Frauenrechte – Volksrechte.
Von Auguste Kirchhoff.
Der Weltkrieg, der große Umwerter aller Werte, vor
dessen gewaltigem Hauch überkommene, festgewurzelte
Begriffe ins Wanken geraten und alte Vorurteile in nichts
zerstieben, hat mit tausend andern Fragen auch die
Verfassungsprobleme in allen Ländern aufgerollt. Der
Vernichtungskampf, in dem seit nunmehr drei Jahren die
Spannungen äußerer Politik sich auslösen und austoben,
greift mit unwiderstehlicher Gewalt auch mitten hinein
in die innerpolitischen Verhältnisse der einzelnen Staaten
und zwingt durch die Macht der Tatsachen zur Nach-
prüfung altgeheiligter Anschauungen und Einrichtungen.
Die da draußen ihr Leben einsetzen, ihre frische Jugend,
ihre Manneskraft hingeben für die Volksgemeinschaft,
die dürfen nicht ferner ausgeschaltet sein, wenn es
gilt, über die Geschicke des Vaterlandes zu beraten:
diese Erkenntnis bricht sich langsam Bahn. Und mit
ihr Hand in Hand geht die andere: auch die, die in der
Heimat das Wirtschaftsleben aufrecht erhalten, die Leid
Mühsal und Entbehrung durch Jahre hindurch standhaft
tragen, die Kraft und Arbeitsleistung verdoppeln, um
entstandene Lücken auszufüllen, haben sich in Stunden
höchster Not ein Anrecht darauf erworben, den Staat
neu mitaufzubauen, in den ihr Dasein mit all seinen
Lasten und Mühen hineingestellt ist.
Die Osterbotschaft Kaiser Wilhelms II. hat uns Deutschen
die offizielle Bestätigung dieser Einsicht von maßgeben-
der Stelle gebracht. An einem Kaiserwort soll man nicht
drehen und deuteln: wo „nicht mehr Platz ist für ein
Klassenwahlrecht“, wo auf die Bedeutung der freudigen
Mitarbeit aller Volksgenossen hingewiesen wird, da gibt
es nur einen Weg: aufzuräumen mit jedem Wahlunrecht,
in welcher Form auch immer es uns entgegentritt.
Damit erscheint unabweisbar auch die Frage des
Frauenstimmrechtes auf dem Plan; denn auch die
Frauen gehören zum Volk und haben ihre Zugehörigkeit in
leidvoller, schwerer Zeit durch die Tat bewiesen. In man-
chen Ländern schickt man sich an, die Konsequenzen
zu ziehen. Ob all den schönen Worten unserer plötzlich
erstandenen Lobredner auch in Deutschland Taten folgen
werden, ist eine zweite Frage. Meiner Ueberzeugung
nach will noch ein gut Stück schwerer Arbeit von den
deutschen Frauen getan sein, ehe auch sie als gleich-
wertige und gleichberechtigte Menschen und Staatsange-
hörige neben dem Manne an den Geschicken ihres Landes
tätigen Anteil nehmen werden.
Die Frauen rüsten zu diesem Kampf: in Petitionen
an den Verfassungsausschuß des deutschen Reichstages,
an die Regierungen und Landtage der Bundesstaaten, in
öffentlichen und geschlossenen Versammlungen nehmen
sie Stellung zur Wahlrechtsfrage. Da scheint es an der
Zeit, noch einmal kurz darzulegen, warum wir im Deut-
schen Frauenstimmrechtsbund organisierten Frauen das
allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht als
verpflichtendes Prinzip auf unsere Fahne geschrieben
haben.
