HERMOINE v. PREUSCHEN
YOSHIWARA
YOSHIWARA
Vom
Freudenhaus des Lebens
Roman
in
drei Teilen
von Hermione
v.
PREUSCHEN
Otto Janke - Verlag
Berlin
Alle Rechte , besonders das der Ueberstetzung , vorbehalten .
Copyright 1920 by Otto Janke , Berlin .
Der Wahrheit
und der Schönheit
zu
eigen
Ein Vorwort zu „ Yoshiwara “
von Professor Dr. Sh. Chiba , Tokio .
„ Keisi ni Makoto nashi Towa Soria Taga uta ?
Makoto aru — made Kimo sezumi ! “
( Wer wagt zu sagen , daß uns die Treue fehlt ?
Wer kommt uns so nahe , daß er unsere Treue erprobt ! )
So heißt ein altes Lied von Yoshiwara , dem „ nachtlosen Schloß “ , in dem zu jeder Zeit dreitausend Frauen wohnen , die jedes Europäers Mitleid erwecken , da er glaubt , sie säßen im Käfig wie die wilden Tiere im zoologischen Garten .
Er weiß ja nicht , daß das Gitter , das ihm den Begriff Käfig weckt , nicht darum vorhanden ist , ihnen die Flucht unmöglich zu machen , sondern nur , damit kein rauher Mensch die zarten Mädchen unsanft anfasse .
Es sind ja wirklich zarte Mädchen , was kein Ausländer ahnt , denn die Ursache , warum neun Zehntel von ihnen hierherkamen , ist ihm unbekannt .
Aber ich bin dessen ganz sicher , daß die Geschworenen Europas kaum eines der Yoshiwaramädchen als ehrlos verdammen würden .
Freilich , daß sie so skrupellos zu Tausenden diesen Freudenberuf erwählen , nach dem Motto „ der Zweck heiligt die Mittel “ , zeigt zur Genüge , daß bei uns in Japan die Kurtisanen Yoshiwaras auf weit geachteterer Stufe stehen als die Freudenmädchen europäischer Bordelle .
Die Ursache , warum sie in den „ Käfig “ gehen , ist meistenteils nur Kindesliebe , um ihre bedürftigen Eltern zu unterstützen .
Vor fünf Jahren , als ich dort amtlich untersuchte , fand ich von zweitausendneunhundertfünfundfünfzig Frauen nur zehn , die einzig aus sinnlicher Lust dies Gewerbe erwählt hatten . Die anderen alle waren nur dorthin gekommen , um ihre Eltern oder ihren Geliebten aus drohender Geldnot zu retten .
Hier paßt , wie nirgend , Buddhas Ausspruch „ Lotosblumen im Schlamm “ . All ihrer Umgebung zum Trotz bleiben ihre Seelen rein wie die Lotos .
Sie gehören nun zu den von der ganzen zivilisierten okzidentalen Welt verachteten Freudenmädchen ; aber warum sie es wurden , das entsprang einem reinen Impuls .
Was sagte einst Takeo , die ihrerzeit berühmte Yoshiwaraschönheit , zu einem Fürsten , der sie mit Geld lösen und an seinen Hof bringen wollte ?
„ Ihr könnt meinen Körper erkaufen wie einen Ziegelstein . Aber meine Seele , mein Herz , die gehören mir allein . Vor keinem Galgen fürchte ich mich . Das gleißende Gold bewegt mich nicht . “
Takeo war , um der Not ihres Verlobten willen , nach Yoshiwara gekommen . Körperlich war sie ein Spielball anderer Männer , doch seelisch blieb sie immer rein .
Als sie im reichgeschmückten Boot an den Hof des Fürsten gebracht werden sollte , wiederholte sie nur immer : „ Ich gehöre niemandem an wie meinem Geliebten . “
Im Zorn tötete sie der Fürst . Und noch ihren Mörder lächelte sie sterbend an : „ Dank Euch , daß ich , meine Ehre bewahrend , ins Jenseits fahre . “
Der ausländische Beobachter weiß gar nicht , wie viele Tränen im Lächeln dieser Frauen verborgen sind . Mitternacht ist lange vorüber . Der Zeiger der großen Uhr steht auf zwei . Da verliert die Benennung „ Nachtloses Schloß “ ihre Berechtigung .
Die Gassen werden fast menschenleer . Feuerwehrleute , in der Hand klingende Schellen , ziehen die Straßen entlang . Jeder Schritt entlockt den Schellen melodischen Ton .
Dann kommen die Nachtwächter und schlagen die Hioshigi ( Eichenklöppel ) . Von fern hört man den dumpfen Ton der Asakusaglocken .
Der Mond breitet sein blasses Licht über die Blumen von Yoshiwara .
Ein paar Schin-naisänger ziehen , melancholische Liebeslieder singend , mit ihrer Schin-naimusik vorüber .
Da lehnt wohl manchmal hinter dem Geländer einer Veranda ein Freudenmädchen , betrachtet sinnend den Mond und lauscht dem Schin- naigesang .
Dann wirft sie all ihr Geld den Vorübergehenden herunter , um das ganze Schin-nailiebeslied noch einmal zu hören . Und die Kleine steckt sich ihr Seidenpapiertachentuch in den Mund , um ihr Heimwehschluchzen zu ersticken . — Früge sie aber ein „ Gast “ , warum sie weine , würde sie nur antworten : „ Wann seh’ ich dich wieder ? “ — Und der gutgläubige Fremde freute sich ob dieser Antwort .
Aber in dieser Lüge liegt die Treue — die Treue gegen ihre Angehörigen .
In der mondhellen Nacht zieht ihre Seele auf Flügeln der Schin-nailieder zu Eltern und Geliebten , um derentwillen sie sich hierher verkauft hat .
Verkauft haben sie sich ja wirklich , all diese Frauen . Aber das Geld , das müssen sie zu verachten scheinen , denn in Yoshiwara von Geld zu sprechen , gilt noch heute für plump .
Wenn auch die „ goldene Zeit “ lange vorüber ist , da ein Mädchen zu einem Reichen , der ihr Gold in die Kammer gestreut , empört rief : „ Wirf die schmutzigen , gelben Würmer zum Fenster hinaus ! “
Doch noch existiert die Tradition der scheinbaren Geldverachtung , und kein Freudenmädchen wagt das Geld , das sie verdient hat , gleich zu berühren .
Aber die fortschreitende „ Zivilisation “ tötet wohl auch die Poesie von Yoshiwara . Nur noch einen letzten Rest davon möchte die „ Lotosblume im Schlamm “ sich bewahren .
Möchte dies Buch helfen , im Sinnenkult des Ostens dem zivilisierten Ausland den Spiegel vorzuhalten , in dem es erkennen kann , wieviel reiner
und harmloser wir bei uns in Japan dem Liebesdienst uns ergeben .
Und daß die Prostitution des Abendlandes wie ein dunkler Schandfleck auf der vielgerühmten Zivilisation des Okzidentes liegt !
Sh. Chiba .
ERSTER TEIL
I
N
D
R
A
Anhalter Bahnhof in Berlin ! Das Zeichen zur Abfahrt des Nachtschnellzugs Berlin—Frankfurt war gegeben . Ein eleganter Herr ging wie suchend an den Coupés entlang . Am Damencoupé dritter Klasse blieb er unwillkürlich stehen , und ein Glimmern ging durch seine schönen , grauen Augen , daß sie wie grüner Phosphor aufblitzten . Dann schritt er nach seinem behaglichen Abteil erster Klasse , in dem er ganz allein fuhr und sich bequem ausstreckte .
Die Ursache dieses Phosphorblicks , Indra Versen , drückte sich derweil in der Mitte des überfüllten Wagens . Sie winkte noch einmal hinaus , nach der behäbigen , blonden Dame , die , laut weinend , wie von Schluchzen geschüttelt , vor der Tür stand . — „ Ich seh’ dich nicht wieder , Indra , ich fühle es , du bist mir verloren . “ — „ Aber Mutter , “ lächelt Indra etwas verlegen , denn sie liebt keine Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit ,
„bedenke doch , es ist ja ein Glück , daß deine Freundin mich haben will , und ich werde Tunis sehen — Tunis ! “ Auch durch ihre Augen zuckt ein Blitz wie ein großes Freudenfeuer . — „ Ich seh’ dich nicht wieder ! “ schluchzt die Mutter . — Der Zug setzt sich in Bewegung , die Mutter winkt , und Indra winkt noch in die Nacht , mit dem weißen Taschentuch , das vor den Augen der Mutter und der Tochter kleiner und kleiner wird — wie ein Schmetterling , der sich hinaus in Nacht und Dunkel verflogen . — Indra schließt die Augen und versucht zu schlafen . Aber wie ist dies möglich vor dem wasserfallartigen Rauschen des eintönigen Plauderbachs der „ Damen “ . Ganze Familien- , Krankheitsgeschichten , Hochzeit , Tod — alles erörtert sich zwischen ein paar Stationen ! Hinter Brandenburg wird ’s etwas leerer , Indra will sich gerade ein wenig ausstrecken , da kommen drei neue Damen mit zahllosem Handgepäck . — Aber wenigstens hat das junge Mädchen einen Eckplatz erobert und fühlt sich schon dadurch vom Geschick bevorzugt . — „ Alles Glück des Lebens ist wirklich nur relativ “ , denkt sie . „ Aus der eingekeilten
Mitte , sardellenartig gepreßt von glotzenden Damen , scheint mir hier auf dem Fensterplatz mein Los schon ein günstigeres . Käme ich aus einem leeren Coupé erster Klasse , erschiene mir dieser Platz unerträglich . “ — Wieder versucht sie , die Augen schließend , einzuschlummern , aber neue Lebensgeschichten plätschern an ihr vorüber . — „ Welch furchtbare Stimmen all diese Weiber haben , seelenlos wie Blech “ , denkt sie . „ Welche Stimme wohl der Fremde hat , der mich vorhin so lange angesehen ? Sind Stimmen Seelenträger , oder können auch Stimmen trügen wie Menschen ? — Nun sitzt die gute Mutter daheim und heult — statt daß sie sich freuen sollte , daß ich nun hinauskomme in die herrliche Welt , nach der unerträglichen Enge und Kleinheit unseres Lebens , nach dem furchtbaren ‚ Kampf mit dem Pfennig‘ , der unsere besten Instinkte tötet . “ Indra ist’s , als müsse sie die Arme ausstrecken , die Welt zu umfassen , die bunte , herrliche Welt , der sie jetzt mit allem Sinnen und Sehnen , mit innerem Jauchzen entgegenfährt . — Fünfundzwanzig Jahre war sie nun , fast „ alt “ , wie sie lächelnd konstatierte . Und
was hatte sie erlebt an bunten , großen Schicksalen ? Innerlich freilich wälzten sich täglich neue Tragödien in ihrer Seele , von denen sie abends todmüde , fast zerbrochen aufs Lager sank . — Ach , wie verstand sie doch Schopenhauer , wenn er sagt : „ Ganz mit Unrecht pflegt man die Jugend die glücklichste Lebenszeit zu nennen . Das wäre wahr , wenn Leidenschaften glücklich machten . “ Indra seufzte , ja , ihre Leidenschaften , ihre Sehnsucht nach allem Großen , allem Herrlichen dieser Welt , auch allen Wundern der Liebe , die ihr erschienen wie ein glänzendes Mysterium , hatten sie tief unglücklich gemacht . Das durfte sie der guten Mutter nicht zeigen , die nach des Vaters Tod , der ein herrlicher Landpfarrer im alten Stil gewesen , und nach dem Tod von vier jüngeren Kindern , die einer Diphtheritisepidemie erlagen , mit der damals vierzehnjährigen Indra nach einer Vorstadt von Berlin gezogen war , um dem hochbegabten , aufgeweckten Mädchen alle Gelegenheit zur Weiterbildung zu geben . Die gute Mutter vergaß , daß die hochgemute Tochter das tägliche Elend des „ sich nach der Decke streckens “ immer
wieder aus allen Himmeln ihrer Träume riß . — Indra verstand sich selber nicht , wußte nicht , was sie wollte — nur ihre Sehnsucht ward mächtiger mit jedem Tag . Sie kam sich von allem glanzvollen Treiben der Großstadt wie ausgeschlossen vor . — Vor der Pforte des Lebens stehend — wie ein armes Kind von der Straße am Christabend drinnen die Lichter blitzen sieht , deren Glanz ihm nur wehe tut , draußen in seiner kalten Winternacht .
