens
anatomire; und hatte ſchon längſt ſeine Wider¬
ſacherin innerlichſt verletzt. Er wußte dies
nicht und ſchämte ſich, ſo theoretiſch debattirt
zu haben. Um die Sache war es ihm gar
nicht zu thun. Er hatte überhaupt nur zwei
Steckenpferde, auf denen er ſich heiß reiten
konnte, die Verachtung der Muſik und die
Strenge der Erziehung. Dieſe beiden Fragen
intereſſirten ihn, weil ſie das Nächſte berühr¬
ten, das Zimmer des Nachbars gleichſam,
weil die Muſik ſich gern in der Geſellſchaft
breit macht und über Erziehung ſo viel Em¬
pfindſames gefaſelt wird. Er pointirte die
Verachtung der Muſik, um die jungen Damen
(welche, wenn man von ihnen Gedanken ver¬
langt, mit Muſik antworten) ihre Leere fühlen
zu machen: in der Erziehung aber den Stock,
um ſich das Geſchwätz über Kinder, das Prä¬
ſentiren der lieben Kleinen, die Koketterie mit
ſeiner einzigen oder ſeinem jüngſten Balge vom
Leibe zu halten. Auf alles Uebrige ließ es
Cäſar ankommen. Für Himmel, Hölle, Erde
und was drin, drauf und drunter iſt, nahm
er nur Intereſſe, um ſich zu unterhalten, oder
eine hübſche Wendung darüber zu haben.
Warum iſt Cäſar kein Schriftſteller gewor¬
den? Er würde ein vortrefflicher Dialektiker
ſein, immer gute Gedanken haben, und jeden¬
falls einen glänzenden Styl ſchreiben.
5.
Wir ſind noch in derſelben Geſellſchaft, wo
über Herrn von Rumohr ſo abfällig geurtheilt
wurde. Wally iſt nur hingebender und Cäſar
erſchöpfter geworden. Er war im Zuge, links
und rechts ſeine zuſammenhangloſen Einfälle
auszuſtreuen und grade im Gegenſatz zu ſeiner
Höflichkeitstheorie alle Welt zu verwunden.
Die Hauptunterhaltung hatte der lange blonde
Mann an ſich geriſſen, welcher über das Un¬
zeitgemäße politiſcher Garantien geſchrieben hatte.
Mit ihm correſpondirte ein Juſtizrath, welcher
anonymer Verfechter von verſchiedenen Lehr¬
büchern zur Kenntniß des allgemeinen Land¬
rechts war oder doch ſein ſollte. Beide citir¬
ten ſich wechſelſeitig als Autoritäten, der Junge
den Alten, der Carrière wegen: der Alte den
Jungen, weil er wußte, daß der Nachruhm
in den Händen derer liegt, die nach uns leben.
Cäſar war auf der Folter: er ahnte, daß ſie
ausſchweifen wollten, daß ſie auf dem Wege wa¬
ren, zur ſchönen Literatur überzugehen.
„Wirklich?“ zitterte er für ſich hinein.
„Warlich! Ja ſie müſſen — O —.“ Cäſar
war aufgeſprungen.
Er wollte fort. Wally frug ihn, was er
hätte?
Der Juſtizrath, Mitglied einer Liederta¬
fel, das heißt eines Vereins, wo man über
Tafel die ſchlechten Compoſitionen eines Zelter
und Anderer zu ſingen pflegte, rief: „Iſt
es nicht auffallend, daß auch nicht ein
Einziger aus der neuen Schule in Deutſch¬
land ſich auf Muſik verſteht. Wie ſchön hat
Tieck die italieniſche Muſik in ſeinen Sonet¬
ten charakteriſirt! Wie treffend drückt er
in ſeinem Vorſpiel zum geſtiefelten Kater oder
Gutzkow's Wally. 3
zur verkehrten Welt, ich weiß nicht, das We¬
ſen der verſchiedenen Inſtrumente aus! Wie
hat die ganze romantiſche Schule in der Mu¬
ſik gelebt!“
„Und Hoffmann,“ rief eine ältliche Dame,
die ihrem Teint nach mit Napoleon verwandt
ſein konnte.
„Und Hoffmann!‘, fielen Alle ein.
„Ja,“ rief der Juſtizrath, „Hoffmann,
der mein College war!“
Cäſar ſagte ruhig: „Ich weiß nicht, worin
der Zuſammenhang der Literatur und der In¬
ſtrumentation liegen ſollte. Göthe ſcheint mir
auch ohne den Contrapunkt verſtändlich zu ſein.“
Aber der Juſtizrath hatte das Wort: „Man
hat noch immer gefunden, daß irgend eine Be¬
ſchäftigung, welche dem Dichter ſonſt noch theuer
und lieb war, recht hübſch das Weſen ſeiner
eigenen Poeſie ausdrückte. Ich rede von Ho¬
mer und Oſſian nicht, Männern, die mehr Mu¬
ſiker als Dichter waren; aber Göthe arbeitete
in Pappe, wenn ich nicht irre. Schiller war
Compagnie-Chirurgus. Nun ſehen Sie, das
iſt proſaiſch genug; ſagen Sie mir von allen
neuen Autoren einen, der ein gutes Urtheil
über Muſik hätte? Es iſt Mangel einer ge¬
wiſſen Saite in der Seele, daß es ganz un¬
möglich iſt, die Namen Menzel, Börne, Heine
u. ſ. w. mit irgend einer muſikaliſchen Ver¬
richtung zuſammenzubringen.“
„Die Lärmtrommel!“ hieß es irgendwo.
Man beklatſchte den Einfall und nannte ihn
witzig. Aber Recht hatte der Juſtizrath; auch
Cäſar, wenn er ſagte: „Was kann empfehlens¬
werther für die Richtung ſein, welche unſre
erſten Geiſter nehmen? Alle frühere Literatur
bildete ſich im Intereſſe irgend einer vereinzel¬
ten Kunſt oder Tendenz: die Leſſing-Göthiſche
Zeit im Intereſſe der Antike: die Romantik
im Intereſſe der Malerei: die Phantaſtik im
3 *
Intereſſe der Muſik. Erſt in unſern Ta¬
gen ſammelt die Literatur ihre Vorpoſten, die
ſich in die fremden Feldlager ganz verloren
hatten, und zieht ſie in den Kern ihrer Kräfte
zurück, um auf's Neue zu beſtimmen, welches
ihr Zweck iſt. Ich glaube, daß ſich die Lite¬
ratur ausdehnen wird auf andre Felder, um
ſie zu befruchten; aber warlich, mein Herr,
auf die Muſik nicht!“
Bis hierher ſprach Cäſar ſo richtig, daß
es unnütz geweſen wäre, Unterſchriften darauf
zu ſammeln. Das Folgende ſchien zweifelhaf¬
ter: „Was ſoll überhaupt die Muſik? Dieſe
klingende Mathematik? In der Erziehung ſind
die geometriſchen Köpfe meiſt die dickſten und
härteſten, und in den großen Muſikern habe ich
immer Leute gefunden, die, obſchon ſie immer
mit Schlüſſeln umgehen, doch über nichts Auf¬
ſchluß geben können. Die Muſik iſt eine ganz
ſinnliche Kunſt. Wenn Sie dem Otaheiter
einen Trauermarſch von Spontini vorſpielen,
mein Herr, glauben Sie, daß er weinen wird?
Er wird ſpringen und ſeine Kokosſchale vor
Lebensluſt bis auf die Hefe leeren. Muſik iſt
abſolut nichts: die Bildung legt erſt das hinein,
was wir darin zu finden glauben. Wenn ich
bei irgend einem Muſikſtück ein ſolcher Narr
bin, an die Unſterblichkeit der Seele zu glau¬
ben, ſo verbinden zu gleicher Zeit Sie damit
einen Begriff, welcher vielleicht der entgegen¬
geſetzte iſt. Wenn Sie bei einer Symfonie
von Beethoven an einen gothiſchen Dom den¬
ken, ſo dachte der Componiſt an das Giebeldach
einer Bauerhütte. Nein, mein Herr, die Muſik
wird aufhören zu den Künſten gerechnet zu werden.
Nähert ſich die Muſik in der Oper nicht ſchon
immer mehr der rhetoriſchen Deklamation? Iſt
die Sprache, das volle, tönende, menſchliche
Wort nicht unendlich höher, als der unnatür¬
liche Gebrauch einer ganz im tiefſten Schlunde
verſteckten zufälligen Fertigkeit? Ich bitte
Sie, überlegen Sie das, mein Herr!“
Hier war keine Verſtändigung mehr mög¬
lich. Was ſind Hunderttauſende in der Welt
ohne das bischen Fortepiano, was ſie ſpielen
können! Es war, als hätte einer geſagt, die
Frauen ſollten keine Gigotärmel mehr tragen.
Was wären dieſe ſchmalen Brüſte, dieſe gedan¬
kenloſen Köpfe ohne Gigots, ohne Pianoforte!
Und doch ſtrafte man Cäsarn nicht durch Still¬
ſchweigen, ging nicht wie wegen eines Tollen
zur Tagesordnung über, ſondern ſchrie auf und
rief das Gefühl, den Himmel, die Moralität
zu Hülfe, um einen Ketzer zu bekehren. Der
blonde Unzeitgemäße war ſo glücklich, die Frage
in das Gebiet der Politik hinüberzuſpielen und
aus der Muſik eine Sache des Staates zu
machen. Hierüber ſchwieg Cäſar.
Ihn verdroß nichts mehr, als das Warm¬
werden. Er wußte zu gut, daß die Adler nie¬
mals in der Fläche horſten. Warum Niagara¬
donner, wo Knallerbſen genügen? Er gab ſich
willig dem Spotte Wally's hin, die viel zu
leichtſinnig war, auf dergleichen Debatten et¬
was zu geben, zu eitel, um eine allgemeine
Unterhaltung intereſſant zu finden, und die
überdies weder ſang noch ſpielte. Wally
hatte Ideen, aber nur momentan; ſie ver¬
ſchmähte es, die Geiſtreiche zu ſcheinen, weil
ſie wußte, daß ſie ſchön war. Flüchtig waren
ihre Bewegungen, liebenswürdig, ohne Pedan¬
terei ihre Capricen. Cäſar fühlte das, und
badete ſich in dem oberflächlichen Schaume,
den Wally von den Ideen nur gelten ließ. Cä¬
ſar hatte Recht, ſie für unfähig zur Spekula¬
tion zu halten. Er nahm ſie wie ein humori¬
ſtiſches Capriccio der animaliſchen Natur.
Beide ſpotteten im Vertrauen über ſich,
über Alle. Was ſie ſprachen als Sprechens¬
werthes, waren Raketen, die ſie ſich einander
zuwarfen. „Warum brechen Sie über Po¬
litik ab?“
„In Athen durfte kein Volksredner auf¬
treten, der nicht verheirathet war.“
„Was Sie gelehrt ſind! Ich bin es auch:
in Kreta durfte niemand Geſetze geben, der
nicht einen Strick um den Hals hatte.“
„Das iſt daſſelbe Geſetz: Die Athener
wollten eigentlich auch ſagen, der keinen ſolchen
Strick am Halſe habe.“
„Wie unanſtändig!“
„Wally!“
Wally lachte: es war ein hübſcher, vertrau¬
licher Ton, in dem ihr Cäſar drohte. „Was
machen Sie mit Leuten, die Ihnen gefallen?“
fragte ſie ihn, ohne zu wiſſen, was ſie fragte.
„Alles, nur nicht ihre Bekanntſchaft.“
„Das iſt auffallend! Doch können Sie
Recht haben.“
„Wonach beurtheilen Sie die Menſchen,
Wally?“
„Nach ihren Werken! — O Gott, nein;
dies wäre ja albern geantwortet, wie im Ka¬
techismus. Sagen Sie?“
„Nach dem, was ſie ſind?“
„Nein, nach dem, was ſie im Stande wären.“
„O Wally, Sie ſind liebenswürdig! Woran
würden Sie denken, wenn Sie Jemanden prü¬
fen wollten, der zu lieben wäre?“
„An die auſſerordentlichen Fälle.“
Cäſar ſchwieg. Dieſe Antwort war zu ernſt.
Er betrachtete die fünf Ringe, die er über ſei¬
nen Handſchuhen trug, und fragte dann: „Sie
reiſen in's Bad?“
„In acht Tagen.“
„Sie werden den Rhein ſehen?“
„Von Mainz bis Cölln.“
„Von Mainz bis Düſſeldorf. Sie dürfen
einen Beſuch bei den Malern und bei Immer¬
mann nicht unterlaſſen. Läge Düſſeldorf in
Thüringen, es würde ein zweites Weimar
werden.“
„Sind die Ufer in der That ſo reizend?“
„Gefällig ſind ſie und da ſchön, wo Sie
etwas von Rührung einfließen laſſen in Ihre
Betrachtung.“
„Das verſteh' ich nicht.“
„Das Schöne, Wally, iſt immer das Ueber¬
raſchende. Ich bin urſprünglich kalt gegen
Alles, was in Deutſchland für ſchön ausgege¬
ben wird. Am Lurleyfelſen, wo der Rhein ſich
wie ein See verengt, wo Flinten abgeſchoſſen
und Waldhörner geblaſen werden, um die Echo's,
von denen die Handbücher ſprechen, zu bewei¬
ſen: da werden Sie durch dieſe Zurüſtungen
zur Wehmuth übermannt werden. Ihr blon¬
des, beſcheidenes Deutſchland, dem Sie nichts
zutrauten, nicht einmal das Echo des Lurley,
wird Sie rühren und bei einer fließenden Thräne
werden Sie ſich geſtehen müſſen, daß der Rhein
in der That ein ſchöner Strom iſt.“
„Sie wollen ſagen, die Natur ſpräche nur
zu uns, je nachdem unſer Auge und Herz ſie
anſieht.“
„Ich ſtand in dem Cöllner Dome. Sie
kennen das zerriſſene Prinzip unſerer Zeit,
nichts anzunehmen, was vielleicht richtig iſt,
aber von Leuten proklamirt wurde, die uns
widerſtehen. Der Enthuſiasmus der Einen er¬
kältet immer die Andern. Ich wollte den Cöll¬
ner Dom ironiſch betrachten, und mußte wei¬
nen, da ich ihn ſahe, über das Unvollendete
der Idee, über die dünnen Hammerſchläge der
Ausbauer, welche durch die mächtigen Räume
picken, über mich ſelbſt, der ſein Herz künſtlich
verhärtet und zu einer gemachten Empfindungs¬
loſigkeit herabgeſtimmt hatte.“
„Die Dampfſchiffe fahren zu ſchnell.“
„Sie fahren zu langſam und ſind für das
Auge ermüdend. Der Gedanke einer feurigen
über das Waſſer kriechenden Schildkröte ſteht
vor unſrer Einbildungskraft, und wir ſind ein¬
mal daran gewöhnt, das Kriechen für langſam
zu halten.“
„Ein ſonderbares Bild! Worüber nur
meine Tante ſo lacht?“
„Ihre Tante iſt eine Spinne, die über den
Ozean kriecht.“
„Wie ſo?“
„Sie ſpekulirt in Papieren.“
„Sie ſpricht über Politik: ich verſtehe
nichts davon.“
„Verſtünden Sie davon, ſo glichen Sie einem
Schmetterling, der ſich in die gaserleuchtete
Verwirrung eines Salons verflogen hat.“
„Schmetterlinge ſind zu Gleichniſſen ver¬
braucht.“
„Wie die Unſterblichkeit ſelbſt.“
Wally erröthete. Sie blickte auf Cäſars
frivoles Lächeln und nahm dies Lächeln für
eine Gewißheit, die ſie erſchrecken machte.
„Wir ſähen uns nicht wieder?“ fragte ſie
beklommen.
„Geſetzt, nur die Guten ſähen ſich,“ ant¬
wortete Cäſar, „ſo läßt die Tugend ſo viel
Nüancen übrig, daß nichts deſto weniger im
Jenſeits eine Mannichfaltigkeit entſtünde, die
in ſeiner nächſten Nähe zu haben Gott kein
Vergnügen machen würde. Ja wir ſelbſt wür¬
den uns weigern, alle die zu lieben, welche im
Leben ehrliche, aber oft die langweiligſten
Menſchen waren. Ich weiß aber nicht, wie
aus einem langweiligen Menſchen plötzlich ein
intereſſanter Engel werden könnte.“
„Sie ſind kein Chriſt?“
„Glauben Sie, daß Chriſtus von den Todten
auferſtanden iſt?“
„O Gott, laſſen Sie, ich kann darüber
nicht nachdenken. Ich — “
Sie ſtockte. In ihrem Auge ſprach ſich
ein zerreißender Schmerz aus. So hatte ſie
Cäſar noch nicht geſehen. Sie erhob ſich un¬
ruhig und war für dieſen Abend verſchwunden.
Cäſar begriff hievon nichts. Er war ſo leicht¬
ſinnig, an Alles zu denken, nur nicht an die
Religion. Aber Wally hatte ihn entzückt. So
weit Menſchen dieſer Art noch lieben können,
war Cäſar außer ſich. Er folgte Wally ohne
Aufenthalt.
6.
Wally's Tante litt an nervöſen Reizungen
und Abſpannungen, an Herzklopfen, Uebeln,
für welche die Aerzte unter den naſſauiſchen
Bädern das triſteſte, Schwalbach, empfehlen.
Wally konnte in Wiesbaden und Ems tanzen,
aber in Schwalbach mußte ſie der alten Dame
die Zeitungen und Courszettel vorleſen (die
Frau ſpekulirte wahrhaftig in Papieren!); in
Schwalbach mußte ſie ſo manchen häuslichen
Dienſt übernehmen, den man bald von ſich ab¬
wälzen würde, wenn man nicht das Vergnü¬
gen hätte, in einem Bade zu leben.
Sie hatte dies wunderbare Naſſau erreicht,
dieſe unterirdiſche Küche Hygiea's, mit ihren
Gebirgskeſſeln, in denen die heilſamen Quel¬
len ſieden und dampfen. Von üppiger Natur
kann bei einem Lande nicht die Rede ſein, das
von Alaun und Schwefel unterminirt iſt und
in der Ernte immer einen Monat zu ſpät kömmt.
Zwerghaft ſind die Bäume auf den Hügeln:
aber reizende Perſpektiven öffnen ſich zahlreich
in die weiten Thäler. Nichts iſt hier ſchöner,
als die mannichfachen Schattirungen des grünen
Kleides der Natur. Man ſteht an der morſch
zerbröckelnden Mauer einer hohen Straße, und
ſieht kleines Geſträuch zunächſt zu ſeinen Füßen;
dann tiefer einen Wald, der ſich mit den ſchwär¬
zeſten Tinten in die tiefſte Spalte des Thales
verliert, und in einem dumpfen Murmeln, in
dem Rieſeln eines Waldbaches zu enden ſcheint;
dort aber erhebt ſich wieder der Blick, die
grüne Alpenmatte entlang, welche am andern
Ende des Thales aufwärts ſteigt. Auf dem
friſchen, üppigen Teppich weidet das Auge bis
ſich die Sehkraft in jenen dunkeln Kranz von
Fichten verliert, welcher den äußerſten Horizont
umſäumt. Iſt das nicht viel für ein Land,
wo die Natur ſich an gekochtem Waſſer erfri¬
ſchen muß? Das Land ähnelt der ſchwäbiſchen
Alp. Auch ſprechen die Leute mit ſchwäbi¬
ſchem Accent.
Wally hat für ſolche Bemerkungen keinen
Sinn: ich führe ſie auch nur an, um durch
Wally's Mängel ihre Beſitzthümer anzudeuten.
Sie iſt ohne Schwärmerei für die Natur, ohne
Sinn für Blumen, welche ſie zerkaut, wenn
ſie ihr in die Hand kommen. Sonne, Mond
und Sterne gehen ihre Bahnen, ohne von
Wally bemerkt zu werden. Jedermann wird
bereit ſein, ſie gefühllos zu nennen, und ihr
dennoch Unrecht thun. Wally's unausſprech¬
licher Reiz iſt ihre Natürlichkeit. Sie gibt ſich,
wie ſie iſt, und hat die Tugend, alles beim
rechten Namen zu nennen. Sie war ſehr un¬
glücklich, in Schwalbach leben zu müſſen.
Doch traf ſich Alles beſſer, als man er¬
Gutzkow's Wally. 4
wartet hatte. Das allmälige Herunterkommen
der Romantik erſchlafft die bisher angeſpann¬
ten Nerven der Nationen. Es waren Deutſche
genug da, die an Hoffmanns Tode litten, Fran¬
zoſen genug, welche die üblen Folgen von Victor
Hugo's ruhendem Federkiel ſpürten. Sie alle
wollten Reiz. Die ſpaniſche Kriſis war vielen
in den Unterleib geſchlagen und hatte Hypo¬
chondrie erzeugt. Stahlbäder ſind ſehr anzu¬
rathen. Es war gedrängt in all den Höfen,
goldnen Ketten, Gaſthöfen zu den beiden Indien.
Wally wohnte im Kaiſerſaal.
Eines Tages ſtand ſie an einem Orte, den
ſie vorzüglich liebte, am grünen Tiſche. Sie
hazardirte im Pharo. Sie gewann; ſie gewann
immer; vielleicht weil Dreiſtigkeit auch das ein¬
zige Geheimniß im Spiele iſt. Noch iſt es
mir unerklärlich, wie die ſchüchternſten Weiber
ſich an Dinge wagen, an welche die muthigſten
Männer immer mit einer Art von Zaghaftig¬
keit herangehen. Sie ſind die Erſten, wo es
gilt, einen Thurm zu beſteigen, auf einem
ſchwindelnden Wege zu gehen, Piſtolen abzu¬
ſchießen, mit einem Eskamoteur in Correſpon¬
denz zu treten, auf Vexierſtühle und an die
Elektriſirmaſchine ſich zu ſtellen. Namentlich
wird ſich auf dieſe letzten Dinge oft der mu¬
thigſte Mann nicht einlaſſen. Warum die Frauen?
Weil ſie gewohnt ſind, zu herrſchen? Weil
man ihnen genug ſagt, daß ihrer Schön¬
heit nichts widerſtehen könne? Wally ſpielte
in der That, weil es ihr ſchon zur andern Natur
geworden war, in jeder Lage zu gewinnen.
Plötzlich wird ſie unruhig. Sie verliert.
Ihr Glück ſtürzt zuſammen. Sie fühlt, daß
ihr ein Dämon entgegentritt, und rathet auf
Cäſar. Sie wußte, daß ihr alles Widerwär¬
tige nur von einem Manne kommen konnte,
der ſie beunruhigte und der ſie vielleicht zu
lieben anfing. Wally blickte um ſich; Cä¬
4 *
ſar ſtand in einer Ecke, grüßte ſtumm, bot
ihr den Arm und führte ſie in die Zimmer
ihrer Tante zurück, einer Dame, welche er
einſt mit einer Spinne verglichen hatte, die
über das Weltmeer kreucht.
7.
Ein Gewitter in Schwalbach iſt immer eine
Kataſtrophe; aber ſie geht vorüber. Noch ge¬
fährlicher iſt es, wenn der Himmel jene wei¬
nerliche Laune hat, daß er von der grauen
Wolkendecke unaufhörlich einen naſſen Staub
tröpfeln läßt. Dann kann man in Schwalbach
am beſten alle jene Uebel bekommen, für welche
ſein Stahlwaſſer ſo gut ſein ſoll. Iſt man
nicht melancholiſch, ſo wird man es erſt. Wally
weinte den ganzen Tag vor Ungeduld. Sie
wollte nach Wiesbaden; aber ihre Tante be¬
ſtand darauf, daß ihr die ſpaniſche Kriſis im
Unterleibe ſäße. Der Geheimerath Fenner von
Fenneberg, der Arzt der Saiſon, warf ſich
gegen jede Unbeſonnenheit in's Mittel. Wally
wollte ſterben vor Langerweile. Ihr werdet
ſagen, ſie muß ſchlecht erzogen worden ſein.
Gewiß, das war ſie.
Cäſar bot Alles auf, ihr die trübe Zeit zu
verkürzen. Er erzählte ihr Beobachtungen aus
Schwalbach, die gar nicht verdienen übergan¬
gen zu werden, z. B. folgende: „Haben Sie
noch nichts vom tollen Bärbel gehört? Das
tolle Bärbel ſteht den ganzen Tag vom frühen
Morgen bis in die ſpäte Nacht an der Hin¬
terpforte des Gaſthofes zu den beiden Indien,
die auf die Landſtraße nach Ems hinausführt
und ſpäht in die Extrapoſten, welche den Berg
herunterkommen. Sie iſt von einem etwas ge¬
drückten Wuchſe, und hat matte Augen; aber
ihre Geſichtsbildung iſt im höchſten Grade ein¬
nehmend, die Haut von der ganzen Feine und
Weiße, welche zu blondem Haare gehört, um
blonde Mädchen erträglich zu machen. Der
Reiz Bärbels würde noch weit mehr hervortre¬
ten, wenn die fixe Idee, welche ſie beherrſchen
ſoll, ihr nicht den an Wahnwitzigen ſo unheim¬
lichen Ausdruck und die eigenthümliche Verrük¬
kung aller Bewegungen gäbe. Und woran lei¬
det ſie? An zwei verunglückten Saiſons. In
der erſten ſoll ſie der Gegenſtand irgend einer
eleganten Herablaſſung geweſen ſein, die glück¬
licherweiſe ohne Folgen blieb. Sie fiel einem
jungen Manne in die Augen, der ſie dann drei
Monate lang nicht aus ſeinen Händen ließ und
vielleicht gar mit ihr über Vorurtheile der
privilegirten Stände, über die allgemeine
Stimmberechtigung der Liebe und morganatiſche
Ehen philoſophirt hat. Er verſprach im nächſten
Jahre wiederzukommen. Einen langen Herbſt
und Winter, einen ganzen Frühling hindurch
war Bärbel glücklich und das frommſte Mäd¬
chen in Schwalbach. Sie war die erſte und
letzte in der Kirche, die freundlichſte zu aller
Welt. Die Mäßigung in einem Glücke, das ihre
Kräfte überſtieg (nämlich das Wiederſehen war
für ſie ſchon ein gränzenloſes Glück: wie leicht
wird es Gott, ſeine Geſchöpfe ſelig zu machen!)
Dieſe Mäßigung ſtand ihr ungemein ſchön, wie
die Leute ſagen, die aus ihrer jetzigen Verwir¬
rung das Vorangegangene herausgelockt haben.
Da kam die zweite Saiſon. Bärbel ſtand an
der Gartenthür der beiden Indien. Ein großer
Reiſewagen, thurmhoch bepackt, mit ſechs Pfer¬
den beſpannt, glitt am Hemmſchuh bedächtig
die Höhe herab. Vorn und rückwärts Bediente,
Kammerzofen, Bologneſer Hunde, ein Papa¬
gay, ein Geſchwätz und Gekrächz, das eine ganz
neue Welt in das alte Schwalbach zu bringen
ſchien. Bärbel ſtand auf den Zehen, blickte
in den offenen Schlag und ſtieß einen entſetz¬
lichen Schrei aus. Sie hatte die untreue Herab¬
laſſung geſehen, wie ſie die Hand eines jungen
reizenden Weibes küßte. Es war des jungen
Paares erſte Badereiſe, gleich nach der Hoch¬
zeit. Das ſahe auch Bärbel ſogleich ein, nach¬
dem ſie wieder zur Beſinnung gekommen war,
denn noch war ſie nicht närriſch; aber ſie
wurde es; ſchon durch die Ungewißheit, das
Herumlaufen, Fragen, Erkundigen, Abgewieſen¬
werden, durch impertinente Bedienten, durch die
Schaam, den Mann am Brunnen und auf der
Promenade zu ſehen, und ihm nicht zu Füßen
fallen zu dürfen. Sie war den Winter über
ganz ſtill. Mit dem Frühjahr wurde ſie unruhig,
holte immer tiefere Seufzer, ſchüttelte viel den
Kopf, und nun ſteht ſie ſeit dem erſten Mai zu
jeder Stunde des Tages hinter den beiden Indien
und muß immer mehr erkranken, ſchon am Son¬
nenſtich. Sie ſieht in jede Kutſche und ſchämt
ſich, wenn man ihr Geld zuwirft. Sie iſt für
alle Schwalbacher Bettler der Lockvogel, oder
der mit Honig ausgefüllte Stock, um die wilden
Almoſen-Bienen zu fangen. Sie iſt die unſchul¬
dige Heilige, die ſtumm für ſie Alle bittet, und
nichts davon hat, als immer tiefern Wahnſinn.“
„O ich bitte Sie, erzählen Sie Geſchich¬
ten, die ſich runden und einen Schluß haben!“
fiel Wally ein mit der ganzen Fühlloſigkeit,
die ſie allein ſchon charakteriſiren würde, wenn
ſie dieſelbe nicht mit allen Frauen gemein
hätte, wo es ſich um die Herzensleiden ir¬
gend einer ihrer Schweſtern handelt. Sie ſind
dabei alle kalt, eine gegen die Andere.
„Den Schluß müſſen wir abwarten;“ ſagte
Cäſar, erſchrocken über Wally's Phlegma. Er
hätte ſie aufgegeben, wenn ſie als Phänomen
nicht ſeine Neugier reizte. Auch würde er ſich
Vorwürfe gemacht haben, Wally nachgereiſt zu
ſein, wäre dieſe Mühe vergebens geweſen. Er
dachte in der That daran, bei ihr zu irgend
einem Ziele zu gelangen.
8.
Nach einiger Zeit theilten ſich die Wolken
über dem Thale. Es war möglich ins Freie
zu treten. Cäſar und Wally ſtiegen die Straße
nach Ems hinauf. An der Thüre der beiden
Indien ſtand das ſtille Bärbel und betrachtete
ſie beide mit einem wehmüthig-rührenden Blicke.
Wally blieb kalt dabei; er konnte das nicht
begreifen.
„Ich will Ihnen, Wally,“ ſagte er, „eine
andre Geſchichte erzählen, die ſich in unſrer
Nähe begibt, und in der That ſchon eine Art
Schluß hat. Glauben Sie nicht, daß ich die
Demokratie ſo weit treibe, und auf Entdeckun¬
gen in den Hütten ausgehe. Die Schwalbacher
bilden ſich ein, ihre Gäſte unterhalten zu müſ¬
ſen, und ſo erfuhr ich etwas, was würdig ge¬
weſen wäre, von Hoffmann bearbeitet zu wer¬
den. Sie kennen die naſſauiſchen Soldaten,
Wally! Sie haben über Bruſt und Schulter
gelbe Bandeliere, was für ein preußiſches Auge
kurios läßt. Die Artillerie iſt ſchöner, aber
hören Sie von einem Tambour bei jener In¬
fanterie. Der junge Menſch ſtand in Wiesba¬
den, und ſoll ein Meiſter auf ſeinem Inſtru¬
mente geweſen ſein. Niemand in der naſſauiſchen
Armee ſchlug wie er die Reveille mit ſolcher
Fertigkeit. Seine Wirbel ſollen den Turbillons
geglichen haben, welche bei Feuerwerken auf¬
ſteigen, nur daß er im Stande war, eine Vier¬
telſtunde lang die Schlägel in dieſer tremulan¬
ten Bewegung zu erhalten. Namentlich aber
gelang ihm jenes hübſche Stakkato auf der
Trommel, das mit Wirbeln untermiſcht die Er¬
ſchütterung des Kalbfells plötzlich hemmt und
einen ganz abbrechenden Ton, einen Ton ohne
alles Echo hervorbringen muß. Sie ſehen, welch
einen Schatz das Haus Naſſau an dieſem Tam¬
bour hatte. Unglücklicherweiſe verliebte ſich aber
der militäriſche Künſtler, und in ein Mädchen,
das zwar den Werth der Armee zu ſchätzen
wußte, auch den der Muſik, aber einem
Trompeter von der Artillerie ſchon den Vor¬
zug gegeben hatte. Hier mußte eine Rivali¬
tät eintreten, welche der Liebe eben ſo ſehr
galt, wie der Kunſt. Der Tambour verzweifelte
nicht; indeſſen war er zu beſcheiden. Er fühlte,
wie ſein Inſtrument, dieſe monotone Rhyth¬
mik, hinter der Trompete zurückſtand. Sein
Gegenſtand war die Tochter eines Wiesbader
Bürgers, eines Mannes, den man durch Aus¬
zeichnungen ehren konnte. Und wie zeichnete
ihn der Trompeter aus! Wenn er des Abends
in des gehofften Schwiegervaters Gärtchen ſaß,
ſiehe, dann ſetzte er das ſilberne Mundſtück an
die glänzende Trompete und blies den Parade¬
marſch, „Friſch auf Kameraden!“ alle Walzer,
von denen des Kurſaals an bis zu dem Zweitritt
der Kirchweih. Das erfreute die Herzen die¬
ſer Menſchen. Die Nachbarn ſammelten ſich:
ſie lauſchten, ſie klopften an die Gartenthür,
ſie kamen herein und tanzten auf dem grünen
Raſen. Der Schwiegervater hatte den gan¬
zen Abend die Nachtkappe zu lüften, und war
unbeſchreiblich geehrt. Und wenn der Trom¬
peter mit ſeinen luſtigen Stücken Feierabend
machte und ſie alle aus dem Gärtchen mußten,
um in der Finſterniß die Beete nicht zu ver¬
derben, dann blieb er mit der Tochter noch al¬
lein und blies ihr Arien der Schwärmerei vor,
„Schöne Minka;“ „Mich fliehen alle Freuden,“
mit ſterbenden, gedämpften und wie durch Zug¬
wind gehauchten Tönen, bis Alles ſtill wurde. Der
Tambour hörte dieſe Scenen täglich und ver¬
ging vor Wehmuth. Er war eine ſanfte, ächt
deutſche Heimwehnatur, voller Empfindung und
Ehrgefühl. Jede Nacht badete er ſich in Thrä¬
nen und ſchlug die Morgenreveille mit matten
Händen. Das Feuer ſeiner Augen erloſch. Er
fluchte ſeinem Inſtrumente, fluchte der Artil¬
lerie und ihren Trompeten. Was hatte er an
ſeiner Trommel! dieſem dummen Lärmkaſten,
bei deſſen Tönen ſich die Gebildeten der Na¬
tion das Ohr zuhalten, dieſer Klangma¬
ſchine, die, wie man mich in meiner Kindheit
überredete, nur dazu da iſt, auf dem Schlacht¬
felde das Geſchrei der Verwundeten zu über¬
täuben! Zum Unglück gab es Augenblicke, wo
der Tambour nichtsdeſtoweniger auf ſein In¬
ſtrument eiferſüchtig wurde. Iſt es nicht das
wohlthätigſte Inſtrument, ſchlußfolgerte er, wenn
es den Menſchen anzeigt, wo Feuer ausgebro¬
chen iſt, um welche Zeit das Thor geſchloſſen
wird; kann es rührendere Töne geben, als die
dumpfen Wirbel beim Begräbniſſe eines mei¬
ner Kameraden! Bei der Erinnerung an den
Tod ſtürzten ihm die Thränen aus den Augen,
von jenſeits drang die Trompete ſeines glück¬
lichen Nebenbuhlers herüber, ach! dieſe freudi¬
gen Töne durchſchnitten grauſam ſeine zitternde
Seele. So ſchwand er hin und wurde immer
mehr das blaſſe Bild der Reſignation. Er
dachte nur an den Tod und ſagte oft, wenn er
nicht käme, ſo müſſe er ſelbſt ſich ihn geben.
Damit ging er lange um und weinte viel, ſo
oft er beim Abendmahl und in der Kirche war.
Aber es half nichts: die Liebe zermalmte ſein
Herz, die Eiferſucht vernichtete ſeinen Stolz,
ſtatt ihn zu erheben. Noch einmal richtete er
ſich eines Abends auf, wo Alles ſtill war, am
Tage vor der Hochzeit der Trompeterbraut, und
ſetzte ſich dicht unter ihr Fenſter auf einen Stein.