Eigentlich gibt die Tatsache, daß mit der Erweite-
rung der Volksrechte das Frauenstimmrecht plötzlich
eine ganz andere Bedeutung gewinnt, die beste Antwort
auf diese Frage: Volksrechte und Frauenstimmrecht
gehören zusammen, bedingen einander. So wenig ohne
Frauenstimmrecht von einem allgemeinen Wahlrecht die
Rede sein kann, so wenig ist die Forderung des Frauen-
stimmrechtes aus einer anderen Quelle herzuleiten, als
aus dem Rechte der Anteilnahme aller Volksgenossen
an den Geschicken ihres Landes. Ueberall da, wo Macht
vor Recht geht, wird die Frau vergeblich anklopfen: nur
wo Rechtsgrundsätze als Basis menschlichen Zusammen-
lebens Geltung haben, wird man auch der Frau den ihr
zukommenden Einfluß gewähren wollen. Eine Gewalt-
politik, die sich aufbaut auf dem Recht des wirtschaft-
lich Stärkeren, hat logischerweise gar keinen Grund,
der Frau gegenüber von ihrem Prinzip abzugehen. Denn
ohne Frage bedeutet die Beteiligung der Frauen am
Wahlrecht für den Mann einen Verzicht auf gewisse
Vorrechte und damit auf eine bisher innegehabte Macht-
stellung. Dr. Heinz Potthoff hat vor Jahren in seiner
Broschüre: „Frauenstimmrecht und allgemeines Wahl-
recht“ überzeugend nachgewiesen, daß nur die Männer
und Parteien, die für ein gerechtes Männerwahlrecht
eintreten, konsequenterweise auch die Forderung des
Frauenstimmrechtes unterstützen können, weil der, der
einen Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht dul-
den will, auch keine Unterschiede des Standes, des Be-
sitzes und der Bildung als ausschlaggebend anerkennen
kann.
Und die praktische Probe stimmt aufs Exempel einst
wie jetzt. Vor Jahren erklärte der Abgeordnete Oertel
namens der Konservativen: „Eins aber widerstrebt uns
und mir: wir wollen die Frauen nicht hineintreten und
hineinziehen lassen in das politische Getriebe, den poli-
tischen Kampf. Dieser Kampf paßt nicht für die Frauen,
die Eigenart der Frauen ist mit ihm unvereinbar!“ Und
heute hören wir trotz der bittern Lehren des Weltkrieges
aus dem Munde des Vertreters der Konservativen im
Verfassungsausschuß die alte Weise nur mit dem unter
den obwaltenden Verhältnissen doppelt eigenartig be-
rührenden Zusatz, daß die Frau „einmal im Leben die
Wahl habe!“ – Das Zentrum, das bisher zum Frauen-
wahlrecht keine Stellung nahm, erklärte bei den letzten
Beratungen kein Freund der Politisierung der Frau zu
sein. Aber in seiner Brust wohnen zwei Seelen: vielleicht
daß noch einmal, durch die Verhältnisse bestimmt, sein
stark demokratischer Einschlag die religiösen Bedenken
überwindet, die das Weib zum Schweigen in der Ge-
meinde verurteilen. Auch im nationalliberalen Lager
hat der Krieg kein Umlernen gezeitigt: je nach rechtem
und linkem Flügel ablehnend oder zu kleinen Konzes-
sionen und Zukunftsversprechungen geneigt, steht man
schwankend der Sache gegenüber. Und auch die fort-
schrittliche Volkspartei hat immer noch nicht die poli-
tische Gleichberechtigung der Frau offiziell in ihr Pro-
gramm aufgenommen; nach den Erklärungen ihres Ver-
treters im Verfassungsausschuß sind die Meinungen in
der Partei „geteilt“. Immerhin stehen in ihren Reihen
wenigstens konsequente Verfechter der Frauenrechte;
und auf ihrer gemeinsamen Tagung in Hamburg haben
sich kürzlich die Liberalen der drei freien Hansestädte
gleichzeitig zur Forderung des allgemeinen, gleichen,
geheimen und direkten Wahlrechtes und des Frauen-
stimmrechtes bekannt. Voll und ganz wird diese For-
derung nach wie vor vertreten von der äußersten Linken,
der sozialdemokratischen Partei und der der „Unab-
hängigen Sozialdemokratie“, die aus den Kriegserleb-
nissen heraus die alte Forderung neu und nachdrücklich
begründen.
Wir sehen also die Frauen in ihrem Kampf, der nicht
in politischen Debattierklubs, sondern auf dem sehr
realen Boden der Männerparlamente ausgefochten werden
wird, lediglich angewiesen auf die Hilfe der links-
stehenden Männer. Allein schon aus praktischen Erwä-
gungen müßten die Frauen daher für das Wahlrecht
eintreten, das diesen Männern die Macht im Parlament
sichert: Mit der Demokratie steht, und fällt das Frauen-
wahlrecht.