Glühende Strophen der Sehnsucht schrieb sie nieder in solchen Stimmungen . Und sie ward eine große Dichterin durch diese große Sehnsucht , ohne es selbst zu wissen . Oft auch ging ihre Sehnsucht zurück nach ihrer sonnigen Kindheit , da sie mit ihren kleinen Geschwistern im Pfarrgarten spielte und der Vater an seinen Rosen schnitt oder Sonnabends in seinem Laubengang , genannt Philosophenweg , die Sonntagspredigt memorierte , — Wie lange war das her ? Wie aus einem anderen Leben . — Nun umgab sie der Moloch Berlin , der ihr alles von ferne zeigte und nichts gönnte . Sie bat ihre Mutter , sie in die Handelsschule zu schicken , damit sie Kontoristin
werden könne . — Aber die gute Mutter hatte ihre kleinstädtischen Vorurteile .
Nachdem sie vier Kinder so jäh verloren , ahnte sie wohl , daß eine Zukunft für Indra als Tippfräulein oder Büfettdame auch kein Glück bringen könnte . Obgleich Indra meinte , sie könne ja eine „ Sekretärin “ werden und hohes Salär erhalten . Aber die Mutter sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen , und Indra fühlte zu wenig inneren Drang zu der ganzen Sache , um ihren Willen mit Gewalt durchzusetzen .
So ging dies kleine Pfennigkampfleben draußen in Friedenau , das nur dem Namen nach eine Vorstadt mit freien Lüften ist , Jahr für Jahr unverändert weiter . Indra hatte in einem englischen Buch eine Stelle gefunden , die ihr tiefen Eindruck machte . „ Die letzten schönen Jugendjahre zögerten vorbei in Kleinlichkeit und Alltag . “ — Daran mußte sie immer denken . — Würde ihr ganzes Leben in Kleinlichkeit und Alltag ersticken ? — Mußte sie ewig draußen stehen und die herrlichen Weihnachtslichter des Lebens nur für andere brennen sehen ?
Mancher Mann hatte sich ihr mit schönen Worten genähert , wenn sie von einem Vortrag in Berlin oder billigeren Stadteinkäufen zurückfuhr . Aber Indra war zwar eine romantische , doch eine durchaus loyale Natur . Sie haßte das leichte , galante Abenteuer , die Flirts der Ladenfräuleins . Sie schmachtete nach dem Wunder , nach der großen Liebe , dem Hohenlied ihres Lebens . Dies aber würde nimmer im Alltag beginnen . Wie sie den Alltag haßte ! Fast wie einen lebenden Feind , der ihre Seele erwürgen wollte . — Sie hatte sich ein Leihbibliotheks-Abonnement buchstäblich vom Munde abgespart , und nun las sie , nicht wahllos , denn sie besaß Kritik und Geschmack , aber ziellos die ganze neuere , neue und neueste Literatur . Mit den Klassikern hatte sie ihr Vater schon als Kind bekannt gemacht . Aber neuerdings war Ibsen ihr Gott , und sie wartete mit Nora auf das Wunderbare und wollte mit Hedda Gabler nur in Schönheit sterben .
Eine lebende , persönliche Religion besaß sie noch nicht , aber eine gewisse romantische Frömmigkeit . Es war so beruhigend , zu denken , daß
der liebe Gott alles zum besten lenkt , auch wenn seine Wege „ unerforschlich “ sind . Sie sind meistens „ unerforschlich “ . Denn warum ließ er wohl ihre vier Geschwister in zwei Tagen an Diphtheritis sterben und dadurch das Herz ihres Vaters brechen und ihre Mutter klein und ängstlich werden , ihr Leben lang ? Indra dachte sich manchmal : wohl um ihr eigenes Leben vor noch mehr Alltag und Pfennigkram zu retten . Denn wie hätte das werden sollen , wenn von der schmalen Pfarrwitwenpension der Mutter vier Menschen mehr hätten gefüttert und „ erzogen “ werden sollen ? Und noch dazu „ standesgemäß “ , nach dem Lieblingswort der Mutter , die aus einem ganz verarmten adligen Hause stammte . — Indra lächelte unwillkürlich bei dem Wort . Manchmal ertappte sie sich auf völlig unstandesgemäßen Gedanken . Ach , das viele Lesen und die große Einsamkeit hatten eine kleine Revolutionärin aus ihr gemacht . Und wenn das Glück sich auch ihr wirklich einmal nähern sollte , sie würde sich den Teufel darum scheren , ob es „ standesgemäß “ sei oder nicht . Ein jeder Mensch hat doch sein eigenes
Leben zu leben und zu sterben . Alle Hilfeleistungen anderer dabei sind am Ende nur schöne Worte . Die ganze Lebenseinsamkeit hatte auch Indra schon erfaßt . Wenn sie ihr auch noch mit Hoffnungen und Idealen rosig umkränzt schien ! Wie der Zug gleichmäßig ratterte , — die „ Lebensgeschichten “ waren jetzt alle verstummt . Sie schliefen , so gut oder so schlecht es ging , mit offenem Mund , mit hängendem Kopf . — Sie stöhnten und schnarchten und schwitzten . Selbst im Schlaf verbreiteten sie Unästhetik . „ Schönheit “ schrie es in Indra — Schönheit , einen großen Lebensstil — werde ich die drunten in Tunis finden ? — Vor vier Wochen erst war der Brief in Frau Versens Hände gelangt . Der Brief der Jugendfreundin , die sich drüben in Reichtum und Glück ihrer zärtlichen Mädchenfreundschaft erinnerte und sie fragte , wenn ihre älteste Tochter ( deren Geburtsanzeige seinerzeit das letzte Lebenszeichen von Frau Versens Freundschaft gewesen ) noch nicht verheiratet sei , ob sie sie auf ein Jahr herüberschicken wolle , sie sehne sich nach einer deutschen Gesellschafterin für ihren sonst ganz arabischen
Haushalt . Wenn sie sich dazu entschließen könne , möge Frau Versen telegraphieren , und das Reisegeld würde dann ebenfalls telegraphisch angewiesen . Frau Pfarrer weinte und jammerte , Indra aber war zum erstenmal entschlossen ! Hier endlich war die offene Pforte , hinaus nach den Wundern des Lebens ! — Endlich , nachdem sie jahrelang sich in Sehnsucht fast verzehrt . Die Mutter weinte und jammerte , aber sie mußte telegraphieren : „ Indra kommt ! “ Und das Geld kam auch , so reichlich , daß es noch zu einer kleinen , aber geschmackvollen , wenn auch einfachen Reiseausrüstung reichte . Und nun endlich , endlich war sie unterwegs ! Frau Meranow hatte einen reichen Levantiner geheiratet , der Großkaufmann in Tunis war . Man hatte ihr Indras Photographie geschickt und den Namen und die Abfahrt des Schiffes von Marseille gemeldet . Sie würde in Tunis an Bord kommen , zum Zeichen der Identität mit Indras Bild bewaffnet , und dann sollte für beide ein schönes Leben beginnen . Alle Wunder von Tunis und Algier , die Wunder der Sahara und die herrlichen alten Römerruinen wollte
Frau Meranow ihr zeigen und die phantastischen Paläste der Mauren , die Rosen- und Granatengärten von Tunis . — Indra hatte sich an all dieser Schönheit schon im Geist so sehr berauscht , daß ihr die Trauer und die trüben Ahnungen ihrer Mutter fast zur Last fielen . Sie schienen ihr töricht , nun der Himmel ihr Sehnen endlich erhört , nun das Wunder , das völlig unerwartete , unvorhergesehene , sich ihr genaht . „ In zwei Jahren , mein geliebtes Mütterchen , komme ich mit Frau Meranow , dich herüberzuholen , dann vergessen wir alle beide das ganze Berlin “ ; das erzählte sie ihrer Mutter so oft , bis sie alle beide felsenfest hieran glaubten . — Dennoch , beim Abschied , hatte Frau Versen wieder das ganze Trennungsweh gepackt , und nun lag sie zu Hause und klagte und jammerte . Hatte gewiß ebensowenig geschlafen wie ihre glückliche Tochter .
Mit schrillem Pfeifen fuhr der Zug jetzt in die Halle des Frankfurter Bahnhofs ein . Alle Schläferinnen fuhren empor und hasteten nach ihrem Handgepäck . — Indra winkte einem Kellner nach einer Tasse Kaffee . Da trat schon
der Fremde an sie heran . „ Verzeihung , gnädiges Fräulein , der Kaffee hier ist schlecht und kalt , Sie tun besser , ihn in aller Ruhe im Speisewagen zu nehmen . “ Das leuchtete Indra ein . „ Aber mein Gepäck ? “ — „ Das nehmen Sie mit , “ meinte der Herr , „ und suchen sich nachher ein weniger gefülltes Coupé . “ Er griff schon nach Indras Handkoffer und nahm ihre Plaidrolle . Beide wanderten nun nach dem eben eingestellten Speisewagen , und Indra dachte beruhigt an seine grauen Haare . Der Zug ging bald weiter , bleiches , graues Morgenlicht kroch über die Gesichter der beiden . Aber der sieghaften Schönheit von Indras herrlich hoher Dianagestalt mit dem klassischen Halsansatz konnte es nichts anhaben . Ihr Haar war zerzaust , ihre Züge bleich und übernächtig , ihr Hut saß schief . Wie muß dies Mädchen wirken im rechten Rahmen ! dachte der Mann . „ Gestatten Sie , daß ich mich ‚ echt deutsch ‘ vorstelle ? “ Er lächelte ironisch und gab ihr seine Karte . „ Otto Boris Brostoczicz “ las sie darauf und „ Berlin , Paris , London “ . — „ Hat er eine gute Stimme , gefällt er mir ? “ fragte sich Indra . Er war nicht
mehr jung , wohl ein angehender , gutkonservierter Fünfziger mit an den Schläfen stark ergrautem , sonst schwarzem Haar . Blaugraue Augen , von schwarzen Wimpern umsäumt , wären schön gewesen , ohne ihren flackernden , rastlosen Blick . Ein kleiner Schnurrbart und ein ganz kurz französischer Spitzbart deuteten auf den Franzosen hin . Aber er sprach fließend Deutsch und hatte die Manieren eines vollendeten Kavaliers . — Der Kellner kam , Indra bestellte Tee , Butter , Brot und Eier . Und sie verzehrte ihr Frühstück mit Behagen in dem schönen Speisewagen , von dessen Aussichtsfenstern man einen ganz anderen Überblick der Gegend hatte als aus ihrem Coupé dritter Klasse . „ Hier möchte ich immer sitzen “ , meinte sie heiter . — „ Sie hatten es nicht gut getroffen in Ihrem Damencoupé “ bemerkte Brostoczicz . — „ Ja , ich weiß nicht , wann es schlimmer war , “ sagte Indra lächelnd , „ wenn sie wachten oder wenn sie schliefen . — Es war wohl beides gleich fürchterlich . “ — — „ Man sieht , daß gnädiges Fräulein noch wenig gereist sind , sonst wären Sie vorsichtiger gewesen ; darf ich Ihnen nun zu einem besseren Platz behilflich
sein bis zum Ende Ihrer Fahrt ? “ — „ Das werden Sie schwer möglich machen , ich fahre nach Marseille und morgen nachmittag mit einem Schiff der Compagnie Touache nach Tunis “ , erzählte Indra , „ dort holt mich die Freundin meiner Mutter ab , die mich an meiner Photographie erkennen muß . “ — „ Wie sich das herrlich trifft , ich fahre auch nach Tunis — vielleicht kenne ich sogar Ihrer Frau Mutter Freundin . “ — „ Madame Christa Meranow . “ — „ Aber gewiß , das ist ja ein geradezu herrliches Zusammentreffen . Ihre Schwägerin dort ist an meinen Freund , Monsieur Toussaint , einen Intendanten des Bey von Tunis , verheiratet . “ — Indras Augen leuchteten . Ja , wie sich das alles herrlich traf , sie hatte wahrlich Glück . „ Und nun , mein gnädiges Fräulein , Sie sehen , dieses wunderbare Zusammentreffen und meine grauen Haare machen mich forza maggiore zu Ihrem Reisemarschall . Vertrauen Sie sich meiner Führung und — bei meiner Erfahrung — reisen Sie , für dasselbe Geld , besser und bequemer . Darf ich um Ihr Billett bitten , daß ich einen guten Platz für Sie aussuche ? “ Indra händigte
ihm das Billett ein und wollte den Kellner bezahlen , aber Herr Brostoczicz hatte schon mit der seinen ihre Rechnung beglichen . Sie händigte ihm trotzdem noch eine Mark ein , die er einwandlos annahm , was sie wesentlich beruhigte . Nein , der Mann hatte die lautersten Absichten , und er suchte , ihr gefällig zu sein . Und seine Hilfe war unendlich bequem . Er war gegangen , um ihr einen Platz zu suchen . Nach kurzer Zeit kam er zurück und bedeutete ihr , ihm zu folgen . Er wies ihr ein leeres Coupé erster Klasse an und sagte , der Billetteur sei schon verständigt — er selber werde sie zum Mittagbrot im Speisewagen abholen und ihr auch am Nachmittag bei der Zollvisitation behilflich sein . — Indra kam sich nach der furchtbaren Nacht wie verzaubert vor . Sie wusch und kämmte sich und streckte sich dann lang zu behaglichem Schlaf . Ein Traumlächeln lag noch auf ihren Zügen , als Boris wieder vor ihr stand , sie zum Diner im Speisewagen abzuholen . Dies Diner à deux gestaltete sich sehr gemütlich . Brostoczicz war ein ausgezeichneter Causeur , sie plauderten bald französisch , bald englisch , bald italienisch . Es gewährte
Indra Genugtuung , ihm auf diesen sprachlichen Exkursionen mit Leichtigkeit folgen zu können . Auch bei der Zollvisitation segnete sie den Zufall , daß sie ihn gefunden und schrieb eine sehr fröhliche Karte an ihre Mutter , die sie ihn pflichteifrig in den Kasten werfen sah . Nach dem Abendbrot im Speisewagen führte er seine kleine Schutzbefohlene , die ihn um ein Beträchtliches überragte , wieder in ihr behagliches Coupé und bat sie , nur ruhig zu schlafen , bis ihr „ Reisemarschall “ kommen würde , sie in Marseille zu wecken . Auch dort würde er sie unter seine Fittiche nehmen , ihr etwas von Marseille zeigen und um vier Uhr gemeinsam mit ihr gen Tunis abdampfen . Sie schlief sehr beruhigt ein auf ihren Samtpolstern und meinte , ihr erster Schritt durch die offene Pforte des Lebens sei von einem guten Stern begünstigt .