Zwiſchen den Füßen hielt er die Trommel ein¬
geſpannt, und begann ſie in der Stille der
Nacht, wo Alles ſchlief, ſo ſchwermuthsvoll und
ſanft zu rühren, daß es lange währte, bis mehr
darauf achteten, wie das Mädchen oben in der
Kammer. Sie hörte dieſe Serenade, ſie wußte
Alles, denn ſie hatte den Tambour gekannt, ihn
bevorzugt, ehe die Trompete kam. Sie zitterte
unter der Bettdecke, denn es klang, wie zum
Grab ſo hohl unterm Fenſter. Aber die Töne
hoben ſich, die Schlägel wurden dringender, die
abgeſtoßenen Punkte folgten Schlag auf Schlag:
ſie mußte aufſpringen vor Entſetzen; die ganze
Straße ſchien zu grollen und die Steine dumpf
an einander zu ſchlagen. Man rief: „Feuer!“
Sie riß das Fenſter auf. Draußen war alles
ſtill; der Tambour war nirgends zu ſehen; auch
beim Appell nicht. Man ſchiffte ſeine Trommel
bei Mainz an der Rheinbrücke auf: ihn ſelber
einen Tag ſpäter auf der nämlichen Stelle.“
Wally hatte von dieſer Erzählung erwartet,
daß ſie in einer Beziehung mit Schwalbach
ſtünde und allem, was auf dieſe Erwartung
keine Rückſicht nahm, nur eine oberflächliche
Aufmerkſamkeit geſchenkt. Sie blickte Cäſar mit
Gutzkow's Wally. 5
ruhigem Auge an, und fragte kalt, was in die¬
ſer Geſchichte mit Schwalbach zuſammenhinge?
Cäſar fand dieſe Frage natürlich und legte ſie
ſich nicht ſo empörend aus, als ſie urſprüng¬
lich war.
„Dieſe Hiſtorie,“ fuhr er fort, „iſt mehre
Jahre alt. Der Trompeter heirathete die
Tochter des Wiesbader Bürgers, nahm ſeinen
Abſchied und zog nach Schwalbach, wo er die
Direktion der Muſiken für die Saiſon zu über¬
nehmen pflegt. Aber ſeine Frau leidet ſeit
jener traurigen Kataſtrophe ihres verſchmähten
Liebhabers an einem unheilbaren Uebel. Hät¬
ten die Aerzte nicht ſchon zuweilen ähnliche
Beobachtungen gemacht, ſo würde man ver¬
ſucht ſein, hier an einen Spuk, an eine Rache
des geſpenſtiſchen Tambours zu glauben. Die
Frau des Trompeters hört Tag und Nacht ein
dumpfes Murmeln an ihrem Ohr, das ſich zu
verſchiedenen Zeiten ſteigert und ihr wie der
Ton einer Trommel vorkommen muß. Nachts
ſchreckt ſie aus dem Schlaf auf, zeigt mit ſtie¬
rem Blick auf die Thür, wo ſie den blaſſen,
kleinen Mann mit ſeinem Inſtrumente zu er¬
blicken glaubt; ſie hat nicht Ruhe, wie tief ſie
ſich auch in die Kiſſen des Bettes hineinwühlt.
Die Aerzte nennen dies eine unnatürlich prä¬
ponderirende Kraft des Gehörſinnes und kön¬
nen ſich auf die gleichzeitige Thatſache berufen,
daß alle übrigen Sinne der Frau allmählich
ſchwinden, und der übermäßig hervorbrechenden
Gehörskraft zu weichen ſcheinen. Dabei iſt ſie
abgefallen und bleich, ihr äußerer Körper ver¬
ringert ſich immer mehr: ich ſahe ſie, es iſt
eine ganz abſorbirte Erſcheinung, die Grauſen
erregt. Sie ſelbſt hat den feſten Glauben an
die Rache des Tambours, oder wie es dieſe
Leute nennen, daß er im Grabe keine Ruhe
habe. Sie verſicherte mich, daß das Geſpenſt
ihr überallhin folge, in Küche, Boden und Kel¬
5 *
ler; ja auf dem Wege, ſelbſt im Walde ſähe ſie
ihn oft, den Todten, wie er leibhaftig vor ihr
ſtehe, die kleine, bleiche Figur, mit der Trommel
auf dem weißen Schurzfell und dieſelben gelble¬
dernen Bandeliere um die Schultern gehängt,
welche uns Preußen ſo fatal ſind. Die Aerzte
wiſſen, daß die Frau bald ſterben muß an to¬
taler Nervenentkräftung. Ich glaub' es. Gott,
da ſteht ſie!“
„Wo?“ ſchrie Wally auf.
Cäſar lachte. Es war ein Scherz; aber
ſie hatte ihn übel aufgenommen und ließ ſich
mit der bitterſten Laune über ſeine Späße und
abentheuerlichen Erzählungen aus.
„Gehen Sie mit Ihren Trommeln und
Trompeten! Womit Sie ſich doch alles ab¬
geben!“ ſagte ſie mürriſch, empfahl ſich,
und wandte ſich allein dem Kaiſerſaal zu, wo
ſie wohnte.
9.
Dieſe Scene war bald vergeſſen. Auf die
regneriſchen Tage folgten mit dem Sonnenſcheine
tauſend Aufforderungen der Natur, ihre Reize
zu genießen. Bis in die entfernteſte Umgegend
trugen Eſel und kleine Gefährte den weiblichen
Theil der Geſellſchaft, welche als die Crème
der Saiſon ſich zuſammengefunden hatten. Wally
war eine ſprühende Girandole von Freude und
Ausgelaſſenheit. Sie bildete den wahren Mit¬
telpunkt der Geſellſchaft, ſo aber, wie es Waſ¬
ſerkünſte gibt, wo man nur hier zu drücken
braucht, um auf der entgegengeſetzten Seite
überall luſtige Fontänen ſpringen zu laſſen.
Cäſar war verſchloſſen und reflektirte viel. Dem
Beobachter konnte es nicht entgehen, wie tief
ſich Wally in ſeine Neigungen eindrückte. Wenn
es nicht Liebe war, die ihn trieb, ſo war es
die Aufgabe, die ſich ſeine Eitelkeit geſtellt
hatte, Wally, dieſe Ungezähmte und Un¬
bändige überwunden zu haben. Hütet euch,
ihr Frauen! die Liebe der meiſten Männer iſt
nichts, als eine Huldigung, welche ſie ſich
ſelbſt bringen.
Der Rhein ſollte das Ziel einer Spazier¬
fahrt ſein, der ſich eine große Anzahl von Bad¬
gäſten angeſchloſſen hatte. Wally war noch
vor dieſem Ziele zu ſehr ermüdet, als daß ſie
weiter konnte. Sie blieb bei einem der Bedien¬
ten zurück, um die nachkommenden Wagen ab¬
zuwarten. So trennte ſie ſich unbemerkt von
der Geſellſchaft, ſo daß Cäſar, der auf Ab¬
wegen dem Zuge nachgeritten war, erſtaunte
ſie allein zu finden. Er ſprang vom Pferde
und gab es dem Bedienten. Wally und Cäſar
gingen voran.
Der Verführung eines grünen Raſenplatzes
mitten im Walde widerſtanden ſie nicht. Wäh¬
rend der Wagen und Cäſars Pferd auf der
Straße hielten, giengen ſie dem einladenden
Ruheorte entgegen und ſetzten ſich auf abgeſägte
Baumrümpfe nieder. Es lag etwas Mecha¬
niſches in dieſen Bewegungen, als wenn eine
Verabredung ſtatt gefunden hätte und doch
ſchwiegen beide. Sie ſprachen noch immer
nichts, auch als ſie beide mit geſtüztem Haupte
ſich gegenüber ſaßen.
„Seit einiger Zeit ſind Sie auf mich er¬
zürnt, Cäſar!“ ſagte dann Wally.
Ein Lächeln, das man kennen muß, um zu
wiſſen, daß es nur die Maske eines tieferen
Schmerzes iſt, flog über ihre Mienen. Das
Lächeln Cäſars konnte Beiſtimmung oder Ver¬
wunderung ſein. Er war klug genug, ſie dar¬
über im Unklaren zu laſſen.
„Ihre Geſchichten haben mich kalt gelaſſen;“
fuhr ſie fort.
Daran dachte Cäſar nicht mehr; aber er
ſagte: „hab' Ich ſie denn verfaßt?“
Nach einer Pauſe ſeufzte Wally tief auf,
ſchlug ihren Blick zu Boden und begann eine
Perſpektive in ihr Inneres zu geben, die Cä¬
ſar neu war, an ihr zumal, und die ihn ent¬
zückte. „Ich muß mich, ich muß die Frauen
haſſen;“ ſagte ſie ſtill; „von Natur ſind wir
grauſam und zu den Gefühlen, welche wir zu
äußern wohl unter Umſtänden fähig wären, haben
wir urſprünglich nur die bloßen Anlagen. Glau¬
ben Sie es, Cäſar, die Frauen gedeihen nur
durch die Männer. Sie ſelber wären im Stande,
ſich unter einander zu zerfleiſchen. Niemand
kann bei dem Elende der Menſchen, bei Krieg,
Erdbeben, öffentlichem und Privatunglück em¬
pfindungsloſer ſein, als die Frauen. Verſtehen
Sie mich recht, ſo lange wir allein ſtehen.
Was wir von Gefühl urſprünglich haben, das
iſt mehr Schauer, als Bewußtſein, mehr thie¬
riſche Furcht, als Reflexion einer edlen Seele.
Ach, ich zittre oft vor einer Empfindungsloſig¬
keit, die ich nicht zu heilen weiß!“
„Aber woher die ſpätere Metamorphoſe der
Frauen?“ fragte Cäſar, erſtaunt über die
Wahrheit, welche ſich in Wally's Antlitze
ausdrückte.
Sie ſtockte: ſie blickte ihn an. Er errieth
und ſank zu ihren Füßen.
So lange dieſe Situation ſtumm war, konnte
ſie zwiſchen beiden wohl empfunden ſein; als
aber Wally nach einem Worte ſuchte, wies ſie
ihn zurück.
Ihm war es recht; denn die Reflexion ſchlug
ihn in den Nacken, und hatte ihn unwillkür¬
lich aufgeriſſen, da er auf nichts in ſeinem
Herzen Vorbereitetes ſtieß und ihm jede Si¬
tuation fatal war, in der er ſich ſelbſt nicht
hätte beobachten können.
Sie ſaßen beide wieder auf ihren Baum¬
ſtämmen. Doch war es eine warme Stim¬
mung, die ſich ihrer bemächtigt hatte, in der
ſie wenn auch über nichts entſcheiden, dennoch
über Alles unterhandeln konnten.
Wally verhehlte nicht, daß die Zauberruthe,
welche die im Herzen des Weibes ſchlummernden
Gefühle erſt wecke, die Liebe ſei. Cäſar er¬
griff ihre Hand und ſagte: „Wir ſind für
die Illuſion beide nicht gemacht. Eine Mücke
würde uns ſtören, wollten wir zu den Ster¬
nen beten. Jede Aufwallung, bei der wir
nur einen Augenblick unſre Manieren nicht in
der Hand hätten, würde uns lächerlich ſcheinen.
Helfen wir uns beide! Eine kurze Ueberein¬
kunft kann uns auf die Stufe verſetzen, welche
uns alle jene Glückſeligkeit gewährt, die wir
durch Zurückhaltung, Schaam, natürliches oder
kokettes Weſen niemals erreichen. Wally!
Wally!“
Jetzt lag Cäſar zu Wally's Füßen, wahr¬
haftig, ohne Bewußtſein, von einem ungeheuchel¬
ten Gefühle übermannt. Aber was warf ihn
nieder? Nicht die Liebe, ſondern der Gedanke
an eine Humanitätsfrage, die niemanden von
euch fremd iſt: der Gedanke an jene Augen¬
blicke, wo wir, überdrüſſig der conventionellen
Formen des Lebens, zu aller Welt herantreten
möchten und ihr zurufen: „O warum dies
Gehäuſe von Manieren, in welches du Spröde
dich zurückziehſt? Warum dieſe Verhüllung des
Menſchen in und an dir? Warum Zurückhal¬
tung, du, mein Bruder, du, meine Schweſter,
da du doch gleichen Weſens mit mir biſt, eine
Hand wie ich zum Drucke, einen Mund wie
ich zum Kuſſe haſt? Ach, wie ſeh' ich rings
um mich her eine ſo reife Ernte von Liebe
und Schönheit! Warum zögern, bis auf Jahre,
daß ich ſie breche? Warum nicht das Ent¬
zücken, daß wir alle Menſchen ſind, ſchwach und
ſtark, ſterblich und unſterblich! Dieſe unſicht¬
baren Barrieren, welche die Menſchen trennen,
welche auch den Jüngling vom Mädchen tren¬
nen, müſſen fallen; denn ich kenne dich, dein
Alles, dein Gehen und Stehen, deine Schwä¬
chen und Tugenden: ſiehe! hier iſt meine offne
Bruſt, hier ſchlägt mein Herz, ich bin nichts,
was noch etwas anderes wäre, als es iſt, nichts,
was du für etwas anderes halten dürfteſt. Weib,
in deinen Augen, in den Formen deines Kör¬
pers biſt du überreif zur Liebe; und wenn ich
dich heut zum erſtenmale ſähe, ſo pflückt' ich
dich, denn wir ſind die Kinder eines und deſ¬
ſelben Planeten, ich Menſch, wie du, beide al¬
ternd, beide den Tod fürchtend, beide elend.
Was weichſt du mir aus?“
Wally zerfloß in Thränen. So faſt hatte
Cäſar zu ihr geſprochen, und ſie fühlte das
Entzücken, ſtatt eines Weibes Menſch zu ſein.
Sie zitterte bei dieſer ächt philanthropiſchen
Vorſtellung, welche, wenn ſie allgemein würde,
die Welt durchaus umgeſtalten und ihre ſchwie¬
rigen Fragen im Nu löſen müßte. Sie ließ die
Umarmung Cäſars zu: nicht, weil ſie ihn liebte,
oder aus Egoismus, aus Stolz, einen Mann
überwunden zu haben, ſondern weil ſie ſich als
das ſchwache Glied der großen Weſenkette fühlte,
die Gott erſchaffen hat, weil ſie wußte, daß ſie
ja vor der Wahrheit und Natur ganz nackt
und bloß und mitleidswürdig war, weil ſie zu¬
letzt glaubte, daß dieſe heißen Küſſe, welche
Cäſar auf ihre Lippen drückte, allen Millionen
gälte unterm Sternenzelt.
Sehet da eine Scene, wie ſie in alten
Zeiten nicht vorkam! Hier iſt Raffinirtes,
Gemachtes, aus der Zerriſſenheit unſrer Zeit
Gebornes: und was iſt die Wahrheit Romeo's
und Juliettens gegen dieſe Lüge! Was iſt die
egoiſtiſche Geſchlechtsliebe gegen dieſen Enthu¬
ſiasmus der Ideen, der zwei Seelen in die
unglücklichſten Verwechſelungen werfen kann!
Ich zittre vor einem Jahrhundert, das in
ſeinen Irrthümern ſo tragiſch, in ſeinem Fluche
ſo anbetungswürdig iſt.
10.
Die Uebereinkunft der Liebe zwiſchen Wally
und Cäſar mußte ihren Verhältniſſen ein neues
Colorit geben. Wir fürchten, daß die Farben
allmählig erbleichen werden. Aber noch ſind
ſie hell und friſch; noch liegt auf Wally's An¬
tlitz der melancholiſche Schatten jener entzük¬
tenden Verirrung, in Cäſars Mienen die Re¬
ſignation und Selbſtzufriedenheit, welche ſelbſt
blaſirte Charaktere und verwitternde Natürlich¬
keiten ergreifen kann, wenn der immer durſtige
Becher ihrer Wünſche einmal voll iſt bis an
den Rand der Erfüllung. Das Wiederfinden
eines Jugendfreundes unterſtützte Cäſars re¬
flektirende Perſönlichkeit ſich in einer Welt zu
halten, in welcher er ſich ſeit einiger Zeit gefiel.
Waldemar hieß der neue Ankömmling, ein
Mann, der einſt blühend und ſchön war, in
der Reſidenz zu Wally's Anbetern gehörte, dann
heirathete und trotz der glänzendſten Verhält¬
niſſe zu keiner Freude kam, da ſeine Gattin
an unheilbaren Uebeln ſiechte. Die Stim¬
mung dieſes Mannes theilte ſich ſeinen Umge¬
bungen mit, erſt auch Cäſar, verlor ſich aber
an dieſem in dem Augenblick, als ſie für
ihn durch folgende gemiſchte Anekdote einen
Grund bekam.
Seit Waldemars Ankunft im Bade hatte
ſich nämlich das ſtille Bärbel von den beiden
Indien zurückgezogen. Ihr Betragen gegen ihn
ließ keinen Zweifel, daß dieſer Mann die Ur¬
ſache ihrer Geiſtesverwirrung geweſen war. Sie
verfolgte Waldemar, wo er ſich nur blicken
ließ, und weinte oft auf dem Wege, wenn er
in zahlreicher Geſellſchaft vorüber ging. Jeder
mann kannte den Zuſammenhang dieſer tragi¬
ſchen Comödie, doch wollten nicht Alle glauben,
was Waldemar verſicherte, daß er ſich dieſes
Mädchens durchaus nicht entſinne, nie mit ihr
ein Wort gewechſelt, und auch im vorigen Jahre
zum erſtenmale Schwalbach beſucht habe. Cä¬
ſar aber glaubte dieſen Verſicherungen; denn
Waldemar war eine treue Seele, die Nieman¬
den betrüben konnte, noch weniger aber wäre
eine Unwahrheit über ſeine Zunge gekommen. Er
nahm den Wahnſinn Bärbels von der lächer¬
lichen Seite und ſuchte Waldemar zu tröſten.
Ja, dieſem melancholiſchen Manne fehlte nur
noch eine neue Urſache ſeiner Schwermuth!
Wally befand ſich in einer Stimmung, die
ihr den Verkehr mit beiden Männern, der immer
gewiſſe Gränzen und Nüancen hatte, recht zum
Genuß machte. Einſt wollte ſie in einem Garten
zu ihnen unbemerkt herantreten, während beide
Freunde unter einem Bosket von verwelkenden
Roſen ſich unterhielten; da ſie aber hörte, daß ihr
Geſpräch religiöſe Saiten aufgezogen hatte, ſo
Gutzkow's Wally. 6
fürchtete ſie, etwas zu verſtimmen, und blieb
unwillkürlich in einer Weite ſtehen, daß ihr
von dem Geſprochenen nichts entgieng und ſie
dabei doch ungeſehen blieb. Sie fühlte das
Mißliche dieſer Situation in einem Augenblicke
nicht, wo alle ihre Seelenfäden Geſpinnſte zu
ſchießen begannen, in die ſie ſich immer tiefer
verſtrickte, wo es einer Unterſuchung über die
Religion galt.
„Hätt' ich einen größeren Wirkungskreis,“
ſagte Waldemar, „vielleicht gelänge es mir
dann, den Unmuth meiner Seele zu zerſtreuen,
wie auch jene Berge, auf welchen viel Wald¬
leben herrſcht, Tannen rauſchen und die Natur
in einer ſteten Bewegung iſt, die Nebel ſich
leichter zerſtreuen. Ich bin ein kahler Hügel,
jedem Windzuge offen, und von jeder Wolke
gleich bis tief unter die Augen bedeckt. Nach
ideellen Schutzwehren ſuch' ich eben ſo verge¬
bens. Die Politik iſt nur im Stande, meine
Schwermuth zu vermehren, und die Religion
hat man mir durch meine Erziehung verleidet.“
„Wer wird auch,“ entgegnete Cäſar, „bei
üblen Stimmungen Hülfe von der Religion
erwarten! Religion iſt das Produkt der Ver¬
zweiflung: wie kann ſie die Verzweiflung heilen?“
„Sie ſollte es wohl; jede Religion ſoll
es, welche die Miene der Offenbarung an¬
nimmt,“ ſagte Waldemar. „Aechte Religion
iſt poſitive Heilkraft; aber gleicht das Chriſten¬
thum nicht einer Latwerge, die aus hundert
Ingredienzien zuſammengekocht iſt? Meine Ver¬
nunft ſagt mir, auch ohne Hahnemanns Or¬
ganon, daß die Krankheiten immer einfache und
nur die Symptome zuſammengeſetzt ſind, daß
die Natur für jede ihrer Abnormitäten eine
mediziniſche Rektifikation im ſimpeln Zuſtande
hat und daß in einer Mixtur von Heilkräften
eine Kraft die andere aufhebt. Die unerhörte
Ueberladenheit des Chriſtenthums aus traditio¬
6 *
nellen, hiſtoriſchen und bibliſchen Urſachen macht
aber, daß es für den Schmerz der Seele ganz
ohne Wirkung iſt. Eines ſeiner Dogmen ſtört
das andre.“
Ein Krampf ſchnürte Wally's Bruſt zuſam¬
men. Sie wankte ohnmächtig fort, bis jener
Referendar, der über das Unzeitgemäße der
politiſchen Garantien geſchrieben hatte, ihren
Arm ergriff und ſie zu Waldemar und Cäſar
führte, von denen er den erſten geſucht hatte.
„Waldemar!“ rief er: „was Sie glück¬
lich ſind! Ein Ehegatte, und noch bringen ſich
Ihretwegen die Frauen um.“
„Was wollen Sie damit?“ fragte Wal¬
demar.
„Sie müſſen nicht erſchrecken,“ ſagte je¬
ner; „aber Ihr verlaſſenes Bärbel iſt todt.
Sie ging geſtern den ganzen Tag um Schwal¬
bach herum, ſich ein Grab zu ſuchen, blieb
dann noch lange bei den beiden Indien, wankte
darauf mechaniſch fort bis an das Schloß Naſ¬
ſau, wo ſie ſich von der eiſernen Hängebrücke
hinabgeſtürzt hat. An der linken Seite von
hier, da wo der Brunnen auf der Brücke ſteht,
ſoll ſie noch mehre Stunden geſeſſen haben,
wie die Leute verſichern, die ſie dort ſahen.
Die Gerichte von dort ſchicken dieſen Ring mit,
der an dem Finger des Mädchens ſich befand.
Ich hab' ihn hier.“
Waldemar erblaßte. „Mein Gott!“ ſchrie
er. „Dieſer Ring — “
Cäſar ſprühte auf: „Wie?“ rief er;
„Waldemar, du hätteſt dennoch — “
„Ja,“ bemerkte der Dritte: „ich kenn'
ihn. Sie trugen dieſen Ring vor mehren Jah¬
ren, Waldemar.“
Wally trat hinzu und nahm den Ring. Sie
betrachtete ihn und gab mit unpaſſender Hei¬
terkeit die Erklärung: „Waldemar, Sie gaben
mir vor drei Sommern dieſen Ring. Iſt
eine Verheirathung dem Gedächtniſſe ſo
ſchädlich?“
„Aber wie kam die Unglückliche zu dem
Ringe, den alle Welt als ein Pfand meiner
treuloſen Verſicherungen auslegen wird?“ fragte
Waldemar mit bleichen Lippen, die doch wie¬
der ſprechen konnten, nachdem er ſich auf die
Huldigungen beſann, die er einſt Wally ge¬
bracht hatte.
„Ich hatte die Gewohnheit,“ ſagte Wally,
„die Ringe meiner Verehrer jährlich im Bade
zurückzulaſſen, indem ich ſie in die Becher, die
am Sprudel ſtehen, warf, und dieſe dann ar¬
men Leuten oder Kindern zu trinken gab. So
iſt die Närrin wohl zu dem Geſchenke ge¬
kommen.“
„Gut erfunden!“ flüſterte der Referendär,
dem im Augenblick auch ſein Ehrenhandel mit
Cäſar einfiel. Wally blickte etwas ſtolz: man
kann durchaus nicht ſagen, warum? und reichte
dem Menſchen ihren Arm.
Waldemar ſaß in tiefes Nachſinnen verſun¬
ken. Wie wunderbar war der Zuſammenhang
dieſes unglücklichen Ereigniſſes! Man konnte
verſucht werden, an eine magnetiſche Einwir¬
kung zu glauben. Wer erklärte ihm, wie ein
Ring eine Neigung veranlaſſen konnte zu einem
Manne, den man nie geſehen! Wie kam es,
daß die Arme, gleich als ſie ihn zum erſten¬
male ſahe, ihn als den Eigenthümer des Rin¬
ges erkannte, den ſie liebte und mit einer
wirklichen Perſon verwechſelte! Er ging tief
bekümmert in ſeine Wohnung und überredete
ſeine kranke Gattin, mit ihm ſogleich den Schau¬
platz ſo unheimlicher Begebenheiten zu verlaſſen.
Was aber empfand Cäſar bei dem Ereig¬
niſſe? Nicht das Ereigniß ſelbſt, nicht den
Schmerz ſeines Freundes, ſondern nur Eines,
was ihn ſchon oft bei Vergleichung des Todes
mit dem Leben intereſſirt hatte. Das arme
Bärbel war vor ihrem Ende unruhig in dem
Flecken herumgewankt und hatte den Tod ge¬
ſucht, der ihr nothwendig ſchien. Sie war bis
nach der eiſernen Brücke gelaufen, um den Trö¬
ſter ihrer Leiden zu finden. Iſt es beim Selbſt¬
morde eine unſichtbare Hand, die die Kehle
zuſchnürt? Geht man wahnſinnig, ohne Be¬
wußtſein in den Tod, wie die Mücke in das
brennende Licht ſtürzt? Oder iſt man bei et¬
wa vorhandener Kraft, ſich noch als nachden¬
kend zu fühlen, ſchon ſo mit dem Tode ver¬
ſchwiſtert, daß jener weitere AetAct des Selbſt¬
mordes nur die Publikation eines Befehles wird,
der ſchon abgemacht und im Stillen ausgeführt
iſt? Darüber ſann Cäſar nach, und konnte ſich
vor Schmerz nicht faſſen, als er bei dem Ver¬
folgen von Bärbels Benehmen nur darauf zu¬
rückkam, daß die Furcht vor dem Tode doch
immer das Urſprüngliche und bis zum ſchwin¬
denden Bewußtſein das Letzte ſei. Die Unzu¬
länglichkeiten der Erhabenheit, ſagte er, die
Furcht vor dem Tode, der Schmerz, nicht wie
Brutus, der alte und der junge tödten, nicht
wie Cato ſterben zu können, die Bitte des
Prinzen von Homburg, ihn leben zu laſſen: das
iſt das Tragiſche unſrer Zeit und ein Gefühl,
welches die Anſchauungen unſrer Welt von dem
Zeitalter der Schickſalsidee ſo ſchmerzlich ver¬
ſchieden macht. Sie wollte ſterben, und lief einen
ganzen Tag, einen Weg von ſechs Stunden,
um den Tod zu finden, den ſie herzlich ſuchte
und den ſie fürchtete!
So war Cäſar.
11.
Jenes feſte und präciſe Benehmen, das
Wally bei der Aufklärung über den Ring ge¬
zeigt hatte, war nur durch die Situation her¬
vorgerufen worden. Auch wird ſich niemals
ein Weib bei der Leidenſchaftlichkeit einer An¬
dern enthalten können, ſich aufzuſchnellen und
mißachtend auf die fremde Verirrung herabzu¬
ſehen. Dieſe Stimmung war aber nur eine
vorübergehende.
Die Erklärung, welche Waldemar über das
Chriſtenthum abgab, hatte auf ihre Seele wie
die Berührung eines kranken Zahnes gewirkt.
Glaubt ihr, Wally habe nach einem Mittel¬
punkte ihres Lebens geſucht? Warlich nicht.
Nirgends lagen etwa zerſtreute Bruchſtücke von
Gedanken, die ſie gern verbunden hätte. Un¬
mittelbar und zufällig war ihr ganzes Leben:
nur im Religiöſen ſtand ſie oft, wie ein Wan¬
derer auf der Landſtraße, der den Weg verfehlt
zu haben glaubt, ſich in der Gegend umblickt
und mit ſeinem Ortsſinne ſich zu orientiren
ſucht. Es war ein ganz bewußtloſes Sinnen,
ein träumeriſches Fühlen, dem ſie ſich taſtend
und anpochend hingab. Von einer Reflexion,
einer zuſammenhängenden Unterſuchung konnte
bei Wally nicht die Rede ſein. Sie litt an
einem religiöſen Tik, an einer Krankheit,
die ſich mehr in haſtiger Neugier, als in
langem Schmerze äußerte. Sie war wie in
einem Zimmer, das ſich plötzlich mit Rauch
füllt und wo man ſich nicht anders helfen kann,
als an das Fenſter zu ſpringen, es aufzureißen
und mit einem unmäßigen Geſtus nach friſcher
Luft zu haſchen.
Wally wußte ſelbſt nicht, was Alles zuſam¬
mentraf, ſie nachdenklicher als je zu machen.
Sie hatte zum erſtenmale einige Beobachtun¬
gen über ihren Zuſtand in eine zuſammenhän¬
gende Kette aufgereiht. Sie war vor ihren
Gedanken nicht ſcheu zurückgeſchreckt, ſondern
hatte ſie diesmal ſcharf ins Auge gefaßt. In
einem Brief an eine Freundin ſuchte ſie ihrer
Angſt Luft zu machen.
Der Brief war vielleicht vollendet. Sie
wagte nicht, was ſie hatte, wieder durchzule¬
ſen. Auch verzweifelte ſie während des Schrei¬
bens ihn abzuſenden. Sie zerriß ihn.
Einige Minuten blickte ſie die Reſte an;
dann ordnete ſie mechaniſch, was davon noch
vor ihr lag. Die Linien und Buchſtaben pa߬
ten zuſammen. Jetzt erſt las ſie ihn, wo ſie
gleichſam wußte, daß er ihr nichts mehr ſcha¬
den könne.
„Meine theure Antonie,“ hatte ſie geſchrie¬
ben; „deine geſchmackvollen Muſter, das ſehr
hübſche Diadem, was aber wohl zu meinem
Haare nicht ſtehen wird, auch die engliſchen
Nadeln und die neuen Touren zum Cotillon
hab' ich bekommen. Ich danke dir, An¬
tonie! Verzeih mir nur, daß ich nicht jetzt
auch mit all dem Entzücken davon ſpreche, das
ich wirklich über deine Gefälligkeit und die Ge¬
genſtände derſelben empfunden habe. Du glaubſt
nicht, in welcher wunderlichen Stimmung ich
heute bin. Und heute mußte ich doch ſchrei¬
ben — Morgen würd' es ſchon beſſer ſein. Nur
eins ſage mir, Antonie, haſt du wohl in dei¬
nem Leben einen frohen, recht frohen Augen¬
blick gehabt? Ich beſinne mich vergebens auf
einen; denn es iſt doch immer eine peinliche
Unruhe und Haſt, von der wir getrieben wer¬
den, eine Aengſtlichkeit, von welcher die Män¬
ner keine Vorſtellung haben. Zuweilen erſchreck'
ich vor dieſer pflanzenartigen Bewußtloſigkeit,
in welcher die Frauen vegetiren, vor dieſer Zu¬
fälligkeit in allen ihren Begriffen, in ihrem
Meinen und Fürwahrhalten. Der Augenblick
iſt der Urheber unſrer Handlungen und die Ver¬
geßlichkeit die Richterin derſelben. Ach, An¬
tonie, ich beſchwöre dich! Nimm dieſe Klagen
nicht als die Frucht eines regneriſchen Tages;
o — ich leide an einem Schmerze, der unheil¬
bar iſt, da ich ihn gar nicht zu nennen weiß.
Das rennt, läuft, ſpringt, lacht, ſingt, weint,
zankt, — nun ſage mir um des Himmels Wil¬
len, was ſteckt dahinter? Was iſt der Kern
dieſer ſpiralförmig fortkreiſelnden Unruhe? Die
Männer ſind glücklich, weil man an ſie Anfor¬
derungen macht. Das Maaß ihrer Handlun¬
gen iſt der Beifall oder der Nutzen, den ſie
damit gewinnen. Auch dies ſage, warum wir
den Fauſt nicht leſen ſollen? Die Schilderung
jener Zweifel, die eines Menſchen Bruſt durch¬
wühlen können, macht uns vertraut mit ihnen
und die Wirkung derſelben für uns weniger
gefährlich. Aber ich fühl' es, daß ſich in je¬
des Menſchen Herzen innere Gedichte ent¬
wickeln, eine ganze Hiſtorie von Wundern, die
wir zu erklären verzweifeln, Gedichte, in denen
wir ſelbſt der von den Göttern verfolgte, ge¬
neckte, ſcheiternde, irrende Ulyſſes ſind. Das
iſt alles halb, ſiehſt du. Es iſt noch immer
nicht das, was ich ſagen möchte und nicht ſa¬
gen kann. Liebe Antonie, das iſt der Fluch:
man verlangt nichts von uns, man will gar
nichts, es kömmt gar nichts drauf an. Auch
dies noch: wir haben einen Ideenkreis, in wel¬
chen uns die Erziehung hineinſchleuderte. Dar¬
aus dürfen wir nun nicht heraus und ſollen
uns nur mit Grazie, wie ein gefangenes Thier,
an dem Eiſengitter dieſes Rondels herumwin¬
den. Dieſe Gefangenſchaft unſerer Meinungen
— ach, war Spreu für den Wind! Rechte
will ich in Anſpruch nehmen, für wen? für
was? O Antonie, ich habe nichts, was werth
wäre, gedacht: ich will gar nicht ſagen, ge¬
meint oder geſprochen zu werden. Ich drücke
an den Begriffen, die mir zu Gebote ſtehen;
aber ſie ſind elaſtiſch und geben immer nach
und gehen immer wieder zurück. So glaub' ich,
kommen auch die Revolutionen, wenn die Men¬
ſchen ſo viel Mühe haben, an ihrer Stirn hin-
und herfahren und ihre welke Begriffstyrannei
gern ſtürzen möchten mit etwas, was ſie ſuchen,
aber nicht finden können. Dann ſchaffen ſie
ſogar Gott ab, nämlich, weil ſie ihn wahrhaf¬
tig nicht verſtehen. Es iſt auch ſchwer, An¬
tonie! Die Schöpfung — ſchon gut; aber wo¬
her? womit? warum? Der Menſch, der Affe,
der Polyp, die Sinnpflanze, das Moos, der
Stein, der Cryſtall, das Waſſer, die Luft, der
Wind, Nichts: wo iſt Gott? Oder wollt ihr
nicht den Weg des Waſſers gehen: ſo geht den
des Feuers! Der Vulkan, das Licht, die Wärme,
die Elektricität, der Magnetismus: wie kann
Gott in der Volta'ſchen Säule ſtecken?“
Hier mußte Wally laut auflachen, bei all
ihrem Schmerz und Unglück. Der komiſche
Conflikt der Schulweisheit mit ihrer Melan¬
cholie, die Vergleichung Gottes und jenes klei¬
nen Profeſſors der Phyſik, der ſie mit papi¬
nianiſchen Töpfen, Herobrunnen und Luftpum¬
pen ſo tief in die Natur hatte ſehen laſſen
wollen, ob er gleich ſelbſt nur ein Auge hatte,
das waren zu drollige Erinnerungen. Sie zuckte
mitleidig mit ſich ſelbſt, über ſich ſelbſt die Achſel,
und gieng Cäſar entgegen, der viel ungereimtes
Zeug mit ihr zu ſprechen hatte.
Gutzkow's Wally. 7
12.
Ein Begegniß, das Wally kurze Zeit dar¬
auf erlebte, machte den erſten Abſchnitt in
ihrem Leben. Es ſchien, als könnte ſie in ihrem
jetzigen Aufenthalte die Heiterkeit nicht wieder
gewinnen, welche ihrem Charakter entſprach.
Ein Umſtand aber veranlaßte bald die Abreiſe
von Schwalbach.
Wally war eines Abends ſpät und unmu¬
thig zu Bett gegangen. Die Lampe brannte
noch auf ihrem Tiſche; aber ſie konnte nicht
ſchlafen. Ihr Blut war in fieberhafter Auf¬
regung. Sie warf ſich unruhig hin und her,
aber ihre Sinne wollten ſich nicht löſen.
Da ſprang ſie auf, ſetzte ſich an den Tiſch
und fing all die Mittel zu prüfen an, welche
die Leute anrathen, um in gleichmäßige Bewe¬
gung des Bluts zu kommen. Sie zählte die
zwölf Glockenſchläge an der Kirchthurmuhr, ſie
zählte das Einmaleins her, von vorn und hin¬
ten, deklamirte das einzige Gedicht, welches ſie
bei ihrem ſchlechten Gedächtniß auswendig wußte:
„Eine kleine Biene flog emſig hin und her, und
ſog.“ Nichts half. Da erblickte ſie auf dem
Tiſch die Anordnungen, welche ſie neulich ge¬
macht hatte, um an ihre Freundin zu ſchreiben.