Es ist doch auch wahrlich kein Zufall, daß der aus
den Stürmen des Revolutionsjahres 1848 herausgeborene
Stimmrechtsgedanke nur durch die hingebungsvolle Pio-
nierarbeit streng demokratischer Frauen, die Spott, Hohn
und Widerwärtigkeiten ruhig auf sich nahmen, überhaupt
lebenskräftig wurde. Wenn heute dieser Gedanke bis
tief in die Kreise der gemäßigten Frauen eingedrungen
ist, wie das Verhalten der Hausfrauenvereine und Stadt-
bundorganisationen an manchen Orten beweist, wenn
frühere Gegnerinnen heute zu seinen Verfechterinnen
geworden sind, so ist das eben ein Zeichen der zuneh-
menden Demokratisierung unseres Volkes. Konservative
Frauen lehnen auch heute noch diese ketzerischen Ideen
vollkommen ab aus dem ganz richtigen Instinkt, daß nur
eine der ihren diametral entgegengesetzte Weltanschau-
ung ein günstiger Boden für das Frauenstimmrecht ist.
Eine Einigung aller Frauen, wie sie denen als Ideal vor-
schwebt, die um dieses Gedankens willen das Bekenntnis
zum allgemeinen gleichen Wahlrecht verwerfen, scheint
mir ganz ausgeschlossen. Denn Frauenstimmrecht ist
nicht eine reine Frauensache, sondern eine Angelegen-
heit des ganzen Volkes und muß daher nicht frauen-
rechtlerisch, sondern politisch begriffen und begründet
werden.
Politische Arbeit aber verlangt ein festes Programm.
Solange die Stimmrechtsorganisationen nichts sein wollen
als Vereine zur politischen Schulung der Frau, mag Neu-
tralität gegenüber der Wahlrechtsfrage vielleicht mög-
lich sein, obgleich auch das noch eine offene Frage ist.
Sobald sie aber die Oeffentlichkeit, den Kampfplatz, be-
treten, müssen die Frauen wissen, was für ein Wahl-
recht sie erkämpfen wollen. Da heißt es Stellung neh-
men, Bundesgenossen suchen und in der Richtung vor-
gehen, die den Sieg verheißt.
Prinzipiell gibt es nur zwei Wahlsysteme: ein allge-
meines, gleiches, das allen Volksgenossen ohne Unter-
schied, soweit sie im Besitz ihrer 5 Sinne und keine
Verbrecher sind, zusteht, das logischerweise also
auch die Frauen einschließen müßte, und ein be-
schränktes, ungleiches, wodurch man glaubt, die
besten und geeignetsten Vertreter der Volksgesamt-
heit auswählen zu können. Im Prinzip gewiß sehr
ideal, führt dieses System, abgesehen von der Frage,
wo denn die gerechte, unparteiische und weitschauende
Instanz ist, die die richtige Auswahl trifft, in der Praxis
zur Vergewaltigung der wirtschaftlich Schwachen, mag
es nun, wie das preußische Dreiklassenwahlrecht und
verwandte Systeme sich aufbauen auf der Steuerleistung,
oder wie das im Königreich Sachsen seit 1909 einge-
führte Pluralwahlrecht abgestuft sein nach Bildung, Alter
und Besitz. Denn auch Bildung und Alter sind nicht
unabhängig von materiellen Gütern; ein Arbeiter ist
im ganzen früher verbraucht als der Besitzende, und
der Zusammenhang von Bildung und Besitz erhellt ohne
weiteres. Außerdem ist doch noch sehr die Frage, ob
eine bessere Schulbildung unbedingt größere politische
Reife garantiert, oder ob nicht der mitten im Leben
stehende Angestellte, der Arbeiter, den sein Beruf mit
tausend sozialen Problemen in unmittelbare Berührung
bringt, mehr Verständnis für die Interessen der Allge-
meinheit hat, als der frühere Korpsstudent, der Sohn
wohlhabender Eltern, der des Lebens Not nie am eigenen
Leibe spürte und oft nur seinen studentischen, seinen
Fachinteressen lebte.
In Preußen wählen 82 $%$ der Gesamtbevölkerung in
der dritten Klasse. Was das bedeutet, wird klar, wenn
wir bedenken, daß beispielsweise in der Stadt Charlotten-
burg ein Erster-Klasse-Wähler 56x soviel Wahlrecht hat,
als ein Wähler dritter Klasse, – Zahlen, die sich in
Groß-Agrarbezirken und starken Industriezentren mit
vorwiegend Arbeiterbevölkerung auf der einen und Fi-
nanzgrößen auf der andern Seite noch sehr zu ungunsten
der dritten Klasse verschieben. Die Oeffentlichkeit der
Wahl macht natürlich die Wahlfreiheit der kleinen Be-
amten und Arbeitnehmer zum sehr zweifelhaften Be-
griff, – der indirekte Weg über den Wahlmann ver-
mindert den Einfluß auf die Wahl eines bestimmten Kan-
didaten.