Köstliche Träume hatte sie , von großen Palmenwäldern , in denen goldene Lebensfrüchte hingen . „ Mademoiselle “ ! Brostoczicz stand vor ihr , — „ nous voilà arrivés , nun sind wir angekommen . “ Er nahm ihr Gepäck , und sie folgte ihm auf den Perron und in einen Hotelwagen . Im
Hotel wies man ihr ein behagliches Zimmer an . Sie wusch und kämmte sich wieder , man brachte ihr das „ petit déjeuner “ .
Dann ging sie hinab in die Halle , wo sie mit Brostoczicz zusammentraf , der ihr nun Marseille zeigen wollte . Sie machten erst eine Rundfahrt , an der schönen „ Corniche “ entlang , dann fuhren sie mit der Bergbahn hinauf nach Notre Dame de la Garde . Indra war begeistert ; noch niemals , meinte sie , solch Herrliches gesehen zu haben wie die Aussicht von da droben , über die felsigen Küsten , hinab in das unendliche Meer . Ganz fromm und klein fühlte sie sich gegenüber aller Weltenschönheit .
Dann fuhren sie hinab , nahmen im Palmengarten des Hotels ein behagliches déjeuner à la fourchette , und Brostoczicz bat sie dann , sich wieder in ihrem Zimmer etwas auszuruhen , er würde sie zur rechten Zeit aufs Schiff bringen . All das sorglose Schönheitsleben hatte etwas Berauschendes für das Mädchen , das gewohnt war , jeden Pfennig zu Rate zu ziehen . Auf ihre ängstlichen Fragen nach den Kosten meinte er , er würde sich
schon mit Madame Meranow darüber auseinandersetzen . So überließ sie sich einer köstlichen Siesta , in die seine Stimme klang : „ Nun ist es Zeit , daß wir uns nach unserem Schiff begeben . “ Sie fuhren abermals im Wagen zum Hafen . Indra hatte niemals geglaubt , daß Reisen mit so viel Behagen verbunden sein könne .
Auf dem Schiff zeigte man ihr ihre Kabine .
Ihr Billett hatte Brostoczicz besorgt , nachdem sie ihm das Geld zweiter Kajüte dafür ausgehändigt . Sie wunderte sich über den Komfort dieser zweiten Kajüte .
Die Anker lichteten sich , und bei wundervoller Abendbeleuchtung , bei der die Felsen von Notre Dame de la Garde wie in Blut getaucht schienen , entfernten sie sich langsam von der Küste . Château d’ If , das Gefängnis des Mannes mit der eisernen Maske lag vor ihnen . Brostoczicz saß neben ihr und erklärte ihr die Gegend . Er wußte über alles Bescheid , und sie hätte sich keinen besseren Cicerone wünschen können . Nur meinte er , daß das Schiff wegen der Strömung einen anderen Kurs nehmen müsse und daher erst einen Tag später in
Tunis einträfe , was bei dem herrlichen Wetter aber nur ein Gewinn sei . Indra war ganz seiner Ansicht und genoß die zwei Tage in seiner anregenden Gesellschaft . Am dritten Morgen legte der Dampfer schon im Hafen an . „ Lassen Sie mich nach Frau Meranow Umschau halten , gnädiges Fräulein , bleiben Sie ruhig hier sitzen , ich führe sie Ihnen zu . “
Indra saß auf dem Oberdeck und genoß das Schauspiel der Einfahrt . Hunderte brauner Gestalten überschwemmten jetzt das Deck . Nach einiger Zeit kam Brostoczicz mit einer eleganten , schwarzhaarigen Dame , nicht mehr „ jung “ , aber „ noch jung “ , auf Indra zugeschritten . „ La voiçi “ rief die Dame und umarmte sie . Indra erwiderte die Umarmung herzlich und wunderte sich , wie schick und jung Madame Meranow noch aussähe . — „ Pauvre petite , “ sagte jetzt die Fremde , „ meine Schwägerin ist vorgestern vom Schlag gerührt worden , ihre Tochter hat mich telegraphisch beauftragt , Sie nun nach Singapore zu führen , wo sie eine große Damenpension unterhält . Sie sollen dort den Haushalt leiten , sich nützlich machen und
sich Ihres Lebens freuen . Pauvre petite , j’éspère , que vous n’ aurez pas trop de déceptions . “ — „ Arme Kleine , ich hoffe , Sie erleben nicht allzu viele Enttäuschungen . “ — Indra war wie vom Donner gerührt . „ Das ist ja furchtbar , “ sagte sie , „ hat Madame Meranow schwer gelitten vor ihrem Tode ? Und sollte ich nun nicht doch besser zurückfahren nach Berlin ? “ — „ Ich sagte ja , der Schlag hat sie gerührt , ich bin ihre Schwägerin , die Frau des Intendanten des Bey von Tunis . Aber ich habe mir von meinem Mann die Erlaubnis abgerungen , Sie persönlich nach Singapore und in das Haus meiner Stiefnichte zu bringen . Sie sind völlig fremd hier und würden sich sonst allzu einsam fühlen , aber nach Berlin zurückzufahren , wäre Unsinn . “ — „ Ich fahre ja auch nach Singapore “ , sagte Brostoczicz , „ und das gnädige Fräulein hätte schon einen Reisemarschall in mir . Natürlich ist sie unter Ihrem Schutz noch besser aufgehoben . “ — Madame lächelte freundlich . „ So teilen wir uns in die Obhut unseres reizenden Schützlings . Ihnen aber , liebes Kind , rate ich jetzt , sofort ausführlich nach
Hause zu schreiben , damit der Brief noch von hier abgehen kann , ich werde ihn selber als Eilbrief besorgen . Die Adresse , an die Sie Antwort bestellen wollen , ist Singapore , Madame Vais , Rue des Etrangers , Stranger-Street . “ Indra dankte herzlich für den guten Rat und setzte sich hin , einen langen , ausführlichen Brief , mit allen Reisewundern und mit dem traurigen Schicksal von Madame Meranow , an ihre Mutter zu schreiben und sie zu bitten , ihr umgehend ausführlich nach Madame Vais zu berichten . Ein paar Stunden hatte sie mit eifrigstem Schreiben zugebracht — es war nur noch knapp Zeit , vor der Abfahrt den Brief ans Land zu befördern . Und dann nahm die Seereise und die merkwürdige Fahrt bei Nacht durch den Suezkanal , mit Scheinwerfer und Begegnung eines anderen Schiffes , wieder alle ihre Sinne gefangen . — Madame hatte natürlich für ein Billett gesorgt , das war ihr weit lieber , als wenn Brostoczicz es ausgelegt hätte . — Nun fuhr sie allen Wundern entgegen . Als wenn gütige Feen diese Götterreise ihr in den Schoß geworfen hätten .
Im roten Meer , dessen Glutströme ihr kaum etwas anhatten , konnte sie sich nicht satt sehen an den Wunderfärbungen des Sinai — den rosenblätterfarbenen . Tage und Nächte vergingen , an Sokotras einsamer Insel war das Schiff längst vorüber . Indra war wie im Bann . Und Madame Meranows jäher Tod erschien ihr fast wie ein Glück . Hatte er ihr doch die Pforte ihres Lebenstores noch weiter geöffnet . Hätte sie diese himmlische Reise gemacht unter dem Kreuz des Südens , wenn sie nun in Tunis , in der Villa Meranow säße ? Brostoczicz erwies sich als treuer , unermüdlicher Ritter . Bei Tage trug er ihr alles an ihren Liegestuhl , was ihr nur irgend Freude machen konnte . Und in der Nacht erklärte er ihr die Wunder des Sternenhimmels . Er wies ihr die krausen Lebenslinien ihrer Hand , und sie fragte sie immer wieder — halb verwirrt — war es Zuneigung , war es Widerwillen , was sie diesem rätselhaften Menschen gegenüber verspürte ? Den sie bald bewunderte und bald verabscheute mit instinktiver Abneigung . Dann wieder , wenn er ihr von seiner trüben Kindheit erzählte , konnte er sie
fast zu Tränen rühren , und sie fühlte sich beinahe versucht , seine Hände zu küssen , die Hände , die so eifrig bemüht waren , jeden kleinsten Stein aus ihrem Wege zu räumen . Ganz andere Gefühle hatte sie gegen die Frau des Intendanten , deren Begleitung , da sie sich so geborgen fühlte unter Brostoczicz ’ Schutz , ihr fast unnötig vorkam . Sie hatte jedenfalls noch andere Geschäfte in Singapore ; es wäre doch sonst sehr zwecklos gewesen , nur zu ihrer Begleitung , diese große , kostspielige Reise zu unternehmen . — Sie schien recht vertraulich mit Brostoczicz zu verkehren , das hatte er ihr freilich schon vorher erzählt , aber sie ertappte beide mehrmals in so eifrigem Gespräch , in einer ihr , der polyglotten Indra , völlig fremden Sprache , daß sie ihr Kommen überhörten und bei ihrem plötzlichen Erscheinen sichtlich erschraken . Indra überflog dabei ein merkwürdiges Gefühl , war das Eifersucht ? Sie verstand es nicht , erstens liebte sie Brostoczicz nicht , und dann hatte er graue Haare . Sie vergaß , daß er ein Verführer par excellence war und etwas von seinem Zauber noch eine jede , auch die sprödeste
Frau , gefangen nahm . Und dann sah sie wieder auf seine kleinen Füße in kaffeebraunen Schuhen , in kaffeebraunen Strümpfen mit grünen Streublümchen und fragte sich : Hat er nun eine gute oder eine schlechte Stimme ? Und sie wußte es noch immer nicht . Sie wußte nur , sie hatte ihm gegenüber das Gefühl eines kleinen Vogels vor der Klapperschlange . Er hielt sie in seinem Bann . Doch es war ein angenehmes Gruseln , das sie in seiner Nähe immer wieder beschlich .
Und so vergingen die Tage und Nächte , ein jeder schöner und stiller als der frühere . Das Kreuz des Südens glänzte immer heller . Doch es ward erst um zwei Uhr nachts sichtbar . Das war unbequem . Brostoczicz hatte sie schon zweimal geweckt , und sie saß auf dem Oberdeck mit ihm und hörte seinen Erklärungen zu . Das angenehme Gruseln erfaßte sie stärker . Endlich , nachdem die Lakkadiven und Maladiven passiert waren , kam man nach Ceylon . Einen ganzen Tag Aufenthalt in Colombo ! Boris Brostoczicz hatte Indra versprochen , sie nach Mount Lavinia zu führen .