Sie ergriff die Feder und ſchrieb:
„Meine theure Antonie, deine geſchmack¬
vollen Muſter, das ſehr hübſche Diadem, was
aber wohl zu meinem Haare nicht ſtehen wird,
auch die engliſchen Nadeln und die neuen Tou¬
ren zum Cottillon hab' ich erhalten. Ich danke
dir, liebe Antonie! Verzeih mir nur — “
Abſcheulich! rief ſie aus, und trat an das
Fenſter. Der Mond beleuchtete hier und dort
einen Theil des engen Thales und ſeiner Um¬
gebungen. Er war mit Wolken bedeckt, die
7 *
aber nicht eilten, ſondern ſchwer auf ihm haf¬
teten. Es wehte kein Wind. In ſanfter, nächt¬
licher Stille ruhte die maleriſche Natur. Ein
tannenſchwarzer Bergrücken begränzte auf der
einen Seite die ovale Rundung des ſchlum¬
mernden Thales. Nirgends die Ahnung eines
menſchlichen Weſens.
Wally hüllte ſich in einen leichten Nacht¬
überwurf. Ihr Zimmer lag zur ebnen Erde.
Mit einem Tritte war ſie draußen im Freien.
Ohne mehr zu wollen, als die Hitze ihres Blu¬
tes abkühlen, ſtieg ſie zur linken Hand die
Straße hinauf, dann wieder hinunter zum Allee¬
ſaal hin. Sie wird nur einige Schritte unter
den Bäumen auf und abgehen.
Als ſie ein weniges weiter gekommen war,
vernahm ſie ein ſonderbares Geräuſch, welches
man für das Seufzen einer ſchwankenden Pap¬
pel hätte halten können, wäre ein ſtarker Wind
gegangen. Sie erſchrak, wie dieſe Laute ſich
immer deutlicher als Geſtöhn und ſchmerzliche
Klage zu erkennen gaben. Es war wie das
Jammern eines Verwundeten, der ſich fürchtet,
durch übergroßen Schmerzausdruck des Mundes
vielleicht die brennenden Leiden ſeines Scha¬
dens deſto ſtärker zu machen.
Wally blieb betroffen ſtehen. Ihr ſiedendes
Blut gerann und die Fieberhitze wich einer kal¬
ten Erſtarrung, in die der Schreck ihre Glie¬
der verſetzte.
Sie ſahe, daß ſich im Hintergrunde der
Allee Etwas bewegte, das auf ſie heranzukom¬
men ſchien. Die Angſt hatte ſich ihrer Seele
ſo ſehr bemächtigt, daß ſie nicht einmal wagte,
zu entfliehen. Wie angewurzelt blieb ſie ſtehen,
und wankte nur, als eine menſchliche Figur
immer näher trat, mechaniſch hinter einen
Baum, von dem ſie glaubte, daß er ihr Schutz
gewähren könne.
Ein Weib kam mit händeringenden Geber¬
den. Sie wandte ſich oft geſpenſtiſch um und
ſuchte etwas, was man nicht ſehen konnte, von
ſich abzuwehren. Dann fuhr ſie mit einer
grauenerregenden Vehemenz und ſie begleiten¬
dem Geheul in die Gegend ihres Kopfes, als
wolle ſie etwas bedecken oder irgend einen über¬
großen Schmerz ſtillen. Wally zitterte.
Jetzt ſtand die Unglückliche, welche nicht
im Fieber zu ſein, ſondern das volle Bewußt¬
ſein zu haben ſchien, dicht vor ihr. Wally
ſahe, wie ſie ſchwankte und zu Boden ſtürzte.
Mit einem fürchterlichen Geſchrei wühlte das
entſetzliche Weib ihren Kopf in den loſen Sand
und rang, ihre Hände gleichſam zu vervielfäl¬
tigen, um den Kopf von allen Seiten bedecken
zu können. Dabei ſtöhnte ſie wieder, und ſahe
ſich, wie tief ſie auch den Kopf in den Sand
hineingewühlt hatte, um, und fuhr mit einem
gräßlichen Schrei auf, als hätte ſie einen Geiſt
erblickt, bis ſie ohnmächtig und beſinnungslos
in dieſer gräßlichen Lage verſtummte.
Wally wagte nicht, einen Laut von ſich zu
geben. Als das Weſen ſich beruhigte, verſuchte
ſie aufzutreten, ob man ſie auch nicht hören
könne, wagte dreiſtre Schritte, und floh, als ſie
eine Strecke weit von der Scene entfernt war,
der ſie hatte beiwohnen müſſen. Sie fror an
allen Gliedern, als ſie auf ihrem Lager ſich
gebettet hatte und ſchlief ein aus Furcht.
Am folgenden Morgen betrieb ſie die Ab¬
reiſe. Die Tante zögerte. „Unter keiner Be¬
dingung!“ rief Wally; „ich bin eines Ortes
müde, der mich umbringen muß.“ Das war
ein fürchterlicher Ausdruck; die Tante war dieſe
Wendungen nicht gewohnt. Sie entſetzte ſich
und reiſte ab.
Als Cäſar ſie beide an den Wagen beglei¬
tete, erzählte er ihnen noch, daß die Frau des
Trompeters an der geſpenſtiſchen Trommelmuſik
ihres Ohres dieſe Nacht geſtorben ſei. Sie
ſei vor Unruhe aus dem Hauſe gerannt, habe
Nachts die ganze Stadt durchirrt, um den
grauenhaften Tönen zu entfliehen, und ſei in
der Allee gefunden worden, wie ſie mit dem
Kopf in den Sand gewühlt dagelegen.
Wally winkte mit der Hand, daß er ſchwei¬
gen ſolle.
Cäſar aber glaubte, daß ſie ihn zum Ab¬
ſchied grüße; die Pferde zogen an und, den
Spruch des großen Römers parodirend, ſagte
er zu dem Fahrzeuge: du trägſt Cäſar und
ſein Glück!
Zweites Buch.
1.
Der Sommer reifte zur Ernte. Aus ſeinen
letzten Fäden ſpann ſich ein Herbſt voll Kel¬
terluſt. Die Aſtern ſammelten noch einmal
alle Farben der ſchönen Vergangenheit, dann
ſtarb die Natur und was zurückblieb, legte den
Froſtreif und Nebelflor der Trauer an. Die
Ströme gerannen, die Wolken zerrieben ſich zu
Schneeflocken. Der Winter kam in ſeinen Pelz¬
ſchuhen angeſchlichen, und klopfte mit Weih¬
nachtsfreuden an die Reifblumen der Fenſter an.
Wally wirbelte ſich in einer Luſt, die ſie ſo
zauberhaft zu regeln verſtand. Was Religion!
Was Weltſchöpfung! Was Unſterblichkeit! Roth
oder blau zum Kleide, das iſt die Frage. Ob's
beſſer iſt, die Haare zu tragen à la Madelaine
oder ſie zuſammen zu kämmen zu chineſiſchem
Schopfe? Tanzen — vielleicht auch Sprüch¬
wörter aufführen — o nur gering iſt die Zahl
der Vergnügungen, welche im Verhältniß zur
zunehmenden Civiliſation nicht mehr lächerlich
ſind: ſo ſehr gering! falls man ſich ſelbſt ſo
viel liebt, nicht Karten zu ſpielen, jene melan¬
choliſchen Spiele Albions und der nordameri¬
kaniſchen Yankees, wenn man noch wie Mendel¬
ſohn philoſophiſch und kantiſch genug iſt, für
den Scherz keinen Ernſt und für den Ernſt
keinen Scherz aufzuwenden!
Aber eine Unterhaltung iſt unerſchöpflich;
ein Spiel unermüdlich. Das iſt die Koketterie.
Wally hatte damit alle Hände und alle Mie¬
nen voll zu thun. Künſtliche und natürliche
Launen waren die Zahlen, mit welchen ſie ihre
Umgangsexempel zuſammenſetzte. Wally ließ
die ganze Welt wie elaſtiſche Figuren auf dem
Reſonanzboden ihrer Einfälle ſpringen. Sie
ſpielte die capriciöſen Melodien zu allen dieſen
Bewegungen, welche ſie lachen machten. Was
wollte ſie auch mehr? Sie wollte nicht einmal
den Ruf davon, die Neigungen ihrer Umgebungen
ſo unübertrefflich eskamotiren zu können. Sie
that alles ohne Stolz, ohne Abſicht, ohne
Bewußtſein. Sie war bezaubernd!
Cäſar war die Balancirſtange dieſer Equi¬
libres. Er rektificirte wie irgend ein chemi¬
ſches Natron alle die barokken Confuſionen,
welche Wally anrichtete. Cäſar fiel dabei bald
hier, bald dorthin, in jenem erſten Bilde. In
dieſem letzten nahm Wally bald größere, bald
kleinere Portionen von ihm. Er fehlte aber
nie, und dieſe perſpektiviſche Verſchiebung bald
zu einer Gunſt von einer Linie, bald zu einer
von zwei Zollen, oder drei, hielt ihn in der
Spannung, welche Männer allein zu feſſeln
im Stande iſt. Es iſt möglich, daß Cäſar
Wally liebte, wenigſtens war ſie ihm eine Ver¬
traute geworden. Er hätte ſie vielleicht einem
andern abtreten können; aber von ihr ſich
trennen, das konnte er nicht. Und doch! Viel¬
leicht! Wir ſind Charlatane, wir können alles!
Es war auf einem glänzenden Balle, der
am Hofe gegeben wurde. Cäſar, der nicht
tanzte, weil die Prinzeſſinnen zugegen waren
und es ihn beleidigt haben würde, wenn ſie
ihm durch ihre Kammerherrn die herkömmlichen
Aufforderungen geſchickt hätten, zog ſich zurück.
Wally beachtete ihn nicht. Er nahm das leicht.
Er wußte, daß Wally weit entfernt war von
der gewöhnlichen Anſicht deutſcher Mädchen,
dem Tanze eine ſinnliche Bedeutung oder die
Bedeutung irgend einer Gunſt unterzulegen;
er wußte, daß ſie diejenigen liebte, mit denen
ſie nicht tanzte. Und doch war ſie heute auf¬
geregter, als jemals. Das nahm ihn Wunder
und verſtimmte ihn. Als Wally zu ihm trat,
ſprach ſie: „Ich habe Sie ſuchen müſſen.
Wo ſtecken Sie? Ich muß Ihnen etwas
ſagen.“
Sie ſtanden in einem der entlegeneren Zim¬
mer. „Und was?“
„Ich werde den ſardiniſchen Geſandten hei¬
rathen; aber wir ſprechen uns noch!“
Damit war ſie verſchwunden.
Cäſar eilte nach Hauſe. Er hatte durch¬
aus nichts, was ihn drückte, und doch entſchloß
er ſich, eine kleine Reiſe zu machen. Er war
ſehr unruhig den ganzen Tag, mehre Tage.
Er machte die Reiſe. Er notirte, zeichnete,
ſchrieb viel Briefe. Er würde ſich vortrefflich
zerſtreut haben, wenn ihm nicht aus jedem
Baum, aus jedem Echo zugeklungen wäre:
aber wir ſprechen uns noch! Dies Aber!
machte ihn verwirrt; denn es klang wie eine ſo
ſchwärmeriſche, träumende Liebe, daß er ge¬
glaubt hatte, den letzten lechzenden Seufzer,
das kaum gelispelte felicissima notte einer
Italienerin zu hören. „Sind das ſchon die
Wirkungen der ſardiniſchen Geſandtſchaft?“
ſagte er lächelnd und kehrte hübſch beruhigt in
die Reſidenz zurück.
Er hatte bald darauf von Wally die Ein¬
ladung zu einem vertrauten Geſpräch.
2.
Am Tage, wo die Unterredung mit Wally
ſtattfand, hätte man bei Cäſar nicht ahnen
können, mit welcher Kataſtrophe er ſchließen
würde. Cäſar ſchien die ganze Beruhigung zu
beſitzen, welche man von ſeinem Charakter er¬
warten durfte. Höchſtens ließen ſich jene for¬
cirten Scherze, mit welchen er um ſich warf,
vermuthen, daß irgend ein Gefühl wie ein Er¬
eigniß bei ihm im Anzuge war, dem er zu ent¬
gehen wünſchte. Dieſe Scherze ſind immer die
über'm Meere kreiſenden Möven, welche den
Sturm ankündigen.
Wenn er einem Freunde begegnete, der auf
dem Stadtgericht arbeitete, ſo frug ihn Cäſar:
„Was haſt du jetzt unter Händen?“
Eheſcheidungen — hieß es.
Gutzkow's Wally. 8
Alſo noch immer ſchlechte Ehen?
Schlechte Wahlen vor der Hochzeit, Leicht¬
ſinn —
„Ganz richtig;“ erklärte dann Cäſar. „Es
iſt ein Unglück, wenn man ſieht, mit welchem
Leichtſinn die Ehen geſchloſſen werden. Der
Beſitz einer kleinen Ausſteuer lockt den Hand¬
werker, ein Frauenzimmer zu heirathen, welches
er gar nicht liebt. Der Staat ſollte niemals
die Ehe bürgerlich vollziehen laſſen, bis nicht
ein Kind vorhanden iſt, welches das Daſein der
Liebe vorher ausweiſen muß.“
Der junge Mann vom Stadtgerichte lä¬
chelte zu dieſem Vorſchlage. Cäſar ging und
begegnete einem andern Freunde.
„Du biſt verliebt,“ ſagte er ihm; „aber
Antonie iſt arm.“
Es war dieſelbe Antonie, an welche Wally
einſt ſchreiben wollte.
Antonie iſt arm! hieß die weinerliche Be¬
ſtätigung.
„Siehe, was zu thun wäre! ſchlug Cäſar vor.
Das Heirathen durch die Zeitungen greift um
ſich. Aber man iſt erſt einen Schritt weit ge¬
kommen, wenn die Frauen durch Zeitungen nur
Männer bekommen. Der zweite Schritt wäre,
daß ſie durch die Zeitungen auch zu Vermögen
kämen. Die Mädchen ſollten ſich durch ein
Lotto ausſpielen. Sie ſollten die Männer auf¬
fordern, Aktien auf ihren Beſitz zu nehmen,
Aktien, meinetwegen eine jede zu fünfhundert
Thalern. Hundert Looſe dieſer Art geben eine
Summe von 50,000 Thalern. Die Wahrſchein¬
lichkeit, daß unter hundert ich — du — er ge¬
winnen, iſt ſehr groß: man gewinnt ein Weib,
ein reiches Weib, ein ſchönes Weib. Denn um
eine Schöne muß es ſich handeln, der Neben¬
gewinne wegen, welche in Zugeſtändniſſen man¬
cher Art an diejenigen beſtehen müſſen, welche
8 *
ſich mit Aufopferung von fünfhundert Thalern
der ſeligen Chance ausſetzten, Mann einer ſchö¬
nen Frau und Beſitzer zufälliger 50,000 Tha¬
ler zu werden. Mein Lieber, das heißt, die
Geſellſchaft revolutioniren.“
Jener hatte nur an Antoine gedacht; Cä¬
ſar an Nichts, als ſie ſcheiden.
Der Abend kam heran. Die Thür zu Wally's
Gemächern öffnete ſich. Beide ſaßen ſich ſtumm
gegenüber. Cäſar, der von Wally nicht er¬
wartet hatte, daß ſie ſich in ein ſchwärmeriſches
ſchwarzes Kleid werfen würde: Wally, welche
nach einem Blicke in Cäſar's Mienen geizte,
der verzeihend, warm und ſiegend auf ſie wirkte.
Liebenswürdig war es von dieſem gränzen¬
loſen Leichtſinn, daß er Thränen am Auge hän¬
gen hatte. Cäſar ſchwamm in Entzücken. Er
war auf eine Komödie gefaßt, und fand eine
tragiſche Scene, die ihn erſchütterte. Alles,
was ſie ſprachen, war nur, um den Erklärun¬
gen, die ſie ſich machen wollten, zu entgehen.
Cäſar mochte in ſeiner Eitelkeit übertreiben;
Wally's Beſcheidenheit lag wohl nur darin, daß
ſie glaubte, Cäſar um Verzeihung bitten zu
müſſen. Alles Uebrige aber dichtete ſeine Phan¬
taſie hinzu.
Sie hielten ihre Hände in einander und ſpra¬
chen recht eifrig über Dinge, auf welche gar
nichts ankam in ihrer Lage. Sie ſprachen von
der Erfindung des Schießpulvers, vom Geſetz
der Schwere, vom Compaß und der Magnet¬
nadel, worüber ſie ſchnell abbrachen, um nur
immer wieder auf Neues zu kommen. So ver¬
rann die Zeit, aber das Entzücken Cäſar's ſtieg.
Wally's Hand nahm er, und legte ſie ſanft auf
die Lehne des Sopha's, um ſie als Kopfkiſſen
zu brauchen. Sie lächelte dazu und warf ihm
das ganze Polſter ihres elaſtiſchen Körpers, ſich
ſelbſt in aller ihrer Anmuth nach. Sie hielt
ihn umſchlungen, während ſie unwillig glaubte,
daß er es thäte. Ihre nur leiſ' aufgeſteckten
Locken nehteltenneſtelten ſich los und küßten Cäſar's
brennende Wangen. Die langen Augenwimpern
ſenkten ſich majeſtätiſch ſanft auf die bläulichen
Ultramarinringel, welche unter dem Auge ſo
viel Leidenſchaft verrathen. Dieſes Herablaſ¬
ſen des Vorhangs, dieſer Fenſterladenſchluß der
Weiblichkeit, dieſe Verhüllung iſt das reizende
Gegentheil deſſen, was ſie ſcheint, weil ſie nur
allmälige Entwaffnung iſt. Es iſt das Sinken
des Tages, der aufſteigende Stern, deſſen feuchte
Strahlen die Kronen der Blumen auflockern und
die Kelche erſchließen, während die Kelche zu
ſchlafen ſcheinen. Cäſar umarmte Wally mit
glühendem Entzücken und rief aus: „O Wally,
ich will nicht grauſam ſein! Ich eile Allem
zuvorzukommen, was ſich auf deiner Lippe zu
Tode ängſtigt und gern ſprechen möchte. Ich
dringe nicht auf den Beſitz dieſes göttlichen
Leibes, deſſen Seele mich ſtets umhauchen wird.
Aber — o Gott!“ —
„Was iſt? Cäſar! ſprich! fordre! Alles, Alles!“
Cäſar ſann und war wie von einem unbe¬
kannten Gefühle ergriffen. Er ſtrich mit der
Hand über ſeine Stirne und ſagte dann leiſe
mit ſanften und zärtlichen Worten zu Wally:
„Sie werden reiſen: ich auch. Wir werden uns
in vielen Jahren nicht wieder ſehen. Da gibt
es ein reizendes Gedicht des deutſchen Mittel¬
alters, der Titurel, in welchem eine bezaubernde
Sage erzählt wird. Tſchionatulander und Si¬
gune beten ſich an. Sie ſind faſt noch Kinder:
ihre Liebe beſitzt die ganze Naivetät ihrer ju¬
gendlichen Thorheit. Ich ſpreche nicht von
Tſchionatulander's Tod, weder vom treuen Hun¬
de, der aus der Schlacht die tragiſche Botſchaft
bringt, nicht von Sigunens Klage, wie ſie den
Leichnam des Geliebten im Arme haltend un¬
ter'm Baume ſitzt, wo Parzifal an ihr vorüber¬
kömmt im Walde, nicht von dem Edelſtein un¬
ſerer deutſchen mittelalterlichen Dichtkunſt. Nur
jener Zug iſt ſo meiſterhaft ſchön, wo Tſchio¬
natulander, als er in die Welt hinaus muß und
ſein treues Windſpiel klug zu den beiden Lie¬
benden hinaufſieht, Sigunen anfleht, um eine
Gunſt — “
Cäſar ſtockte und ſprach dann leiſe, mit faſt
verhaltenem Athem: „daß Sigune, um durch
ihre Schönheit ihn gleichſam feſt zu machen,
wie der magiſche Ausdruck der alten Zeit iſt,
um ihm einen Anblick zu hinterlaſſen, der Wun¬
der wirkte in ſeiner Tapferkeit und Ausdauer,
— daß Sigune — in vollkommener Nacktheit
zum vielleicht — ewigen Abſchiede ſich ihm zei¬
gen möge.“
Wally betrachtete Cäſar einen Augenblick.
Dann erhob ſie ſich ſtolz und verließ, ohne ein
Wort zu ſprechen, das Zimmer. An ihre Rück¬
kehr war nicht zu denken.
Cäſar's Antlitz zeigte einen ſchmerzhaften
Ausdruck. Er hatte das Höchſte bewieſen, deſſen
ſeine Seele fähig war, die kindlichſte Naivetät,
eine rührende Unſchuld in einer Forderung, die
empörend war; aber die Schaam, die erſt in
ihm aufglühte, verſchwand vor ſeinem Stolze,
ſo edel und rein erſchien er ſich.
Sie iſt ohne Poeſie, ſie iſt albern, ich haſſe
ſie! ſtieß er heftig heraus, trat zornig mit dem
Fuße auf, lauſchte und verließ, da er nichts
als den Schlag der Pendeluhr im Nebenſaale
vernahm, mit unwillkürlichem Geräuſch das
Zimmer und das Hotel. Er ſchwur, es nie¬
mals wieder zu betreten.
Sie hat nicht mich, ſie hat die Poeſie be¬
leidigt. Sie ekelt mich an! rief er und malte
ſich Wally mit den gräßlichſten Farben, daß es
ihm keine Freude machen mußte, noch an ſie zu den¬
ken. Wenn ſie ihm noch einfiel, ſo geſchah es nicht,
ohne daß er mit dem Fuße etwas von ſich ſtieß.
3.
Inzwiſchen rückte Wally's Vermählung her¬
an. Sie geſtand ſich oft und ſelbſt ihren Um¬
gebungen, daß es ihr wäre, als würde ein un¬
ſichtbares Netz, das ſie aber fühle, immer enger
angezogen, und daß es ihr bald zum Erſticken
ſein müßte. Alles, was man nur brachte, um
die Atmoſphäre recht duftend und verführeriſch
zu machen, drückte ihren Athem noch mehr
zuſammen; ſie ging wie Gretchen im Fauſt und
lüftete Fenſter und Thüren, da Mephiſtopheles
im Zimmer es ſo ſchwül gemacht hatte.
Noch größer war aber die Unruhe in ihrem
Innern. Sie brauchte gern phyſikaliſche Gleich¬
niſſe und verglich ſich mit dem Gefühl eines
lebenden Weſens, das man in die Glocke einer
Luftpumpe ſetzt; mit dem Vogel, dem es von
innen und außen bei entzogener Luft weh wird.
Ach, ſie konnte Cäſar nicht vergeſſen: ſie konnte
jene begeiſterte Miene des Freundes nicht ver¬
geſſen, jene unſchuldige Seligkeit, die ſie an
ihm noch nie gekannt hatte, und die er damals
zeigte, als ſie einige aus ſeinen zuckenden Lippen
ſchleichende Worte mit ſo pedantiſcher, altkluger
Entrüſtung aufnahm. Schon im nächſten Au¬
genblicke, als ſie gegangen war, war ſie ſich mit
ihrer Tugend recht abgeſchmackt vorgekommen.
Wally fühlte bald, daß Cäſar an das
Unſittliche ſeines Antrags im Momente nicht
gedacht hatte. Sie machte ſich den Vorwurf,
dieſe Ueberlegung an dem Manne nicht abge¬
wartet zu haben. Auch mußte ſie ſich geſte¬
hen, daß Cäſar ihr vielleicht nie das Pre¬
käre der Situation eingeräumt haben würde.
Jetzt wußte ſie, worin der ganze Zauber
liegt. Sie fühlte, daß das wahrhaft Poetiſche
unwiderſtehlich iſt, daß das Poetiſche höher ſteht,
als alle Geſetze der Moral und des Herkom¬
mens. Sie fühlte auch wie klein man iſt, wenn
man der Poeſie ſich widerſetzt. Ach, das quälte
ſie, untergeordnet zu ſein und weniger unſchuldig
im Grunde, als die Poeſie, die Menſchen braucht
und ſchildert!
Wally ſchlug die rührende Geſchichte nach,
die ihr Cäſar erzählt hatte. Sie weinte mit
Sigunen, ſie koſtete die Unſchuld, die in dem
Verlöbniß der beiden Liebenden des Gedichtes
lag, allmälig immer tiefer. Es liegt in der
Schönheit der Natur eine göttliche Gewalt,
die bezaubert. Wally beugte und wand ſich
mit all ihren ſchönen Grundſätzen und den Leh¬
ren, die ſie ihrer Erziehung, ja ſelbſt ihrer ver¬
nünftigen Ueberlegung verdankte, vor dem Ideale
des Naturſchönen. Sie ging noch weiter. Sie
gab die Natur auf, ſie hielt ſich an die Kunſt,
an das Gebilde der Phantaſie, das in ſich ab¬
gerundet und hier ſo richtig gezeichnet war, wie je¬
der logiſche Cirkel ihrer tugendhaften Entſchlüſſe.
Sie kam ſich verächtlich vor, ſeitdem ſie fühlte,
daß ſie für die höhere Poeſie kein Gegenſtand
war. So konnte es nicht mehr fehlen, daß ſie
ſich bald ſelbſt dazu machte.
Wie oft war ſie Cäſarn begegnet! Er blickte
ſtolz! Er hatte eine Moral, die über der ihren
war! Er konnte das Auge erheben, das Ideale
hub es in ihm! Wally konnte nicht ſtolz ſein,
An ihr ſchien die Reihe der Schaam zu ſein.
Sie fürchtete ſich vor Cäſar. Ihre ganze Tu¬
gend war armſelig, ſeitdem ſie ihm gleichſam
geſagt hatte, die Tugend könne nur in Verhül¬
lungen beſtehen, die Tugend könne nicht nackt
ſein. Cäſar hatte an ihr den poetiſchen Reiz
verloren. Er überſah ſie.
Ob es wohl Menſchen gibt, dachte Cäſar
eines Tages bei ſich ſelbſt, welche die Literatur
und das, was dem Leben durch ſie an ſchönen
Elementen und Staffagen gegeben wird, für eine
Tyrannei und eine despotiſche Willkür der Dich¬
ter und Künſtler halten? Wär' ich ſelbſt Autor,
ſo würde mich dieſer Gedanke erſchrecken. Ich
würde die Gleichgültigkeit, die Dummheit der
Maſſe immer mit einer Strafe verwechſeln,
welche ich als Autor für die Zudringlichkeit
meiner Schöpfungen mit Recht einernte. Ich
würde zittern, wenn von Büchern die Rede
kömmt, und würde immer gewärtig ſein, daß
Jemand aufträte, und die Literatur in die
Kategorie von Waarenartikeln ſtellte, von El¬
len- oder Kolonialwaaren, die man nimmt oder
ſtehen läßt, je nach Bedürfniß. Ich brauche
die Schönheit nicht! Fürchterlich, wenn von
Homer und Oſſian die Rede wäre! Ich brauche
nicht einmal die Beſtrebungen um das Schöne,
wenn von einem Erſtlingsverſuche die Rede wäre!
Ja, es gibt Menſchen dieſer Art, welche die
Poeſie für eine Zumuthung halten, Geldmenſchen,
Ariſtokraten, manche Könige, auch Frauen, be¬
ſonders wenn ſie ſchön ſind und ſie deßhalb
glauben, der Bildung überhoben zu ſein!
Cäſar dachte dabei gewiß nicht an Wally; denn
welch' ein Unterſchied iſt es, für das Außeror¬
dentliche ſich intereſſiren, und dem Außeror¬
dentlichen ſich als Staffage unterlegen! Er hatte
aber in dem Augenblick einen Brief von Wally
in der Hand.
„Ich habe Sie beleidigt, ſchrieb ſie ihm; Sie
wiſſen es ja, Cäſar, daß der Muthloſe immer
der Ausfallendſte iſt. Wiſſen Sie noch, wie
wir über Muth ſtritten? Welch' eine Zeit,
wo Sie ſich um fünf Ringe, die Sie mir noch
immer nicht wiedergegeben haben, mit fünf Men¬
ſchen ſchießen konnten! Morgen um zehn Uhr
Abends beſuchen Sie das Hotel des ſardiniſchen
Geſandten. Sie werden von Auroren, die Sie
dort erwartet, an einen Ort geführt werden,
den Sie nicht verlaſſen dürfen. Schwören Sie
mir, hinter dem Vorhang, den Sie zehn Mi¬
nuten nach Zehn gütigſt zurückziehen wollen, nicht
hervorzutreten! Cäſar, ſchwören Sie mir! Ich
ſchäme mich vor Ihnen, daß ich Schaam hatte.
Verantworten Sie es einſt! Vor Gott! Vor
Gott! Aber ich liebe heiß, ewig, unausſprech¬
lich!“ Wally.
Und an Wally's Hochzeitstage zeichneten die
Unſichtbaren ein reizendes Gemälde, ein Gemälde
in altem Styl, zart, lieblich, wie die ſaubern
Farbengruppen, welche ſich auf dem ſammet¬
weichen Pergamente goldener Gebetbücher des
Mittelalters finden.
Rings, wie Rahmen und noch hineinrankend
in die Scene Epheu und Weinlaub. Auf den
Aeſten ſitzen Paradiesvögel in wunderbarem Far¬
benſpiel, auf den breiten Blättern der Arabes¬
ken ſchlummern Schmetterlinge, in den Kelchen
der Blumen ſaugen Bienen. Oben ſchwebt
der Vogel Phönix, der fußloſe Erzeuger ſeiner
ſelbſt; unten blicken die ſpitzſchnäbligen Greifen
und hüten das Gold der Fabel. Bezaubernd
und märchenhaft iſt die Verſchlingung aller die¬
ſer Figuren. Es iſt wie ein Traum in den
tauſend Nächten und der einen. Zur Rechten
des Bilds aber im Schatten ſteht Tſchionatu¬
lander im goldenen, an der Sonne funkelnden
Harniſch, Helm, Schild und Bogen ruhen auf
der Erde. Der Mantel gleitet von des jungen
Helden Schulter, ſeine Locken wallen üp¬
pig wie von einem Weſthauche gehoben. Das
Auge ſtaunt; ein Entzücken lähmt die Zunge.
Zur Linken aber ſchwillt aus den Sonnennebeln
Gutzkow's Wally. 9
heraus ein Bild von bezaubernder Schönheit:
Sigune, die ſchamhafter ihren nackten Leib ent¬
hüllt, als ihn die Venus der Medicis zu bedecken
ſucht. Sie ſteht da, hülflos, geblendet von der
Thorheit der Liebe, die ſie um dies Geſchenk
bat, nicht mehr Willen, ſondern zerfloſſen in
Schaam, Unſchuld und Hingebung. Sie ſteht
ganz nackt, die hehre Geſtalt mit jungfräulich
ſchwellenden Hüften, mit allen zarten Beugun¬
gen und Linien, welche von der Bruſt bis zur
Zehe hinuntergleiten. Und zum Zeichen, daß
eine fromme Weihe die ganze Ueppigkeit dieſe
Situation heilige, blühen nirgends Roſen, ſon¬
dern eine hohe Lilie ſproßt dicht an dem Leibe
Sigunens hervor und deckt ſymboliſch, als Blume
der Keuſchheit an ihr die noch verſchloſſene
Knoſpe ihrer Weiblichkeit. Alles iſt ein Hauch
an dem Auge, ein ſtummer Moment, ſelbſt in
dem klugen Auge des Hundes, der die Bewe¬
gungen verfolgt, welche der Blick ſeines Herrn
macht. Das Ganze iſt ein Frevel; aber ein
frevel der Unſchuld.
So ſtand Sigune einen zitternden Augen¬
blick; da umſchlang ſie rücklings der ſardini¬
ſche Geſandte, der ſeine junge Frau ſuchte.
Es war ein Tropfen, der in den Dampf einer
Phantasmagorie fällt und ſie in Nichts auf¬
löſt. Die Vorhänge fielen zurück und Tſchio¬
natulander wankte nach Hauſe. Der Geſandte
ahnte Nichts. Tiefes Geheimniß.
9 *
4.
Als Wally mit ihrem Manne nach Paris
gekommen war, athmete ſie auf. Sie war froh,
ſich von einer ganz verfehlten Stellung befreit
zu ſehen. Sie wußte, daß ſie in Paris noch
immer den ſtürmiſchen Bewegungen irgend einer
Neigung ausgeſetzt ſein konnte, daß ihre ehe¬
liche Treue mit weit gefährlicheren Lockungen,
wie in der Heimath, würde herausgefordert
werden; allein ſicher war ſie jetzt vor den Zu¬
muthungen der Genialität, vor dem verwirren¬
den Benehmen Cäſars, vor Männern, welche
zu poetiſch ſind, um ganz nach der Mode, und
zu modiſch, um ganz nach der Poeſie zu leben.
In Paris ſiegte ſie, wenn ſie wollte, noch im¬
mer durch die ſehr einfachen Künſte der Koket¬
terie. Nur die Situationen ſind es, welche
dem Leben der pariſer Frauen eine beſondere
OriginaliätOriginalität geben.
Die Zeit, in welcher Wally mit ihrem Manne
nach Paris kam, war bei Anfang des April¬
prozeſſes.
Wenn man glauben wollte, daß die Juli¬
revolution in den Sitten der höhern pariſer
Welt eine Aenderung veranlaßt hätte, welche
gleichſam dem Ernſte der Zeit hätte entſprechen
ſollen, ſo verkennt man den Charakter der Fran¬
zoſen. Die alte Revolution, welche eine Strafe
der Frivolität zu ſein ſchien, rottete die Frivo¬
lität doch ſelbſt nicht aus. Die alte politiſche
und geſellſchaftliche Verfaſſung wurde geſtürzt,
aber die Manieren erhielten ſich. An dem Be¬
ſitzthume klebte etwas, was ſich nicht von ihm
trennen ließ; in den Reichthümern, welche kaum
den Tod der Einen veranlaßt hatten, lag ein
Zauber, der auch die wieder verwirrte, welche
die neuen Herren derſelben wurden. Den Leicht¬
ſinn tilgte die Guillotine nicht.
Die neueſte Revolution hatte zu den alten
Elementen des pariſer Lebens neue, zu zwei
Ariſtokratien, der bourboniſchen und bonapartiſti¬
ſchen, noch eine dritte geſellt, die Ariſtokratie
der Banquiers. Mehr als je wurde das Geld
der Hebel des geſellſchaftlichen Mechanismus,
ſeitdem eine Klaſſe in den Vorgrund trat, mit
der es in dieſer Rückſicht ſchwer war, zu wett¬
eifern. Weil die Pariſer das Geld nicht an¬
häufen, ſondern es als Mahlſchatz immer wieder
aufſchütten und von dem Winde umtreiben laſ¬
ſen, ſo wird jede Lebensäußerung dort in den
metalliſchen Strom mit hineingeriſſen. Dieſer
Strom iſt es, welcher die entſetzlichſten Ver¬
heerungen in der Moralität und Freundſchaft
anrichtet. Sein Ebben und Fluthen macht
Leben und Tod. Er ergießt ſich frei, offen,
vor allen Augen, nicht einmal unterirdiſch. Er
wälzt ſeine goldſchäumenden Wogen durch die
Säle und kleinſten Gemächer. Man iſt in Paris
immer in der Nähe des Geldes, weniger deſſen,
was man beſitzt, als deſſen, wovon man nicht
genug haben kann und das man unter allen
Umſtänden ſich zu verſchaffen ſucht. Daraus
entſtehen die meiſten tragiſchen und komiſchen
Conflikte der Pariſer Geſellſchaft.
Wally hatte keine Meditationen nöthig, um
über dieſe Dinge in's Reine zu kommen. Sie
verſtand ſie bald, da die Begegniſſe ſelbſt zu
deutlich ſprachen und dichteriſche Erfindungen,
Schriften, wie die von Balzac, ſie hinreichend
beſtätigten. Wally philoſophirt nicht, das wiſ¬
ſen wir längſt. Sie wird Paris nicht wie ein
Phänomen nehmen, ſondern wie eine Erfah¬
rung, über die man erſt reflektirt, nachdem ſie
erlebt iſt. Sie wird ſich in den dichteſten Stru¬
del der Vergnügungen werfen. Sie wird den
Becher der Luſt und der Gedankenloſigkeit bis
tief auf die Neige leeren. Sie wird jede Mi¬
nute Leben benutzen, die ſie nur verwenden kann,
und käme ſie einſt zurück von Paris, wird ſie
von Paris nichts zu erzählen wiſſen. Wally
gehörte bald zu den glänzendſten Erſcheinungen
auf dem Theater des Tages und der Nachrede.