Wir sehen: ein Wahlrecht fordern, „wie die Männer
es haben und haben werden“, heißt vom Klassenstand-
punkt aus Ja sagen zu all dem Wahlunrecht, das wir vom
Standpunkt des Geschlechtes aus als aller Gerechtigkeit
Hohn sprechend empfinden und bekämpfen. Dürfen wir
Frauen das tun, wenn wir wirklich an unsere Mission
glauben, neue sittliche Werte ins politische Leben ein-
zufügen? Dürfen wir Gerechtigkeit für unser Geschlecht
fordern, wenn wir sie breiten Volksschichten vorent-
halten? Oder heißt das nicht etwa, den Kampf ins eigene
Lager tragen? Unter den Frauen haben wir Klassen-
unterschiede so gut wie unter den Männern, und die Ent-
rechtung weiter Frauenkreise würde noch viel größer
sein als die der Männer infolge der schlechteren Ent-
lohnung der Frauenarbeit, der im allgemeinen geringer
gewerteten Mädchenschulbildung und der Gesetzesbe-
stimmung, daß Ehefrauen, – auch solche, die über
eigenes Einkommen und Vermögen verfügen, – als selb-
ständige Steuerzahler nicht in Betracht kommen, sondern
in den Steuerlisten als Anhängsel des Mannes, geführt
werden. Auf der Steuerliste aber baut sich beim Klassen-
wahlrecht die Wählerliste auf. Das Resultat würde also
sein, daß weder die Ehefrauen, noch der größere Teil
der erwerbstätigen Frauen, von denen vor dem Kriege
nur ⅙ in leitenden, ⅚ aber in schlecht und mäßig be-
zahlten Stellen waren, irgend einen politischen Einfluß
bekommen würde, der nicht nur auf dem Papier steht.
Und auch beim Pluralwahlrecht würde bei der verhältnis-
mäßig geringen Anzahl studierter Frauen das Ergebnis
im wesentlichen starke Benachteiligung der Frau im
Verhältnis zum Manne und der Lohnarbeiterin gegenüber
der besitzenden Frau sein.
Wenn früher stets auf die erwerbstätige Frau als
auf die Bahnbrecherin zur politischen Befreiung hin-
gewiesen wurde, wenn es schon im Jahre 1908 bei Auf-
hebung des Vereinsgesetzes vom preußischen Minister-
tisch hieß: „Wir können diesen Frauen ihr Recht nicht
mehr vorenthalten“, – so bedarf nach den Erfahrungen
des Weltkrieges dieser Standpunkt entschieden der Er-
gänzung. Nicht nur die erwerbstätigen Frauen schaffen
mit am Wohlstand der Nation, sondern in gleichem Maße
die Hausfrauen, durch deren Hände das Nationalver-
mögen als Kleinmünze geht und von deren Einsicht und
Sparsamkeit in Zeiten der Not das Volkswohl mehr ab-
hängig ist, als von irgend einem andern Faktor. Vor
allem aber schaffen die Mütter Werte, lebendige Werte
aus ihrem eigenen Fleisch und Blut, Werte, deren unser
in seiner besten Volkskraft geschwächtes Vaterland nicht
für neue Kriege, sondern zum Aufbau einer neuen,
bessern Kultur mehr bedarf, als alles andere.
Haben diese Frauen, diese Mütter, ohne deren
Leistung der Staat überhaupt nicht denkbar ist, nicht ein
glühendes Interesse an allen Geschehnissen innerer und
äußerer Politik? Haben nicht die Hausfrauen in stets
neuer, banger Sorge erfahren, was es heißt, für den
täglichen Bedarf das Nötigste herbeischaffen, wenn das
Wirtschaftsleben stockt? Und hat nicht unsagbares Leid
das Verlangen der Frauen und Mütter geadelt, mitaufzu-
bauen nach dem Vernichtungswerk des Krieges, damit
ihrer Kinder Land zum schützenden Heim werde, zum
starken Hort wahrer Kulturarbeit? Was aber nützt all
diesen Frauen ein Wahlrecht, das ihnen vielleicht den
Wahlzettel in die Hand gibt, jeden wirklichen Einfluß
auf die Politik aber von vornherein ausschaltet? Wahr-
lich, das Resultat, einigen reichen, alleinstehenden Frauen
und Witwen diesen Einfluß zu verschaffen, scheint mir
kein Preis, all unseres Kampfes wert; um so weniger,
als diese Frauen, einmal ins Parteigetriebe hineinge-
zogen, kaum die geeigneten sein dürften, nun auch der
erwerbstätigen, der Proletarierfrau ihre Rechte er-
kämpfen zu helfen, sondern höchst wahrscheinlich nur
eine Stärkung konservativer Kräfte bedeuten würden.