Und sie freute sich unendlich darauf . Auf der
flachen Palmeninsel , deren Wunder sich erst nach und nach entfalten , fuhr sie mit Brostoczicz und Madame in der Rickshaw nach dem Bahnhof für Mount Lavinia . Lautlos stapften die nackten Füße der Rickshawmänner den roten Lateritboden . Sie liefen wie der Wind , an großen Palästen und Tempeln vorbei , an Bambushütten , in denen halbnackte Singhalesen , mit dem Mädchenkamm im Haar und dem weiblichen Chignon , eifrig hantierten , immer weiter ins Palmendickicht hinein , bis sie am Bahnhof hielten . Und in der Bahn war ’s dann noch viel schöner . Hart am Meer , dessen Brandung an die Felsen donnerte , fuhr der Zug längs eines dichten , endlosen Palmenwaldes . Viel zu früh war man am Ziel der Reise . Madame schien wenig gerührt von dieser Tropenpracht , sie dachte vielleicht an ihren Intendanten . Aber Boris war unermüdlich , Indra auf alles aufmerksam zu machen . Das Hotel selbst , ein weißer , früherer Sommerpalast des Governor , im Empirestil , hat eine schier unglaublich wunderbare Lage , nach drei Seiten Meer und die geschwungenen Küstenlinien mit den Federkronen
der leuchtend grünen Kokospalmen ins Unendliche verdämmernd . Im Vordergrund wieder Palmenschäfte , sich nach allen Richtungen neigend , dahinter Klippen und Fischerboote mit halbnackten Fischern . Leider hatte das Schiff , „ der große Kurfürst “ , fast seine ganzen Kajütenpassagiere nach Mount Lavinia ausgespien , und an jedem verträumten Ort störten die mondänen Gruppen der lustigen Globetrotter , den intimen Zauber . — „ Hier einmal allein sein mit dem , den man liebt “ , dachte Indra . — „ Nun will ich Sie zu den Spitzenklöpplerinnen führen und zu den Cinnamonpealers , den Zimmetbauern “ , sagte Boris . Madame zog es vor , im Hotel bei den andern den Tee zu trinken . — Sie gingen also beide allein , erst in einem alten , buddhistischen Tempel vorbei , in den ein Priester mit geheimnisvollen Zeichen sie eintreten hieß und vor einen großen Goldbuddha führte . Die Luft war schwül , drinnen und draußen Treibhausluft ! Indra fühlte sich darin im Innersten wachsen wie eine Blume , sie wußte aber nicht , ob zum guten oder zum bösen . Dann wanderten sie weglos durch
das Palmendickicht nach den vielen , kleinen Häuschen , in deren jedem die braunen Singhalesen-Frauen und Kinder Spitzen klöppeln .
Und dann ging ’s immer tiefer nach dem Cinnamongrove , dem Zimmetbusch . Wie im Urwald war es hier . Übermannshohe Bäume mit glänzend ovalen Blättern , fast wie Kamelien . Große Bündel waren schon geschichtet von den würzigen Hölzern und wurden gerade verladen , während wieder andere geschnitten und eingebündelt wurden . Ein Riesenbetrieb ! — Indra fühlte sich in neuen Welten . Die Sonne stand schon schräg , und violette Schlagschatten kreuzten den Weg . Die herrlichen Palmensilhouetten hoben sich dunkel und immer dunkler wie von rotem Gold . Sie gingen wieder zurück auf einsamem Pfad , durch dichtes Buschwerk , auf weichem Lateritboden , rings alles still , nur zuweilen fiel eine Kokosnuß mit dumpfem Schall . — Da ergriff Boris zum ersten Male Indras Hand und küßte sie inbrünstig . Etwas in ihr sträubte sich dagegen , dennoch — sie konnte es ihm nicht wehren , die Welt war zu schön , und sie war ihm zu dankbar , daß er sie ihr so eingehend
zeigte . Es war das erstemal , daß Brostoczicz dem Mädchen ein wärmeres Gefühl bewies . Zufällig sah sie in seine Augen , sie glimmerten wie Katzenaugen im Dunkel . Fast begann sie sich zu fürchten und beschleunigte ihren Schritt .
Herrlich war die kurze Rückfahrt in der Bahn . Und dann wieder der lautlose Trab der Rickshawmänner durch die blaue Abendlandschaft . Licht und Lachen aus allen Hütten unter den Palmenbäumen . Sie hatten noch etwas Zeit vor Abfahrt ihres steamer und machten darum noch eine Rickshawrundfahrt , die Indra unsagbar genoß . Beim Ausruhen aller Glieder diese pfeilgeschwinde Beförderung durch die Märchenwelt . Sie fuhren nach dem Korso von Colombo , den „ Cinnamongardens “ , wo die feine Welt mit Auto , mit Zebuochsen und mit Pferden und Maultieren spazieren fuhr . Die Rickshawmen wanden sich geschickt durch das dichteste Gewühl und fuhren dann an einem reizenden See vorbei , um den die Abendlichter wie ein Sternenkranz flimmerten , durch die Pettah , die Eingeborenenstadt , nach dem Kai zurück . Am Abend , nach dem Dinner auf dem
Schiff , sagte Boris zu ihr und Madame , nachdem sie an ihrem kleinen Tisch mit speisen zu Ende waren : „ Kommen die Damen herauf aufs Sonnendeck , wir haben Meerleuchten . “ — „ Ich habe Migräne , “ sagte Madame , „ und muß schlafen , ich habe es auch schon oft gesehen “ , — aber Indra stieg hinauf .
Und das größte Mysterium der Schönheit zeigte sich ihrem schönheitsdurstigen Blick , in der duftblauen Nacht , in der Erde und Himmel in eins verdämmerten . An der Wellenschleppe des Dampfers sprühten phosphorblaue und gleißend gelbliche Brillantfeuer — am Bug der kleinsten Welle funkelten Brillanten — je mehr man hineinschaute , je tiefer und mystischer begannen sie zu leuchten . Sie saß wie verzückt — war das Wahrheit oder träumte sie ? War denn eine solche Schönheit auf Erden möglich ?
Andere Schiffe glitten vorüber wie Schwäne , lange Silberschleppen durchs Wasser ziehend . — Auch „ ships that pass in the night “ . Sie schaute und schaute . Und das mystische Schauspiel schien ihr wie das Leben selber , das auch die blauen
Märchenfeuer in seinen Tiefen birgt , wenn man hineinschaut bis zum Grund . Wie wenige aber vermögen diese Schönheit zu sehen und zu fassen .
Nein , Indra wollte das ganze Leben auskosten , seine verborgensten Schönheiten ergründen . Nicht verzagen , wenn ’s aus der Oberfläche auch manchmal nur Leid und Jammer schien . Freilich jetzt , in dieser Transfiguration allen Lebens , war’s schwer , an Jammer und Lebensnot zu glauben . Brostoczicz ging in eifrigem Gespräch mit Madame vorüber . — „ Ich will nicht , “ hörte sie ihn sagen . — „ Du mußt “ , sprach Madame . — Nach einer Weile kam er wie suchend und setzte sich zu ihr . Indra war ihm dankbar , daß er nicht sprach , das Herz war ihr zu voll von dieser überirdischen Schönheit . — — —
Endlich warf das Schiff Anker in Singapore . Madame erschien in ihrem besten Staat und hatte auch Indra veranlaßt , sich nach Kräften schön zu machen .
Um bei Madame Vais und ihrem Pensionat einen guten Eindruck zu machen . Sie sah reizend aus — aber das jungfräulich Herbe , Dianenhafte
in ihrem Wesen war vielleicht noch stärker hervortretend als sonst , durch den Schleier von Weichheit , den die herrlichen Eindrücke dieser ersten „ Weltreise “ über ihre Seele gebreitet .
So dankbar war sie dem Himmel , daß sie dies alles schauen und erleben durfte ! Nun möge er ihr nur ferner bescheren , daß es ihr gefallen möge bei Madame Vais , und sie auch deren Anforderungen in allem genügen möge . Sie sprach dies auch gegen Brostoczicz aus . Es zuckte sonderbar über sein Gesicht . Ziemlich früh am Morgen war man in Singapore . Boris hatte ihr gesagt , er habe mit Madame vereinbart , daß die acht Tage , die er noch hier sei , er Indra möglichst alle Merkwürdigkeiten des Landes zeigen würde , da sie später bei ihren häuslichen Pflichten kaum Zeit und Begleitung dafür fände . Sie war nur allzusehr hiermit zufrieden .
In dem unbeschreiblichen Trubel des Kommens und Abfahrens großer Dampfer kam jetzt eine ziemlich auffallende Dame auf Madame , Indra und Brostoczicz zugeschritten , die alle drei an der Reeling standen .
Sie trug ein kornblumenblaues , nicht ganz frisches Seidenkleid und einen wallenden Federhut über dem stark verblühten Gesicht , das die letzten Spuren ehemaliger Schönheit trug . — „ Ludmilla , comment ça va “ , rief Madame fröhlich und umarmte die blaue Dame .
Boris machte eine tiefe Verbeugung . „ Guten Tag , Herr Mephisto , “ sagte sie , „ und wo haben’s unsern Schützling , unsere neue Jungfer im Grünen ? “ — Indra trat errötend vor . — „ Potztausend , “ sagte Frau Ludmilla , „ wo habt ’s dös Prachtstück aufgegabelt ? Ja so , das Vermächtnis von unserer guten Meranow . Wenn die net bei Zeiten abgeflattert , hätt ’s a nöt hergefunden ! “ — Indra fühlte sich merkwürdig berührt , sie schaute fragend auf Boris . Und der Weltmann verstand sie . „ Es ist ja nur eine Stieftochter von Frau Meranow , fast gleichaltrig mit ihr , sie standen auch nicht besonders . Da es ihr so gut geht mit ihrer Pension , hatten die Damen aber neuerdings wieder schriftlichen Verkehr miteinander angebahnt . “ — „ Und nun kommt’s Vögerl in mein Käfig , und mir woll ’s schon zahm krieg’n , wie d’ anderen “ ,
sagte Madame Vais freundlich und klopfte Indra auf die Schulter . Unmerklich streifte diese die Berührung ab und ein leises , fast rätselhaftes Lächeln huschte über ihre Züge . Indra — und „ zahm kriegen “ . Die Frau würde sehen ! Freiwillig tat sie alles , „ zahm kriegen “ ließ sie sich nie . — Die ganze Gesellschaft stieg nun in Rickshaws , und es ging erst durch die neue , schöne Fremdenstadt , an Rafflés Hotel , vor den großen Wiesen , vorbei , dann bog man in ein Gewirr zahlloser , kleiner Gäßchen , die einen merkwürdigen , fast ausgestorbenen Eindruck machten , oder als ob hier alles im Dornröschenschlaf läge . — In der Chinatown war ’s etwas lebendiger , aber dann ging es wieder in schmale , schmutzige Gassen mit niederen , dunklen Häusern . Es schien Indra , als ob sie aus diesem Labyrinth , ohne den Faden der Ariadne , niemals wieder herausfände . Die Rickshaws hielten . — „ Meine Fräuleins schlafen noch , wir halten bis spät nachts Gesellschaft “ , sagte Madame Vais . „ Komm , Kind , ich zeig dir dein Zimmer , — ich nenne alle meine Fräulein du . Die acht Tage , die Boris hier bleibt , darfst du dich
mit ihm vergnügen , hernach geht ’s aber stramm ins Geschirr . “
Sie führte Indra in ein dunkles , unfreundliches Loch , aber mit einem weißen , spitzenumsäumten Himmelbett .
„ Im Schrank sind deine Abendkleider . Du brauchst sie aber noch nicht zu tragen . “ — Indra trat schnell aus dem Zimmer auf Boris zu . „ Wo bin ich hier ? “ — „ In einem angesehenen Hause , mein Kind “ , rief die blaue Dame . — „ Sie müssen sich an die Landessitten gewöhnen , Fräulein Indra “ , sagte Boris leise . „ Wenn Sie sich nach Tisch etwas ausgeruht haben , zeige ich Ihnen die Stadt . Dann werden Sie erst sehen , wie schön es hier ist . “ — Indra fragte nach Briefen , aber es konnten ja noch keine da sein . Dann setzte sie sich hin und schrieb einen zweiten langen Brief an ihre Mutter , mit allen Wundern ihrer Reise und allen Zweifeln , ob ihr neuer Aufenthalt auch geeignet für sie sei . Sie bat um umgehende , eventuell telegraphische Antwort . Die selbstsichere Indra fühlte plötzlich einen heißen Wunsch nach dem Rat und der Hilfe ihrer Mutter . Bei Tisch erschienen
nur fünf Fräulein ( zehn waren im Hause ) , teils aufgeputzt , um der „ Neuen “ Eindruck zu machen , teils mit Lockenwickeln und schlampigen Negligées .