Wenn wir im Folgenden mehr ein Verhält¬
niß ſchildern wollen, das in Wally's Hauſe und
in ihrer Verwandtſchaft ſich entwickelte, ſo iſt
es deßhalb, um einestheils über ihren Mann
eine Anſicht zu haben, anderntheils, um nichts
zu unterlaſſen, was zuletzt doch berichtet werden
müßte, weil es eine entſcheidende Folge hatte.
Wally beherrſchte andere Kreiſe mit derſelben
ſiegreichen Gewandtheit. Sie hatte ein großes
Stück an dem Netz zu weben übernommen,
welches über Paris ausgebreitet iſt und ſo viel
Ehrgeiz, Eiferſucht, Tragödie und Idylle in
ſeinen Maſchen feſthält. Sie war eine fleißige
Bundesgenoſſin des großen Feldzuges gegen Na¬
tur, Wahrheit, Tugend und Völkerfreiheit, wel¬
cher mit dem Leben der Großen faſt immer zu¬
ſammenfällt; ein Feldzug, deſſen Gefahr von
den Freuden ſeiner kleinen Siege im Ernſt doch
überboten wird.
Je weniger dieſe Kataſtrophe zunächſt mit
der Seelenrichtung in Wally zuſammenhängt,
die uns veranlaßte, ſie zum Gegenſtand einer
poetiſchen Darſtellung zu machen, deſto mehr
trägt ſie bei, die Drapperien zu beſtimmen,
auf deren Grunde ſich die wahrhafte Origina¬
lität Wally's ſprechender zeichnete. Indem
Wally Scenen erlebt, welche mit ihrer Krank¬
heit nicht in der entfernteſten Berührung liegen,
indem ſie von einem Gedankenreiche losgetrennt
iſt, das ſie ſelbſt in ſich aufgeregt hatte; muß
auch der Contraſt deſſelben ſpäter nur deſto
tiefer in ihr Herz ſchlagen. Wally wandelt
ſorglos am Rande eines Abgrundes.
5.
Eines Morgens hatte Wally ſo eben die
Beſuche einiger ihrer Verehrer entlaſſen und
lachte noch über die Eitelkeit der jungen Män¬
ner, welche geſtorben wären vor Aerger, wenn
ſie ihrer neuen Gilets, ihrer Reitpeitſche und
Lorgnette keine Erwähnung gethan hätte, als
ſie im Nebenzimmer ein lautes Sprechen hörte,
das immer näher kam, und dann plötzlich mit
Gewalt unterdrückt wurde, gleichſam, als würde
Jemand, der ſich ihrem Zimmer nahen wollte,
mit Heftigkeit zurückgehalten. Nachdem die
hierauf eintretende Stille anzudeuten ſchien,
daß eine Verſtändigung dem Beſuche hatte vor¬
angehen müſſen, öffnete ſich ſtürmiſch die Thür
und ein junger Mann trat an der Hand ihres
Gatten herein, der ihr in dem Ankömmling
ſeinen längſt aus dem Piemonteſiſchen erwar¬
teten Bruder Jeronimo vorſtellte.
„Wahrhaftig, ich habe mich nicht getäuſcht,“
rief der junge Italiener. „Ihren Anblick,
Madame, ſog ich geſtern in der Oper drei
volle Stunden lang ein. Ich war kaum in
Paris angelangt, als mich der Zufall in die
Vorſtellung der Cenerentola führt und in die rei¬
zendſte Perſpektive, welche ich je gehabt habe.
Madame, Sie ſaßen in einer Loge, von der
ich nicht wußte, daß ſie die meines Bruders
war. Sie trugen blaue Seide, weiße Tüll¬
ſtreifen, einen rothen Shwal und Marabouts
in dem Haar?“
„Ihr Gedächtniß muß weite Taſchen ha¬
ben,“ ſagte Wally, „wenn ſie am Morgen
noch die Toilette der Damen angeben können,
die Sie am Abend vorher bei den Italienern
bezaubert haben, wie der in dieſer Rückſicht
bei den jungen Enthuſiaſten übliche Ausdruck iſt.“
„Madame, es ſollen viele eine gute Toi¬
lette gemacht haben, ſagt man. Ich ſahe nur
Sie. Viele werden ſie machen, ich werde nur
Sie ſehen. Wenn ich die Sprache eines Dich¬
ters führen könnte, dann würd' ich erſt die
Ausdrücke haben, welche Ihrer würdig ſind.
Ja, ich muß dies elende Wort: bezaubern adop¬
tiren und meine Gefühle hinter der armſeligen
Wendung verſtecken, daß ich Sie verſichre,
Ihre Schönheit kann niemals vom Künſtler
getroffen werden; denn müßte er nicht erblin¬
den in der Anſchauung ſolcher Reize, Madame?“
„Ich ſchäme mich, mein Herr,“ ſagte
Wally, „Ihnen ein Wort empfohlen zu haben,
das ſie lernen ſollten, um bald in die Geſell¬
ſchaft der jungen Enthuſiaſten einzutreten; denn
ich ſehe, daß Sie ſchon Meiſter ſind in dieſen
allerliebſten Uebertreibungen, die man um ſo
lieber hört, je weniger Grund ſie haben!“
„Sie weichen mir aus, Madame; Sie ver¬
geſſen, wenn Sie glauben, meine Liebe käme
Ihnen ungelegen, daß Wiederſtand die Liebe
verdoppelt. Sie haben die Wahl. Es iſt wie
mit den Sibylliniſchen Büchern; aber umgekehrt:
immer mehr Liebe, aber doch immer nur die
gleiche Summe.“
Hier machte der Geſandte, der das Zim¬
mer ſchon verlaſſen hatte, ein Geräuſch neben¬
an, und zwang beide jungen Leute, einen Mo¬
ment darauf hinzuhören. Wally mußte über
die etwas ſteifen Anträge ihres Schwagers
lachen. Sein Feuer hatte mehr von dem ruſ¬
ſiſchen Spiritus. Für einen Italiener ſchien
er ihr zu viel Worte zu machen.
„Sehen wir uns aber,“ ſagte ſie freund¬
lich, „mein lieber Jeronimo. Wir wollen
verſuchen, wie wir uns arrangiren. Es gilt
nur, daß man ſich verſtändigt. Wollen Sie
meine Farbe tragen? Wollen Sie ins Waſſer
ſpringen, wenn ich behaupte, es ſei nicht tief?
Wollen Sie ſich mit halb Paris ſchlagen, wenn
ich die Caprice habe, Ihnen Dinge in den Mund
zu legen, die Sie über die Herzogin von Bre¬
teuil, die Gräfin Allan, die Vikomteſſe von
Hericourt geäußert hätten? Sie ſehen, welche
Arbeiten ſich Ihnen auferlegen laſſen, wenn
Sie Herkules genug wären, ſich in Dejanira
zu verlieben.“
„Bezaubernd, Madame, entzückend! Wie
liebenswürdig!“
„Und wenn wir auf dem Fuße hinken, wo¬
mit der Liebhaber geht: ſo nehmen Sie den
andern, den Fuß der Verwandtſchaft, auf dem
wir ſtehen. Ich glaube in der Art wohl, daß
Sie ermüden können, Jeronimo, aber niemals,
daß Sie fallen.“
Die Thür öffnete ſich. Die Vikomteſſe von
Hericourt trat ein. Sie war eine jener niedli¬
chen Schwätzerinnen, an denen nichts hübſcher iſt,
als eine perennirende Begleitung ihrer Stimme
mit einer luftpumpenden Bewegung aus der
Bruſt heraus. Sie ſeufzte bei jeder Periode
aus der innerſten Tiefe her, und da ſie es lä¬
chelnd that und mit glänzendem Auge, bekam
dadurch ihr Ausdruck eine hinreißende Gewalt,
daß man ſich die Triumphe dieſer Frau er¬
klären konnte.
Jeronimo blieb aber bei aller dieſer Gra¬
zie kalt. Er ſprang nicht, wie junge Narren
von faſhionablem Tone mit Recht thun, wo
es ſich darum handelt, zwiſchen zwei ſchö¬
nen Frauen das Gleichgewicht zu erhalten,
von einer zur andern über, ſondern biß in
ſeine Handſchuhe, verlegen und nur Wally
fixirend, die ſein Benehmen nur als Affekta¬
tion eines übertriebenen Eindrucks auslegen
konnte.
Die Vikomteſſa hatte ſo viel mitzutheilen,
zu klagen, zu weinen, zu lachen, daß Jeronimo
ſich mit ihr zu gleicher Zeit entfernte. Er
war ſtumm bis auf den letzten Augenblick ge¬
blieben. Die ganze Geläufigkeit, mit der er
begann, war gehemmt. Sie wußte nicht, wie
ſie dieſen Charakter nehmen ſollte. Er iſt ein
Ruſſe, dachte ſie unwillkührlich. Aber ſie be¬
ſann ſich auf die Ruſſen ihrer Bekanntſchaft,
auf welche dennoch keines der Merkmale Jeroni¬
mo's paſſen wollte; denn die Ruſſen, immer
begierig, ſich elegant und civiliſirt zu zeigen,
und den Juchtengeruch durch Biſam, eine Un¬
anſtändigkeit alſo durch die andere, zu verdecken,
affektiren überall gegen Damen eine ekelhafte
Liebenswürdigkeit, ſpringen von einer zur an¬
dern und üben ſich in ſüßen Grimaſſen. Jero¬
nimo mußte alſo doch ein Italiener ſein.
Am Abend kam Jeronimo in die Loge des
ſardiniſchen Geſandten. Wally hörte ihm gern
zu; er hatte Anſichten über Muſik und viel
biographiſche Notizen über die italieniſchen Com¬
poniſten. Doch Alles war flüchtig; denn eine
Dame kömmt im Theater nicht zur Ruhe.
Keine Meinung, die unter den Liebhabern ver¬
breitet iſt, iſt ſo falſch, als die von der Gunſt,
welche das Theater der Neigung gewähre. Man
wird ſein Idol neben ſich haben, man wird
Stunden lang mit ihm flüſtern können; das
iſt gewiß; aber das Idol wird auch immer zer¬
ſtreut ſein und hinter jeder aufgehobenen Lorg¬
nette einen Mann vermuthen, der mit dem
Seufzenden neben ihr die Vergleichung aushält,
oder ihn wohl übertrifft in der Huldigung, die
er ihr ſchenkt. Jener Satz gilt nur bei der
Sentimentalität, welche nicht hört und nicht
ſieht, oder bei jenen kleinen Geſchöpfen, die
über ein geſchenktes Freibillet glücklich ſind und
alles, was das Theater an Illuſionen bietet,
für die Schöpfung und die Bekanntſchaft ihres
Anbeters halten.
Als Wally nach Hauſe begleitet war von
ihrem Schwager und ihn noch einige Zeit bei
Gutzkow's Wally. 10
ſich geſehen hatte, zog ſie ſich in ihre Gemächer
zurück. Es klopfte. Der ſardiniſche Geſandte
trat mit einem Armleuchter in ihr Schlafka¬
binet. Sie erſtaunte; denn ſolche Beſuche
waren ganz gegen die Verabredung.
„Was iſt?“ fragte ſie gedehnt.
„Liebes Kind,“ ſagte ihr Gatte; „mein
Bruder — “
„Ihr Bruder iſt ſehr langweilig.“
„Er liebt dich; aber höre nicht auf ihn.
Was ich ihm auch vorſtellen mag, es iſt, wie
wenn man Feuer plötzlich ins Waſſer wirft;
aber höre nicht auf ihn. Ich war in meinen
Briefen unvorſichtig. Er liebt dich wie eine
Nebelgeſtalt, die man ſich aus Täuſchungen
zuſammenſetzt und die man ſonderbarer Weiſe
jede Nacht wieder vor ſein Bett zaubern kann.
Er ſchwännte mit der Luft, er — “
„Was will ich das?“
„Höre nicht auf ihn! Eh' er dich ſahe
und Nizza nicht verlaſſen durfte, irrte er in
den Wäldern und warf Blumen in die Flüſſe.
Seine Neigung iſt ſo ſtark, daß er jede Le¬
bensfunktion ſeines Körpers mit dem Deinigen
verwechſelt, daß er — “
„Laſſen Sie!“
„Höre nicht auf ihn! Warum iſt Cupido
nur blind? Er iſt auch taub, ſag' ich oft zu
Jeronimo, weil er nicht hört. Sollten ſeine
Sinne verzaubert ſein?“
„O Sie werden zum Schwätzer: ich glaube
gar, Sie machen Verſe.“
„Wie ich dich liebe, Wally! Kind, dieſe
Scheere auf dem Tiſch nehm' ich als eigne
Parze meines eignen Geſchickes und ſchneide
eine deiner himmliſchen Locken, um ſie mit
verſtohlenen Küſſen zu bedecken, wenn ich dich
ſelbſt nicht habe. Gute Nacht, Wally: ver¬
giß ihn, höre nicht auf ihn!“
Was ſollte Wally denken? Der Geſandte
hatte ihr eine Locke genommen. Welche Zärt¬
lichkeit! Zu dieſer Stunde, wo ſie ihn nie
ſah. Sie erbleichte, denn jetzt war ihr dieſer
Mann erſt im Lichte eines Gatten erſchienen.
Welch ein Bild! Ein Narr! Eine ſchwerfällige
Geſtalt! Ein Ungethüm, das einen falſchen
Bart trug! Ein Geizhals, der ſelbſt an Wor¬
ten ſparte und nie umſonſt redſelig war! Eine
hülfloſe Phantasmagorie, die ein Licht in der
Hand hielt und vor ihr ſtand, leibhaftig, als
hätte ſie einen Mann in den Vierzigen vor ſich
geſehen! Sie wiſchte an ihrem Antlitz, das
er berührt hatte. Sie lüftete das Bett, um
es von den unkeuſchen Worten zu reinigen,
die hineingefallen waren, denn es ſtand offen.
Sie begriff jetzt erſt die Lage, in der ſie ſich
befand, daß ſie ſeit vier Monaten an einen
Mann verheirathet war, den ſie nicht kannte.
Sie müſſe fliehen! ſchrie es unhörbar in ihr
auf und erſt als ſie über die Mittel, dieſe
Thorheit zu begehen, nachdachte, ſchlief ſie
ein.
6.
Am folgenden Morgen bot ſich Wally ſo¬
gleich eine Urſache zur Verſtimmung an, als
wenn ſie die Erinnerung des geſtrigen Abends
nicht gehabt hätte. Sie hörte im Nebenzim¬
mer das zufällige Geſpräch zweier Leute ihrer
Bedienung, die ſich über den Geiz und die Geld¬
ſpekulationen der Herrſchaft beklagten. Sie
ſtaunte über das ökonomiſche Talent ihres Man¬
nes, der mit Milch gehandelt und Bier gebraut
haben würde, wenn er in Paris zufällig die
Anſtalten dazu gehabt hätte. Nach jedem Di¬
ner ließ der Geſandte die Weinreſte zuſammen¬
gießen und führte ſeine Bedienten ſelbſt an,
wie ſie von den Leuchtern die Kerzen nehmen
und ſie zum Lichtgießer tragen mußten, der
ſie gegen brauchbares Wachs eintauſchte. Wally
verſtand viel zu wenig von ſolchen Dingen,
als daß ſie ihnen eine rechte Würdigung hätte
geben können. Sie fühlte ein allgemeines Mi߬
behagen ihrer Seele, das ſie verhinderte, dies¬
mal das Lächerliche an dem Geize ihres Man¬
nes zu entdecken. Es war eine gefährliche
Stimmung, in der ſie an Cäſar ſchrieb.
Als ſie den Brief beendet hatte und ſah,
wie nur Kleinigkeiten der Pariſer Converſa¬
tion, ſatyriſche Bagatellen und viel Albernhei¬
ten aus ihrer Feder gefloſſen waren, da hatte
ſie beſſre Laune bekommen. Sie freute ſich, in
Cäſar einen Mann gefunden zu haben, bei dem
der Ernſt ſich hinter ſo vielem Scherz ver¬
ſtecken durfte, der nicht pedantiſch war und
vom Gefühl keine Ueberſtuthungen verlangte.
Das Gefühl war einmal da, nicht in Geſtalt
einer das Herz betreffenden Empfindung, ſon¬
dern in Geſtalt einer Thatſache, der ſich keine
andere Auslegung, als die einer Neigung geben
ließ. Wally liebte jetzt Cäſar wahrhaftig, ohne
ſich darüber ein Geſtändniß zu machen. Sie
hatte ſich ihm auf ewig durch jene myſtiſche
Scene verpflichtet. Und doch war es weder
Schaam, was ſie an ihn feſſelte, noch der Ge¬
danke, ihn beſitzen zu wollen. So viel Unſchuld
bei ſo vieler Freiheit!
Als Jeronimo zu ihr eintrat, konnte ſie
mit Lachen ſeinen heißen Liebesbewerbungen
zuhören, ſo heiter war ſie. Jeronimo machte
eine Miene, als wäre ihm ein großes Glück
widerfahren, als hätte er ein Unterpfand,
das ihn gegen Wally's Scherze ſicherte. Sie
ſagte ihm: „Wie tief ſind wir doch ſchon in
den Wahnſinn der Liebe verſunken! Bart,
Kleidung, Alles ſeh' ich heute an Ihnen ver¬
nachläſſigt! Sie gleichen jenen Shakſpear'ſchen
Liebenden in ſeinen Luſtſpielen, die ſo jämmer¬
lich von dem Schmerz ihrer Bruſt verzehrt ſind,
und je verliebter ſie werden, deſto länger ihre
ſchwarze Wäſche tragen. Und vor acht Tagen
ſahen wir uns zum erſtenmale.“
„Vor ſechs Monaten,“ entgegnete Jeronimo.
„Wie, Sie kennen mich länger?“
„Länger, als Sie leben, Madame! Ich
kannte Sie ſchon, als Sie nur noch ein Ge¬
danke waren, der im Schooße Gottes ſchlum¬
merte. Meine Liebe zu Ihnen iſt nur die Er¬
innerung eines alten Glückes. Dieſe ſchwel¬
lenden Lippen, dieſe jetzt ſo ſpröde Bruſt: ich
weiß es, ich habe ſie ſchon einmal geküßt, ich
habe ſie ſchon einmal umarmt.“
„Fabelhafte Dinge muß ich hören, Jero¬
nimo. Was würde die Vikomteſſe von Heri¬
court denken, wenn Alfred Jardinier, dieſer
bürgerliche aber liebenswürdige Anbeter, ihr
ſolche Dinge ſagte.“
„Laſen Sie Plato, Madame?“
„Nein!“
„Die Seelen meiner Perſon und der Ihri¬
gen, Wally, ſollen einem Schooß entſproſſen
ſein. Die Bilder und Urtypen unſrer Perſön¬
lichkeit kannte ſchon die Ewigkeit, und was wir
Liebe nennen, iſt nur ein Tribut, den wir un¬
ſrer Vergangenheit, unſerm Gedächtniſſe und
unſern früher eingegangenen Verpflichtungen
ſchuldig ſind.“
„Sie werden mich überreden wollen, daß
Sie urweltliche Rechte auf mich haben; daß
Sie dieſe Hand, welche Sie mir für eine Zärt¬
lichkeit viel zu heftig drücken, ſchon vor der
Sündfluth beſeſſen haben. Sie thun Unrecht,
eine ſo kleine Frau, wie ich bin, in die großen
Hallen der Philoſophie einführen zu wollen.“
„Was Philoſophie, Wally! Im Schooße
Gottes trugen Sie einſt dieſelben gelben Pan¬
toffeln, mit welchen Ihr Fuß noch jetzt ſo rei¬
zend kokettirt.“
„Mit all Ihrer Philoſophie ſind Sie doch
im Irrthum über die gelben Pantoffeln. Es
ſind Schuhe, mein Herr; ich erwarte nun von
Ihnen, daß Sie ſie zu binden verſuchen. Ma¬
chen Sie es ordentlich, und vernachläſſigen Sie
mir künftig lieber den Plato, als Ihre Toi¬
lette, die ganz geſchmacklos iſt.“
Während die Situation, die jetzt folgte,
noch nicht beendigt war, trat ein Diener ein
und zeigte an, das Cabriolet Jeronimo's ſei
vorgefahren. Sie nahm ihren Shwal, klagte
viel darüber, daß er mit nichts umzugehen wiſſe,
und ſtieg, ſich auf ihn ſtützend, die Treppe hin¬
unter. Jeronimo faßte ſelbſt die Zügel des
Pferdes und lenkte das gebrechliche Fahrzeug
mit einer Ungeſchicklichkeit, die Wally nicht er¬
ſchreckte, da ſie davon nichts verſtand. Sie
fuhren durch die Boulevards. Jeronimo wollte
fahrend ſprechen. Er hörte nicht auf, den
Schooß Gottes im Mund zu haben. Wally
hielt ihm dieſen wahnſinnigen Mund zu; er
überſah ſein Pferd und rannte bei der Porte
St. Martin ſo heftig in die Kutſchen der
Schauſpielerinnen hinein, die vor der Thür
des Theaters, wo eben Probe war, hielten,
daß ſeine Bemühungen, ſich herauszuwickeln,
vergeblich wurden. Die Peitſche brauchte er
nur zu ſeinem Mißgeſchick. Das Pferd bäumte
ſich und hob die Gabel des kleinen Wagens ſo
hoch, daß die beiden darinnen rücklings überfie¬
len und Gefahr liefen, aus ihrem Sitze her¬
ausgeſchleudert zu werden. Hier mußte ein
Unglück geſchehen.
Wally verlor einen Augenblick lang die Be¬
ſinnung. Als ſie wieder im Zuſammenhang der
ſchrecklichen Scene war, ſahe ſie den Wagen
aus jener Verwirrung herausgeführt und das
Pferd von einem Manne beſchwichtigt, in wel¬
chem ſie zu neuem Schreck Cäſar erkannte.
Gott, jetzt fiel es ihr ein, ſie hatte ihn ſchon
zwei-, dreimal heute an dem Rande der Bou¬
levards geſehen. War er es geweſen, ſo konnte
die Rettung kein Wunder ſein. Er mußte ſie
verfolgt und den Augenblick der nöthigen Hülfe
wahrgenommen haben.
Jeronimo ſtaunte, wie er bei der weiten
Fahrt ſtatt Vorwürfe von Wally nur Scherz
und Lachen vernahm. Er ſtotterte Bitten her¬
aus, die ſie nicht verſtand. Sie war außer
ſich vor Entzücken. Jeronimo wußte ſich nichts
zu erklären und eilte, ihrem Wunſche nachzu¬
kommen. Sie wollte nach ihrer Wohnung
zurück.
Wally ſtand den ganzen Vormittag wie auf
Kohlen. Sie kam nicht vom Fenſter, weil ſie
jede Minute hoffte, Cäſar an dem Thorwege
zu ſehen. Sie nahm mechaniſch an der Mit¬
tagstafel Theil, gieng nicht in's Theater; aber
Cäſar kam nicht. Jetzt erſt fiel es ihr ein,
daß ſie ſich getäuſcht haben konnte, und rief
einem ihrer Leute, den ſie unverzüglich zu Herrn
von Werther, dem preußiſchen Geſandten,
ſchickte, um über ihren Anblick Gewißheit zu
haben.
Der Bote brachte die vernichtende Nach¬
richt, Cäſar hätte ſich ſeit länger als vier
Wochen in Paris aufgehalten und habe ſeinen
Paß zur Abreiſe bereits zurückgenommen.
Wally blieb ſtumm vor Schmerz. Sie
hielt das erblaßte Haupt auf der krampfhaften
Hand geſtützt und gerann in Eis, ſtatt in
Thränen. Womit hatte ſie dieſe Demüthigung
verdient! Sie kannte Cäſar genug, um zu
wiſſen, wie dieſes Betragen mit ſeinem Weſen
zuſammenhieng. Ach! auch dies nicht ganz ſo
wunderbare, wozu Cäſar es machen wird, Be¬
gegnen an der Porte St. Martin, ſagte ſie vor
ſich hin, wird er wie eine Romanenepiſode
nehmen, um ſein ewiges Selbſtennui, ſeine hy¬
pochondriſche Quälerei damit zu würzen und
aufzuſtutzen.
Wally ſeufzte tief auf und durchmaß mit
Verzweiflungsſchritten ihr Zimmer. Es ſchien
ihr der herbſte Schlag, der ſie treffen konnte.
Das Gehen machte ſie ruhiger. Sie ſetzte ſich
und jetzt erſt konnte ſie weinen.
„Womit verdient' ich das?“ war ein er¬
ſtickter Ton ihrer Stimme. Woran dachte ſie
jetzt! Was hatte ſie alles gethan, um ihm eine
Liebe zu zeigen, an die er, an die ſie nicht
glaubte, und die ſich doch ſo unvertilgbar in
ihre Herzen eingeniſtet hatte! Womit ver¬
dient' ich das? Unglückliche Wally! Was hat¬
teſt du nicht dem Egoismus eines Mannes ge¬
opfert? Du gabſt ihm deine Seele, deine
Gedanken, deine Schaam, Alles, was du
außer dem armſeligen Stand der Verheira¬
thung hatteſt; und dies Alles dem Egois¬
mus, dem Lächeln, vielleicht dem Verrath? O,
das wäre entſetzlich, ſchrie ſie auf; dem Ver¬
rath? Das nicht, Wally! Aber ſein Herz iſt
kalt, er lebt nur von Gefühlen, die er raffini¬
ren und filtriren kann, er trotzt gegen ſich
ſelbſt; du biſt die Leiche, die er mit Füßen
tritt. Wally! Wally! Ihr Blick fiel auf den
noch offenen Brief, den ſie an ihn geſchrieben
hatte. Welches Vertrauen, welche Harmloſig¬
keit! Wie treue, kindiſche Worte! Wie Alles
ſo ſelig, ſo unbewußt verbrecheriſch, ſo ſüß in
Etwas, was zuletzt immer eine Uebertretung
ihrer Pflicht war! Sie hatte ihm Alles gege¬
ben! Sie weinte; ihre Gedanken ſchwammen
fort auf ihren naſſen Augen, ihr Bewußtſein
ſank hin in eine allgemeine Erſchöpfung, in
eine Ohnmacht, die von einem hitzigen Fieber
abgelöſt wurde. Sie ſollte erſt nach langer
Zeit von dieſem Schmerze erwachen.
7.
Drei Wochen hindurch war der Wächter:
Bewußtſein vom Thore der Vernunft verſchwun¬
den. Die Gedanken Wally's waren frei gege¬
ben, das Dach ſtand offen, jedes Auge konnte
in das glühende Hirn hineinſehen und die Ver¬
wirrung der Ideen mit ſeinen Blicken verfol¬
gen. Da lagen ſie alle, die wie ein Kapital
angelegten Eindrücke der Vergangenheit, ohne
dir lachenden, fröhlichen Zinſen des Umgangs
und des Bewußtſeins zu tragen; nackte Leiber,
die des bunten Gewandes der Rede ermangel¬
ten, Ideenembryone, ſo gräulich anzuſehen, wie
die Infuſorien, die man durch Vergrößerungs¬
gläſer in einem Waſſerglaſe unterſcheidet. Die
Erinnerungen, Ideen und Ideenſchatten jagten
ſich untereinander und giengen wahnwitzig lä¬
Gutzkow's Wally. 11
cherliche Bundsgenoſſenſchaften ein und fraſen
ſich unter einander auf wie Ungethüme, denen
die Geſtalt, die Schönheit, die Freiheit des
Willens und das Wort fehlt. So lag Wally
drei Wochen.
Als ſie zum erſtenmale die Augen mit Be¬
wußtſein aufſchlug, erblickte ſie Auroren und
fragte nach allem, was ſeither geſchehen wäre.
Dieſe junge berliniſche Schwätzerin ſchlug die
Hände zuſammen, ſetzte ſich die Mütze der
Verwunderung auf, und hatte viel von Wally's
fieberhaften Phantaſieſtücken zu erzählen. Wally
fühlte ſich ſtark, zu hören, auch ſtark, ſich zu
erinnern. Sie wußte deutlich, wer die Schuld
ihres Uebels trug; ſie gieng auch bald wieder
bei dieſem Gedanken in die Nebel zurück und
ſprach von einem Manne, der ſie gerettet, aber
nicht beſucht hatte.
Aurora ſprach von Jeronimo. Sie ſchil¬
derte ſeine Verzweiflung. Er hielte ſich für
den Urheber von Wally's Leiden, er verließe
das Haus nicht, und würde durch nichts auf¬
gehalten, Augenblicke, wo Wally ſchliefe, zu
benutzen und in ihr Zimmer zu dringen.
„Wer?“ fragte Wally.
„Jeronimo!“
Es gehörte noch Anſtrengung dazu, daß
Wally wieder wußte, warum ſie nach Jero¬
nimo gefragt hatte. Sie vergaß es, und räumte
Aurorens Schwatzhaftigkeit das Feld. Dieſe
tummelte ſich weidlich darauf. Sie kam immer
wieder auf den Italiener zurück, bis er ſelbſt
kam und an Wally's Bett niederkniete. Wally
ſahe ihn, aber ſie erkannte ihn nicht.
Jeronimo ſtand bleich und hager da. Seine
Wangen waren eingefallen und abgezehrt. Die
Augen blickten ſtarr und mit einem unheim¬
lichen Feuer. Sein Aeußeres war gänzlich ver¬
nachläſſigt. Hätte man nicht annehmen müſ¬
ſen, daß ihn die Trauer verhinderte, Sorgfalt
11 *
auf ſich zu verwenden, ſo würde man zu dem
Glauben gezwungen geweſen ſein, ſeine Er¬
ſcheinung ſei die Folge der Armuth. Er ſprach
italiäniſch; Aurora verſtand nichts davon, zu
ſeinem Glücke; denn hätte ſie es verſtanden,
wie würde es ihr entgangen ſein, daß Jeroni¬
mo's Reden einen bedenklichen Geiſteszuſtand
verriethen?
Wally verſtand wohl die wahnwitzigen Worte
an ihrem Bett, aber ſie wußte nicht, von wem
ſie kamen. Und hätte ſie es gewußt, ſo würde
ſie ſogleich aus den Zuſtand reflektirt haben,
den ſie ſo eben von ſich ſelbſt erfahren hatte.
In der That, ſie verwechſelte auch den Wahn¬
ſinn, den ſie hörte, mit dem, welcher ſie ſelbſt
beherrſchte und flehte unhörbar, ihr nichts zu¬
zurechnen von der Verwirrung, die aus ihrem
bewußtloſen Haupte entſprang. Jeronimo küßte
ihre Hand. Sie erkannte ihn nicht, als er wie
ein Geſpenſt von ihrem Lager fortſchlich.
Benutzen wir den Augenblick, wo der Fa¬
den unſrer Erzählung gehemmt iſt durch das
Schickſal ihrer Heldin, die ſonderbare Erſchei¬
nung Jeronimo's und das Verhältniß zu ſei¬
nem Bruder näher zu erklären. Jeronimo iſt
eine widerliche Störung dieſes Berichts. Wal¬
ly's unübertreffliche Originalität, das bunte
Farbenſpiel ihrer Laune verdiente warlich
nicht, von ſo fratzenhaften Verrückungen menſch¬
licher Gefühle und Verhältniſſen, wie wir ſie
kennen lernen werden, paralyſirt zu werden.
Luigi und Jeronimo hießen die beiden Brü¬
der, welche uns bis jetzt nur in ſo nebelhaften
Umriſſen erſchienen ſind. Jener war der äl¬
tere, dieſer der jüngre; beide an Jahren ſo
verſchieden, wie an Geſtalt und Gemüthsrich¬
tung. Luigi, ein praktiſcher Egoiſt, Jeronimo,
ein excentriſcher Schwärmer, dort das dro¬
hende Extrem der Bosheit, hier des Wahnſinns.
Beide Brüder hatten zu gleichen Theilen ein
großes Vermögen geerbt; aber verſchiedenartig
war der Gebrauch, den ſie davon machten;
Luigi geizte, Jeronimo verſchwendete. Luigi
traf in Jeronimo's ſanfter Gemüthsſtimmung
keinen Widerſtand, als er ihm bei den Ver¬
ſchleuderungen ſeinen Rath anbot und ſich für
bereit erklärte, die Verwaltung ſeines Vermö¬
gens zu übernehmen. Die Verantwortlichkeit
machte Luigi ſchlecht. Immer im Harniſch
gegen Jeronimo's Unbeſonnenheiten, längſt ge¬
wohnt, ihn wie ein Zuchtmeiſter ſeinen Gefan¬
genen zu behandeln, immer in der Illuſion,
daß er das Gute, Noble und Ehrliche thäte,
während er doch nur das Kluge und Nützliche
that, nahm er ſeine eigne Verfahrungsweiſe wie
etwas Nothwendiges, und gewöhnte ſich daran,
Dinge als ſein EigenthnmEigenthum zu betrachten, für
welche er zuletzt wirklich einſtehen mußte.
Dieſe Verwechſelung war leicht gemacht und
artete in decidirte Schlechtigkeit aus. Es galt
nicht mehr, daß Luigi für all die Thorheiten,
die Jeronimo begieng, und unſchädlich machen
mußte, ſich ſchadlos halten wollte, daß er durch
die Verwendungen, die er überall verſuchte,
als Jeronimo ins Gefängniß geworfen wurde
wegen Carbonarismus, ein Recht über des jün¬
gern Bruders Leib und Leben zu haben ſich
überredete, ſondern bald wurde es Ziel und
Plan bei ihm, einen Menſchen, dem nicht zu
helfen war, gänzlich zu unterdrücken, und das
Vermögen an ſich zu ziehen, welches Jero¬
nimo noch beſaß und möglicherweiſe auf irgend
eine ſeiner flüchtigen Neigungen vererben konnte.
Von einer neuen Thorheit, die Jeronimo
begieng, wußte Luigi erſt kaum, wie er ſie be¬
handeln ſollte. Er hatte ihm von Wally ge¬
ſchrieben, von ihrer Jugend und Schönheit.
Jeronimo bat ihn, nichts von ihren Reizen zu
übergehen. Luigi fährt in ſeinen Entzückungen
fort und Jeronimo ſchwört ihm in einem Briefe,
daß Wally nur für ihn beſtimmt wäre. Lä¬
cherlicher Einfall! ſagte Luigi, als er am Tage
ſeiner Hochzeit dieſen Brief empfieng. Aber
Jeronimo hörte in ſeinen Grillen nicht auf.
Er drohte, noch in Haft befindlich, die er ſich
durch eine unbeſonnene Tödtung zugezogen hatte,
mit dem Aeußerſten. Die Idee ſchien fix bei
ihm geworden zu ſein. Es iſt nicht unmög¬
lich, daß man in ein Bild ſich verlieben kann.
Arme Wally! Mußte deine glatte, ſtille, lieb¬
liche Seele, dein nüchternes, von allem Ex¬
centriſchen abſeites Leben in ſolche Strudel
geriſſen werden?
Luigi wußte, daß ſein Bruder nach Paris
kommen würde. Er hatte ein Mittel gegen
ihn, und ſcheute ſich nicht, da er ſahe, welchen
Eindruck Wally auf Jeronimo machte, es in
Anwendung zu bringen. Was war ihm Wally?
Welche Genüſſe gewährte ſie ihm? Und doch
war er nicht ſo niedrig, ſie an ſeinen Bru¬
der gleichſam verkaufen zu wollen; er war
mehr bös, als gemein, mehr europäiſch ſchlecht,
als italiäniſch ordinär. Er wollte Jeronimo's
Neigung im Schach erhalten und davon Ge¬
winſte ziehen. Sein Geiz ſahe mit Schrecken,
wie des Bruders Vermögen in den durſtigen
Sand der Pariſer Vergnügungen und Aus¬
ſchweifungen verrinnen würde. Er ſahe ſchon
tauſend Arme geöffnet, tauſend Zärtlichkeiten
als Falle gelegt, er zitterte vor dem weiten
Meere, deſſen Abgrund bald Jeronimo's
Erbe verſchlingen mußte. Er wollte es retten.
Er wollte es abſorbiren, erſt, wie er glaubte,
um es zu bewahren, dann, um es nie wieder
herauszugeben. Wally mußte zu dieſem Zwecke
dienen. Ihre Koketterie mußte Jeronimo feſ¬
ſeln und unglücklich machen. Luigi arbeitete
planmäßig, um das Hirn des Bruders zu ver¬
rücken. Er brachte Grüße, Zärtlichkeiten,
Locken, und zwang den Glücklichen, von Wally
ſich immer wieder enttäuſchen zu laſſen. Jero¬
nimo war ſchwach, ein Kind, eine todte Hand
ſeines Vermögens. Luigi eignete ſich Alles zu.