Ein wirkliches Stimmrecht, das vor allem die, die
es am nötigsten brauchen, die wirtschaftlich Schwachen,
umfaßt, ist nur denkbar auf Grund des allgemeinen, glei-
chen, geheimen und direkten Wahlrechts, das aufgebaut
auf dem proportionalen Wahlsystem eine bessere Ein-
teilung vorsieht und Minoritäten zu Wort kommen läßt.
Nur diesem können wir Frauen zustimmen, wenn es uns
wirklich Ernst ist mit unserm Ruf nach Gerechtigkeit,
und wenn wir den Staat auffassen als eine sittliche Ge-
meinschaft aller Staatsangehörigen, deren Streben und
oberstes Ziel die materielle, geistige und sittliche Wohl-
fahrt der Gesamtheit sein und bleiben muß. Wo ein
Glied leidet am Leibe der Volksgemeinschaft, da leiden
alle. Und so hat ein Staat, der seine Ausgabe wirklich
im idealen Sinne auffaßt, keinerlei Interesse an der
einseitigen Vertretung bestimmter egoistischer Klassen-
bestrebungen auf Kosten anderer. Im Gegenteil: seine
Stärke, seine Gesundheit hängt ab von dem innern Gleich-
gewicht, und gerade deshalb müßte der Staat darauf
bedacht sein, den wirtschaftlich Schwachen ihr Recht
zu sichern. Nur dann ist dem Staate mit dem Frauen-
stimmrecht wirklich gedient, wenn er sich auf alle Kreise
stützen kann: auf die Proletarierin wie auf die begüterte
Frau, auf die Fürstin wie die Fabrikarbeiterin, auf
die reiche Gutsbesitzersfrau wie auf die arme Land-
arbeiterin, auf die Ledige wie die Verheiratete, die be-
rufstätige Frau wie die Hausfrau und Mutter, die Steuer-
zahlerin wie die Steuerfreie. Sie alle haben in Zeiten
schwerster Not sich in den Dienst des Staates gestellt
und ohne die hingebungsvolle Arbeit gerade der untern
Klassen wäre ein Aufrechterhalten unseres Verkehrs
und Wirtschaftslebens ein Ding der Unmöglichkeit ge-
wesen.
Die aber, deren Schultern die schwersten Lasten
tragen, die neben ihren Hausfrauen- und Mutterberuf
noch entstandene Lücken ausfüllen und doppelt und
dreifache Arbeit leisten, die haben auch Werte zu geben
für die Allgemeinheit. Deren Stimmen müssen vor allem
in die Wagschale fallen, wenn es gilt, Wunden an unserm
Volkskörper zu heilen und durch erweiterten Arbeite-
rinnen- und Mutterschutz die Zukunft unseres Volkes
sicher zu stellen.
Jeder fernere gewollte und bewußte Verzicht des
Staates auf lebendige Kräfte, die sich ihm zur verantwort-
lichen Mitarbeit darbieten, bedeutet eine schwere Schä-
digung der ungeheuren Aufgaben, die sich riesengroß
vor ihm auftürmen. Die Organisationsfähigkeit der
Frau, die große Betriebe zu leiten hat und die Sparsam-
keit und Einteilsamkeit der Proletarierin, die täglich
die schwere Kunst üben muß, mit wenigen Groschen
Haus zu halten, die Erfahrungen der berufstätigen
Frauen, die werteschaffend mitarbeiten am Wohlstand
der Nation, und der Hausfrauen, die die gewonnenen
Güter richtig verwenden und verwerten, die aus körper-
licher und sittlicher. Not und Gefährdung gewonnene
Erkenntnis der Fabrikarbeiterin und die freudige Mit-
arbeit erfahrener Mütter bei allen Fragen, die das leib-
liche und seelische Wohl der kommenden Generation,
der Jugend, betreffen, das alles sind Kraftquellen, die
nicht länger brach liegen dürfen, soll wirklich ein star-
kes neues Deutschland aus den Trümmern des Welt-
krieges erstehen. Höchstes Pflichtbewußtsein, unbeding-
tes Verantwortlichkeitsgefühl durch Verleihung von
Volksrechten in allen Kreisen wecken, heißt diese Quellen
als segenspendenden Strom für unser Vaterland frucht-
bar machen.