Sie waren gut dressiert und taten den Mund nicht auf . Aber Indra konstatierte : bis auf eine , ein sanftes , blondes , feines Mädchen mit tadellosem Benehmen , aßen sie eine jede mit dem Messer . Es fehlte ihnen eben allen die Kinderstube !
Boris , der gleichfalls anwesend war , kam ihr etwas gedrückt vor . Doch als sie beide draußen wieder ihre Rickshaws bestiegen , heiterte sich sein Wesen bald auf . Und auch von ihr begannen die Schatten der Pension zu weichen . Es war zu schön , was er ihr zeigte . Erst waren sie in dem hübschen Rafflesmuseum , das Indra eine Fülle von Anregung und Belehrung bot . Später fuhren sie nach dem berühmten botanischen Garten . Der Weg dahin entzückte Indra , mit den Ausblicken aufs Meer , durch das köstlichste Palmen- und Bananendickicht . Aber dort erst , in dem Wunderpark mit seiner Tropenfülle von farbig blühenden Bäumen , kannte ihr Schönheitsrausch keine
Grenzen . Da waren die Hibiskusbäume wie mit feuerroten , fleischfarbenen und rosa Tulpen übersät , die blaßlila Tumbergia schlang sich überall in üppigen Ranken , in Überfülle , sich fast zu Tode blühend . Das Solanum , weiß und lila , strahlte in leuchtendem Glanz . Schlanke Papyrus hoben ihre zierlichen Büschel von dunkelbraunem Hintergrund . Ein kleiner Wasserfall war an der Berglehne , der Garten streckte sich wie ein dichter Urwald den Berg hinauf , oder vielmehr , er war aus einem Urwald herausgehauen . — „ Dort oben hat man eine sehr schöne Aussicht , die müssen wir einen anderen Tag erobern . Morgen wollen wir nach Johore , nach dem Park , dem Palast und der Moschee des Maharadja , wenn ’s geht auch nach seinem Fantam , der Spielhölle , die hier im Osten , ebenso wie das chinesisch-portugiesische Macao , ein kleines Monte Carlo bedeutet . “
Indra war ’s zufrieden . Sie spürte wohl Brostoczicz’ Verlangen , sie von ihren Gedanken , Bedenken und ersten Eindrücken der „ Pension Vais “ abzulenken . Und ihre eigensten Wünsche kamen dem entgegen . Denn ihre Sehnsucht , seit
frühester Kindheit , die Welt zu sehen , war so groß , daß sie ihren Ängsten und Befürchtungen ein starkes Gegengewicht bildete , dazu hatte sie hier in dem neuen und beunruhigenden Milieu das Gefühl einer gewissen Zusammengehörigkeit mit Brostoczicz , als wenn er ihr einziger Freund in Asien sei . Madame , der Gattin des Intendanten , gegenüber fühlte sie sich immer fremd , und vor Madame Vais grauste ihr — sie fand sie gewöhnlich , und ihre ganze Natur sträubte sich gegen sie . Boris war auf alle Fälle ein feingebildeter Weltmann mit Takt und Verständnis — und mit einem Empfinden für ihre leisesten Bedürfnisse . Mochte er sonst sein , was er wollte . Im Garten kannte er fast alle Bäume beim Namen , sie freute sich seiner Gesellschaft und konnte unendlich viel von ihm lernen . Ihre Wißbegierde war unendlich . — „ Ich habe Madame Vais versprochen , Fräulein Indra , “ begann er jetzt , „ Sie in das Leben dieser fernen Welt einzuführen , Sie mit ihren Sitten und Gebräuchen bekannt zu machen , Sie das Leben wie es nun einmal ist , nicht wie es dem Idealisten scheint , verstehen zu lernen . “ — Ein leises Lächeln
umspielte dabei seine Lippen , das Indra peinlich berührte . Sie wußte nicht , warum .
Am Abend waren alle Fräulein bei Tisch , und die Vorstellung begann . Da waren zwei tiefschwarze Damen aus Warschau , polnische Jüdinnen , wie es Indra schien , die ein furchtbares Deutsch sprachen , Ella und Bella genannt . Da war eine hellblonde Italienerin , Carmela , in einer Art italienischen Phantasiekostüms . Indra versuchte , italienisch mit ihr zu sprechen , aber sie erhielt nur eine kaum verständliche Antwort . Da war Carmen , die Spanierin , in Bolerohut und Jacke . Ferner Ellicon , eine Griechin , in einer Art weißwollener Fustanella . Dann das feine , blonde Mädchen mit dem Madonnenscheitel und züchtigen Augenniederschlag , Margot , zu dem sich Indra schon beim Lunch hingezogen fühlte . Außerdem waren da noch ein paar Fräulein , schwarz und ebenfalls stark jüdisch , üppig und nicht mehr allzu jung , die als Französin , Russin und Amerikanerin figurierten . — „ Abgelagerte Ware , “ wie Madame sich ausdrückte . „ Ich hab’ halt für jeden Geschmack was auf Lager “ , sagte
sie lachend . Sie war am Abend wieder in Kornblumenblau , tief dekolletiert , mit gestärkten , weißen Spitzen . Hals und Arme waren rot und darum stark gepudert . Auf Indras erstaunte Frage , warum sie in solcher Toilette sei , sagte sie lachend : „ Schau , Kind , ihr habt ’s doch hier jeden Abend Herrengesellschaft . Wenn die Vais nöt für Euern Jux sorget ! Aber alleweil brauchst noch nöt umanand — wennst ganz eing’lebt , heranach machst dein Debüt . “ Indra sah hilfeflehend auf Boris . Der sagte rasch : „ Fräulein Indra ist doch vorläufig als Hausdame engagiert , und wenn sie den Damen für gutes Essen und einen geregelten Haushalt sorgt , kann sie doch außerdem tun und lassen , was ihr beliebt . Wenn sie vorzieht , abends auf ihrem Zimmer allein zu bleiben , kann sie das jederzeit tun . “ — „ Wird schon runterkommen wollen , wenn du ihr das gusto dafür lehrst “ , sagte Madame Vais lachend . — Warum duzte sie jetzt Boris , warum war die Frau so fürchterlich gewöhnlich , fragte sich Indra .
Das Essen war gut und reichlich . Zwei indische Boys servierten . Madame Vais hob die
Tafel auf . „ Willst Fräul ’ Indra das Haus zeigen , Margot ? “ Das Mädchen mit dem Madonnenscheitel lächelte süß . „ Aber gerne , Madame , kommen Sie , Fräulein . “ — „ Aber sagt doch du zu enand , als gute Kameradinnen , “ rief Madame ihnen noch nach . Boris gab Indra die Hand : „ Gehen Sie früh schlafen , Fräulein Indra , morgen früh acht Uhr hol’ ich Sie ab zum Maharadja von Johore . “
Er sagte das so ermutigend , daß sich Indra etwas getröstet fühlte bei der erfreulichen Aussicht und Margot rasch folgte , froh , von Madame Vais ’ Gegenwart erlöst zu sein . „ Nun führ’ ich Sie erst in die Bar und in den großen Empfangssalon " , sagte diese . Die Bar war eine Art Kantine , mit Likör- und Champagnerflaschen überreich bespickt . Daran anstoßend lag der Empfangssalon mit hartroten Wänden , an denen in riefenbreiten , billig weißgoldenen Rahmen schlechte Öldrucke prangten . Leda und der Schwan , Zeus und Io und mehrere weibliche Akte in unkeuschen Stellungen . — — „ Madames Kunstsinn hat sich hier betätigt " , bemerkte Margot spöttisch lächelnd .
„Wenn es noch Öldrucke nach guten Originalen wären ! “ — „ Wie lange sind Sie schon hier ? “ fragte Indra . — „ Erst ein paar Monate , “ entgegnete Margot , „ aber es ist nicht schlimm hier , wenn man Madame den Willen tut . “ — „ Und der ist ? “ — „ Geld verdienen , “ sprach Margot , listig lächelnd . Bei diesem Lächeln mußte Indra plötzlich an Boris’ Lächeln vom Nachmittag denken . Margot mit diesem Lächeln aber erinnerte sie an die Monna Lisa . — „ Ich will Ihnen noch mein eigenes Reich zeigen “ , sagte jetzt Margot und öffnete ein Zimmer , das ganz mit rosa Cretonne ausgeschlagen und mit einer Spitzentoilette , einem spitzenverbrämten Bett und einem großen , frischen Rosenstrauß auf dem Tisch einen sehr traulichen Eindruck machte und Margots Schönheit hob . — „ Das hab’ ich alles von Madame erreicht , weil sie zufrieden mit mir ist “ , erzählte Margot . „ Schaffen auch Sie sich ein behagliches Heim . Bei den anderen Mädchen sieht ’s wüst aus , und in anderen „ Pensionen “ , sie lächelte wieder leise , „ erst recht . Doch Sie sehen müde aus , gehen Sie schlafen , genießen Sie die nächsten Tage mit Boris
und dann — nehmen Sie die Welt , wie sie ist , heulen Sie mit den Wölfen und machen Sie’s wie ich , trie to make the best of everything . Es ist schon spät , ich muß mich fertig machen , bin ich doch Madame Vais ’ ‚ Hofdame ‘ . “ — Sie machte einen tiefen Knix .
Indra ging in schweren Gedanken nach ihrem Zimmer . Aus den Kammern der Mädchen tönte Lachen , Gekreisch und Kichern . Sie waren nicht mehr so still wie unter Madame Vais’ und der „ Neuen “ prüfenden Augen .
Indra war todmüde von allen Eindrücken , sie dachte krampfhaft an den Ausflug nach Johore und daß sie „ Hausdame “ sei und darum für die anderen Fräulein im Hause nicht verantwortlich . Sie wachte einmal auf in der Nacht , hörte Walzerspiel , gutes Spiel — es war wohl Margot , — und das Schlürfen tanzender Füße , auch Gelächter . „ Das ist eine heitere Pension “ , mit diesem Gedanken schlief sie wieder ein . Und am anderen Morgen kam Boris , sie abzuholen .
Er freute sich sichtlich , daß sie ihm so ausgeruht und frisch entgegenkam . — „ Ich will die
Tage Ihres Hierseins noch recht genießen und ausnutzen , nachher wird ’s doch fürchterlich “ , sagte sie . „ Madame ist mir im tiefsten unsympathisch , sie kommt mir ungebildet und roh vor . “ — „ Fräulein Indra , “ sprach Boris , „ vergessen Sie nicht , daß Sie in mir einen Freund haben . Wenn’s Ihnen hier nicht gefällt , schreiben Sie mir , und ich bringe Sie in ein anderes Haus . “ — „ Oder nach Berlin zurück ? “ fragte Indra rasch . — „ Das wird wohl vorläufig zu teuer sein , aber ich weiß gute Hausdamenstellen in Bangkok , in Yokohama , und wenn alle Stricke reißen , in Tokio . “ Indras Phantasie arbeitete flink , sich all die schönen , neuen Orte und Eindrücke in leuchtenden Farben zu vergegenwärtigen . Das gab ihr momentanen Trost .