Wer kann zweifeln, daß Wally im Stande
war, durch ihre unzähligen kleinen Charakter¬
loſigkeiten einen Mann zu vernichten? Sie
that es ohne darum zu wiſſen. Sie wurde
unbewußt das Werkzeug einer nichtswürdigen
Intrigue.
8.
Jeronimo hatte früher eine glänzende Woh¬
nung beſeſſen, jetzt mußte er ſich einſchränken.
Er trat in Paris mit all dem Glanze auf,
der der Wiederſchein ſeines Vermögens war;
jetzt hatte ihn eine unglückliche Leidenſchaft ſo
gebeugt, daß er nicht einmal das Schmerzliche
ſeiner gegenwärtigen Lage empfand. Er däm¬
merte in ſeiner Idee hin. Er gab Alles ſeinem
Bruder, ſeitdem er keine Bedürfniſſe mehr kannte.
Sein ganzes Vermögen wurde Luigi verſchrie¬
ben. Zuweilen, am frühſten Morgen, wenn
noch keine Seele auf der Straße war, beſuchte
ihn dieſer und ſtieg die vier Treppen hinauf,
über denen Jeronimo wohnte. Denn er wollte
nicht, daß ſein Bruder irgend einen Groll ge¬
gen ihn faßte. Er gab ſich immer das Anſehen,
als ſorgte er väterlich für den Verlaſſenen, als
bewahre er ihm ſeine Glücksgüter, die in ſeiner
trüben Seelenſtimmung ihm doch eine Laſt ſein
würden. So hatte er auch eines Morgens be¬
dächtig an die Thür der kleinen Kammer ge¬
pocht, welche Jeronimo bewohnte. Er trat
hinein und fand ſeinen Bruder lang ausgeſtreckt
auf einem ſchlechten Bett, deſſen er ſich als
eines Sopha bediente. An den kahlen Wänden
hiengen einige ſchlecht gemalte Heiligenbilder.
Auf den Kiſſen rings lagen die zerſtreuten Be¬
ſtandtheile einer ganz mangelhaften Toilette;
auf dem Tiſche einige Bücher, die mit Staub
bedeckt waren und deßhalb ahnen ließen, daß
Jeronimo noch aus ſich ſelbſt Troſt und Un¬
terhaltung ſchöpfen konnte.
Als Luigi eintrat, ſprang ſein verlaſſener
Bruder auf, grüßte mit einer mechaniſchen
Höflichkeit, für welche er ſelbſt keinen Grund
wußte, räumte ſchnell einen Stuhl ab und
ſchob ihn zurück, um ſeinem Beſuche Platz zu
machen.
„Iſt ſie wohl?“ war ſeine erſte Frage. Lui¬
gi bejahte ſie mit dem Lächeln eines Mannes,
der hier gleichſam ſagen wollte: Es hängt Alles
von dir ab! oder: Du kannſt Vortheil davon
ziehen!
Aber Jeronimo war nicht ſo ſtarken Glau¬
bens. „Sie liebt mich nicht!“ rief er aus,
„ſie iſt grauſam und kalt! Man ſieht, daß ein
ſolches Herz nur im Norden geboren werden
konnte.“
„Was hängſt du auch, mein Sohn!“ ent¬
gegnete Luigi, „dieſer Grille nach? Warum
ſich einer Leidenſchaft hingeben, welche ohne alle
innere Begründung iſt und die nur dazu dient,
dein ganzes Leben zu verwirren?“
„Sie läßt mich nicht mehr vor!“
„Du zwingſt ſie dazu; denn ſie liebt mich
von Herzen. Was richteſt du an! du biſt in
der glänzendſten Lage, biſt reich, jung, haſt
eine ausgeſuchte Bildung; warum entziehſt du
dich der Geſellſchaft? Warum dieſe ſchlechte
Wohnung, die dich um deine Annehmlichkeiten
und mich um meinen Credit bringt? Warum
dieſer vernachläßigte Aufzug, welcher eher dem
eines Induſtrieritters und Bankeruttiers gleicht,
als dem Range und dem Geiſte, den du beſitzeſt?“
„Du biſt ſehr boshaft, Bruder!“ ſagte
Jeronimo, den ein Vernunftfunke durchleuch¬
tete. „Wenn ich mich vernachläßige, ſo biſt
du Schuld daran, meine Liebe wahrlich nicht,
welche nur dazu dient, das Unglückliche meiner
Lage mich weniger herb fühlen zu laſſen. Wer
ſpiegelt mir die ungeheuern Verluſte vor, die
mein Vermögen ſoll erlitten haben?“
„Ungerechte Beſchuldigung!“
„O ſieh', Jeronimo! ich blicke tief in dein
Inneres. Dein Geiz iſt die Triebfeder deiner
Schlechtigkeit. Du haſt dir immer das Anſehen
gegeben, mein Beſchützer zu ſein, und wahrlich
du machteſt dich vortrefflich dafür bezahlt. Ich
würde wahrhaftig keine deiner ehrloſen Intri¬
guen zugeben, Mann; wenn ich mir Beſon¬
nenheit und Feſtigkeit des Willens in meiner
jetzigen Lage erhalten hätte.“
„So ungerecht ſprichſt du zu einem Bruder,
der für dich ſorgt, Jeronimo? der niemals in
in dieſes verfluchte Schmutzneſt tritt, ohne von
den Geldrollen in ſeiner Taſche einen ſchweren
Tritt zu haben. Wann komm' ich leer? Ich
biete dir Alles an: ich beſchwöre dich, anzu¬
nehmen. Auch jetzt: ſiehe! nimm! aber wache
über deine Ausdrücke, die mein Herz verwunden
und der Welt Veranlaſſung zu einem falſchen
Urtheil geben können.“
„O damit ſchläferſt du dein Gewiſſen ein,
mit dieſen Geldrollen, welche hier liegen und
von mir nicht geachtet werden, weil ich keine
Bedürfniſſe mehr habe! Man hat gut von Reich¬
thümern zu einem Manne reden, der das Ge¬
lübde der Armuth ablegte. Was fürchteſt du
wohl mehr, Prahler, als meine erwachende
Lebensluſt? Sie kann niemals kommen, Glück¬
licher! Du ſiehſt mich dem Tode entgegenrei¬
fen und hoffeſt, bald der Sorge um einen
Menſchen enthoben zu ſein, von dem ich ſelbſt
geſtehe, daß er für menſchliche Berührungen und
das im Daſein Gewöhnliche kein Kettenglied
mehr iſt. Du aber warſt es, der mich um
Wally betrogen hat.“
„Lenk' ich die Neigungen dieſer ſchwer zu
zügelnden Frau?“
„O Menſch, Bruder, du warſt auch als Gatte
ſchlecht genug, mir Hoffnungen zu machen.“
„Verächtlicher!“ rief Luigi und ſprang vom
Sitze auf.
„O ſetze ſie vor dein kahlgewaſchenes Antlitz,
die Maske der Entrüſtung! Dein Weib mußte
der Blitzableiter meiner gewitterdrohenden Nei¬
gungen und der Hagelwetter werden, welche
mein Vermögen ruiniren konnten. Dein Geiz
ſah alles vorher. Ein teufliſches Spiel haſt du
mit mir getrieben. Zu den Beleidigungen füg¬
teſt du noch meine Entnervung, meine Unfähig¬
keit, mich für ſie zu rächen, hinzu!“
Und das ſagte Jeronimo mit Recht. Denn
wie richtig er auch das Benehmen ſeines Bru¬
ders, dieſe Manier, ihn zu beobachten und in
der Hand zu haben, durchſchaute, ſo war er
doch in ſeiner Willenskraft wie gelähmt. Eine
unerwiederte Neigung hatte ihn zu Boden gewor¬
fen. Er war keines Entſchluſſes fähig, wenn
ſein Bruder ſo ſchlecht handelte, ihm wieder
eine neue Hoffnung zu machen. So lächelte
Luigi auch hier, nahm die Geldrollen und ließ,
indem er ſie einſteckte, wie zufällig die Schleife
eines blauen Damenkleides aus ihr herausfallen.
Jeronimo fieng ſie auf und preßte ſie an ſeine
Lippen. Sie war von Wally, ein Raub in
Gutzkow's Wally. 12
derſelben Art, wie ihn ihr Gatte oft mit ver¬
ſtellten Zärtlichkeiten beging. Während Jero¬
nimo im Entzücken dieſes Beſitzes ſchwelgte,
fand Luigi Muße, ſich ohne Geräuſch zu ent¬
fernen.
Als er dicht bei ſeinem Hotel war, öffnete
ſich die Thür deſſelben und einer ſeiner Bedien¬
ten trat heraus, ohne ihn zu bemerken. Ein
junger Mann ſprang auf den flüchtigen Bur¬
ſchen zu, hielt ihn an und fragte ihn dringend,
indem er etwas durch Geld belohnte, was noch
kommen ſollte: „Iſt die Gräfin zu Hauſe.“
„Ich glaube nicht.“
„Sei aufrichtig: ich muß es wiſſen!“
„Sie iſt bei der Vicomteſſe von Hericourt.“
„Dort kann ich ſie nicht ſprechen. Sie war
krank?“
„Wer? Die Gräfin? freilich; ſie iſt vor
einer Woche vom hitzigen Fieber geneſen.“
„Gerechter Gott! Wie lebt ſie denn im
Hauſe? hat ſie viel Vergnügungen?“
„Sie wiſſen wohl, hierin läßt ſie ſich nichts
entgehen. Sie glauben, Herr Baron, ich kenne
Sie nicht? Wie oft waren Sie bei der Grä¬
fin, als ich noch mit ihr Manêge ritt.“
„Du kennſt mich? Sage ihr nicht, daß du
mich geſehen haſt: morgen aber hilfſt du mir,
ſie ohne Ceremoniel und weitläufige Anmeldung
ſprechen zu können!“
Der Geſandte ſah dem forteilenden Frem¬
den nach. Er erkannte ihn als einen Deut¬
ſchen, dem er früher begegnet ſein mußte. Der
Bediente gab ihm den Namen an; doch hatte
er nie gewußt, daß dieſer mit Wally in einer
Verbindung geſtanden hätte. Er trat in ſein
Hotel.
12 *
9.
Am folgenden Morgen, als Wally ſich
noch in den erſten Umriſſen ihrer Toilette
befand und im neuſten Hefte der Revue de
Paris blätterte, wo ſie durch die Schwärme¬
reien eines franzöſiſchen Gelehrten über deut¬
ſche Zuſtände, die er aber falſch verſtanden hatte,
ſehr beluſtigt wurde, riß eine unangemeldete
Hand die Thür ihres Zimmers auf und ſtürzte
mit einem freudigen Gruße zu Wally's Füßen.
Sie war bleich vor Schrecken, als ſie es
dulden mußte, daß Cäſar ſie ſtürmiſch in ſeine
Arme ſchloß und ihre Hand mit ſeinen Küſſen
bedeckte. „Meine Wally!“ war der einzige
Ausruf, der über ſeine bewegten Lippen drin¬
gen konnte. Wally zitterte vor Schrecken und
Freude. Auch ſie konnte keinen Ausdruck finden.
So ſaßen ſie ſich eine Weile ſtumm gegen¬
über; aber ihre Blicke ſprachen mit feurigen
Zungen und hatten tauſend Dinge zu gleicher
Zeit zu fragen und mitzutheilen. „Dein Tſchio¬
natulander!“ ſprach dann Cäſar mit holdſeliger
Ironie. Wally erröthete und barg ihr glühen¬
des Antlitz vor Schaam an ſeine Bruſt.
„Sie müſſen mir dieſen ſtürmiſchen Angriff
verzeihen!“ fuhr dann Cäſar fort. „Ich habe
viel bei Ihnen gut zu machen und will es durch
Dinge, welche für Sie von Werth ſind.“
„Sie haben vor zwei Monaten mir das
Leben nur gerettet, um es mir zu nehmen!“
ſagte Wally.
„Ich wollte Sie nicht beſuchen. Ich ver¬
mied Sie. Warum? fragen Sie mich! Ich
weiß es nicht. War ich ſtolz, beleidigt? Nein:
es war lächerlich; aber Sie kennen mich, Wally,
wie ſchwierig ich zu behandeln bin. Ich laſſe
immer auf eine Liebenswürdigkeit zehn uner¬
trägliche Thorheiten kommen.“
„Liebenswürdigkeiten! Unerträglich! Thor¬
heiten! O, Alles, wie ſonſt — mein Cäſar!“
„Meine Wally! Aber Sie ſchweben in einer
unvermeidlichen Gefahr, aus der ich Sie retten
muß. Ihr guter Ruf iſt bedroht. Sie ver¬
danken das Ihrem Manne. Welche Leute kom¬
men in Ihr Haus?“
Wally hatte nicht viel Gehör für dieſe Worte,
für den Inhalt nicht, nur für den Schall, den
ſie an Cäſar's Munde verfolgte. Wenn die
Wörterbücher es erlauben, ſich ſo auszudrücken,
ſo wollte ſie ihn nur ſprechen, nicht reden hören.
„Nein, in der That, Wally! Wer iſt dieſer
Jeronimo? Alle Welt ſpricht davon. Es iſt
unmöglich, daß Sie Antheil an dieſer Intrigue
haben. Sie kömmt allein auf Rechnung Ihres
Mannes.“
Wally lächelte nur und weidete ſich an dem
Anblick.
„Nein, bezaubernd ſind Sie, Wally!“ grollte
Cäſar mit komiſch-weinerlicher Stimme; „aber
ſo hören Sie doch und gehen Sie auf etwas
ein, das Sie intereſſirt.“
Cäſar mußte ſie wecken, mit Küſſen wecken
aus ihrem Rauſche. Er mußte Auge an Auge,
Stirn an Stirn legen, jeden Zug in Wally's
Antlitz bannen, um ſie in ſeiner Gewalt zu
haben und ſeinen Worten Eingang zu verſchaf¬
fen. Wally that noch immer nichts, als in
einer gewiſſen gemachten Abweſenheit von unten
herauf mit einer halben Wendung ihres Kopfes,
mit klugen und verdächtigen Augen an ihn ſich
hinaufſchmiegen und das küſſen, was ſie grade
traf, Auge, Mund, Naſenflügel. Man muß
lieben, um dieſen maleriſchen Geſtus der Zärt¬
lichkeit zu verſtehen.
„Wally!“
„Cäſar!“
„Wer iſt Jeronimo?“
„Ein Narr.“
„Der Bruder Ihres Mannes?“
„Der Bruder meines Mannes.“
„Er liebt Sie.“
„Er liebt mich.“
„Er iſt wahnwitzig.“
„Er iſt wahnwitzig.“
„O, Wally! Wally!“
„Was ſoll ich nur? Warum inquiriren Sie
mich?“
„Man behauptet, Jeronimo würde mit Vor¬
ſpiegelungen von Ihnen hingehalten, während
Ihr Mann die Zeit benutzt, ſeinen eigenen
Bruder auszuziehen.“
„Aus der Comödie! Ein Roman von Eugene
Sue, Balzac, Victor Hugo; was ſoll ich leſen?
Rathen Sie mir: ich verwildre ganz, Cäſar.“
„Keine Fabel, nein! im Hotel des ſardini¬
ſchen Geſandten plündert man die unglücklichen
Liebhaber.“
„Und die glücklichen, Cäſar, ſind langweilig.“
„Und die glücklichen Liebhaber, Wally,
wollen nicht, daß ihr Idol ein Gegenſtand
der allgemeinen Beſchimpfung iſt.“
„Wer beſchimpft mich?“
„Ihr Mann!“
„Nun, ſo müſſen Sie mich wieder rein
waſchen.“
„Das will ich; aber —“
„Aber —“
„Geben Sie mir Aufſchlüſſe, Data, Erklä¬
rungen. Wer iſt Jeronimo? Was will er?
Was hat er? Ahnten Sie nichts? Theilen
Sie die Schuld Ihres Mannes?“
„Gott, ſo hören Sie auf, Cäſar. An die¬
ſen Sachen nehm' ich keinen Theil. Ich habe
ja an Ihnen genug, Cäſar; ich laſſe Sie nicht.
Reden Sie von der Vergangenheit, von Ihren
Lebensſchickſalen, von unſern Freunden. Kein
andres Wort, oder ich verlaſſe Sie im Au¬
genblick.“
Cäſar begriff dieſe Grillen nicht. Verdiente
er, ſo geliebt zu werden!
„Nun dann!“ ſagte er lachend und ärger¬
lich zugleich, und begann auf die Themata ein¬
zugehen, welche Wally entzückten. Bis zur
Mittagszeit konnten ſie über dieſe Dinge ſpre¬
chen, ja noch in der Loge des Theaters, und
nach dem Theater bis tief in die Nacht hinein.
10.
Endlich hatte Wally den Zuſammenhang
ihrer häuslichen Verhältniſſe erfahren. Cäſar
war unermüdlich, den Ruf ſeiner Freundin
wieder herzuſtellen und die öffentliche Meinung
über ſie zu berichtigen. Sie dankte ihm dafür
nicht einmal; denn ſie lebte gar nicht in Be¬
zug auf dieſe unwürdigen Dinge, weil ſie weder
von ihnen eine Vorſtellung hatte, noch ſie für
werth einer Aufmerkſamkeit hielt, die größer
geweſen wäre, als die vollſtändige Erſchöpfung
ihres Verhältniſſes zu Cäſar.
So verfloſſen einige für ſie unerſetzliche Tage.
Wally duldete nicht, daß irgend etwas ſie im
Genuſſe derſelben ſtörte. Sie gab ſich wenigen
Beſuchen preis. Die meiſten wies ſie ab, vor
allen die Anmeldungen Jeronimo's, den ſie in
ſeinen Leiden mit einer entſetzlichen Grauſam¬
keit behandelte. Sie trat Alles mit Füßen,
was nicht in unmittelbarer Beziehung auf Cä¬
ſar ſtand.
„Sie müſſen mich über dieſen Unglücklichen
anhören;“ ſprach Cäſar einſt zu ihr. „Er
glaubt Rechte auf Sie zu haben und behaup¬
tet, daß Sie um den Preis ſeines Vermö¬
gens die ſeine wären.“
Wally lachte hierüber, dann aber ſagte ſie
ärgerlich: „Was ſoll ich aber thun? Ich bin
dieſer Verhandlungen müde, daß mir meine Lage
unerträglich wird. Es kömmt ſo weit, daß ich
jedes Mittel ergreife, Paris zu verlaſſen.“
„Was thut Ihr Mann? Was ſagt er
Ihnen? Will er denn Alles geſchehen laſſen?“
„Was geſchieht denn? Gütiger Himmel, ſo
ſchenken Sie den Narrheiten der Welt nicht
fortwährend Ihr Ohr. Ich bin für Sie
ohne Tadel und bedarf nicht mehr, weil ich
nur Ihnen gefallen will. O Gott! iſt je zu
einem Manne ſo geſprochen worden?“
„Sie verwirren meinen Kopf, Wally!“
„Gewiß: denn der meinige iſt unfähig, noch
im Zuſammenhange zu denken. Wollen Sie
etwas Entſcheidendes thun?“
„Nun?“
„Befreien Sie mich aus dieſer Lage! Ich
gehe mit Ihnen aus Paris und kehre niemals
zurück. In der Einſamkeit will ich wohnen;
ſelbſt, wenn Sie mich verbergen müßten. Hier
iſt die Luft verpeſtet. Sagen Sie Alles mei¬
nem Manne. Er iſt ein Pinſel, der gar keine
Rechte auf mich hat. Fort! Gehen Sie noch
jetzt hinüber zu ihm.“
Als Cäſar mit dem Geſandten allein war,
ſagte er zu ihm: „Mein Herr, Sie vernach¬
läßigen den Ruf und die Ruhe Ihrer Frau.“
„In welcher Eigenſchaft ſagen Sie mir
dies?“ fragte der Geſandte.
„Als Bevollmächtigter und Beauftragter Ih¬
rer Frau, als Freund des Hauſes, dem ſie ange¬
hört, als Theilnehmer an Wally's Lebensſchick¬
ſalen, die ſie betreffen, als beträfen ſie mich
ſelbſt, zuletzt — wenn auch nur — als Beſchützer
eines Weſens, das unſchuldig iſt und nicht die
Kraft hat, ſich von einer Intrigue loszuſagen,
in welche ſie wider ihren Willen verwickelt
wurde.“
„Sie ſcheinen von den Verhältniſſen meiner
Frau mehr zu wiſſen, als ich ſelbſt. Doch
will ich ihre Mittheilungen abwarten, um mich
zu irgend etwas beſtimmen zu laſſen.“
„Dann werden Sie freies Spiel haben,
mein Herr! Wally lebt nicht mit dem, was
um ſie vorgeht.“
„Dann ſcheint es, als bauten Sie ihr eine
neue Welt.“
„Ja, Sie können ſo ſagen, wenn Sie darun¬
ter verſtehen, daß ich die alte einreißen werde.
Was könenkönnen Sie thun, um Ihrem Bruder ſei¬
nen Verſtand wieder zu geben und die Reich¬
thümer deſſelben, welche Sie ſich das Anſehen
geben, mit Ihrer Gattin zu theilen? Sie
wagten es, eine himmliſch reine Seele zu be¬
ſchmutzen. Sie wagten es, das Leben eines
Bruders methodiſch zu untergraben. Gegen das
Letzte werden die Geſetze auftreten, gegen das
Erſte aber Geſinnungen, die ſich weder wider¬
legen noch beſtechen laſſen.“
„Aber auch gegen dieſe tugendhaften Geſin¬
nungen wird es Geſetze geben; denn Sie wiſ¬
ſen, daß dieſe Art Tugend nicht überall am
Orte iſt.“
„Die Geſetze werden zu ſpät kommen.“
„Wie ſollten ſie von Ihnen vereitelt werden?“
„Durch die Entführung Ihrer Frau, die
Brandmarkung Ihres Namens, durch die Auf¬
hebung jeder ehrlichen Gemeinſchaft mit Ihnen,
durch tauſend Vorſprünge, welche die Ehrlichkeit
vor einem Manne voraus hat, der mir dem
guten Namen ſeiner Frau das Vermögen eines
Bruders kauft, der zur einen Seite die Men¬
ſchen übel berüchtigt, zur andern wahnſinnig
macht. Wahrhaftig, ich ſchwöre Ihnen —“
Der Geſandte trat ſcharf auf Cäſar zu, und
hintertrieb hiedurch das, was dieſer ſagen wollte,
er ſtieß einige Drohungen aus, und verließ dann
mit einem gemachten Stolze das Zimmer. Cä¬
ſar wollte ihm nach, aber die Thür war in's
Schloß gefallen.
Als er in die Zimmer Wally's zurückkam
und er hörte, daß ſie im Bade ſei, verließ er
unmuthig über die verlorne Mühe das Hotel.
Seine Ausdauer war erſchöpft. Er war nahe
daran, jetzt Alles ſo kommen und ſo gehen zu
laſſen, wie es ging. Aber noch an demſelben
Abende ſollte eine Schlußkataſtrophe den Kno¬
ten durchhauen.
Jeronimo's Seelenzuſtand war unheilbar zer¬
rüttet. Es war ihm nur noch eine Kraft ge¬
blieben, die gefährlichſte für ſeinen unzurech¬
nungsfähigen Zuſtand, die Kraft, Entſchlüſſe zu
faſſen und ſie um ſo eher in's Werk zu ſetzen,
weil ihn nichts in ſeinen Combinationen ſtörte.
Jeronimo war faſt ein Bild des Todes. Das
dunkle Feuer ſeines Auges hatte ſich ſelbſt
verzehrt, ein Büſchel dünner Haare deckte den
kahlen Scheitel. In Regen und Froſt ſtand
er vor den Fenſtern ſeiner unglücklichen Nei¬
gung, die ihn von ſich wies und den ganzen
Herbſt und Winter mit ihm nicht geſprochen
hatte. Dabei verſagte er ſich das Nothwen¬
digſte. Er ſchien, verhungern zu wollen. Da
ihn aber die Langſamkeit dieſer Todesart pei¬
nigte, ſo wählte er eine ſchnellere. Nur dar¬
um handelte er ſich noch bei ihm, wie er vor
den Augen Wally's ſterben ſollte.
Es war an demſelben Tage, wo Cäſar mit
dem Geſandten geſprochen hatte, als ſich in
Gutzkow's Wally. 13
der Nachtdämmerung eine blaſſe Geſtalt von
ihrem Lager erhob, nach einem Piſtol griff
und ſich an den erleuchteten Häuſern der
Pariſer Straßen dicht unter den erſten Stock¬
werken entlang ſchlich. Es war ein wenig Schnee
gefallen. Die Straßen waren leer, oder doch
hatte Alles, was auf ihnen war, Eile, ſie
wieder zu verlaſſen. Nirgends brannten Later¬
nen. Der Kalender hatte Mondſchein.
Jeronimo ſtand endlich vor dem Hotel ſei¬
nes Bruders. Man ſah es, daß dieſes Haus
kein Sitz der Freude war. Nur hie und da
war ein Fenſter erleuchtet. Jeronimo ſpähte
nach dem, welches zu Wally's Schlafkabinet
gehörte. Er ſah es, doch war es noch finſter.
Wally mußte aus dem Theater ſchon zurück ſein.
Einige falſche Accorde auf dem Clavier dran¬
gen zu dem Ohr des Unglücklichen. Jeden An¬
dern, deſſen Geiſt nicht ſchon in wahnſinnige
Erſtarrung übergegangen war, hätten dieſe
Töne dem Leben wieder gegeben. Jeronimo
hatte keine Empfindung, als für das, welches
mit ſeinem Tode und einer Art von Rache zu¬
ſammenhieng. Er that nichts, als den Hahn
ſeines Piſtols zurücklegen.
Jetzt ſchwiegen die Töne, welche nur in
einem Anfalle von Zerſtreuung und zufälliger
Leere des Bewußtſeins angeſchlagen ſchienen. Das
Schlafkabinet Wally's erhellte ſich. Jeronimo
zitterte, denn nah erkannte er zwei Geſtalten,
welche an den Gardinen des Fenſters zuweilen
wegrauſchten. Bald war es nur noch dieſelbe,
die zuweilen wiederkehrte. Es mußte Wally
ſein.
Jeronimo wollte nicht anders, als ſie im
Auge haben. Der Zufall war grauſam genug,
hier Alles zu erleichtern. Vom Vorſprung des
Parterrefenſters war er bald auf das eiſerne
Gerüſt einer Laterne. Die Einſchnitte an der
13 *
Wand des Hauſes unterſtützten ihn. Er ſchwang
ſich auf, griff mit zuckender Hand an das Fen¬
ſter und faßte ſoviel vom Holze, daß er bequem
aufgerichtet einige Minuten lang ſtehen konnte;
er ſtand noch länger; denn in ſo fürchterlichen
Augenblicken ermüdet der Körper nicht und kann
das Unglaubliche leiſten.
Wally blieb drinnen an einen Pfeiler ihres
Bettes gelehnt. Sie war noch nicht ganz ent¬
keidetent¬
kleidet; nur was an Schnüren und Bändern
ihre Kleider zuſammenhielt, das war gelöſt
und machte, daß ſie in einer maleriſchen, die
Sinne verlockenden Situation daſtand. Sie
war ſehr indifferent in ihrem Gemüthe, wie es
ſchien, und griff nach einem Buche, nach einem
deutſchen Buche, um ſich in Paris einzuſchlä¬
fern. Da ſtörte ſie ein Geräuſch am Fenſter.
Sie ſieht auf und erblickte durch die angelau¬
fenen Scheiben die ganz undeutlichen Umriſſe
einer menſchlichen Geſtalt. Sie eilt hinzu, wiſcht
ſo viel von dem Thau des Fenſters ab, um ein
gräßlich verzerrtes Antlitz wahrzunehmen, das
im Nu beim Knall eines Piſtols zerſchmettert
iſt. Sie ſtößt einen entſetzlichen Schrei aus:
der Schuß machte das Haus lebendig. Man
eilt von allen Seiten herbei, dringt in Wally's
Zimmer; denn hier hatte man den Schuß ge¬
hört. Man tritt in das Kabinet, und findet
Wally bewußtlos am Boden liegen. Die Schei¬
ben ſind zerſchmettert und blutige Theile eines
zerſprungenen Schädels liegen auf dem Fu߬
boden.
Wally hatte ſich bald erholt. Sie beſann
ſich auf Alles; ſie hatte Jeronimo in dem Au¬
genblicke, als das Piſtol blitzte, erkannt; Nie¬
mand zögerte, ihre Vermuthung zu beſtätigen,
als man den hinuntergeſtürzten Leichnam be¬
ſichtigte und dem Bruder des Geſandten in ein
Antlitz leuchtete, das nicht mehr da war. Aber
welch' ein tiefer Abgrund iſt das weibliche Herz!
Wally tobte wie eine Bacchantin. Sie lief,
ſie ſchrie, ſie riß die Zimmer ihres Gatten auf,
der nirgends zu finden war. Sie verbot unter
jeder Bedingung, den entſetzlichen Leichnam in
das Haus zu tragen. Wäre Jeronimo nicht
todt geweſen, jetzt hätte ſie ihn umbrin¬
gen können. Sie rief nach Cäſar. Bedienten
eilten fort; man traf ihn nicht. Sie ſchickte
zwei-, dreimal. Zuletzt ließ ſie ihm ſagen, daß
er am folgenden Morgen um ſechs Uhr reiſe¬
fertig in ihrem Hotel eintreffen ſollte.
Hier war kein Beſinnen, kein Abrathen
mehr möglich. Alles mußte Hand anlegen, um
ihre Sachen zu ordnen und das Nöthigſte auf
den Reiſewagen zu packen, der unter den Thor¬
weg gezogen wurde. Die Poſt wurde zur Mi¬
nute beſtellt. Wally war wie verzaubert. Sie
befahl, majeſtätiſch, kalt, nordiſch, wie eine Allein¬
herrſcherin Moskovien's. Bis tief in die Nacht
war ſie mit dieſen Zurüſtungen beſchäftigt.
Sie hatte in halbem Schlummer gelegen,
als ſie in der Frühe aufwachte. Das blutige
Ereigniß hatte ſie vergeſſen; nur ihr Entſchluß
beſchäftigte ſie. Cäſar erſchien, ganz verſtört.
Sie blickte ihn forſchend an, ſie befahl. Er
begriff nichts, er frug nicht, er folgte willen¬
los. Unten im Thorweg war Alles noch um
den Wagen beſchäftigt, ſie zitterte vor Aerger,
daß hier noch nicht Alles beendigt war. Sie
dachte gar nicht daran, bei Menſchen, welche
ſie nie wieder ſehen wollte, einen angenehmen
Eindruck zu hinterlaſſen. Cäſar's Blick fiel auf
eine Blutſpur, die von Außen ſich in den Thor¬
weg und wieder hinaus zog. Er wagte nicht zu
fragen, ſo erſchreckte ihn dies. Wally ſchien
Alles zu wiſſen, und wie leichtſinnig trat ſie
über das kaum getrocknete Blut, das hie und
da mit zerſplitterten Knochen vermiſcht war!
Erſt als ſie beide im Wagen ſaßen und die
Barrièren von Paris im Rücken hatten, theilte
ihm Wally das Geſchehene mit. Cäſar ſchauderte.
Drittes Buch.
Wally's Tagebuch.
Es iſt zu ſpät, das Leben ihres Bluts
Iſt tödtlich angeſteckt, und ihr Gehirn,
Der Seele zartes Wohnhaus, wie ſie lehren,
Sagt uns durch ſeine eitlen Grübeleien,
Das Ende ihrer Sterblichkeit vorher.
Shakſpeare.
Die Einſamkeit meiner jetzigen Lebensweiſe
zwingt mich, den Kreis, in welchem ich mich
bewege, nun doch auch in allen ſeinen Theilen
auszufüllen. Wie beglückt mich Cäſars Liebe!
Ich will aber nicht ungerecht ſein gegen die
Außenwelt, und mich weuigſtenswenigſtens ſchriftlich mit
ihr beſchäftigen, ſo weit ſie ein Recht dazu hat.
Viele verdienen es, daß ich auf ſie achte: nicht
alle. Cäſar ſagt mir, ich wäre egoiſtiſch ge¬
gen die Welt, er nennt mich ſogar grauſam.
Er meint es gewiß damit aufrichtig. Ich will
mich auch mit den Andern beſchäftigen; aber
ſchriftlich: täglich will ich drei Vormittags¬
ſtunden darauf verwenden. Täglich —
Ob ich das Vorige ausſtreiche? Fünfmal
hab' ich gegen meinen Vorſatz geſündigt, und
multiplizire ich die drei vergeſſenen Stunden
mit den fünf vergeſſenen Tagen, ſo that ich's
fünfzehnmal. Ich ſchreibe ungern, denn ich
denke viel ſchneller, als mein bleierner Styl
folgen kann. Cäſar ſagte mir, man müſſe die
Menſchen in ihrem ganzen Weſen anatomiren.
Dadurch lerne man und vergnüge ſich. Cäſar
hat immer Recht.
Ich will einige meiner alten Freundinnen
zu ſchildern ſuchen. Ich vernachläſſige alle;
wenn ich ſie ſehe, zeig' ich ihnen, was ich
von ihnen ſchrieb und daß ich ſie doch
liebe. Ich will Delphinen charakteriſiren, ſie
iſt ſo verſchieden von mir.
Delphine gefällt, ohne ſchön zu ſein. Man
kann ihr nicht einmal einen ausgezeichneten
Wuchs zugeſtehen, nur ihre Haltung, ihr ſchwe¬
bender Gang kann den Mann veranlaſſen, auf
ſie zu achten. Sie trägt ſich mit erſtaunens¬
werther Einfachheit. Ihr Haar iſt geſcheitelt;
ein weißer Kantenſtrich, wie man ihn unter
Hüten trägt, hebt dieſe Einfachheit zu dem
lieblichſten Eindruck. Weiß und hellblau ſtehen
ihr gut; eine rothe Schleife auf der Bruſt
giebt dieſer Monotonie der Toilette eine la¬
chende Auffriſchung. Delphine hat einen klei¬
nen Fuß. Sie geht ſehr ſchön. Das will viel
ſagen! Das Blaue in Delphinens Auge iſt
nicht rein, es iſt mit zu viel Weiß gemiſcht.
Für die Augenbrauen iſt eine ſchöne Wölbung
da; aber ſie iſt nicht ſtark aufgetragen; dieſer
Reiz verſchwindet. Sie hat einige hübſche Ge¬
wohnheiten. So faßt ſie z. B. oft mit der
linken Hand in die Gegend der Stirn, öffnet
ſie, ſchließt mit dem Daumen und dem Zeige¬
finger einen Kreis und beginnt dieſen Kreis
allmälig zu öffnen, indem ſie aus der Thrä¬
nendrüſe des linken Auges zurückfährt, das
ganze Auge umkreiſt und die Oeffnung der beiden
Finger wieder ſchließt am Ende des Auges.
Dieſe ſonderbare Bewegung erfolgt mit Blitzes¬
ſchnelle, und iſt deßhalb ſo hinreißend, weil ſie
immer mit einer Erregung ihrer Seele zuſam¬
menhängt. Der größte Zauber in Delphinens
Erſcheinung kommt aber von ihrer eigenthüm¬
lichen Seelenſtimmung her. Dieſe muß man,
um kurz zu ſein, ſentimental nennen; obſchon
der Ausdruck ſie nicht ganz erſchöpft. Beſſer
würde man ſagen, ſie iſt muſikaliſch geſtimmt.
Denn Muſik drückt ihr ganzes Weſen aus: und
zwar nach jener einſeitigen Richtung hin, wo
die Muſik nur Wolluſt der Empfindung iſt.
Für plaſtiſche Geſtaltenſchöpfung in der Muſik,
ſo weit die Muſik dieſe erreichen kann, für
Opern im franzöſiſchen Geſchmack, kurz für
das Dramatiſche in der Muſik iſt ſie nicht.
Die Richtung ihrer Seele iſt lyriſch. Alles,
was ſie mit einem wunderlieblichen Organe
ſpricht, nimmt den Ausdruck des Zarten, Scho¬
nenden und Bittenden an. Bittend ſind die
meiſten Töne ihres Lautregiſters. Nichts kann
hinreißender ſein, als dies flehende, mit einer
gewiſſen lächelnden und doch ſchmerzlichen Selbſt¬
ironie hervorgebrachte: O Gott! womit ſie ſo
vieles begleitet, was ſie ſpricht. O Gott!