„ Und wann glauben Sie , daß ich Antwort von meiner Mutter haben kann ? “ — „ Die müßte eigentlich schon da sein , kann aber nun jeden Tag eintreffen “ , meinte er . Und dann fuhren sie erst in der Rickshaw , die Indra so sehr liebte , bis zum idyllisch gelegenen Bahnhof und von da nach einer kleinen Station , um den Buka Tinit ( Erdbeerberg ) zu besteigen . Doch als sie in dem urwaldartigen
Gestrüpp auf verwucherten Pfaden emporgedrungen waren , fanden sie droben die Aussicht zugewachsen . Aber diese Tropenpracht war Indra dennoch eine neue Revelation . Sie wanderten nun auf der Landstraße unter einer hohen Allee von Indianrubberbäumen nach der nächsten Station . Die ganze Landstraße starrte von Fruchtbarkeit . Das Volk nennt diese Gegend den Liebesgarten . Zahlreiche Equipagen reicher Chinesen begegneten ihnen . Eine halbe Stunde später stiegen sie an der Fähre aus und fuhren über den schmalen Meeresarm nach der Residenz von Johore . Unendlich stattlich und anmutig bietet sich dem Auge dieser Wohnsitz eines indischen Maharadja dar , fast so exklusiv vornehm zugeknöpft und vorurteilsvoll kleinstädtisch wie eine kleine deutsche Residenz . Das Fantam ( die Spielhölle ) , das Schloß mit dem Schloßpark und die „ Hofkirche “ . Herrlich liegt diese indisch-mohammedanische Moschee — sie gewährt vom Wasser aus einen geradezu großartigen Anblick . Und auch Schloß und Schloßpark wirken unendlich vornehm und exklusiv . Es war Indra zumute , als
wenn sie in einem indischen Weimar herumspaziere . Ringsum hier alles ebenso still , einsam und verschlafen wie dort . Der Waffen- und Festsaal beschäftigte ihre Phantasie . In der Moschee mußten sie sich ihrer Schuhe entledigen und in ihren vom Aufseher übergestülpten Bambuschen herumschlürfen . Der Park aber in seiner phantastischen Tropenfülle , mit seinen Schauern südlicher Blüten , erregte ihre Sinne bis aufs äußerste . Nie , schien es ihr , hatte sie noch solch leidenschaftlich üppiges Wachsen und Verschlingen gesehen . Es war ihr , als wollten sich alle Zweige verflechten und inbrünstig umklammern . Es war wie ein Liebessinnenrausch durch den ganzen , tiefverwucherten Park . Wie im Traum wanderte sie an Boris’ Seite . Der Gärtner , sein braunes Baby auf dem Arm , wanderte mit ihnen , um ihnen alle verborgenen und tiefbemoosten Wasserkünste zu zeigen . Eine Atmosphäre von Wollust hauchte aus den Büschen .
Wie viel leichter war es doch in Europa , kühl und vernünftig zu bleiben , als hier unter indischer Sonne . Oder vielmehr der Sonne der „ strayed
settlements “ . Wieder fühlte sich Indra wachsen in der schwülen Treibhausluft . Aber sie wußte immer noch nicht , ob zum Guten , ob zum Schlechten . Die Rückfahrt war herrlich , und sie duldete es nun , daß Boris ihre Hand ergriff und in der seinen hielt , aus der es wie Feuer zu ihr hinüberzuckte . War er nicht ihr einziger Halt und Retter in der Fremde ? Beleuchtung und Stimmung der Natur waren unsagbar schön . Beim Abschied sagte er : „ Heute abend komme ich , Sie in die Stadt der Liebe zu führen . “ Sie sah ihn fragend an . „ Ich werd’ Ihnen all die Stätten zeigen , wegen derer Singapore berühmt ist in der ganzen Welt . “
Und am Abend fuhren beide , wieder in der Rickshaw , durch all die kleinen Gäßchen , die am Tage so einsam und verschlafen daliegen wie im Dornröschenschlaf . Sie hatten jetzt ein tausendfaches Leben . Stunden und Stunden fuhren sie , erst durchs Chinesenviertel , das so groß ist wie eine Stadt für sich . — „ Ich zeige Ihnen das Leben wie es ist , und nicht , wie es Kinder , Jungfrauen und alte Jungfern auffassen , den wilden
Tanz der Sinne um das goldene Kalb der Lust . — Hier sehen Sie all die Tausende von „ Singsonggirls “ , die für Geld dem Mann , jedem Mann , ihre Liebe schenken . Für ein paar Minuten , für ein paar Stunden , für eine Nacht — je nach Wunsch und Preis . Sie sind ein Kind , Indra , Sie wissen , Sie ahnen nicht , welchen Genuß die Liebe , die sinnliche Liebe , dem Menschen bietet . Sehen Sie hier den Liebesmarkt der ganzen Welt ! Sehen Sie hier , diese Chinesinnen , wie sie erst auf ihrem Hausaltar den Götzen opfern . Wie sie alles in Schönheit und in Naivität und Selbstverständlichkeit tun . Denn die Sinne sind keine Sünde . Nur die Welt , nur die Religion hat sie dazu gestempelt . Wenn Sie ’s noch nicht wissen , die Pension der Madame Vais ist ein Freudenhaus , und Sie wären dazu geschaffen , seine Königin zu werden . “ — Indra sah ihn mit großen , entsetzten Augen an . — „ Kommen wir jetzt zu den Japanerinnen . “ — Die saßen längs enger , dunkler Gassen , in rosa und blaue , luftige Kimonos gehüllt , in Schaukelstühlen . Die Nacht war schwül und schwer . Es ging wie Taubengirren durch die
Reihen . — „ Tun die alle nicht ein gutes Werk und ein verdienstliches , den Sinnendrang des Mannes zu stillen ? Wer findet ein Unrecht darin ? Und sie mehren dadurch ihr Heiratsgut und werden später die geachtesten Ehefrauen . Nur in Europa , der großen Heuchelanstalt , ist der Hetärenberuf , der ein ebenso gutes und ein ebenso notwendiges Gewerbe ist wie jedes andere , verfehmt und verschrien . Nur damit im geheimen die ganze Männerwelt ihm desto eifriger Tribut zahlt mit all ihrem Leben und Sein . Alles ist verlogen in Europa , die käufliche Liebe aber am meisten . “ — „ Halten Sie ein , “ rief Indra , „ das macht mich wahnsinnig . “ — „ Fragen Sie Ihre tiefste Natur , Indra , drängt nicht alles in Ihnen , seitdem Sie auf Asiens Boden , der großen Brutanstalt der Sinne , sind , der sinnlichen Liebe entgegen ? Und nur Konvention und Erziehung halten Sie ab , sich in meine Arme zu stürzen und Liebe , momentane Lust und Liebe zu geben und zu nehmen . Es ist alles in euch höheren Töchtern nur verbogene Natur , andressierte Konvention . Ich könnte dich jetzt nehmen , wenn ich wollte , aber
ich will , daß du dich mir freiwillig gibst , weil deine Sinne sich nach den meinen sehnen , wie die meinen nach dir . “
Er schwieg . Ein Zittern überflog Indra . Sie standen am Eingang einer der dunklen Japanergassen , in denen die Lust sprungbereit am Boden kauert .
„ All eure ganze Sehnsucht , ihr höheren Töchter , “ fuhr Boris fort , „ ist aus einem Punkte zu kurieren , wie Goethe sagt . Gebt euch dem kräftigen , gesunden Mann , der euch liebt und der euch gefällt , und ihr bleibt gesund und leistungsfähig und wißt nichts von Bleichsucht und Hysterie . Wozu wurden uns denn die Sinne gegeben , wenn wir sie nicht gebrauchen sollen ? Nur all eure Unnatur erzeugt unnatürliche Laster und Gewohnheiten . Und nun Verzeihung , Fräulein Indra , ich bin wieder der glatte Weltmann . Ich werde Ihnen nach der chinesisch-japanischen Liebe noch die Moden von Europa zeigen , dann können Sie heute nacht über alles nachdenken .
Morgen gehen wir nach dem Aussichtsberg über dem botanischen Garten . Dann sollen Sie
mir Angesichts der schönen Welt dort oben die Antwort geben , ob Sie meine Sinne erhören wollen oder nicht . “
Mit gramzerwühlten Mienen sah ihm Indra ins Gesicht . Sie stiegen wieder in die Rickshaw und fuhren nun durch das europäische Freudenviertel . Vor allen Häusern standen geschminkte , grellgekleidete Dämchen und lächelten : „ Bon jour , Monsieur , good evening Sir , will you have a drink with me ? Wollen Sie eins mit mir trinken ? “ Mitten in der Straße aber war ein kleines Haus mit drei Stufen . Eine bunte Laterne strahlte darüber , darauf las man : „ Pension Vais . “
Auf der obersten Stufe stand die tief dekolletierte Madame Vais . Entrez Messieurs , voiçi le paradis terrestre . — Vous trouverez les Houris de tous les pays . “ — „ Immer herein , meine Herrschaften , für jeden Geschmack hab’ ich was auf Lager , und beim Champagner werdet’s schon einig . “ — Indra hatte kaum Kraft , die steilen Stufen emporzuklimmen . In ihrem dunklen Zimmer warf sie sich aufs Bett . Ihre Seele schrie , und ihre Sinne schrien — nach Boris „ Was soll
werden , was soll werden ? “ Seele und Sinne schrien es ihr die ganze Nacht . Wie fand sie sich zurecht in dem Labyrinth ihres Lebens ? Wo war der Ariadnefaden , der sie hinausführte aus der Nacht der dunklen Gewalten in das helle , reine Licht des Tages . Tränenüberströmt lag sie auf ihren Kissen . Von drunten drang Tanzmusik , von allen Seiten hauchte zärtliches Geflüster . Die Luft war wie durchsetzt mit Wollust . Was alles hatte Boris gesagt ? Und worüber Margots zynisches Lächeln ? Hatten sie nicht beide recht ? Wozu gab uns Gott die Sinne , wenn wir sie nicht gebrauchen sollen ? War ’s aber nicht eine tödliche Sünde , die körperliche Hingabe , ohne Seelenliebe , die körperliche Hingabe ohne „ obrigkeitliche Genehmigung “ der Ehe ? Wo aber ist die Grenze zwischen Seele und Sinnen ? Spielt nicht eins ins andere hinüber ? Liebte sie Boris vielleicht ebenso mit der Seele ? Verstand er sie nicht in allem ? Erriet er nicht all ihre Gedanken ? Aber hatte er sie nicht vielleicht verraten und ausgeliefert ? Zum erstenmal dämmerte die Ahnung dieser furchtbaren Möglichkeit in ihrer
Seele auf . Aber sie verwarf sie sogleich wieder . Es war doch nicht seine Schuld , daß Madame Meranow sterben mußte , und daß sie in dies abscheuliche Haus kam .
Warum aber war er so intim in diesem Hause ? Wie stand er mit Madame Toussaint , der „ Frau des Intendanten “ , die seit zwei Tagen aus ihrem Gesichtskreis verschwunden war , nachdem sie doch vorher so intim mit Madame Vais getan ? — Wer gab ihr Antwort auf all diese Fragen ? War sie nicht von Rätseln umgeben ? Und war sie sich nicht selber das größte Rätsel ? Was hatte sie gewaltsam die Augen schließen lassen vor der furchtbaren Erkenntnis der „ pension “ von Madame Vais , wenn nicht der Gedanke — in Boris’ Nähe ließe sich alles ertragen ? Und nun ging er fort und ließ sie allein . Aber sollte sie nicht vorher noch einmal glücklich mit ihm sein , schrankenlos glücklich ? Es überlief sie heiß und kalt . Sie streckte die Arme aus — Boris . Wenn er jetzt hier stände , könnte sie ihm nichts versagen . Was aber sollte hernach werden , wenn sie allein wäre als „ Hausdame “ von Madame Vais .
Wenn ihr diese die schönen Kleider aufzwänge und sie hinunterstieße zwischen die anderen „ Pensionsfräulein “ , zu gefälligen Diensten für jeden , der zahlte ? — Sie mußte fliehen , sie mußte sterben ! Aber wie ? Zum ersten hatte sie kein Geld , und zum zweiten — sie war noch so jung , sie war noch niemals glücklich gewesen , das Leben hatte noch so viel tausend Möglichkeiten für sie .
Gegen Morgen erst fiel sie in einen schweren Schlaf . — Madame Vais rief von der Tür her : „ Brostoczicz will das Vögerl abholen zur Bergpartie . Ein lustig’s Leben hat ’s hier und keine Pflichten — bis jetzt ! “
„ Ich komme in einer halben Stunde “ , antwortete Indra und stand bald darauf Brostoczicz gegenüber . Sie sahen alle beide übernächtig aus , mit tiefen Ringen unter den Augen .
Draußen warteten schon die Rickshawmänner , die sie zum botanischen Garten fuhren .
Von dort ging ’s im Tragkorb noch zwei Stunden den steilen Weg durch den Urwald hinauf . — Oben war ein überwältigender Blick auf
den ganzen Hafen von Singapore , die kleine Bucht mit dem herrlichen Seebad Tandjong Priok und bis hinüber nach Johore .
Sie saßen lange schweigend , dann packte Boris seine Frühstückstasche aus . „ Fräulein Indra , “ sagte er jetzt , „ es geht mir sonderbar in meinem Leben . Zum erstenmal , daß ich eine Frau wahrhaft liebe . Früher ließ ich mich nur immer lieben und — verführte . Sie aber liebe ich , nun es zu spät ist — ich bin Ihrer nicht mehr wert , ich bin — ich habe — “ er schwieg . Indra sah ihn von der Seite an . Sein Gesicht schien ihr zum erstenmal alt und verwüstet . — Es flog auch nicht wie sonst , wie Wetterleuchten über Wolken , ein flüchtiges , fragliches Lächeln über seine dunklen Züge . Er sah sie gar nicht an , er kämpfte vergebens gegen eine übermächtige Bewegung . — „ Verzeih mir “ , sagte er plötzlich und küßte den Saum ihres Kleides . Dann saßen sie lange , ohne ein Wort zu sprechen . Stunden waren vergangen , die Sonne warf schon schräge Strahlen , und die Koolies bedeuteten , daß es Zeit zum Aufbruch sei .