Dieſer Ausdruck ſoll ihr ewiges Ueberwunden¬
ſein, ihre Hingebung an die Menſchheit, an die
ſie glaubt, ausdrücken. Wer könnte widerſte¬
hen, wo ſolche Töne anſchlagen! Delphine iſt
ſo willenlos, daß ſie die Beute jeder pronon¬
cirten Abſicht wird. Mit liebenswürdiger Nai¬
vetät geſtand ſie mir einſt: Sie würde Jeden
lieben, der ſie liebt. O wie nöthig iſt es, bei
einer ſolchen Willensſchwäche, daß ſie in die
Hut eines Mannes kömmt, der ſo viel geiſti¬
ges Leben beſitzt, um ſie ganz durchſtrömen zu
können mit ſeiner eignen Willenskraft! Del¬
phine liebte unglücklich, mehrmals; aber ſie iſt
ſo unentweiht, ihre früheren Zärtlichkeiten ſind
ſo wenig ſichtbar in ihrem Benehmen, daß ſie
dem Manne immer noch als kaum erſchloſſene
Knospe erſcheinen muß. Delphine beſitzt äußer¬
lich die Reize nicht, einen Mann auf die Länge
zu feſſeln, aber wer ſie einmal, ſei es aus Liebe
oder Illuſion eroberte, der wird ſie nie ver¬
laſſen können, weil ihre Hülfloſigkeit, ihre Hin¬
gebung entwaffnet. Vielleicht arbeitet ſie noch
mehr an ihrem Geiſte. Sie hält einige Mi¬
nuten lang die Dialektik eines bloß verſtän¬
digen logiſchen Geſprächs aus; aber dann kann
ſie es nur fortſetzen, wenn es entweder auf
einen gemüthlichen und Gefühlston übergeht
oder auf einen beſtimmten vorliegenden Fall,
den ſie erlebt hat. Ueber einen Fall, den man
ihr blos erzählt, kann ſie nicht urtheilen, weil
ſie alle Menſchen für gut hält, und alle nach
ſich ſelbſt richtet. Delphine ſollte viel leſen.
Sie liest, aber fragmentariſch. Sie iſt reich,
Gutzkow's Wally. 14
ſie ſollte ſich durch vielfache Lektüre darin zu
bilden ſuchen, was über die Muſik und das bloße
Gefühl hinausliegt. Ihr Organ macht, daß
ſie ſchön, ihre keuſche Seele, daß ſie faſt Alles
richtig liest. Ich hörte ſie Gretchen im Fauſt
leſen, ſo wahr und hold, wie es der Peche in
Wien und Höffert in Braunſchweig kaum ge¬
lingen möchte. Cäſar muß ihr Bücher geben.
Was er wohl über ſie urtheilt! Er iſt ihr
diametral entgegengeſetzt, und ſagte mir doch
einmal: er müſſe Jede lieben, die ihn liebe und
würde auch Jeder treu ſein in ſeiner Art. Bei
ihm iſt das Egoismus, bei Delphinen Schwäche.
Sie können ſich aber nicht begegnen. Delphine
iſt eine Jüdin.
Ich habe das geſtern nur ſo hingeworfen,
daß Delphine eine Jüdin iſt. Aber welche
eigenthümliche Richtung mußte dies ihrem We¬
ſen geben! Sie wurde unter ſehr glänzenden
Verhältniſſen erzogen. Das Judenthum in ſei¬
nem Schmutz, mit ſeinen Ceremonien und Prie¬
ſtern nahte ſich ihr niemals. Sie findet keine
Reue darin, irgend eines der jüdiſchen Gebote
zu übertreten, von welchen ſie den größten Theil
gar nicht kannte. Wie originell iſt doch ein
Mädchen, das den ganzen Bildungsgang chriſt¬
licher Ideen nicht durchmachte, und doch auf
einer Stufe ſteht, welche ganz Gefühl iſt, und
das ſo viel Liebenswürdigkeit entwickelt! Del¬
phine kann von der Religion nur wenige Nach¬
richten haben, einen weiblichen Gottesdienſt
giebt es in ihrem Glauben nicht, eine häus¬
liche Verehrung kömmt in Form von Ceremo¬
nien, Geſang oder ſonſt einer Weiſe nicht vor,
die Confirmation iſt unter uns den Juden nicht
14 *
erlaubt — wie auffallend iſt dies Alles, und
doch hat man es dicht neben ſich!
Glücklich iſt Delphine zu nennen, denn nie¬
mals wird ihr die Religion irgend eine Aengſt¬
lichkeit verurſachen. Ein gewiſſes unbeſtimm¬
tes Dämmern des Gefühls muß für ſie ſchon
hinreichend ſein, die Nähe des Himmels zu
ſpüren. Sie braucht jene Stufenleiter von po¬
ſitiven Lehren und hiſtoriſchen Thatſachen nicht,
die die Chriſtin erſt erklimmen muß, um eine
Einſicht in das Weſen der Religion zu bekom¬
men. Wir ſind weit ſchwieriger in dieſem Be¬
tracht geſtellt und ſollten im Grunde, wenn
die Religion die Tugend befördert, weit weni¬
ger tugendhaft, als die Juden ſein; denn un¬
ſere Religion iſt ein ſo hoher Münſter, daß
man ihn zwar erſteigen, aber nicht zu jedem
Sims, zu jedem Vorſprunge, zu jedem Sei¬
tenthurme gelangen kann. Eins aber bemerk'
ich, was charakteriſtiſch iſt. Niemals könnt'
ich als Chriſtin über meine Religion zu Del¬
phinen ſprechen und ſie eine Verzweiflung über
meinen Glauben blicken laſſen. Es iſt dies
eine Schaam und ein Stolz, welcher unver¬
tilgbar in uns niedergelegt iſt, und die uns
nicht verlaſſen würde, ſelbſt wenn vom Chri¬
ſtenthum Alles in uns morſch geworden iſt.
Für chriſtliche Männer, welche widerſpän¬
ſtig gegen den Katechismus ſind, muß die Liebe
einer Jüdin von beſonderm Reize ſein. Sie
nehmen hier weder Bigottismus, noch eine Zer¬
riſſenheit, wie die meinige, in den Kauf, ſon¬
dern weiden ſich an der reinen, ungetrübten,
natürlichen Weiblichkeit, an einem ſinnlichen
Schmelz der Liebe, welcher die der Chriſtinnen
bei Weitem übertreffen ſoll. Bei einer Jüdin
reduzirt ſich Alles einſeitig auf ihre Liebe,
Rückſichten tauchen nirgends auf: ihre Liebe
iſt ganz pflanzenartiger Natur, orientaliſch,
wie eingeſchloſſen in das Treibhaus eines Ha¬
rems, der Alles erlaubt, jedes Spiel, jede
weibliche (aber wollüſtig-ergreifende) Gedan¬
kenloſigkeit, Alles, Alles: darum ſchwillt Del¬
phine von Liebe. Das Segel ihres Herzens
iſt niemals ſchlaff, ſondern immer aufgebläht,
rund und voll, immer auf rauſchender Fahrt.
Cäſar entdeckt, glaub' ich, in der Liebe zu
Jüdinnen noch einen andern Reiz. Er hat
eine ganz heilloſe Anſicht von der Ehe, und
will die letztere durchaus nicht als ein Inſti¬
tut der Kirche gelten laſſen. Das Sakrament
der Ehe iſt nach ſeiner Theorie die Liebe, nicht
des Prieſters Segen. Wie glücklich würde Cä¬
ſar ſein, wenn er je heirathete, es ohne kirch¬
liche Ceremonie thun zu dürfen!
Eine Ehe zwiſchen einer Jüdin und einem
Chriſten kann zwar nicht bei uns, aber in
andern Ländern geſchloſſen werden; natürlich
iſt dies eine Ehe ohne den chriſtlichen oder jü¬
diſchen Prieſter; es iſt eine rein civile Ehe
vor den Gerichten, ein Akt der geſelligen Ueber¬
einkunft. Ich glaube faſt, Cäſar könnte de߬
halb ſeine Neigung zu Delphinen ins Aeußerſte
treiben. Schon bemerk' ich, wie eifrig er
ſie ſucht.
Wie leichtſinnig bin ich geſtern über die
Abgründe meines Denkens hingewandelt! Ohne
weiteres konnt' ich mich damit beruhigen, dieſe
Zweifel an meinem Glauben hinzunehmen als
etwas, das ich mir längſt ſelbſt geſtanden habe,
und doch weiß ich aus meinem frühern Leben,
wie unglücklich ich war, daß ich über dieſe
Dinge nichts zu denken wagte. O wie mäch¬
tig iſt der Liebe Zauber! Ein männliches Herz,
das uns liebt, iſt der Wächter aller unſrer
Gedanken und muß die ſtille Verantwortung
deſſen tragen, was in der Seele des Weibes
Sünde und Empörung iſt. Wie ſicher fühl'
ich mich, ſelbſt im Entſetzlichſten, wenn ich
nur die warme Hand meines Freundes drücken
darf! Er nimmt Alles auf ſich: er iſt heiter
und lächelt und fürchtet nichts.
Wenn ich jetzt ſchon nicht ohne Zagen ſehe,
wie Cäſar ſich Delphinen immer mehr nähert,
wenn ich mir die grauſame Wirkung denke, die
ein Verhältniß zwiſchen beiden in mir Unglück¬
ſeligen hervorbrächte: was muß dann kommen,
wenn ich die Trümmer ſehe, welche ſich in
meiner Seele aufgehäuft haben! Die Unruhe,
über die Religion eine Anſicht zu haben, pei¬
nigt mich mehr als ſonſt. Sie hat eine ſolche,
jetzt zur Noth gedämmte Gewalt über mich, daß
ich glauben muß, die Wegnahme dieſes Dammes
der Liebe bringt eine Ueberfluthung in mir
hervor, welche ſelbſt den Schmerz über Cä¬
ſars Verluſt mit fortſchwemmt. Ich lebe und
ſterbe mit Cäſar. Leben kann ich nur mit
Cäſars Liebe. Sterben muß ich, nicht weil
Cäſar im Stande war, eine andre mir, ein
Mädchen einer Frau (ob er es wohl weiß,
eine Unberührte einer Unberührten) vorzuzie¬
hen, ſondern weil dann Alles in mir zuſam¬
menſinkt. Gott, ich glaube, faſt brauch' ich
Cäſar nur, um mich zu beſchäftigen und mei¬
nen Gedanken eine unſchädliche Richtung zu
geben. Er kömmt.
Nur die Erkenntniß iſt das Schwere. Das
Daſein Gottes ſelbſt bezweifeln, hieße den ge¬
genwärtigen Zuſtand meines Innern fortläug¬
nen. Würd' ich dieſe Mühe haben, wenn es
nicht in Wahrheit einen Gott gäbe! Das Re¬
ſultat des Atheismus war auch nie ein andres,
als daß er in ein Syſtem übergieng und zuletzt
ſelbſt eine Religion wurde. Konnt' es aber¬
gläubigere und bigottere Atheiſten geben, als
Chaumette, Anacharſis Cloots und Momoro
waren!
Der Atheismus eine Religion! Eine Iro¬
nie, die man ſataniſch nennen möchte! In
einer Reiſebeſchreibung las ich, daß einer der
erſten Gottesläugner der Revolution, Billaud-
Varennes, nachdem er auf ſeiner Flucht erſt
von der Dreſſur azoriſcher Papageien gelebt
hatte, dann in Amerika Prieſter wurde, unter
Indianer kam und zuletzt von ihnen als gött¬
liches Weſen verehrt wurde, er, der Gott ge¬
läugnet hatte!
Dieſe ſataniſchen Ironien reizen mich. Sollte
es möglich ſein, daß es noch einſt im Himmel
einen Gottesdienſt giebt! Das Chriſtenthum
(man leſe nur die Offenbarung Johannis) ge¬
fällt ſich in dieſem lächerlichen Widerſpruch,
als wenn Gott vor ſich ſelber Weihrauch ſtreuen
müſſe. Er etablirt im Himmel eine vollendete
Kirche mit Chören der Seligen und Altären,
auf welchen die Cherubim thronen. Göthe be¬
nutzte dieſe Maſchinerie für die Canoniſirung
ſeines Fauſt.
Aber was jag' ich nach ſolchen Bemerkun¬
gen! Sie haben freilich lindernde Kraft, aber
ich ſchäme mich, aus meinem Schmerze That¬
ſachen heraufzuwühlen und mich ſelbſt als einen
Gegenſtand meiner Leiden zu betrachten.
Wir ſollen Gott fürchten und lieben! Dies
eine Gebot untergräbt meine Ruhe; denn ich
kann es weder befolgen, noch mich anklagen
deßhalb, weil ich es nicht thue. Wir ſollen
Gott zürnen, heißt das Gebot meiner Welt¬
anſicht, welche eine unglückliche iſt und freilich
ſich nicht damit zufrieden giebt, daß jährlich
vier Jahreszeiten kommen und man im Früh¬
jahr Erdbeeren ißt, welche mit Zucker und Milch
ein ſo vortreffliches Surrogat der Vanille ſind.
Es iſt im Grunde nicht viel, was wir beſitzen
auf Erden. Wir werden geboren oft in den
elendeſten Verhältniſſen. Wir kriechen thieriſch
auf dem Boden und werden nur allmälig auf¬
gerichtet, wie Schlinggewächs an das Spalier
der Bildung. Noth, Mühſal verfolgt uns über¬
all; ſelten ein Genuß, der nicht durch eine
Anſtrengung erkauft iſt. Wir haben ſo viel mit
der Materie zu kämpfen. Wir wälzen einen
Stein wie Siſyphus den Berg hinauf; warum
müſſen wir es thun? Der Fluch, nicht der
Segen der Götter begleitet uns. Warum ſind
wir? O könnt' ich mir irgend einen er¬
weislichen Grund vorſtellen, warum dieſe Pla¬
neten im Weltſyſteme irren, warum wir auf
unſerm Planeten ſo armſelig und hülflos krie¬
chen müſſen? Was bezweckte Gott damit?
War dies eine Grille von ihm? Was kömmt
darauf an, ob das Gute oder Böſe in der
Weltordnung produzirt wird? Ich bin ſo un¬
glücklich. Ich weiß hierauf keine Antwort.
Die Fähigkeit, Fragen aufzuwerfen, ließ
Gott bei der Schöpfung oder bei der ewigen
Schöpfung, bei unſrer Geburt, ohne die ent¬
ſprechende Fähigkeit, auch Antwort darauf zu
geben. Dieſe Halbheit einer Gabe iſt ſo feind¬
ſelig. Gott duldete es, daß der Glaube an
ihn die Tagesordnung der Geſchichte wurde;
er duldete es, daß noch heute der Atheismus
wie das größte Verbrechen von den Völkern
behandelt wird. Nun, ich denke an Gott; aber
warum gab er uns nicht die Fähigkeit, ihn be¬
greifen zu können? Verlangt er die Folgen,
warum ließ er mich ohne die Vorausſetzungen?
Alle Nationen kommen darin überein, daß man
von Gott nichts wiſſen könne. Dann weiß ich
auch nicht, warum ſie an ihn glauben. Oder
es darf mich niemand tadeln, wenn ich denke,
die Exiſtenz Gottes anzunehmen, war eine ganz
äußerliche, politiſche und polizeiliche Ueberein¬
kunft der Völker. Denn warum haben wir
halbe Vernunft, halbe Erkenntniß, halben Geiſt?
Warum zu allem nur die Elemente? Und wir
ſind ſo vermeſſen, und bauen auf dieſen trüben
Boden Syſteme, welche den Schein der Vol¬
lendung tragen, und uns mit Verpflichtungen
willkürlich belaſten!
Und zuletzt der Tod! Dieſer Schrecken des
Tods! Die Krankheit mit ihrer unſäglichen
Hülfloſigkeit! Das allmälige Verſchwinden des
Bewußtſeins! Und dies Alles nicht einmal ſo
entſetzlich, als das Zunehmen an Jahren.
Jetzt bin ich zwanzig Jahre: welche Empfin¬
dungen werd' ich haben, wenn ich vierzig, fünf¬
zig bin, und es nun heißt: noch zehn, noch
fünf ſind die Wahrſcheinlichkeit! Dies iſt eine
ſo folternde Grauſamkeit des Schickſals, ein
ſolcher Fluch der menſchlichen Natur, daß ich
mich nie entſchließen kann, das Gebot der
Gottesliebe zu befolgen. Man gab uns Eini¬
ges und das Meiſte wurde uns verſagt. Das
Einzige, was wir in ſeiner ganzen Vollkom¬
menheit zu beſitzen ſcheinen, iſt die Fähigkeit,
unſern unglücklichen Zuſtand zu begreifen und
alle die Dinge zu nennen, welche wir vermiſ¬
ſen ſollen.
Gutzkow's Wally. 15
Ich habe mir ein merkwürdiges Buch ver¬
ſchafft, von dem ich einmal durch Cäſar hörte:
die Fragmente der Wolffenbüttler
Ungenannten, welche Leſſing herausgege¬
ben hat. Es liegt viel Puderſtaub auf dem Buche,
viel altfränkiſches Weſen; aber das hab' ich
abgewiſcht und mir von meiner Lektüre eine
ganz moderne Vorſtellung gemacht. Der Ver¬
faſſer ſoll ein ehemaliger Hamburger Arzt,
Reimarus, geweſen ſein. Die vollſtändige
Prüfung des Chriſtenthums ſteht in einem Glas¬
ſchranke auf der Hamburger Bibliothek. Sie
wollen das Buch nicht herausgeben. Sie fürch¬
ten, daß aus dem vergilbten Papiere jener
Kritik Motten fliegen, die das Chriſtenthum
ſelbſt anfreſſen. Warum Leſſing nur ſagt, daß
der Verfaſſer jener Fragmente Schmidt heiße!
Die Fragmente nehmen meine ganze Auf¬
merkſamkeit in Anſpruch. Ihr nüchterner, lei¬
denſchaftsloſer Ton erſchreckt das Gewiſſen nicht.
Ich leſe in der beſten Laune. Wie der Autor
die Bibel zerfleiſcht, wie er in den glatt geſchei¬
telten Mienen jener Fiſcher und Zöllner, welche
das Chriſtenthum predigten, den Schalk ent¬
deckt, denſelben Schalk, den der gottſelige Pie¬
tismus ſo oft im Nacken führt! Und doch jammert
mich's jener kindlichen, märchenhaften Sage,
die der Autor mit ſo vieler Gelehrſamkeit ver¬
nichtet! Nur Eines beſtimmt mich, ihm bei¬
zupflichten, der Hinblick auf das, was uns
umgiebt, auf unſre Prieſter, auf — ach! wie
hängt das Alles zuſammen! Aus jenem klei¬
nen chriſtlichen Senfkorn iſt ein ganzes Senf¬
pflaſter geworden, das der geſunden Vernunft
die brennendſten Blaſen zieht!
Ganz männlich werden meine Ausdrücke!
15 *
Und doch können die Fragmente nicht
befriedigen. Sie deuten auf eine Naturreli¬
gion, mit deren Vorausſetzungen ſich die heu¬
tige wiſſenſchaftliche Bildung kaum noch begnü¬
gen würde. Die Frage muß höher liegen. Sie
dringt dort nicht in das Innre der Chriſtus¬
lehre ein, ſie hält ſich nur an deren hiſtoriſche
Offenbarung. Ich ſuche Troſt. Wo? Wo?
Ich war gefaßt auf dieſe Eiſeskälte, mit
der mir Cäſar ſeinen Entſchluß anzeigt. Was
ich vermuthete iſt eingetroffen. Delphinens
Situation reizt ihn. Er wird um ihre Hand
bitten. Die Eltern ſind ohne Vorurtheile und
ich werde ihn verloren haben. Ich bin ruhig.
Ich habe keine Thränen für dieſen Verluſt.
Ich bin in einer fürchterlichen Seelenſtimmung.
Iſt dies nicht ein neuer Fluch des Himmels?
O jetzt ſind mir die Blitze des Schickſals will¬
kommen, denn die Donner welche ihnen nach¬
rollen, wecken mich immer mehr aus der dum¬
pfen Betäubung meiner Gedanken. Ich muß
Licht haben, Aufſchluß, Einſicht! Ich denke
an Cäſar nicht mehr. Ich will wiſſen, erken¬
nen. Warum? Wozu? O, das ſah' ich Alles
voraus.
Ich bin krank, ich fühl' es. Sollte das
auf ein Zunehmen deuten? Iſt auch im
Geiſtigen wie im Körper Wachsthum eine
Krankheit?
Glückliche Naivetät der vergangenen Zeiten!
Ich komme von einer Ausſtellung alter Ge¬
mälde. Auf vielen, die Transfigurationen und
Glorien der Heiligen vorſtellen, ſah' ich Engel,
welche die Geige ſpielten. Dies würde mir
weniger auffallend geweſen ſein, wenn ſie es
nicht nach Noten gethan hätten.
Und doch gleicht die Malerei ſelbſt, die
Kunſt, dieſe Lächerlichkeit aus. Die Poeſie
würde es nicht können. Die Poeſie hat dieſe
Einfachheit nicht; ſie würde ſolche Anomalien
immer nur als Traveſtie geben.
Und wie entwürdigt ſie ſich, wenn ſie es
thut! Man ſollte den Spott über das Hei¬
lige, das Wühlen der Miſtkäfer in duftenden
Blumen, bitter verfolgen, auch die Freigeiſter
ſollten es; ſie, die alle Sorge tragen müſſen,
nicht mit den Spöttern verwechſelt zu werden.
Es würde mir viel leichter werden, den
göttlichen Begriffen mit Sicherheit nachzuhän¬
gen, wenn ich vom Nichts eine Vorſtellung
feſthalten könnte. Aber dies iſt unmöglich. Ich
habe ſchon früh an dieſer Verzweiflung gelit¬
ten. Ich wollte ſchon als Kind mir zuwei¬
len Alles wegdenken, was ich ſahe und denken
konnte, Europa, Aſien, Afrika, die ganze Erde,
den Himmel, alle Schöpfung, und dann war
es immer, als ſtürzt' ich von einer uner¬
meßlichen Höhe ins Leere hinunter und fiel
ohne Aufenthalt. Faſt möcht' ich ſagen,
ich bin ſeither mit Eindrücken beladener und
es würde mir ſchwieriger ſein, als ehemals,
eine ſolche Vorſtellung des Nichts zu fixiren.
Ach das hohle, weite Chaos, dieſe dumpfe
Leere, worin das Nichts unſichtbar ſchlummert!
Und Gott, der dieſes Nichts ſelbſt iſt, nämlich
daſſelbe Nichts, das ſpäter doch ein Etwas
wurde! Gott, der in dem Nichts iſt, und
doch wiederum auch in dem Etwas nicht ſein
ſoll, weil dies die Welt ſelbſt vergöttern heißen
würde! Der pantheiſtiſche Gedanke widerſtrebt
mir, und ich glaube, Frauen werden ihn nie¬
mals hegen können, weil ſie durch ſich ſelbſt
ſchon gewohnt ſind, alle Dinge in aktive und
paſſive einzutheilen. Wir werden immer an¬
thropomorphiſche Ideen haben; das Chriſten¬
thum unterſtützt uns darin. Die Vorſtellung
eines über uns thronenden Werkmeiſters iſt ein
Bedürfniß, das unſere Phantaſie immer geltend
machen wird. Jedes Andre, ach, Alles, Alles
iſt uns verſchloſſen.
Cäſar wird in Ländern wohnen, wo das
franzöſiſche Recht herrſcht. Er iſt glücklich,
ſich ohne die Kirche verheirathen zu dürfen.
Eine bürgerliche Verbindung wird zwiſchen ihm
und Delphinen ſtattfinden. Wenn er nur mei¬
nen Zuſtand ſchonte! Aber er kennt ihn nicht.
Wüßte er, wie mich ſeine leichte Manier über
die Religion ſo tief verwundet! Das Pein¬
lichſte iſt dies, daß er ſich öfter das Anſehen
giebt, als ließen ſich einige Wahrheiten ſogar
im chriſtlichen Glauben unumſtößlich beweiſen.
Dann thut er's und beginnt über die ſchwierig¬
ſten Punkte Entwickelungen, welche er mit ern¬
ſter Miene durchführt und wenn er zu Ende
iſt, für phantaſtiſchen Witz erklärt. So be¬
gann er neulich folgende Auseinanderſetzung
der chriſtlichen Lehre von der Dreieinigkeit,
eines Begriffes, den ich noch gar nicht an¬
rührte, weil ich mit ſeinen Prämiſſen noch nicht
im Reinen bin. Er ſagte: Die bloße Vater¬
ſchaft Gottes iſt relativ, ſie iſt unerkennbar,
oder, wie Jakob Böhme geſagt hat, ein dun¬
kles Thal. Licht und Erkenntniß kömmt erſt
durch den Sohn. Beide dürfen nicht iſolirt
gedacht werden, ihre Ergänzung, ihre Wech¬
ſelſeitigkeit iſt der heilige Geiſt. Gott als das
bloße Alles oder das bloße Nichts iſt uner¬
kennbar. Gott muß ſich etwas gegenüber ſtel¬
len, einen Schatten ſeiner ſelbſt, er mußte ſich
negiren aus ſeiner Ruhe heraus und ſchuf die
Natur. Die Natur iſt nicht Gott, denn dann
müßte die Natur ein Zuſtand ſein. Nein, die
Natur iſt eine Thätigkeit Gottes und alles in
Gott Thätige, auf die Außenwelt Bezügliche,
iſt in ihm das Engliſche. Die Engel ſind die
Herolde des göttlichen Willens, und ihre Zahl
iſt ſo unendlich, wie, faſt möchte man ſagen,
die Atome der Welt. Die Engel wohnten ur¬
ſprünglich in Gott; denn ſeine Thätigkeit iſt
ſeinem Sein immanent. Darum mußten die
Engel auch gut ſein urſprünglich. Luzifer aber
empört ſich, Luzifer, der Lichtbringer, der die
Finſterniß erhellt. Dies Empören iſt eine
Thätigkeit Gottes, das heißt Gott wird das
Gegentheil ſeiner ſelbſt, Gott wird Satan.
Ja, die Natur iſt Teufel, dieſelbe Natur,
welche für Gott durchaus nicht vorhanden iſt,
da ſie nur ſein Athem iſt. Die Natur vor
Gott iſt ſo, als wäre ſie nicht. Vor Gott giebt
es auch einen Teufel, als gäb' es ihn nicht.
Je höher bei dem Einen oder Andern das phi¬
loſophiſche Bewußtſein iſt, deſto weniger exi¬
ſtirt für ihn auch der Teufel. Im Chriſten¬
thum iſt der Teufel ideell gänzlich ausgetrie¬
ben, denn Gott ſonderte die menſchliche Indi¬
vidualität von der Natur ab, und gab dieſer
in ſeinem Sohne eine eigne Offenbarung. Gott
wollte den Widerſpruch ſeiner ſelbſt durch ſich
ſelbſt ſtrafen und an ſich ſeinen eigenen Pro¬
ceß büßen laſſen. Er wurde gekreuzigt und es
herrſcht hinfort nicht mehr Gott, nicht mehr
Satan, nicht mehr der Menſch, nicht mehr
die Natur, ſondern das Reich des Geiſtes, der
Freiheit und der Wahrheit.
Was hatt' ich nun von dieſer Improviſa¬
tion! Mit einer Art von komiſchem Atheismus
ſchloß Cäſar ſeine myſtiſche Deduktion, welche
Menſchen von größerer Einbildungskraft, als
ich beſitze, viel Beruhigung gewähren mag. Ich
ſoll ſchon an den Sohn glauben, und bin noch
mit dem Vater unbekannt.
Ich habe mich drei Wochen lang täglich in
Vergnügungen berauſcht. Ich mußte der Welt
zeigen, daß ich Cäſars Entfernung ertragen
kann, ich mußte es mir ſelbſt zeigen. Aber es
erquickt mich nichts mehr. Cäſars Liebe war
die ſchönſte Zerſtreuung meiner unglücklichen
Seelenſtimmung. Ich ſinke immer tiefer in
Nacht und Verzweiflung. Man erkennt mich
nicht wieder. Oft bin ich ſo von Wehmuth
aufgelöſt, daß ich in die Kammer ſtürze, wo
die Erinnerungen meiner erſten Kindheit auf¬
bewahrt liegen. Ich räumte auf in der Ver¬
wirrung, um mich zu zerſtreuen. Ein Stilet
fiel mir in die Hand. Wie mag das hierher
gekommen ſein?
Ich glaube, Cäſar müßte ſich ſchämen,
noch zu leben, wenn er keine Auskunft geben
kann. Seine Scherze verdecken nur eine Ueber¬
zeugung, die vielleicht folgerichtig iſt. Ich
habe ihm geſchrieben, ſie auch mir zu geben.
In Heidelberg muß ihn mein Brief treffen;
er wird ſich ſogleich hinſetzen, um mir, ich
hab' ihm die Hand auf's Herz gelegt und ihn
feierlichſt beſchworen, ſeine ernſthafte Meinung
über Religion und Chriſtenthum zu ſagen. Ich
zittre, wenn ſeine Darſtellung einläuft.
Das Stilet gehörte meinem Bruder, der
in demſelben Alter geſtorben iſt, in welchem ich
mich jetzt befinde.
Cäſar ſagte mir oft, als Kind hab' er ſich
fortwährend damit geängſtigt, daß er keines
natürlichen Todes ſterben würde. Die Kata¬
ſtrophe des jungen Sand hätte zu ſeiner Zeit
alle jungen Köpfe auf den Gedanken gebracht,
daß ſie ihnen auch einſt abgeſchlagen würden.
Keiner, ſagte er, glaubte ſo würdig zu ſein,
wie Sand, und keiner glaubte deßhalb auch,
auf einen milderen Tod rechnen zu dürfen,
als Sand. Er geſtand mir mit eiſigem Grauen,
daß er oft Stunden lang heimlich mit ent¬
blößtem Halſe geſeſſen und ſich in die Illu¬
ſion des Schaffots hineingedacht habe, daß ihm
die Thränen gefloſſen ſeien, aus Verzweiflung,
ſo ſterben zu müſſen. Es war immer ein
wehmüthiges, liebes Lächeln, das bei ſolchen
Geſtändniſſen auf ſeinen Lippen lag. O Gott!
ich vergeſſ' ihn nicht. Für Alles brauch' ich
ihn. Er ſoll mir zu Allem Beweiſe geben!
Ich leſe das Buch: Rahel; aber nur
in Bruchſtücken. Viel davon auf einmal ver¬
wirrt den Kopf; nicht deßhalb, weil das
Buch abſolut ſchwer wäre, ſondern relativ
ſchwer iſt es, in Beziehung auf Rahel, die
ſich das Denken ſo ſchwer machte. Ich
glaube, daß dieſe Frau unter Denken ver¬
ſtanden hat, die Dinge immer von der ver¬
kehrten Seite anfaſſen oder doch von der
entgegengeſetzten, gegenüber dem gewöhnlichen
Wege. Sie gräbt ſich wie ein Maulwurf
in die Ideen ein, und bezeichnet dann und
wann ihre Reſultate durch kleine aufgewor¬
fene Hügel, die nichts ſagen, nämlich nichts
Poſitives, die nur Wahrzeichen ſind, daß hier
etwas war, was wie ein Gedanke war und
was ſo leicht wieder vergeſſen iſt! Wie reich
iſt dieſe Frau an Philoſophie und objektiver
Vergeßlichkeit! Man hat ſo wenig in ihrem
Gutzkow's Wally. 16
Buche, und doch glaubt man, wenn man es
zuſchlägt, Alles zu haben. Dann ſeh' ich
recht, wie nur die Männer im Stande ſind, zu
produziren, auch Gedanken.
Bettina! — Spielerei — alte Gedanken;
nur klaſſiſche, neue Formen. So ſprechen,
gehen, laufen, eſſen, trinken, ſchlafen, handeln
— wie es Einem gerad' einfällt? Ich konnt'
es einmal; jetzt nicht mehr. Bettina hatte ſo
lange freien Willen, ſich ein Geſetz zu ſchaf¬
fen; und nun ſo alt, und noch immer kein
Geſetz! Ihr Buch iſt ungereimte Poeſie. Ein
freies Weib iſt nur erträglich mit Speku¬
lation.
16 *
Wieder wie Jakob einen Zug aus dem
Rahelbrunnen gethan. Aber es iſt immer
nur Lea, die man erhält, niemals Rahel. Ra¬
hel ſitzt hinter den zweimal ſieben Jahren und
flicht ihren Freiern Körbe. Man glaubt eine
Prieſterin mit Weiſſagung in ihr zu finden, und
wird doch von ihr nur angeregt, oder vielmehr
nur herausgeriſſen aus dem alten Kreiſe ſei¬
ner Vorſtellungen. Es iſt furchterregend, eine
Frau die Gegenſtände ſo dämoniſch-linkiſch an¬
faſſen zu ſehen. Will ſie es nur anders ma¬
chen, als die Andern? Oder wurde ihr dieſe
Originalität angeboren? Sie giebt nirgends
nach, ſie iſt raſtlos in ihren Beſtrebungen, die
verſchiedenen Seiten der Wahrheit zu entdecken
und konnte nicht anders enden, als entweder in
einem Wahnſinn, der ſich mit der Bewegung
im Tretrade vergleichen läßt, oder als Anhän¬
gerin des Pietismus. Man iſt in keiner Si¬
tuation übertäubter, als bei'm Untertauchen.
Pietismus aber iſt die Fähigkeit, leben zu
können, ſelbſt wenn man Waſſer im Ohre
hat.
Dieſer ruhige, verſtändige Ton, in wel¬
chem ich mich oft Tage lang erhalten kann,
wird mir oft ſo unheimlich, daß ich vor mir
ſelbſt erſchrecke. Sollte es Menſchen geben
können, die wie Vernünftige ſprechen, und doch
wahnſinnig ſind? Cäſar erzählte mir einſt
eine Geſchichte, die er wahrſcheinlich, wie
Vieles dergleichen, nur ſeiner Einbildungs¬
kraft verdankt. Sie paßt auf meinen Zu¬
ſtand. Kann ich ſie noch?
Es war um die zwölfte Stunde, als Al¬
fred von ſeinem Lager auffuhr und über das
matte Flackern der Lampe erſchrak, die er
zu löſchen vergeſſen hatte. Eine Zeit lang ſaß
er mit halbaufgerichtetem Körper — —
Wörtlich ſeine Worte wiederzugeben iſt
ſchwer. Ich ſuche in meinen Papieren, viel¬
leicht find' ich die Geſchichte, die er mir
einſt, von ſeiner eigenen Hand geſchrieben,
ſchenkte.
Hier iſt ſie:
Es war um die zwölfte Stunde, als Al¬
fred von ſeinem Lager auffuhr. Noch flak¬
kerte die Lampe, welche er zu löſchen vergeſ¬
ſen hatte, und zog, wie ſie größer oder
ſchwächer wurde, wolkige Kreiſe an den Wän¬
den ſeines Zimmers. Eine Zeit lang ſaß er
mit halbaufgerichtetem Körper im Bette und
verfolgte dies geſpenſtiſche Spiel an den ſtum¬
men Wänden. Er ſuchte nach einem Gegen¬
ſtand für dies Bild: er mußte an die Welt
denken, welche draußen ſchlummerte, und dachte
zuerſt an Julien.
Meine Julie! ſprach er ſtill vor ſich hin,
und erhob ſich dann etwas feierlich und me¬
chaniſch von ſeinem Bette. Er hörte die Uhr
picken, die auf dem Tiſche vor dem Spiegel
ſtand. Er ſahe ſich ſelbſt im Spiegel mit
bleichen, geiſterhaften Zügen und mit Augen,
welche wie geſchloſſen ſchienen. Dann ſaß er
auf dem Seſſel vor'm Bett, und hatte ſich,
ohne es zu wollen, angekleidet.
Ich werde vor Juliens Fenſter gehen und
den Vorhang wegheben! flüſterte er vor ſich
hin, aber nur wie zum Scherz, denn Julie
wohnte im dritten Stock. Doch gieng er.
Die Straßen waren ſtill und öde. Man
ſieht auf ihnen Niemand, auch Alfreden nicht.
Wo geht er nur? Aber es iſt dunkel, der
Mond liegt hinter Wolken, man kann Alfred
nicht ſehen.
Alfred ſtand vor dem Hauſe Juliens, ja
er hätte ſchwören mögen, daß er vor ihrem
Fenſter ſtand, das im dritten Stocke lag.