„ Indra , “ sprach dann Boris plötzlich , „ morgen ist der letzte Tag , ich halte es nicht mehr aus . Wir gehen morgen zu dieser kleinen Meeresbucht , wo die vielen Palmen stehen . Das ist ein beliebter Badeort , dort wollen wir die Sonne untergehen sehen — und Abschied nehmen . “ — „ Und ich soll ganz allein bei Madame Vais bleiben , deren Person , deren Gewerbe , deren Haus ich verabscheue ? “ — „ Wir haben heut’ den zwanzigsten November , Anfang März hab’ ich Geschäfte in Yokohama , ich weiß dort ein besseres Haus für Sie und werde Sie dorthin auf meine Rechnung und Gefahr mitnehmen , wenn Sie bis dahin Madame Vais scheinbar zu Gefallen leben , so daß , was Sie ihr in der Gegenwart versagen , sie von der Zukunft hoffen lassen , wollen Sie ? Das ist für Sie der einzige Weg , sich vor ihr zu retten , denn sonst gibt sie Sie nimmer frei . Sie hat teuer genug für Sie bezahlt , von Ale … von Tunis bis Singapore , Reisegeld für Sie und Madame Toussaint . “ — Indra starrte ins Leere . „ Warum kommt noch immer keine Antwort von meiner Mutter “ , fragte sie plötzlich . „ Wenn sie nichts
mehr von mir wissen wollte ! Wenn der ungewollte Aufenthalt im Hause der Madame Vais ihr schon Grund genug wäre , mich aus ihrem Herzen zu stoßen . Was bliebe mir dann übrig ? “
„ Die Sinnenliebe , “ erwiderte Boris , „ und eine Lais , eine moderne Aspasia zu werden , eine Ninon de l’ Enclos — eine Indra . “
Wieder war Indras Nacht von Kämpfen und Verzweiflung durchwühlt und von jäher , ihr ganz ungewohnter , körperlicher Unrast und Sehnsucht . — Morgen war der letzte Tag mit Boris — er war unglücklich — wenn sie sich ihm gab , gab sie seinen und ihren Sinnen nach . Warum denen noch wehren , wenn man ein Mitglied der Pension Vais war ! — Sie hörte Kichern und Küssen von nebenan und wühlte ihren Kopf tief in die Kissen . War sie schon eine Verworfene , da sie solche verworfenen Wünsche spürte ? Hatte der große Liebesmarkt ringsum seine grelle Brunstfackel auch in ihre weiße Seele geworfen ?
Und der Morgen kam . Sie stand diesmal früh auf und schrieb abermals einen zwölf Seiten langen Brief an ihre Mutter . Niemals hatte die
stolze , verschlossene Indra die Mutter so tief in ihre Seele blicken lassen . Aber die bittere Herzensnot prägte und zwang ihre Bekenntnisse . Sie erflehte eine telegraphische Geldsendung , damit sie heimlich entfliehen könne . Sie beschwor die Mutter bei allem , was ihr heilig sei , sie aus ihrer tiefen Not zu retten . Noch sei sie unschuldig , und sie schloß mit den Worten der Emilia Galotti : „ Auch meine Sinne sind Sinne . Gewalt fürchte ich nicht , aber Verführung , Verführung ist die höchste Gewalt , rette mich , Mutter , wenn du nicht dein letztes Kind verlieren willst . “ — Sie bat Brostoczicz bei seinem Kommen , den Brief , als Eilpost eingeschrieben , zu bestellen . Sie sah nicht seinen gequälten Gesichtsausdruck , und die unwillkürlich abwehrende Bewegung seiner Hände . Mit einem Seufzer steckte er den Brief in seine Brusttasche . Indra wollte , daß sie ihn beide gleich besorgten , sie selber hatte keinen Pfennig Geld mehr . Aber er murmelte etwas , das klang , wie wenn der Steamer doch erst übermorgen fortführe , und der Postschalter jetzt geschlossen sei . Indra mußte sich gedulden . Nun hatte sie seit ihrer Abreise
schon fünfmal geschrieben und noch nicht das geringste Lebenszeichen erhalten . Sie wunderte sich , daß man ihr keine Briefe von Tunis nachschickte . Ihre Mutter war nun gewiß ärgerlich , daß sie so selbstherrlich die Singaporeofferte angenommen und , ohne ihren Rat einzuholen , dorthin gefahren war . Wie würde sie sich erst empören , wenn sie die Art von Madame Vais „ pension “ erfuhr . Vielleicht würde sie Indra nie verzeihen . Nein , nur das nicht , nur das nicht .
In all diesen Gedanken fuhr sie mit Brostoczicz in der Pferdebahn durch die lange Vorstadt von Singapore nach der Haltestelle für das Bad Tandjong Priok .
Sie mußten noch eine halbe Stunde durch dichten Palmenwald wandern , bis sie an den berühmten Badestrand kamen , der sich herrlich weit und weiß vor ihren Blicken dehnte . Über dem Weg standen reizende Bungalows mit wunderschönen , blütenüberschütteten , duftumwogten Gärten . Ylang-Ylang-Bäume sandten ihren betäubenden Hauch bis zum Wasser . Es sah aus , als müsse in jeder dieser Villen das Glück wohnen . Als
könne das gar nicht anders , als müsse das so sein . Stundenlang lagen sie am Strande und genossen das herrliche Bild . Schon war die Sonne ins Meer gesunken wie ein purpurner Feuerball , tiefschwarzviolett stand das Meer gegen die rote Glut am Horizont . —
Und nun stieg von der anderen Seite der Mond empor , fast ebenso purpurn und groß wie der Sonnenball vorher gewesen war . Sie wanderten wieder auf und ab , rastlos . Boris hob die kleinen , grünen , unscheinbaren Blütenbüschel der Ylang-Ylang-Bäume , die der Nachtwind von den Bäumen schüttelte , und gab sie in Indras Hände , überschauerte sie damit wie mit einem Regen . Die Nacht war schwül wie Treibhausluft . — „ Was ist das für ein Haus , Brostoczicz , wohin Sie mich nach Yokohama holen , ist das auch ein Freudenhaus , kann ich nicht mehr heraus aus diesem Bann ? “
„ Ja , ich will Ihnen Wahrheit geben , Indra , es ist ein Haus der Freude , aber es sind nur Japanerinnen dort , und was Sie hier im europäischen Haus verletzt und stört , werden Sie dort nicht
empfinden . Der asiatische Astartenkult steht turmhoch über dem unseren . Was in Europa Schmutz und Kot heißt , gilt dort für selbstverständlich , für ethisch berechtigt . Ich sagte Ihnen schon so oft , es gilt als die freie , natürliche Entfaltung unseres Körpers wie die Entfaltung der Blumen und Knospen an den Bäumen . Indra , könnten auch Sie sich nicht zu dieser Erkenntnis durchringen ? Dann wüßte ich Sie doch ruhiger und glücklicher . Dann brauchte ich mir keine Vorwürfe mehr zu machen , Sie so lange bei Madame Vais zu lassen . Es ist keine Sünde , den Sinnen zu geben , was der Sinne ist ; das ist ja alles nur verlogene europäische Konvention . “ — Er sah , wie ein leises Zittern ihren Körper überlief . — „ Indra , soll ich dich lehren , was die Sinne sind , und wie süß es ist , ihrem Begehr zu folgen ? “ — Ein leises Schluchzen drang an sein Ohr . Da riß er sie an sich und zog sie in das Palmendunkel .
Dort gab sich ihm die stolze , reine , dianenhafte Indra in zitternder Brunst . Dort schlürfte sie aus dem Taumelkelch der Sinne , aber nicht in Sünden und Schmutz , sondern in echtem Empfinden .
Und niemals hatte Boris , der große Verführer , der abgefeimte Schurke , reiner empfunden , als da er dieses reine Weib wissend machte , es einweihte zu seinem Beruf der „ Phryne “ , den das Schicksal wie ein Lasso über ihr Haupt geworfen , wider ihr eigenes Wissen und Wollen .
Die reine Seele trägt einen Mantel von Asbest , er bleibt auch im Feuer unversehrt und weiß im Kot .
Vier Wochen schon war Indra Hausdame bei Madame Vais . Mit ihrem hausfraulichen Walten war diese äußerst zufrieden , weit weniger aber mit ihrem Benehmen im Salon , wo sie , wie Madame sagte , die Unnahbare markierte .
Doch sie hoffte , das würde sich alles mit der Zeit geben , wenn das Liebesfluidum sie völlig durchtränkt hätte . Sie kam ja aus einer gar zu fernen Welt . Trotzdem glaubte Madame , daß Indra eine Zukunft hätte , und war darum entschlossen , sie in keinem Fall in den nächsten Jahren wieder herzugeben . — Brostoczicz hatte ihr schon
einmal einen Austausch für sie mit einer Japanerin , aus Number nine in Yokohama , vorgeschlagen . Sie hatte ja doch genug deutsche Mädchen , und in Margot eine vollkommene Repräsentantin der Nation . So eine kleine Geisha , die den Männern wie eine kleine Maus über den Rücken spaziert , wäre doch wirklich eine Bereicherung der „ pension “ Vais . — Sie wollte sich ’s überlegen , wenn Boris wiederkäme ; vielleicht behielt sie auch dann alle beide , er solle die kleine Maus nur bringen .
Das Geschäft ging ganz gut in letzter Zeit ! Es hatte entschieden einen vornehmeren Anstrich bekommen seit Indras Hausdamenschaft . Unwillkürlich waren sämtliche Preise gestiegen . Für Indra waren schon beträchtliche Angebote bei Madame eingelaufen , ihr selbst wagte man sie gar nicht ins Gesicht zu sagen , wenn sie einen so abweisend ansah . Madame wollte sie nicht zwingen . Noch nicht . Sie war eine Menschenkennerin und wollte das Früchtchen erst vollreif werden lassen . Margot war in ihrem Zenith . Wenn sie mit gebeugtem Köpfchen , ihrem Madonnenscheitel und
ihrem weißen Spitzenkleidchen , die „ Kunden “ so taubenhaft unschuldig anschaute , waren alle hingerissen , besonders die Schwarzen . Und sie kamen auch immer wieder . Margot hatte eine feste Kundschaft , und das Geschäft ging flott . Sie hatte sich zehn Prozent Reingewinn von Madame erbeten und hatte auch schon ganz hübsche Preise . Sie war einfach süß und so echt weiblich . Sie betrieb das Geschäft vollkommen als amateur , l’art pour l’art , seit ihrer frühesten Jugend . Sie war aus guter Familie , aber früh Waise geworden . Trotzdem hatte sie eine glänzende Erziehung genossen , ihr Lehrerinnenexamen gemacht , und war von ihrem achtzehnten bis sechsundzwanzigsten Jahre bei den vier Kindern eines reichen Landedelmannes im Elsaß als Erzieherin tätig gewesen . Sie ward dort allgemein geliebt , geachtet , verehrt und bewundert und erfreute sich des tadellosesten Rufes . Jeden Sommer hatte sie vier Wochen Ferien , die sie stets in Kolmar bei „ alten Freunden “ der Familie verlebte ( Adresse poste restante ) . Im ersten Freudenhaus von Kolmar ward
ward sie jeden ersten Juli ( unter dem Namen Angela ) von der ganzen Garnison mit ungeduldiger Freude erwartet . — Nach acht Jahren machte ein unglücklicher Zufall dem Stilleben und Doppelleben ein jähes Ende . Sie ward mit Schimpf und Schande aus dem Hause gejagt . Doch Margot ließ sich von Kolmar aus nach Singapore verschreiben . Sie war eine Lebens- und Liebeskünstlerin von unermüdlicher Ausdauer und Genußfähigkeit und animierte dadurch auch ihre jeweiligen Partner . Wie gesagt , sie war unendlich beliebt , wohin sie auch immer kam . Indra hatte sich an sie anschließen müssen ; war sie doch immerhin , ihrer Bildung nach , der einzig mögliche Verkehr . Indra konnte mit ihr über alles sprechen . Aber Margot hatte ein Steckenpferd — die Sinneslust und die Sinnesfreude . Sie konnte sich auch nicht vorstellen , daß diese in einer Frauenbrust jemals erlöschen könnten . Madame hielt sie für einen geeigneten Umgang für Indra , gab dieser daher auch ein Zimmer mit geöffneter Durchgangstür neben Margot . Indra lernte viel , dachte viel , litt viel , litt unendlich . Von ihrer
Mutter war noch immer kein Lebenszeichen gekommen . Indra fing nun allen Ernstes an zu glauben , Frau Versen wolle nichts mehr von ihrer Tochter wissen . Nachdem auch auf den beschwörenden Brief mit der Bitte um telegraphische Geldsendung , dem am anderen Tage eine nochmalige flehende Bittkarte um Eile gefolgt war , die ihr Boris sofort besorgt hatte , kein Lebenszeichen erfolgt war , auch nicht das leiseste Lebenszeichen ! Nun hatte sie niemand , zu dem sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl hatte , außer Boris . Aber auch an ihm fing sie wieder an zu zweifeln , nachdem ihr Margot mancherlei über ihn erzählt . Dunkle Gerüchte umgaben seine Person . Man sagte , er sei durch schändliches Gewerbe schwer reich geworden .