Es iſt nicht möglich, flüſterten ſeine Ge¬
danken; ſie wohnt im dritten Stock; obſchon
ein kleines Vordach vor dem Fenſter liegt,
das Moos und Hauslauf anzuſetzen pflegt.
Die arme Julie! Ich werde fleißiger ſein,
ſie muß künftig im zweiten Stock wohnen!
Jetzt war es Alfred, als drückte er an dem
Fenſter; aber es widerſtand. Es war ihm,
als klopfte er; aber hinter dem weißen Rou¬
leau brach ſich der Schall. Er mußte lächeln
über ſeine lebhafte Einbildungskraft.
Wie! dachte er, wenn du ins Haus trittſt,
die zwei Stiegen hinaufſchleichſt und an ihre
Kammerthür pochteſt.
Aber dann mußte er durch des Nachbars
Haus, das ihm offen zu ſtehen ſchien, mußte
über den Garten- und Hofzaun klettern und
von dort einzudringen ſuchen.
Und das Alles gelang vortrefflich. Er
ſtand jetzt gleichſam höher als Juliens Woh¬
nung war, was er ſich nicht erklären konnte.
Da blendete ihn ein Lichtſtrahl; ein ſchnur¬
render Laut ließ ſich hören. Julie hatte das
Rouleau aufgezogen, ſie ſtand im Nachthäub¬
chen und mit bloßen Schultern am Fenſter,
das ſie öffnete.
Alfred war nun dicht vor ihr. Was iſt
ihr nur? dachte er; ſie erſchrickt, ſie öffnet
den Mund, als wollte ſie um Hülfe rufen;
was zitterſt du, mich zu erkennen, Julie?
Alfred! ſchrie es durch die ſtille Nachtluft.
Alfred aber lag unten mit zerſchmettertem
Körper auf dem Pflaſter der Straße. Alfred
war ein Nachtwandler. Julie glaubte nichts
geſehen zu haben, als Alfred todt war. Sie
legte ſich wieder in ihr weißes, weiches Bett
und träumte von ihm. Am Morgen erfuhr
ſie Alles. Sie lebt noch, aber kümmerlich;
die Thränen zehren ſie auf.
Cäſar hat noch immer nicht geſchrieben;
doch wird ſein Brief deſto ausführlicher ſein.
Einſtweilen hab' ich etwas Beruhigung erhal¬
ten durch eine Maxime, die empfehlenswerth
iſt. Das luftige Traumbild des Somnambu¬
lismus hat mich geſtern darauf gebracht. Näm¬
lich, man nehme einen recht hohen Standpunkt,
einen kosmiſchen oder planetariſchen, wie ich
ihn nennen möchte. Man thue und laſſe nichts,
ohne ſich im Zuſammenhang der Weltordnung
zu fühlen. Ich denke, wo ich gehe und ſtehe,
an die Beziehungen der übrigen Himmelskör¬
per zur Erde und abſtrahire von Allem, was
über dieſem kleinen Erdball geſchieht, auf das
Univerſum, das Niemand läugnen kann. Und
nicht blos im Allgemeinen, ſondern ganz im
Detail, wie man ißt und ſchläft. Bei jedem
Spaziergange richt' ich den Blick gen Him¬
mel und forſche in dem blauen Meere nach
den verſunkenen Sternen, die die Nacht erſt
ſichtbar macht. Ich fühle, wie die Erde un¬
ter meinen Füßen kreiſt und ich gleichſam nur
auf ihr ſtationirt bin, ſonſt aber dem Allge¬
meinen angehöre. Wie vielen Stolz das giebt!
Ich habe jetzt einen Begriff von der Ruhe des
Weiſen. Ihn kann nichts erſchüttern, denn
er hört die Planeten rauſchen und fühlt ſich
als Glied einer großen Weſenkette. O, viel¬
leicht iſt noch Hülfe für mich! Ich fange an,
mir die Möglichkeit einer zufriedenen Stimmung
zu denken.
Jetzt weiß ich, wie in Indien die Bonzen
ihre Büßungen möglich machen. Die Abſtrac¬
tion hebt ihren Stolz; aber ſie würden es nicht
aushalten können, wenn nicht die Erde für ſie
gleichſam verſchwände und ſie nichts übrig be¬
hielten, als den geſtirnten Himmel und das
Gefühl der großen Weſenkette. Ich müßte in
die Einſamkeit ziehen. Wenn mich nur Eines
nicht verfolgte! Nämlich die Natur und das
Grün. Das Sideriſche und Telluriſche im
Menſchen bekämpfen ſich, und wer poetiſche
Stimmungen hat, wird immer der Erde unter¬
liegen. Das Meer, Gebirge und Ströme wir¬
ken noch immer ſideriſch auf uns; denn ſie ſind
das Rückgrat und die großen Zellgewebe der
Erde, und veranſchaulichen die Kugel. Aber
das Peinigende iſt die ſtille Nachbarſchaft der
Blume, die Beſcheidenheit der Idylle, die kleine
Exiſtenz mit ihren Kornährenkränzen und Abend¬
glocken und Alles, was ſo nahe zu unſerm Her¬
zen ſpricht, die Offenbarung Gottes, die wir
flüſtern zu hören glauben, dieſe große That¬
ſache, die entweder Täuſchung oder Wahrheit,
und in beiden Fällen unenthüllbar iſt. Das
Irdiſche faßt uns wie im Strudel und reißt
uns hinunter in den bodenloſen Abgrund, von
wo keine Wiederkunft.
Ich las nun Alles, was ich ſchrieb und
zittre, daß ich kaum geſchrieben habe, was ich
wollte. Eines iſt auch ganz unmöglich, ge¬
ſchrieben zu werden: die Verzweiflung und das
Gräßliche. Nämlich jene grauſamen, blutſau¬
genden Träume, die mich wachendes Auges über¬
fallen und mich hinausſtoßen in eine hohnla¬
chende, von gräßlichen, unnennbaren Dingen
drappirte Welt. Wie combinir' ich! Was für
Dinge kommen mir vor die Augen! Ich
zittre, während mein Puls ganz richtig und
mediziniſch ſchlägt. Muß ich ſterben, was
verbrach ich, daß mir Raben erſcheinen müſ¬
ſen? Ich ſehe eine ſchwarze Halle und einen
weiten Sarg. Ein Rumpf fällt von der
Decke, wo eine Oeffnung, hinunter in den
Gutzkow's Wally. 17
Sarg und den nachſtürzenden Kopf greift un¬
ſer Arzt auf. Oben muß das Schaffot ſein. Der
Mann drückt das blutige Haupt ſtürmiſch auf
den rauchenden Körper, paßt Fuge auf Fuge,
Ader auf Ader, und legt einen Silberreifen
um die gierig zuſammenklaffenden Fleiſchrän¬
der beider Theile. Er dreht ſich um, und
Leben, galvaniſches Leben regt ſich in dem
Körper und der Leichnam erhebt ſich, ein
blaſſer, ſchöner Jüngling und ſchleicht zur
Pforte hinaus. Dort, dort — eine grüne
Flur — ein Mädchen, das Roſen bricht und
im Schatten der Allee ausruht. Ein bleiches,
geſpenſtiſches Bild ſchleicht zu ihr heran, ſpricht
nicht, ſondern lächelt. Sie umarmt ihn, ſie
ſcherzt, ſie lacht; er hat auf ſich warten laſ¬
ſen, er ſei untreu, er gehe zu Doris, er gehe
zu Galathee, du Lieber! Und ſie küßt ſei¬
nen blaſſen Mund — O, röchelt er, drücke
nicht! Doch ſie hört nicht, ſie drückt, der
Reifen ſpringt — Herr Jeſus, was geht
mit mir vor! —
17 *
Hier brach Wallys Tagebuch auf längre
Zeit ab. Sie bekam inzwiſchen das ihr von
Cäſar verſprochene Glaubensbekenntniß. Es
war in das Tagebuch eingeheftet und lautete
folgendermaßen.
Geſtändniſſe
über
Religion und Chriſtenthum.
Ich will über den Glauben der Völker ſpre¬
chen. Aus dem melancholiſchen Schweigen des
Heidelberger Schloſſes hol' ich mir abendlich
die Geheimniſſe jener frommen Naturreligion,
für die ich glühe. Alles Hiſtoriſche aber, was
ich zu fixiren habe, knüpf' ich an jene kleine
Herberge jenſeits des Neckar an, wo Luther
auf der Reiſe nach Worms ſein Frühſtück zu
berichtigen vergeſſen haben ſoll, ein Frühſtück,
das der Proteſtantismus dem Katholicismus ſo
theuer hat bezahlen müſſen.
Religion iſt Verzweiflung am Weltzweck. Wü߬
te die Menſchheit, wohin ihre Leiden und Freu¬
den tendiren, wüßte ſie ein ſichtbares Ziel ihrer
Anſtrengungen, einen Erklärungsgrund für dies
wirre Durcheinander der Intereſſen, für die
Tapezierung des Firmaments, für die wechſelnde
Natur, für Froſt, Hitze, Regen, Hagel, Blitz
und Donner; ſie würde an keinen Gott glau¬
ben. In progreſſiver Entwicklung folgt hier¬
aus dreierlei: Der natürliche Urſprung der Re¬
ligion, die Accomodation der göttlichen Begriffe
an den jedesmaligen Bildungsgrad, und zuletzt
die Unmöglichkeit hiſtoriſcher Religionen bei ſtei¬
gender Aufklärung.
Dem Begriffe Offenbarung läßt ſich viel¬
leicht eine philoſophiſche Unterlage geben, pan¬
theiſtiſcher Art; aber im herkömmlichen theo¬
logiſchen Sinne iſt die Offenbarung eine Ver¬
fälſchung der Natur und der Geſchichte. Eine
ſaubre Inſinuation, ſich Gott als Prieſter zu
denken, der im ſchwarzen Talare zu dem erſten
Menſchenpaar hinzugetreten wäre, und ihm Un¬
terricht gegeben hätte in glaublichen und un¬
glaublichen Dingen! Sie machen aus Gott
einen Souverän, einen Patriarchen, einen Geiſt¬
lichen. Sie laſſen Gott in ſehr unvollkommnen
Sprachen reden, zu Zeiten, wo es an ſtyliſti¬
ſcher Vollkommenheit noch überall fehlte. Nie¬
mand war in dieſen anthropomorphiſtiſchen Con¬
ſequenzen einer ſupernaturellen Offenbarung kek¬
ker, als die Apoſtel Jeſu; denn: alle Schrift
von Gott eingegeben heißt: in der Lehre
von der Inſpiration Gott zum Mitſchuldigen
aller der Solöcismen und incorrekten Con¬
ſtruktionen machen, welche ſich im griechiſchen
Texte des neuen Teſtamentes finden. Gewiſſe
Kapitel gibt es in den dogmatiſchen Syſtemen
unſrer Theologen, die ſich beſſer für Grimm's
Kindermärchen oder Tauſend und eine Nacht
ſchicken würden. Dazu gehören die criminaliſch
ſtrafbaren Dogmen von der Offenbarung und
Inſpiration.
Je naiver die Völker ſind, deſto ſinnlicher
und äußerlicher ihre Begriffe vom Weltzwecke:
je gebildeter jene, deſto geheimnißreicher dieſe.
Die Verwechſelung endlicher und unendlicher
Urſachen der Weltregierung lag nahe und ſo
kam es, daß das Alterthum ſo viel Hiſtoriſches
in Myſtiſches, Myſtiſches wieder in Himmliſches
verwandelte. Der Naturmenſch verſteht die
Welt nur ſo weit, wie ſein Auge reicht. Al¬
les, was über den Sehkreis ſeiner ſinnlichen
Vorſtellungen hinausliegt, ſcheint ihm die er¬
klärende Veranlaſſung der Unerklärlichkeiten zu
ſein, die ihn in nächſter Nähe umgeben. Da¬
her die zahlloſen Details im Glauben der alten
Völker: daher die Uebertreibungen der Phan¬
taſie, das Ungeheure in Zahlen und Formbil¬
dungen. Die alten Religionen ſind ſo aus¬
ſchweifend, wie Alles, was man, ich ſage nicht,
nicht kennt, ſondern wie Alles, das man noch
nicht geſehen hat. In dieſen Unförmlichkeiten
Entſtellungen alter Ueberlieferungen zu finden,
einfache aber tiefſinnige Keime einer urweltlichen
Offenbarung, oder auch nur eines heiligen, from¬
men und ſimpeln Zeitalters: das heißt von ei¬
ner kindiſchen Anſicht, die wir ſchon erwähnten,
nur eine ernſthafte Anwendung machen.
Das klaſſiſche Alterthum hatte den ſchönſten
Ausdruck für das religiöſe Prinzip der alten
Welt: Religion iſt Alles, was man entweder
ſelbſt nicht iſt, oder nicht kennt. Die Griechen,
mit ihren öſtlichen Ahnen und deren architekto¬
niſchen Vorſtudien der vollendeten heidniſchen
Idee, die Griechen ſetzten die Religion in die
Kunſt, ſie ſetzten ſie in das, was im Ungewiſſen
immer das Gewiſſe iſt, in das Maaß aller Dinge,
in den Menſchen. Man konnte eine einſeitige
Idee nicht ſchöner ausdrücken, und konnte doch
zu gleicher Zeit nicht tiefer ſinken. Wenn die
Menſchheit nach dem Ebenbilde Gottes geſchaf¬
fen iſt, ſo war ſie jetzt da wieder angekommen,
von wo ſie ausging. Wir werden uns, ſo lange
die Erde kreiſt, in Cirkeln bewegen. Hier war
ein Cirkel, deſſen Anfang ſich in ſein Ende
zurückbog.
Wäre das Heidenthum ohne Cultus gewe¬
ſen, warum hatte die Menſchheit nicht an ihm
Genüge finden ſollen? Aber die Prieſter der
Religionen pflegen immer diejenigen zu ſein,
welche ihre Religionen ſelbſt untergraben. Könn¬
ten ſich die Religionen von Gebräuchen, Aeuſ¬
ſerlichkeiten, von der Zudringlichkeit ihrer be¬
rufenen und verordneten Diener frei erhalten,
ſo würden ſie eine längere Dauer in Anſpruch
nehmen dürfen. Das Heidenthum war Poeſie
und bildende Kunſt, war Veredlung der Sinn¬
lichkeit, war Geſtaltung der rohen Materie;
Julian, der Apoſtat, fühlte es wohl, daß die
Götter Griechenlands einen Mann von Geſchmack
befriedigen konnten. Das Heidenthum war to¬
lerant. Es war die friedfertigſte Religion von
der Welt, ſo lange ſie nicht nöthig hatte, um
ihre Exiſtenz zu kämpfen. Das Heidenthum
wurde blutig, verfolgungsſüchtig, ich möchte
ſagen, chriſtlich erſt da, als ein ſonderbarer
Aberglauben zur Aufwiegelung der Völker ge¬
predigt wurde, als ſich gleißneriſche Frömm¬
ler in die Gemächer der Fürſtinnen ſchlichen
und eine Gottesherrſchaft, eine Religion, die
nicht Friede, ſondern das Schwert brachte, eine
politiſche Revolution zu verbreiten ſuchten. Der
Urſprung dieſes Ereigniſſes kam aber auf Fol¬
gendes zurück.
In Judäa, einem ſehr barokken Lande,
trat ein junger Mann, Namens Jeſus, auf,
der durch eine bedenkliche Verwirrung ſeiner
Ideen auf den Glauben kam, er ſei ſchon ſei¬
nen Vorfahren als Befreier der Nation, der er
angehörte, verkündigt worden. Jeſus war aus
Nazareth gebürtig, unehelichen Urſprungs,
Stiefſohn eines braven Zimmermanns, Namens
Joſeph. Jeſus beſchäftigte ſich viel mit den
Schriften der jüdiſchen Literatur, reiſte, unter¬
richtete ſich, und ſtrebte mit edler Selbſtüber¬
windung nach einer ſtoiſchen Sittenreinheit. Je¬
ſus fühlte, daß eine Miſſion an ſein Herz pochte.
Es war ihm, als müßte er einen Auftrag er¬
füllen, über den er Zeit ſeines Lebens nicht im
Klaren war. Er adoptirte den Glauben an
einen verheißenen König, der ſeine eitle Nation
zur Herrſcherin der Welt machen würde: er
erſchrack aber ſelbſt vor dieſer übermüthigen
Verheißung, welche einer wahren Idee Gottes
gänzlich unwürdig war. Jeſus wußte ſelbſt da
noch nicht, wohinaus, als er die erſten unbe¬
ſonnenen Schritte gethan, als er ſeinen Freund
Johannes auf Kundſchaft und Prüfung der
Menge vorausgeſandt hatte; er wurde Rabbi,
ein erlaubter Volkslehrer, er nahm Schüler zu
ſich, er predigte Buße und gottſeligen Wandel,
predigte das reine, das Urjudenthum des Mo¬
ſes, er nannte ſich Meſſias und ſtritt nirgends
gegen die falſche Auslegung ſeiner Abſicht, nir¬
gends gegen die Begriffe, welche man in Judäa
mit dem Meſſias verband. Nicht einmal des
Römiſchen Joches erwähnte Jeſus; er ſcheint
gefühlt zu haben, daß der Meſſias nur eine
theologiſche Bedeutung haben könne, und rich¬
tete doch ſeine Invektiven gegen die politiſche
Verfaſſung in Jeruſalem, gegen den hohen Rath
und gegen Prieſter, die er einer zu ihren From¬
men falſchen Auslegung der alten Bücher be¬
züchtigte. Inzwiſchen mehrte ſich die Unruhe,
Jeſus zog mit Tauſenden durch das Land, hielt
einen gewaltſamen Einzug in Jeruſalem, ver¬
griff ſich thätlich an dem Tempel, dem Natio¬
nalheiligthume der Juden, und fiel als ein
Opfer ſeiner falſchen Berechnung und innerli¬
chen Unklarheit. Er hatte dem trägen Volke
Energie zugetraut: es verließ ihn, wie Thomas
Müntzern, als er keine Wunder thun konnte,
wie zahlloſe Revolutionäre alter und neuer Zeit,
da ſie die Hülfe nicht brachten, die ſie verſpra¬
chen. Jeſus wurde gekreuzigt. „Mein Gott,
warum haſt du mich verlaſſen?“ rief er und
ſtarb. Jeſus war nicht der größte, aber der
edelſte Menſch, deſſen Namen die Geſchichte auf¬
bewahrt hat.
Dies iſt der hiſtoriſche Kern eines Ereig¬
niſſes, aus welchem ſpätere Zeiten ein epiſches
Gedicht machten mit Wundern und einer ganz
fabelhaften Göttermaſchinerie. Eine kleine Anek¬
dote wurde welthiſtoriſch. Die franzöſiſche Re¬
volution hinterließ eine Menge von politiſchen
Wahrheiten, welche im Anſehen geblieben ſind,
ſelbſt wenn jene weniger glücklich von Statten
gegangen wäre. So kam es auch, daß die verun¬
glückte Revolution des Schwärmers Jeſu etwas
zurückließ, was zuletzt eine Religion wurde.
Sollte hier zum erſten Male ein kleines, zu¬
fälliges Faktum den Anſtoß zu einer großen
Bewegung gegeben haben? Nein, die Folgen
jener Hiſtorie mögen ſo umfaſſend geweſen
ſein, wie ſie es waren, ſo kann davon nichts
auf die Naivetät der Hiſtorie ſelbſt zurückfallen.
Jeſus war in Rückſicht auf den jüdiſchen Meſ¬
ſiasglauben nicht der rechte Meſſias, ſondern
ein falſcher, ſo gut wie Theudas, Judas Gali¬
läus und Bar Kochba. In Rückſicht auf die
Weltgeſchichte war er desgleichen nicht mehr;
nur daß ſeine Anhänger zufällig von der Zeit,
von dem unſinnigen Heidenritus, von der Sucht
des Geheimniſſes profitirten. Das Ereigniß,
das allen den folgenden Begebenheiten und Re¬
volutionen zum Grunde lag, ſteht an und für
ſich betrachtet auf keiner höhern Stufe, als
die Lebensumſtände des Pythagoras, Zoroaſter
oder Sokrates.
Jeſus war Jude. Er dachte nicht daran,
Gutzkow's Wally. 18
eine neue Religion zu ſtiften. Es war bei ihm
weder von einer Aufhebung nachnoch von einer Er¬
läuterung des Judenthums die Rede. Er ſagte
ſelbſt, daß er nicht gekommen ſei, das Geſetz
aufzulöſen, ſondern zu erfüllen; ein Ausdruck,
der freilich im griechiſchen Texte mehr ſagt,
als das bloße: Befolgen, aber nicht über den
Begriff eines vollkommnen, in allen ſeinen Be¬
zügen verſtandenen Judenthums hinausgeht. Da
war auch nicht eine einzige neue Lehre, welche
Jeſus brachte. Enthüllte er tiefer die Geheim¬
niſſe Gottes? Nein, er kennt nur jenen päda¬
gogiſchen Gott des Judenthums. Waren ſeine
Andeutungen über die Unſterblichkeit neu? Sie
waren es, der dunkeln und zweifelhaften Lehre
des Alten Teſtaments gegenüber: aber ſeit drei¬
hundert Jahren glaubten die Juden an die Fort¬
dauer nach dem Tode aus eignem Antriebe: die
Phariſäer hatten daraus das Feldgeſchrei ihrer
Partheimeinung gemacht. Was blieb demnach
im Munde Jeſu übrig? Eine Moral, welche
allerdings veredelnde Kraft hat, aber nie mehr
giebt und geben will, als das lautre Judenthum.
Die Moral Jeſu hält ſich immer dicht bei den
Gebräuchen des Ceremonialgeſetzes, und iſt nur
darin charakteriſtiſch, daß ſie für den äußern
Ritus innerlich entſprechende Geſinnungen for¬
derte. Jeſus lehrte: Liebe deinen Nächſten,
wie dich ſelbſt! So lehrte ſchon Moſes; aber
der Stifter einer neuen Religion mußte ſagen:
Liebe deinen Nächſten mehr, als dich ſelbſt!
Daraus ſchließt man, daß Jeſus eine Perſon
war, die einzig und allein der Geſchichte, kei
neswegs aber der Religion oder Philoſophie
angehörte.
Thörichter Glaube, das Neue Teſtament für
die Grundlage einer Religion anzuſehen, für
ein Buch, das geſchrieben worden wäre, um
ſymboliſchen Werth zu haben! Der Kanon iſt
nichts als die erſte Erſcheinung des Chriſten¬
18 *
thums. Das Chriſtenthum ſelbſt liegt darüber
hinaus: das heißt, vage Begriffe über ein ge¬
ſcheitertes hiſtoriſches Ereigniß wurden von Män¬
nern herumgetragen, die dabei betheiligt gewe¬
ſen waren. Die Apoſtel hatten die Fähigkeit
nicht gehabt, eine Begebenheit zu verſtehen,
welche mit ſich ſelbſt in Widerſprüchen lag;
ſie konnten ſich nur der Wirkſamkeit nicht ent¬
ſchlagen, welche eine ſo bedeutende Perſönlich¬
keit, wie die ihres Lehrers, auf ſie ausübte:
ſie glaubten ſeinen dreiſten Behauptungen, daß
er der Meſſias wäre und fanden bei der Ver¬
breitung dieſer Anſicht darin eine Unterſtützung,
daß Jeſus ſeine baldige Wiederkunft verſpro¬
chen hatte. So entſpann ſich ein romantiſches
Truggewebe von Wundern, ſubjektiven, die
Jeſus verrichtet habe, objektiven, die an ihm
ſelbſt geſchehen wären. Die Apoſtel überſahen,
wie ſehr die Mehrzahl dieſer Wunder, welche
eher auf einen Eskamoteur, als auf einen Pro¬
pheten ſchließen laſſen, (ich erinnere nur an
die Fabel von dem Stater im Leibe eines Fiſches)
das göttliche Gepräge ihrer Erzählungen ver¬
wiſchte. Ja, ſie wußten nicht einmal, wieviel
ſie moraliſch wagten, alle ihre Behauptungen
wechſelſeitig ohne Prüfung anzunehmen. Denn
das Alterthum war überall auf das Außerordent¬
liche hingerichtet und konnte ſich keine große Be¬
gebenheit ohne Abweichungen von dem natürli¬
chen Laufe der Dinge erklären. Auffallend bleibt
es indeſſen, daß die Apoſtel ſelbſt im Neuen
Teſtamente ſo wenig ſcharf und präcis als Ver¬
breiter der Lehre Jeſu auftraten, daß erſt An¬
dere meiſt ein Amt übernahmen, was ihnen
vor Allen zukam. Hätten ſie wirklich den Leich¬
nam Jeſu geſtohlen? Dann klänge dies Still¬
ſchweigen faſt wie böſes Gewiſſen. Hierüber
mag ich nichts entſcheiden: nur dies ſcheint
feſt, daß die Apoſtel Menſchen von bornirtem
Verſtande waren, daß ſie überhaupt viel Aehn¬
lichkeit mit unſern Theologen hatten, und daß
es zuletzt nicht ohne typiſche Vorbedeutung war,
wenn neben der Krippe Jeſu gleich ein Ochs
und ein Eſel ſtanden.
Diejenigen unter den Anhängern Jeſu, wel¬
che, ich ſage nicht, logiſche Schlüſſe machen,
doch wenigſtens begreifen konnten, wie z. B.
der von den Theologen gern zu einem tiefſin¬
nigen Philoſophen geſtempelte Paulus, befolg¬
ten in der Stiftung einer neuen Sekte den
dreiſten Gang, daß ſie in Jeſu nur die Neue¬
rung anerkannten. Sie riſſen ſeine Erſcheinung
als etwas Iſolirtes vom Geſetze los. Sie
machten aus polizeilichen Differenzen ihres Leh¬
rers mit der Synagoge abſichtliche, dogmatiſche,
religionsſtiftende. Eine übermüthige Exegeſe,
welche die Stellen des Alten Teſtamentes in
einem ſträflich verkehrten Sinne auf Jeſus be¬
zog, mußte ihre Abſichten unterſtützen. Jeſus
wurde ein Wunderthäter und er machte als
ſolcher unter den Heiden ein Glück, das Apol¬
lonius von Tyana auch gehabt hätte, wäre ihm
der Jude Jeſus nicht in der Zeit zuvorge¬
kommen. Die geringe Philoſophie, die hinzu
kam, alle dieſe Märchen zu erklären und in
einen dogmatiſchen Zuſammenhalt zu bringen,
waren die Unterſcheidungen zwiſchen phyſiſcher
und pſychiſcher Natur, zwiſchen Fleiſch und
Geiſt, zwiſchen dem Geſetz und der Freiheit.
Wahrlich, eine Religion mußte dieſe Einfach¬
heit haben, um ſo um ſich zu greifen, wie es
das Chriſtenthum that!
Das Chriſtenthum iſt eine Religion der Per¬
ſönlichkeit. Moſes war doch nur der Sendling
Gottes, Muhamed Allahs Prophet, ſie ließen
ſich keine göttliche Ehre erweiſen! Sehet hier
eine Religion, deren unwillkürlicher Stifter
von einigen verworrenen Köpfen mit Gott
ſelbſt verwechſelt wurde, eine Religion, die
nichts für ihren Gegenſtand, und Alles für
ihren erſten Prieſter thut! Jede allgemeine,
jede Weltreligion muß unabhängig von irgend
einem Namen ſein, und im Chriſtenthum iſt
man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott,
welche Jeſu gebührt. Welch ein Glaube! Wir
ſind nicht ohne Poeſie, wir ſchwärmen gern,
weil wir in jedem Hauche der Natur einen
Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht
unglücklich ſein, wenn wir nicht zuweilen auf
unſern herben Lebenswein ein Roſenblatt der
Illuſion legen dürften, ein Roſenblatt, das uns
in den Mund kömmt und zu trinken hindert,
und das wir doch nicht miſſen möchten. Aber
hier überſchreitet eine Zumuthung die Linie des
Erträglichen. Das Chriſtenthum wurzele nicht
in Jeſu Lehre, ſondern in ſeinem Leben: nicht
die Liebe ſei es, ſagen ſie, die er im Abend¬
mahle eingeſetzt habe, ſondern ſein Fleiſch und
Blut, ſeine eigne Perſönlichkeit, die nun im¬
merdar ſolle gegeſſen und getrunken werden.
Auf die individuellen Begegniſſe eines unglück¬
lichen Menſchen wird eine Religion gebaut, eine
Dogmatik, die ſich nicht um die Worte ſeines
Mundes kümmert, ſondern ſeine Fußtapfen als
Paragraphenzeichen nimmt, ſeine Nägelmaale
als Kapiteleinſchnitte: kurz das Chriſtenthum iſt
eine Religion, die auf eines Menſchen körper¬
lichen Verrichtungen und Leiden gegründet iſt,
eine Religion, die das objektive Evangelium
eines Menſchen predigt. Armer Rabbi von
Nazareth! Statt, daß ſie weinen ſollten über
dein wehmüthiges Schickſal, freuen ſie ſich dei¬
nes Todes und haben ihn lachendes Muthes im
Munde! Die Kreuzigung Jeſu wird gar nicht
mehr hiſtoriſch nachempfunden; ſondern da Al¬
les in des unglücklichen Mannes Leben typiſch
und als Nothwendigkeit gedeutet wird, ſo geht
die Theilnahme und das Mitleiden gleichgültig
an dem Schmerze vorüber und ſieht am Char¬
freitage immer nur Oſtern, bei einem Sterben¬
den eine grauſame Hand, die ihm das Kiſſen
unter'm Kopfe wegzieht, damit er ſchneller
ſterbe, damit er ſchneller auferſtünde! Das
Crucifix iſt eine Zierrath geworden, die man
im Ohre hängen hat.
Die große imponirende Gewalt des Chriſten¬
thums liegt in ſeiner welthiſtoriſchen Ausdeh¬
nung. Nicht, daß ich dieſer Lehre die Umge¬
ſtaltung Europa's zuſchriebe, nicht, daß ich ſo
ungerecht gegen Gott wäre und behauptete, er
habe ohne die verworrenen Ideen einiger paläſti¬
nenſiſcher Fiſcher und Teppichfabrikanten die
Welt nicht auf dieſen Gipfel der Cultur brin¬
gen können: nein, ſchon dadurch wird die chriſt¬
liche Idee geſchwächt, daß ſich die germaniſchen
Völker für ſie intereſſirten und ihre eigne welthi¬
ſtoriſche Prädeſtination in jene Lehre legten und
das Chriſtuskind als Chriſtoffel durch das Welt¬
meer trugen. Das Einzige, was mich an das
Chriſtenthum kettet, iſt ein magiſcher mit Blut
beſchriebener Kreis; jene ſchreckhaften Ver¬
folgungen, denen der neue Glaube ausgeſetzt
war, jene Hekatomben, die das Chriſtenthum
dem Heidenthum opfern mußte, die Männer,
Weiber, Kinder, die zu Tauſenden hingemordet
wurden — ah, das preßt an die Kammern des
Gehirns: die Fibern des Nachdenkens ziehen
ſich zitternd in ihren Verſteck: das brennt und
ſchmerzt, wenn man Sinn für Hiſtorie, Sinn
für die Leiden der Menſchheit hat. Nur jener
Blutſtröme wegen bin ich gewiſſermaßen Chriſt,
weil meine Religion die des Schmerzes und
mein Cultus der Muth iſt. Ich würde nicht
rathen, eher ein neues Bekenntniß abzulegen,
ehe man nicht im Begriffe und in der Lage iſt,
dafür daſſelbe auszuſtehen, was das alte Be¬
kenntniß gekoſtet hat.
Bis hieher konnte noch von einem Chriſten¬
thum die Rede ſein. Als der Begriff Kirche
erfunden war, als Concilien und Würdenträger
eingeſetzt wurden, da hatte ſich die Lehre Jeſu
in eine neue Art von Heidenthum verwandelt,
in Mythologie auf der einen, Ariſtotelismus auf
der andern Seite. Zwiſchen beiden wucherte
die Myſtik, keine urſprünglich chriſtliche Pflanze,
ſondern arabiſch-jüdiſch-cabbaliſtiſches Ge¬
wächs, das in der Philoſophie als Platonis¬
mus wieder zum Vorſchein kam. Das Chriſten¬
thum, inſofern es von Prieſtern und Mönchen
repräſentirt wurde, war auch nicht einmal eine
Religion mehr, ſondern nur noch Vorwand ei¬
ner politiſchen Tendenz des Zeitalters. Die
Hierarchie umgürtete ſich mit dem Schwerte
und fluchte wie ein Landsknecht. Das Chriſten¬
thum war nun doch ein Reich von dieſer Welt
geworden. Der todte Rabbi Jeſus drehte ſich
im Grab um: er hatte ſich gerächt. Wann
gab es eine Religion, die in tauſend Jahren
mit ſo diſparaten Anomalien ſich äußern konnte?
Der Islam iſt zwölfhundert Jahre alt und noch
weht die grünſeidne Fahne des Propheten, wie
damals, als er aus der Wüſte zog. Man hatte
Jeſus zum Stifter einer Religion machen wol¬
len. Jeſus hatte ſich gerächt. Die falſche Aus¬
legung ſeiner Miſſion war geſcheitert.
Luther verſuchte noch einmal das lecke Schiff
einer imaginären Möglichkeit zuſammen zu fü¬
gen. Ein Bergmannsſohn aus Thüringen ſtieg
in das Bergwerk des Chriſtenthums hinab, durch¬
hämmerte die oberen Flötzſchichten der Tradi¬
tion und holte aus den tieferen Erzgängen her¬
vor, was er für reines, ſilbernes und goldenes
Chriſtenthum hielt. Es war eine kühne Neue¬
rung, die ſich aus dem Wittenberger Flachlande,
aus der Gegend von Kroppſtädt und Treuen¬
brietzen, die ganz ſo ausſieht, wie der geſunde
Menſchenverſtand, entwickelte. Tauſende ſagten
ſich von dem römiſchen Heidenthume los, das mit
der Seelen Seligkeit einen Aktienhandel durch
ganz Europa etablirt hatte. Die Wittenberger
Reformation war ein großer Fortſchritt der
Menſchheit, wenn es groß iſt, wie Herr Tho¬
luck gethan haben ſoll, in Rom von den anti¬
ken Götterſtatüen zu ſagen: Es ſind ſchöne
Götzen! Darum handelte es ſich: die Menſch¬
heit von einem religiöſen Mechanismus zu be¬
freien, zu gleicher Zeit aber aber auch auf
dreihundert Jahre die Kunſt, die Literatur die
Schönheit aller vergangenen Zeiten und die
Schönheit der Ewigkeit zu derogiren. Das iſt
kein Unglück, wenn es von einem großen Glücke
erſetzt worden wäre. Für das Chriſtenthum
geſchah in der Reformation alles, für die
Wahrheit und den geſunden Menſchenverſtand
und die Naturreligion aber nichts.
An zwei Begriffen ſiechte gleich anfangs die
Reformation: an einem, den ſie nicht abſchaffte,
an der Kirche; und an einem, den ſie neu er¬
fand, am Evangelium.
Bibliſches Chriſtenthum! Was heißt das?
Ein Chriſtenthum erfinden, das ſich gründete
auf falſcher Exegeſe, ſchlechten kritiſchen Hülfs¬
mitteln, auf Interpolationen und frommen Be¬
trügereien, auf einer ungeſtörten und ſorgloſen
Verbindung des alten und neuen Teſtamentes,
endlich aber auf jener heilloſen Verwechſelung
zwiſchen dem Kanon. als einer Richtſchnur des
Chriſtenthums, ſtatt daß der Kanon, wie wir
zeigten, nur erſte Erſcheinung, die ganz prekäre
und ſubjectiv überall beanſtandete Erſcheinung
des Chriſtenthums war. Der Proteſtantismus
bekam ſeine ſymboliſchen Bücher, welche die Leh¬
rer beſchwören mußten, ſeine Katechismen, den
großen und den kleinen, nach welchen die Un¬
mündigen an einen Glauben geſchmiedet wur¬
den, dem ſie ſchon als Säuglinge durch die
Taufe willenlos ſich hingeben mußten. Was
muß ich glauben? Ich muß glauben, daß Gott,
die Welt erſchaffen hat — als wenn ein Gott,
der ſich in ſo endlichen Werken, wie die Erde
iſt, ausſpricht, ein Gott, der zugiebt, daß et¬
was außer ihm iſt, ohne er ſelbſt zu ſein, als
wenn ein Gott, der Raum und Zeit erſchaffen
hat, um aus Laune irgend einen kleinlichen
Weltzweck zu erfüllen, um durch die Dauer zu
thun, was ihm ja im Nu gelingen könnte, um
unglückliche, von Zweifeln zerfleiſchte, halb
thieriſche, halb menſchliche Menſchen auf einem
gewiſſen Erdballe, in einem gewiſſen Deutſch¬
land, hier in dieſer ganzen Miſere herumkrie¬
chen zu laſſen, als wenn ein ſolcher Gott je¬
mals meinem philoſophiſchen Bewußtſein ent¬
ſprechen könnte! Aber was Philoſophie? Wir
reden nicht von Philoſophie: ich vergaß, daß
wir über einige Ammenmärchen und poetiſche
Grillen ſprechen. Ich muß glauben, daß Chri¬
ſtus ſei ein eingeborner Sohn Gottes, von ei¬
ner Jungfrau geboren, niedergefahren zur Hölle
und wieder auferſtanden — Nein, auch dies iſt
nicht der Kern des Chriſtenthums. Was ſoll
ich glauben? daß Chriſtus iſt unſer Mittler,
daß er im Abendmahl perſönlich aſſiſtirt als
Fleiſch und Blut im Brod und Weine, daß er
uns rechtfertigt durch die Gnade, daß die Erb¬
ſünde, an die ich als Pſycholog und Menſchen¬
kenner faktiſch glaube, theologiſch zu erklären
ſei, zum großen Theile aber eine Dogmatik,
welche auf jedes einzelne Glied im Körper des
Rabbi Jeſus gegründet iſt. Der Katholicis¬
mus war ſinnlicher Götzendienſt mit polytheiſti¬
ſcher Färbung. Der Proteſtantismus wurde
myſtiſcher Götzendienſt mit einer Beſchränkung
auf einen Gott, der aber drei Hypoſtaſen hatte.
Wittenberg und der Sand waren Schuld, daß
dieſe Lehre immer flacher, äußerlicher und zän¬
kiſcher ſich ausbildete. Aus dem Evangelium,
der Bibelmanie und den ſymboliſchen Büchern
ſetzte ſich zuletzt das knöcherne Skelett der Or¬
thodoxie zuſammen, eine Geſtalt, die ſtatt des
Herzens einen ledernen Beutel, ſtatt des Gehirns
Gutzkow's Wally. 19
eine Anhäufung ſchwammartiger Stoffe zu tra¬
gen hat.
Das zweite Unglück des Proteſtantismus
war die Beibehaltung des Begriffes der Kirche
und die unterlaſſene Ausgleichung deſſelben mit
dem Begriffe: Gemeine. Hier trat früh ein
Schwanken ein, das auf der einen Seite das
Extrem der engliſchen Hochkirche und auf der
andern das quäkeriſche Extrem der allgemeinen
Prieſterſchaft erzeugte. Das Lutherthum an
und für ſich ſelbſt nahm früh eine ſervile Rich¬
tung. Es ſtritt für das göttliche Recht der
Fürſten eben ſo ſehr, wie es ſeine eignen Satzun¬
gen in ein legitimes, unantaſtbares Gewand zu
kleiden ſuchte. Thomas Müntzer ſchalt mit Recht
auf Luther, den Papſt von Wittenberg. Das
Territorialſyſtem war die Folge der Schmei¬
chelei. Die Kirche blieb etwas Ganzes, der
Glaube wurde nicht an die ſtille Kammer des
Herzens, als ſeinen Tempel verwieſen, ſondern
die Kirche repräſentirte, wie ehemals. Die
Geiſtlichen regieren unter einander. Sie ſchei¬
nen eine Monarchie für ſich zu bilden und ducken
ſich außerdem unter der politiſchen Souveräni¬
tät, ſo daß es noch heutiges Tages nicht entſchie¬
den iſt, wie weit ſich die kirchliche Autorität,
als Landeshoheit erſtreckt, wie weit man wa¬
gen darf, Agenden zu verfaſſen und ſie mit
militäriſcher Gewalt, wie in den Schleſiſchen
Dragonaden geſchehen iſt, in Wirkſamkeit zu
ſetzen. Hier iſt Alles vag, hoffärtig, augen¬
dieneriſch, despotiſch, und erfüllt das Herz des
Biedermannes mit den ſchmerzlichſten Gefühlen.
Die deiſtiſche Philoſophie des achtzehnten
Jahrhunderts konnte deßhalb dem Chriſtenthum
keinen merklichen Abbruch thun, weil ſie bald
zu frivol, bald zu witzig war. Der unſitt¬
liche Reformator macht nirgends Glück. Der
Witz iſt einer ſo großartigen Inſtitution,
wie das Chriſtenthum, gänzlich unangemeſſen.
19 *
Die naive Einfachheit kindlicher und glaubens¬
freudiger Seelen parirt alle Nadelſtiche Vol¬
taire's, eines Mannes, den man für einen
Schneider halten möchte, ſo furchtſam und ei¬
tel war er. Das Chriſtenthum fordert andere
Waffen heraus, überhaupt keine Waffen, die
nur für den Krieg taugen, ſondern ſolche,
welche ſich an einen Stiel ſtecken laſſen,
poſitiv und ſchaffend werden, und die Erde
zur neuen Saat auflockern. Das achtzehnte
Jahrhundert, der mephiſtopheliſche Geiſt der
abſtrakten Verneinung hauchte mit dem erſten
Seufzer aus, der auf der Revolutionsguillotine
ausgeſtoßen wurde. Die Negation der Revo¬
lution war ſchon eine ſchöpferiſche.
Die Flügel meiner Seele ſchlagen freudiger,
weil ich die Morgenröthe (ach! die blutige Mor¬
genröthe) der neuen Schöpfung ſich am Him¬
mel malen ſehe. Aber noch halte mich zurück,
du ſtürmiſcher Genius des Jahrhunderts; noch
einmal wurde in Deutſchland der Verſuch ge¬
macht, zu einem troſtreichen Reſultate über
die wunderbaren Begebenheiten in Paläſtina
zu gelangen. Die Welt ſeufzt in ihrer Axe ob
der ſtürmiſchen Bewegung. Wie glücklich wären
wir Alle, wenn wir in den Träumen unſrer Ju¬
gend uns ewig wiegen dürften, und uns keine
Unruhe der Seele von den Spielen der Un¬
ſchuld verſcheuchte!
Die Kantiſche Philoſophie ſchien unſern
Vätern nach langem Schlafe ein wunderbares
Erwachen. Noch nie iſt eine Entdeckung mit
ſo reinem Enthuſiasmus empfunden worden.
Die Kantiſche Philoſophie war Kriticismus:
ſie war ohne Geheimniſſe; aber ſie ſchien den
Schlüſſel der Geheimniſſe zu beſitzen. Früher
wurde ſie auf die Offenbarung und das Chri¬
ſtenthum angewandt: aber die Conſequenzen,
welche ſich hier durch ſie ergaben, waren von
der entgegengeſetzteſten Art. Der Rationalis¬
mus hielt ſich an die Unmöglichkeit, das Ding
an ſich zu erkennen; der Supernaturalismus
an die Vermuthungen, welche hinter dem Dinge
an ſich liegen konnten. Das Ding an ſich war
eben ſo ſehr negativ, wie myſtiſch poſitiv: das
weite Chaos der Zweifel lag in ihm eben ſo
gut, wie das Chaos der Gefühle. Dieſe bei¬
den Prinzipien über Chriſtenthum machten fünf¬
zehn Jahre in Deutſchland die Tagesordnung
aus. Es war ein Streit um den Anfang ei¬
nes Cirkels. Der Rationalismus, der von Gott
behauptete, daß man vieles von ſeinem Weſen
wiſſe, manches aber noch unerörtert zu laſſen
habe, begann mit dem Beſtimmten und hörte
mit dem Unbeſtimmten auf. Der Supernatu¬
ralismus, der aus ſeinen Ahnungen ein Sy¬
ſtem, aus ſeinen Ungewißheiten eine Dogmatik
ſchuf, fing mit dem Unbeſtimmten an und hörte
mit dem Gegentheile auf. So war der Streit
ohne des Endes Möglichkeit. Niemand trat
aus dem Cirkel heraus. Sie walzten ihre De¬
batten herum und erſchöpften ſich in Conzeſſio¬
nen praktiſcher und theoretiſcher Art. Miſch¬
gattungen drängten ſich zwiſchen die Extreme:
Damenprediger, welche das Chriſtenthum mit
Gemälden verglichen, wo die Conturen dem Ra¬
tionalismus, die Farben dem Supernaturalis¬
mus angehören müßten: Profeſſoren der Theo¬
logie, die das Urchriſtenthum wollten; General¬
ſuperintendenten, welche die Perfektibilität des
Chriſtenthums lehrten. Andre, wie Schleier¬
macher adoptirten die Dogmatik, wenn ihre
Lehrſätze ſich gemüthlich als Seelenzuſtände be¬
thätigten. Mit einem Worte, ſie mochten ſo
freidenkeriſch verfahren, wie immer; ſo riß
doch Niemand den Vorhang der Lüge weg.
Auf der Kanzel gaben ſie niemals jenen Glau¬
ben preis, den ſie auf dem Katheder anatomiſch
zergliederten. Ueberall trifft man auf Diakone
und Conſiſtorialräthe dieſer Art, welche ſich
wie jeſuitiſche Aale theoretiſch winden und
hin- und herſträuben, praktiſch aber ſich immer
wieder in ihren homiletiſchen Schleim verſtecken.
Schelling und Hegel, jener von katholiſcher,
dieſer von proteſtantiſcher Seite, ſtellten den
letzten Verſuch an, die Philoſophie mit der Of¬
fenbarung in Einklang zu bringen. Schelling
übertrug allerhand Analogien des Naturprozeſ¬
ſes auf die Geheimnißlehren des Chriſtenthums:
er wußte Opfer, Menſchwerdung u. ſ. f. durch
witzige Bilder von Seiten der Phantaſie an¬
nehmlich zu machen. Hegel ſtützte ſich auf
den Geſchichtsprozeß, auf die innerlichen Ruhe¬
momente ſeiner metaphyſiſchen Logik, deren gan¬
zes Schema allein ſchon den Begriff der Trini¬
tät ausdrückte. Hegel's Philoſophie ſcheint
mir auch wahrlich die einzige, die im Stande
iſt, das Chriſtenthum zu beurtheilen. Ihr
Standpunkt iſt der hiſtoriſche. Sie bringt ei¬
nen Schematismus in die Begebenheiten, wel¬
cher den innern und äußern Sinnen wohlthut.
Wodurch iſt auch das Chriſtenthum eine ſo im¬
poſante Erſcheinung? Durch ſeine hiſtoriſche
Stellung. Hegel hat die Verſchiedenheit der
Zeiten immer vortrefflich charakteriſirt und
das Eigenthümliche des Chriſtenthums darin
gefunden, daß ſich logiſche und hiſtoriſche Be¬
griffe daran akkommodiren laſſen. Aber mehr
gelang ihm nicht. Seine Philoſophie des Chri¬
ſtenthums konnte nur da erſt anfangen als die
Entwicklung der chriſtlichen Lehre zu Ende war.
Hegel's Maaßſtab iſt überall die Vergangenheit.
Seine Erklärungen ſind typiſcher Art, ſeine
Philoſophie iſt eine Auslegung. Schelling und
Hegel ſtehen an der Spitze jenes chriſtlichen
Dilettantismus, der aus künſtleriſchen Intereſ¬
ſen ſich mit verſtopftem Ohre in eine grundloſe
Fluth verſenkt. Das Chriſtenthum ſelbſt muß
dabei ſeinen Credit verlieren, wenn nur noch
Dichter, Grübler, Künſtler, verzweifelte und
polizeilich beaufſichtigte Menſchen ſich für die
Erklärung ſeiner Satzungen intereſſiren. Der
geſunde Theil der Menſchheit wird in eine an¬
dere Strömung des ſtürmenden Weltgeiſtes ge¬
riſſen werden.
Unſer Zeitalter iſt politiſch, aber nicht gott¬
los. Wie gern verbände es die Freiheit der
Völker mit dem Glauben an die Ewigkeit!
Aber unchriſtlich iſt unſer Zeitalter, denn das
Chriſtenthum ſcheint ſich überall der politiſchen
Emancipation in den Weg zu ſtellen. Daher jene
merkwürdigen Erſcheinungen, welche die neuere
Zeit auf dem Gebiete, man weiß nicht, ſoll
man ſagen, der Politik oder der Religion hervor¬
gebracht hat. Ueberall Sektengeiſt, Religions¬
ſtifter, Religionen auf Aktien, Religionen auf
Subſcription, jede Religion, nur kein Chriſten¬
thum. Man ſpricht von Prieſtern, von einer
Theokratie, von Gottesdienſt, nur nichts Chriſt¬
liches. Es iſt erſtaunenswerth, daß dieſe Dinge
in Frankreich auftauchen, in einem Lande, das
für Europa die Miſſion der Freiheit hat, in
einem Lande, das in der neuern Geſchichte für
alle Fragen der Cultur die Initiative über¬
nommen zu haben ſcheint. Wir reden hier
vom St. Simonismus und den Worten eines
Gläubigen.
In dieſe beiden Bekenntniſſe iſt zuerſt die
Anerkennung der politiſchen Tendenz des Jahr¬
hunderts niedergelegt. Man hat hier die Unver¬
ſchämtheit vermieden, welche die hungernden
Arbeiter auf das himmliſche Brod des ewigen
Lebens anweiſt. Die Religion der Entſagung
mag für Jahre paſſen, wo die Ernte nicht ge¬
rathen iſt; aber wo Fülle und Verſchwendung
rings ihre Feſte feiern, da murrt die Menſch¬
heit über eine Religion, welche immerfort an
das Sichſchicken, an die Demuth, an den Rath¬
ſchluß Gottes appellirt. Von dieſer Seite des
Chriſtenthums überhaupt, die ſich dem Zeitgeiſte
entgegenſtellt, kann nicht mehr die Rede ſein.
Der Unterſchied zwiſchen den beiden Bekennt¬
niſſen iſt der, daß der St. Simonismus
das Chriſtenthum antiquirt und durch einige
materielle Philoſopheme, nebſt kirchlichen frei¬
lich dem alten Glauben entnommenen Inſtitu¬
tionen zu erſetzen ſucht, die Worte eines Gläu¬
bigen dagegen auf den demokratiſchen Urſprung
des Chriſtenthums zurückgehen und unverho¬
len eine republikaniſche Tendenz deſſelben aus¬
ſprechen. Der St. Simonismus will den Staat
von der Kirche, die Worte eines Gläubigen wol¬
len die Kirche vom Staate befreien. Jener weiſt
auf die Zukunft, dieſe auf die Vergangenheit.
Beide aber kränkeln an ähnlichen Gebrechen: der
St. Simonismus an der Philoſophaſterei: La
Mennais am Katholicismus. Wie ſoll man in
der Kürze über beide Tendenzen urtheilen?
Beide ſind keine Revolutionen, aber ſie ſind
Symptome. Der St. Simonismus verräth ein
Bedürfniß der Menſchheit: die Worte eines
Gläubigen ſuchen es zu befriedigen, aber ſie
befriedigen es nur zur Hälfte.
Ich habe die Thatſachen der Vergangenheit
verfolgt und breche da ab, wo Alles, was nun
kommen muß, nicht ſo von mir vorgezeichnet
werden kann, ſondern in die Hand der Zeitge¬
noſſen gegeben iſt. Laſſet mich an einem Orte
inne halten, den wir ſelber auszufüllen haben,
bei jenen weißen Blättern der Geſchichte, die
hinfort von uns beſchrieben werden ſollen!
Ich höre draußen ein ſimultanes Glocken¬
geläut: katholiſche und proteſtantiſche Töne. Es
iſt Pfingſten, ein Feſt, wo man zwar nicht
mehr plötzlich wie einſt in Jeruſalem, gut Eng¬
liſch, Spaniſch und Sanscrit lernt, was mir
ſehr lieb wäre: wo aber der heilige Geiſt
auf alle Welt ausgegoſſen wurde. Wir leben
in der Zeit des heiligen Geiſtes, von dem
Chriſtus ſelber ſagt, daß er uns in alle Wahr¬
heit führen und freimachen würde. So ſcheint
es ſogar jener Mann gewußt zu haben, daß die
Geſchichte immerdar ihre eigne Autorität bleibt,
daß der Weltgeiſt raſtlos wirkt und in uns
ſchafft und die Wahrheit zuletzt nur der Gottes¬
dienſt im Tempel der Freiheit iſt. Wir wer¬
den keinen neuen Himmel und keine neue Erde
haben; aber die Brücke zwiſchen beiden ſcheint
es, muß von Neuem gebaut werden.
Es ſchlug Mitternacht, als Wally das ſauber
geſchriebene Heft durchleſen hatte. Die Wachs¬
kerze war tief heruntergebrannt, ihre Augen
glühten, ſie hatte Thränen nöthig, um den
heißen Brand zu löſchen. Aber die Thränen
kamen nicht. Sie ſaß da, verſteinert, wie
Niobe, der man das Liebſte und Theuerſte
wegſchießt. Rings war alles grauenhaft ſtill,
nur der Uhrpendel ſchwang ſich unterm Glaſe
hin und her und zählte die Minuten, die den
Geiſtern auf Erden zu wandeln vergönnt wa¬
ren. Wally lebte nur in den Worten, die ſie
geleſen hatte, und flüſterte ſich zu: Ich ſterb'
auch mit ihnen. Dann ergriff ſie mechaniſch
den kleinen Kerzenreſt, der noch brannte, und
ſchritt in ihr Schlafgemach, einen finſtern, dä¬
moniſchen Schatten werfend.
Noch ſechs Monate hielt Wally ein Leben
aus, deſſen Stütze weggenommen war. Sie,
die Zweiflerin, die Ungewiſſe, die Feindin Got¬
tes, war ſie nicht frömmer, als die, welche
ſich mit einem nicht verſtandenen Glauben be¬
ruhigen? Sie hatte die tiefe Ueberzeugung in
ſich, daß ohne Religion das Leben des Menſchen
elend iſt. Sie gieng nun damit um, dem ihri¬
gen ein Ende zu machen.
Je unerſchütterlicher ſich dieſer Gedanke
bei ihr feſtgeſetzt hatte, deſto mehr ſuchte ſie
ihn äußerlich zu verbergen. Sie zeigte ſogar,
je gewiſſer ſie mit ſich ſelbſt wurde, eine heitre
Unbefangenheit, die die Rückkehr ihre frühern
Laune hoffen ließ.
Sie war viel auf ihrem Zimmer allein,
weinte und rang; aber beten konnte ſie nicht.
Sie warf ſich wohl oft verzweifelnd auf die
Knie, aber wie eine eherne Mauer ſtand es
vor ihr, wenn ſie flehend die Hand ausſtreckte.
Gutzkow's Wally. 20
Sie ſchrieb noch einzelne, ihren Seelenzuſtand
verrathende Aphorismen in ihr Tagebuch; die
meiſten bewegten ſich um den Gedanken des
Todes. An der Urſache deſſelben hatte ſie nichts
mehr, was ſie in ſich ändern konnte. Eine
Stelle, welche man ſpäter im Buche fand,
war ganz mit Thränen durchnäßt. Man konnte
das an der geronnenen Dinte und dem zerknit¬
terten Papiere ſehen. Sie hieß:
O Jeſus! Nie warſt du mir theurer, als
thränenvergießend im Garten von Gethſemane!
Jeſus! Du bateſt Gott, daß er den Kelch die¬
ſes herben Todes möchte an dir vorüber gehen
laſſen, du, du, der die Welt verändert hat!
Und die Jünger ſchliefen. Sie achteten dei¬
ner flehenden Stimme nicht, daß ſie mit dir
wachten, daß ſie mit dir weinten auf dem
Oelberge. Ach, um mich ſchlafen ſie Alle und
Niemand kennt den Schmerz, der mich ver¬
zehrt, Niemand wacht mit mir, Niemand betet
für mich!
20 *
Es war an einem trüben und regneriſchen
Herbſttage. Die Kaſtanien praſſelten von den
Bäumen. Der Wind ſchlug die Regenſchauer
an die naſſen Fenſter. Alles in der Natur
ſchien zu Grabe zu gehen. Wally ſaß einſam
in ihrem Zimmer. Eine Uhr lag neben ihr.
Neben der Uhr ein rothes Tuch, das einen un¬
ſichtbaren Gegenſtand bedeckte.
Eine Stunde verrann nach der andern. Um
die ſechſte dunkelte es. Man brachte ihr Licht.
Sie winkte ſtumm mit der Hand, als man
nach ihren Befehlen fragte.
Sie trat an's Klavier und ſchlug einige
Accorde an. Es ſchlug ſieben Uhr.
Dann ſetzte ſie ſich und ſchrieb einige Zeilen;
Ich muß ſterben, denn haſſenswerth ſchien'
ich mir, wenn ich mich durch die Welt ſchliche
und mir ſelbſt verbergen wollte, was ich leide.
Wir erkennen Gott nicht. Nun und nimmer
mehr. Das tragiſche und der Menſchheit wür¬
dige Schickſal unſers Planeten wäre, daß er
ſich ſelbſt anzündete, und alle, die Leben ath¬
men, ſich auf den Scheiterhaufen der brennen¬
den Erde würfen. Alle müßten ſie ſich opfern
— aus Haß gegen den Himmel; opfern, wie
man Rechnungen verdirbt, die ohne den Wirth
gemacht werden. Alle! Alle! Dann wäre das
Problem gelöſt und Gott müßte eilen, ſich neue
Menſchen, neue Sklaven zu ſchaffen. Barba¬
riſcher Mord der Völker unter einander glaubt
ihr, werde das Ende der Dinge ſein? Die
wiedererwachende Rohheit der Natur? Hyänen,
die ſich unter einander zerfleiſchen, ſind euch
der Zweck der Geſchichte? Gräßlicher Gedanke!
Prophezeihung, würdig eines Henkers! Sie
werden ſterben, aber ſie werden Alle den Dolch in
ihre eigene Bruſt ſenken, und eine große Kette der
Freundſchaft ſchließen, die Menſchen! Sie wer¬
den ſich faſſen Alle an ihrer Hand, und mit der
Rechten den Stoß vollbringen und noch im Tode
ſich mit ihren Küſſen bedecken. Sie werden
ſterben, weil ſie reif ſind, weil ſie das Höchſte
erreichten in Wiſſenſchaft und Kunſt, weil ſie
Alle ineinandergerechnet der Gottheit gleich¬
kommen. Aber die Gottheit ſitzt hinter einem
Vorhange und verbirgt nach wie vor ihr ſprö¬
des Antlitz, und zögert zu kommen und ſich zu
enthüllen. Was haben wir ihr gethan?
Es ſchlug acht Uhr. Sie war in eine Auf¬
regung gekommen, welche für ihren Entſchluß
nicht paßte. Was iſt Sturm, Ungewitter,
Herbſt, was ſelbſt der Schmerz der Seele und
des Herzens, wenn der Geiſt ſeine Gedanken
aufrüttelt und die Denkkraft ihre Fühlfäden
ausſchießt? Das Denken erhält den Muth,
den man am Wiſſen verliert. Wally war ſo
nahe daran, ihre Verirrung zu fühlen. Aber
ſie war ein weibliches Herz, das nicht ſo leicht
vergißt, was es einmal wollte und in ſich
ſelbſt kein großes Regiſter von Entſchließungen
hat, wo ſie wählen könnte. Sie fiel in den
alten Schmerz zurück.
Um neun Uhr griff ſie noch einmal nach
der Feder und ſchrieb:
Lebet wohl! Alle! Alle! Armſelig war
mein Leben; wie klein, wie nichtig alle die
Beziehungen meiner Jugend! Und das war
wohl des Todes werth; denn ich bin nichts,
nur Staub, nur Vernichtung. Mein Leben iſt
unnütz. Grüßet ſie Alle, grüßet den Frühling
des kommenden Jahres, wo ich todt ſein werde
und keines Vogels Ruf mich wieder wecken
wird. Ich danke euch Allen, die mich liebten,
und dir, dir, Cäſar; Allen! Allen!
Sie mußte noch viel geweint haben. Auch
dieſe Zeilen waren verronnen in naſſe Punkte.
Sie mußte dann den Stoß vollbracht haben
mit jenem Dolche, der ihrem todten Bruder
gehörte.
Man fand ſie auf dem Bette ausgeſtreckt.
Das Licht ſtand zu ihren Häupten. Sie hatte
mit beiden Händen den in das rothe Tuch ge¬
wickelten und darin auch von ihr während des
Stoßes gelaſſenen Dolch in ihr Herz gedrückt,
und lag da, nicht lächelnd und ruhig, wie wohl
in andern Fällen hier getroffen iſt, ſondern
mit krampfhafter Verzerrung ihres ſchönen Ant¬
litzes und einem Ausdrucke der Verzweiflung
in den ſtarren Augen, der erſchrecken machte.
Sie wurde mit Gepränge beſtattet. Die,
welche am Grabe ſtanden, beweinten nicht ſie
ſelbſt, ſondern nur ihre Jugend.
Wahrheit und Wirklichkeit.
Man kann den Zufall verdammen, man kann
ſelbſt überzeugt ſein, daß in Allem, was ge¬
ſchieht, eine konſequente Offenbarung der
Gottesidee liegt; und doch würde Niemand
zu behaupten wagen, daß Alles, was geſchieht,
Alles, was wir als geſchehen beobachten kön¬
nen, etwas Andres ſei, als die zufälligen
Aeußerlichkeiten jener offenbarten Gottesidee.
Ich glaube, daß Alles gut iſt, was geſchieht;
glaube aber nicht, daß eben nur das geſchehen
kann, was geſchieht. Unendlich iſt das Reich
der Möglichkeit, jenes Schattenreich, das
hinter den am Lichte der Begebenheiten ſicht¬
baren Erſcheinungen liegt. Es giebt eine
Welt, die, wenn ſie auch nur in unſern
Träumen lebte, ſich eben ſo zuſammenſetzen
könnte zur Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit
ſelbſt, eine Welt, die wir durch Phantaſie
und Vertrauen zu combiniren vermögen.
Schaale Gemüther wiſſen nur das, was ge¬
ſchieht; Begabte ahnen, was ſein könnte;
Freie bauen ſich ihre eigne Welt.
Zwei Garantien der unſichtbaren Welt ſind
die Religion und die Poeſie. Jene ſchließt
das Reich der Möglichkeit auf, um zu trö¬
ſten; dieſe, weil ſie die Wirklichkeit erklären
will. Beide beruhen auf Täuſchungen, nur
iſt die Poeſie glücklicher, weil ſie die Wahr¬
ſcheinlichkeit für ſich hat. Es iſt leichter, an
ein Gedicht, als an den Himmel glauben.
Die Ereigniſſe des Gedichtes ſind oft die heim¬
lichen Erklärungsmotive der Wirklichkeit, die
Schöpfungen des Autors haben die Analogie
für ſich und die Erde; aber der Himmel
ſchwebt in der Luft und iſt, trotz aller Phi¬
loſophie, ohne Maaßſtab, wie Gott ſelbſt.
Die Geſchichte der Poeſie zeigt, wie ſich
in ihr von jeher Wahrheit und Wirklichkeit
geſtritten haben. Jene Gemüther, welche wir
die ſchaalen nannten, entſchieden ſich für die
Wirklichkeit, die freien für die unſichtbare
Wahrheit, die begabten, die empfänglichen, die
ſogenannten Leute von Geſchmack, Bildung
und Erziehung, für das Mittlere zwiſchen bei¬
den, für die Wahrſcheinlichkeit. Und ſo iſt es
noch. Bei jeder neuen Dichtung fragen die
Einen: Wo geſchah dies? die Andern: Sollte
dies geſchehen können? nur die freien Gemü¬
ther entſcheiden, ohne zu fragen, weil ſie es
fühlen, daß das, was nicht geſchieht, immer
noch wahr iſt, ſelbſt wenn es nicht geſchehen
kann.
Alles, was die Wirklichkeit kopirt, iſt für
die Maſſe. Dieſe Gattung der Poeſie erhebt
ſich von der unterſten Stufe der Genremalerei
bis zu den Romanen von Walter Scott und
Bulwer, bis zu den Dramen Ifflands und
Kotzebue's. Nur hell, blank und geſchliffen
muß dieſe Literatur ſein, weil ſie der Wirk¬
lichkeit gegenüber ein Spiegel iſt, der ſie
treu auffäßt und wiedergiebt. Für die ſchaa¬
len Gemüther iſt nichts genialer, als ſie ſelbſt
zu zeichnen, wie ſie ſind: ihre Tante, ihre
Katze, ihren Shwal, ihre kleinen Sympathien,
ihre Schwachheiten. Was haben wir von euern
Grillen? von euern Erfindungen, die in der
Luft ſchweben? Gebt uns uns ſelbſt, dem Egois¬
mus den Egoismus! Es giebt Kritiker und
Literatoren, die ſich nur für das Copiren der
Wirklichkeit enthuſiasmiren können. Das Wahr¬
ſcheinliche iſt bei ihnen ſchon eine Conzeſſion.
England hat von jeher dieſe Art der poetiſchen
Darſtellung bevorzugt, Deutſchland iſt ſyſte¬
matiſch genug bearbeitet worden, hierin nach¬
folgen zu müſſen. Die alte Literatur ſteht bei
uns verſteinert da in Tempeln und in Wall¬
hallen, die mittlere war keines Schuſſes Pul¬
ver werth, die neue hat nur noch ein ſchwan¬
kendes und kaltes, von Politik und ſpekulativer
Trägheit ganz darnieder gehaltenes Publikum.
Darauf kömmt alles zurück: Man will von der
Literatur keine Anſtrengung haben; die Litera¬
tur ſoll Niemanden mehr eine unruhige Nacht
machen, ſie ſchildert, ſie porträtirt, ſie ſtillt
die Leſeluſt mit Hiſtorie und Bulwer. Die
Poeſie iſt jetzt Selbſtbefruchtung. Die Wirk¬
lichkeit nährt ſich von ihrem eignen bürger¬
lichen, überquellenden Fette.
Menſchen, die ſchon eine Stufe höher ſte¬
hen, ſind mit der Wahrſcheinlichkeit zufrieden.
Sie wollen nur einige Vorausſetzungen, die
Gutzkow's Wally. 21
den Boden der Wirklichkeit berühren; das
Uebrige überlaſſen ſie der Combination und
Phantaſie. Dies ſind die gemüthlichen Leſer,
die ſich durch poetiſche Schöpfungen in einen
ſanften Halbſchlummer wiegen laſſen, die die
Bücher nach der Elle conſumiren. Es muß
ihnen nichts zu nahe und nichts zu ferne lie¬
gen. Schwebend zwiſchen Himmel und Erde,
ganz willenlos hingegeben den Capricen des
Dichters, freuen ſie ſich zuletzt, daß nun Alles,
was ſie geleſen haben, doch entweder nicht
wahr iſt, oder im entgegengeſetzten Falle im¬
mer ſehr wahrſcheinlich bleibe.
Die Wahrheit ſelbſt iſt unſichtbar und liegt
niemals in dem, was wirklich iſt. Die poe¬
tiſche Wahrheit iſt ſchöpferiſch. Sie baut mit
den geheimſten Fäden der menſchlichen Seele,
ſie combinirt nicht, wie der Staat, die Fa¬
milie, die Religion, die Sitten und das Her¬
kommen combiniren, ſondern revolutionär. Die
poetiſche Wahrheit offenbart ſich nur dem Ge¬
nius. Dieſer lauſcht niedergeſtreckt auf den
Boden der Wirklichkeit, und hört wie in den
innerſten Getrieben der Gemüther eine em¬
bryoniſche Welt mit keimendem Bewußtſein
wächſt. Wer auf ſeine Entwickelung lauſcht,
muß ſich oft geſtehen, daß ganze Gedichte in
ihm ſich zuſammenreimen aus Motiven, welche
die Außenwelt niemals anerkennen würde. Dies
ſollte nicht auch Wahrheit ſein? Dies ſollte
den Dichter nicht entzücken? Die Alten und
die Mittleren ſchufen in dieſer Weiſe nicht:
aber die Modernen werden es. Ihre Hiſto¬
rien ſind nicht die Sage oder Geſchichte, ſon¬
dern die Ideen, die im Schooße der ſtill wir¬
kenden und ſchaffenden Gottheit ſchlummern.
Die Welt, wie ſie iſt, wird ihren Gebilden
nicht entſprechen; dieſe werden dem nüchternen
Vorwurfe der Unwahrheit und Unwahrſchein¬
21 *
lichkeit ausgeſetzt ſein. Aber noch immer gieng
das Genie ſeinem Jahrhunderte voraus.
Zwei Thatſachen möcht' ich aus Obigem
folgern: die beide weniger literariſch, als hi¬
ſtoriſch ſind.
Wenn man in Anſchlag bringt, daß ent¬
ſchieden ſchon in der franzöſiſchen Literatur,
ohne alle Widerrede auch bei uns allmälig eine
Poeſie der ideellen Wahrheit und reellen Un¬
wirklichkeit ſich zu entfalten beginnt, wenn man
dieſe Frauengebilde betrachtet, welche die Phan¬
taſie der jetzigen begabteren Dichter erfindet,
dieſe originellen Situationen und allem Her¬
kommen widerſprechenden Sitten; ſollte man
dieſe Erſcheinung nicht für beziehungsreich hal¬
ten für unſer zukünftiges Leben, für die Exi¬
ſtenz in der Wirklichkeit, für die weite Unter¬
lage der Maſſe und des allgemeinen Glaubens?
Es iſt wahr, die Dichter fangen an, auf im¬
mer luftigeren Bahnen zu wandeln: ſie ſchaf¬
fen ſich ihre eignen Welten mit Thronen, die
ihre Phantaſie erbaute, mit Richterſtühlen, die
ihre eigne Geſetzgebung haben, mit einem Got¬
tesdienſt, deſſen Prieſter nur noch die kleine
Gemeinde ſelbſt iſt. Es baut ſich eine Wahr¬
heit der Dichtung auf, der in den uns umge¬
bendendenumge¬
benden Inſtitutionen nichts entſpricht, eine
ideelle Oppoſition, ein dichteriſches Gegentheil
unſrer Zeit, das einen zweifachen Kampf wird
zu beſtehen haben, einmal einen gegen die Wirk¬
lichkeit ſelbſt als conſtituirte Macht mit phy¬
ſiſcher Autorität, ſodann einen gegen die Poeſie
der Wirklichkeit, welche ſo viel Dichter und
ſo viel Kritiker für ſich hat.
Dies iſt ein Symptom unſrer Zeit, aus
dem wir bis jetzt noch keinen weitern Schluß
ziehen wollen, als einen, der vielleicht außer¬
halb der Literatur liegt, den ich aber nicht
verſchweigen will, weil Jedes, was die Menſch¬
heit ehrt, auf den Lippen des Enthuſiaſten brennt.
Man verwirft mit Recht das Experimentiren
mit der Menſchheit, aber man geht darin wei¬
ter, als man darf, ohne die Menſchheit zu be¬
leidigen. Wir fürchten uns, den Zeitgenoſſen
etwas zu entziehen, wovon wir uns einbilden,
daß es zu ihrem Leben nöthig iſt. Wir glau¬
ben an die Inſtitutionen in Sitte, Meinung
und politiſcher Einrichtung, wie an die uner¬
läßlichen Lebensbedingungen der Jahrhunderte.
Als wenn die Menſchheit keine innern Quellen
hätte! Als wenn ſie untergienge, wenn ihr ſie
aus dieſer ganzen Sündfluth ihrer Exiſtenz
plötzlich nackt und noch triefend auf den Ara¬
rat verſetztet! Als wenn die Menſchheit nicht
immer die erſte ſein wird, die ſich hilft und
diejenige, welche für ſich den beſten Rath weiß!
Sie zucken die Achſeln, wie unvorſichtige Aerzte,
ſie fürchten für das Leben des Patienten und
quackſalbern an den alten Schäden herum;
aber nehmt der Menſchheit ein Bein ab: ſie
wird ſich ein neues machen; nehmt ihr, um
nur Eines, was unmöglich ſcheint, zu nennen,
z. B. das Chriſtenthum: glaubt ihr, daß ſie
untergehen wird? Nehmt ihr eure Geſetzbücher,
eure Verfaſſungen; — nehmt ihr zuletzt das,
worauf gleichſam Alles ankommen ſoll, nehmt
ihr euch ſelbſt! — und die Menſchheit wird
fortbeſtehen. Sie wird Alles ertragen, und
durch Felſen vom ſtärkſten Granit noch immer
einen Weg finden, der ſie zu ihrem Ziele führt.