Nun war bald Weihnacht . Tiefe Wehmut überkam Indra bei diesem Gedanken . Ihre einzige Rettung war , sich mit Feuereifer auf den Hausstand zu werfen . Noch nie hatten die Damen der „ pension “ Vais so gut gegessen wie seit Indras Regiment . Und noch nie hatte Madame Vais so wenig Wirtschaftsgeld verbraucht . Indra hatte
nicht umsonst den jahrelangen Kampf mit dem Pfennig durchgefochten . Eines Abends zeitig , sie trug gerade ein Glas mit Tuberrosen in den Salon , kam ein Fremder und fragte nach Fräulein Margot . Er war groß und schlank und hatte ein freies , stolzes , schönes Gesicht und Augen wie blaue Edelsteine . Indra schaute hinein , und es beschlich sie ein Gefühl des Neides , daß er nach Margot verlangte . „ Sie sind noch nicht lange hier ? “ fragte er sie . — Indra : „ Seit einem Monat , aber ich bin nur Hausdame . “ — „ Nur ist gut “ , sagte er ; „ danken Sie Gott dafür und bleiben Sie immer nur . “ — Indem trat Margot herein . Er sprang ihr entgegen und küßte ihr ritterlich die Hand . Sie sah ihn an wie ein verliebtes Kätzchen ( sie sah reizender aus denn je in dem kindlichen Spitzenkleidchen ) , dann ging sie ans Klavier und spielte Chopin , sein Lieblingsstück . Sie spielte sehr gut . Der Ausdruck in seinen Zügen ergriff Indra . Margot sprang dann plötzlich auf , nahm eine Champagnerflasche und zwei Gläser . „ Hausdame , notier’s ! “ rief sie lachend zu Indra hinüber und verschwand
mit ihrem Freund nach ihrem Zimmer . Indra strich sich über die Stirn — war der nicht zu schade für Margot , der es weniger auf das Individuum als auf die Masse ankam ? Sie steckte sich ein Zweiglein Tuberrosen an ihr schwarzes Kleidchen ; sie trug sich ostentativ einfach . Madame schwieg dazu , weil sie sich sagte , um so mehr werde Indras Persönlichkeit auffallen , später , wenn sie anderweitig fürs „ Geschäft “ wirkte . Und sie sah wirklich überall nach dem Rechten und ließ keinen Gast , ohne daß er gezahlt hatte , heimlich hinausschlüpfen , wie es früher mehrfach vorgekommen war . — Wirklich , Madame war äußerst zufrieden . Indra war eine wirtschaftliche Perle und mußte in der „ Liebe “ Königin werden , wie sie sich poetisch ausdrückte , nachdem sie dies einmal von Boris gehört . Indra saß und wartete , Margot und der Fremde kamen nicht wieder .
Andere Herren fragten nach Ella und Bella . „ Manche Herren woll ’n was recht Schwarzes “ , sagte Madame . Auch Spanierin , Italienerin und Griechin , wurden gewünscht , und die übrigen lehnten
mit Madame malerisch an der Haustür . Der Fremde stand plötzlich wieder vor Indra . „ Bitte , nehmen Sie ein drittes Glas und kommen Sie , mit uns anzustoßen . “ — „ Hat das Margot gewünscht ? “ — „ Nein , aber ich wünsche es . “ — „ In Margots Zimmer und jetzt , nachdem ? “ sagte sie langsam . Eine dunkle Röte stieg in des Fremden Stirn . „ Dann also nicht , “ und er ging hinaus . — Indra aber fühlte , sie hatte recht getan , sie konnte mit keiner teilen .
Als der Fremde ging und den Champagner bei Indra zahlte , fragte er sie : „ Wollen Sie das nächste Mal mit mir allein in Champagner anstoßen ? “ Nun war es Indra , die errötete . Sie blieb die Antwort schuldig . — Am anderen Abend kam er wieder — wieder so früh wie gestern . Und wieder traf er Indra allein . „ Ich werde Margot rufen . “ — „ Nein , heut’ komm’ ich wegen Ihrer . “ — „ Was wollen Sie von mir ? “ — „ Sie sehen , Sie sprechen , Ihr Wesen fühlen ! “ — „ Kann man das ? “ — „ Wenn man eine verwandte Seele hat , ja ! “ — „ Was können Sie mit einem Mitglied der „ Pension Vais “ gemeinsam haben ? “ fragte
sie bitter . — „ Die Sehnsucht , “ sagte er leise . Aus Indras Augen quollen Tränen . Sie stand auf , reichte ihm stumm die Hand und eilte hinaus .
Sie hörte ihn hernach in Margots Zimmer , Margots Taubengirren , seine dunkle , metallische Stimme . Es tat weh wie ein körperlicher Schmerz . Als er später den Champagner zahlte , hatte er wieder eine rote Stirn , wie in Scham . Dann küßte er ihr die Hand . „ Wie Margot , “ dachte sie bitter . Er kam nicht wieder . Abend für Abend wartete sie vergebens . Dann fragte sie einmal Margot nach ihm . Die konnte sich kaum noch erinnern , wen sie meine . „ Ach den , das ist ein englischer Marineoffizier , er ist sehr nett , sehr reich und sehr generös . Aber allzu philosophisch veranlagt . Von der „ Ars amandi “ weiß er wenig . “ Wieder lächelte sie ihr Monna-Lisa-Lächeln . „ Trotzdem verkehrt er mit keiner anderen Frau in ganz Asien als mit mir . Und ich glaube es ihm gern , er ist keine starke Natur . “ Margot nannte nur „ Stiere “ stark , alle anderen waren in ihren Augen Schwächlinge und Impotente .
Am Weihnachtsabend ging es besonders
lustig zu in der Pension Vais . Indra hatte ein Orangenbäumchen als Christbaum mit Lichtern frisiert , und Margot spielte dazu „ Stille Nacht , heilige Nacht “ . Wie eine Blasphemie erschien es Indra . Es wurde viel Punsch konsumiert an jenem Abend , alle Fräulein waren separat beschäftigt , und Madame strahlte .
Drei Angebote hatte sie heute für Indra . Sie vertröstete alle Liebhaber auf die nächste Zukunft . Aber sie mußte dem Mädchen doch sagen , daß , wenn sie nur wolle , sie Margot bald Konkurrenz machen könne . — „ Aber ich will nicht , “ sagte Indra , „ ich bin Hausdame , man kann nicht zweien Herren dienen . “ — Und das Leben ging seinen Gang . Es kam kein Brief für sie , ihre Mutter hatte sie vergessen .
Ihr war’s , als solle sie innerlich versteinen . Nun war sie vogelfrei — nun konnte der erste beste seinen Mut an ihr kühlen , und keiner durfte es ihm verwehren . Wenn nur Boris bald kam , sie von hier fortzunehmen . Die „ europäische “ Sinnenlust ward ihr immer schrecklicher . Wie recht doch Boris hatte , daß die Asiaten alles viel
harmloser , viel natürlicher auffassen und viel selbstverständlicher und daher weniger verletzend . Und wie ganz anders wieder war die Stellung der „ Hetäre “ bei den Asiaten . Das konnte sie schon an den Singsonggirls und den japanischen Freudenmädchen beobachten , die von den Ihren nicht wie Ausgestoßene , sondern wie ihresgleichen behandelt wurden . Mit Ruhe und selbstverständlicher Höflichkeit . Während die Männer , die Europäer und Amerikaner , die die Pension Vais frequentierten , zuerst mit karikierter Förmlichkeit und Courtoisie , sobald sie sich unbeobachtet glaubten , mit zupackender Roheit auftraten . Ella und Bella berechtigten auch zu dieser Art . Und die anderen exotischen Europäerinnen gleichfalls . Margot aber ließ sich das einfach nicht gestatten und hatte sich denn auch aus ihren ständigen und vorübergehenden Kunden einen richtigen Hofstaat gebildet . Die „ zupackende Roheit “ goutierte sie jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit ! Aber das Hetärentum in Europa mußte sehr im argen liegen , das ersah Indra aus seinen Dependenzen in Asien . Sie dachte viel über Boris’
Worte nach , er hatte vollkommen recht . Nicht die Sinne und die Sinnlichkeit an sich sind das Tadelnswerte , sondern der Popanz , den die Kulturmenschen daraus machen .
Und so gingen die Tage ihren Lauf . Margots Freund kam nicht wieder . Das wäre der einzige gewesen , nach dem ihre Sinne Verlangen getragen unter all der bunten , zusammengewürfelten Männerschar , die täglich ihren Weg kreuzte und deren „ drinks “ an Indra , die Hausdame , bezahlt wurden . Aber er kam nicht wieder . Und es kam auch kein Brief . Ihre Mutter hatte sie zu den Toten geworfen . Ihre oftbetonte Mutterliebe konnte also doch nicht allzu tief gewesen sein . Wie heißt es doch in der Bibel ? Die Liebe trägt alles , sie glaubt alles , sie hofft alles , sie duldet alles . Was hatte ihrer Mutter Liebe für sie geglaubt , für sie getragen , gehofft und geduldet ? Ein bitteres Gefühl erfüllte sie , sie glaubte daran zu ersticken . War sie wirklich dieser Liebe unwürdig geworden ? War sie nicht im Gegenteil in ihrer Sele durch diese Leiden und Erfahrungen reifer , tiefer und besser geworden ? Lebenstüchtiger ,
wissender , einsichtsvoller ? Nein , sie brauchte vor niemand die Augen niederzuschlagen . Noch nicht , aber nachher in Yokohama , in Number nine , wo sie sich der allgemeinen Ordnung wohl einfügen mußte und jedem Mann gehören , der zufällig ein Auge auf sie würfe ? Ihr grauste nun doch . Aber — was bliebe ihr denn hier auf die Dauer anderes übrig ? Das nämliche unter einer „ Madame “ , die sie haßte . Hatte Boris nicht gesagt , daß dort alles ganz anders , schöner , besser sei ? Daß sie dort als Japanerin behandelt und gekleidet würde ? Dann wollte sie also dort den ganzen europäischen Tiefstand vergessen und sich als Japanerin in einem allgemein geachteten Beruf fühlen . Wenn sie nun doch einmal zum Hetärentum verurteilt war ! Wenn keine Hilfe vom Himmel noch von der Erde kam , sie davor zu retten .
Und so vergingen die Tage . Man war schon Ende Februar . Für Indra kam keine Kunde . Aber nun mußte Boris bald zurückkommen . Madame hatte sich ausgerechnet , daß Indra ihr doch mehr einbrächte , wenn sie sie in den großen
Liebesdienst einstellte und sich mit einer weniger vorzüglichen Hausdame begnügte . So hatte sie Indra verständigt , daß sie morgen , am sechsundzwanzigsten Februar , eines der Feenkleidchen anziehen und zum Freudendienst hinuntergehen müsse , die strengeren Hausdamenpflichten einer anderen Hilfe überlassend . Ein alter „ Dragoner “ war dafür schon eingerückt , eine Ausrangierte , wie Madame sagte .
Sie hatte Indra ein kirschfarbenes , tiefdekolletiertes Seidenfähnchen ausgesucht , das ihre herrlichen Formen mehr zeigte als verhüllte . Dann sollte sie ihr lockiges Haar in seiner dunklen Fülle frei fließen lassen , über der Stirn lag ein Similibrillant . Madame selber hatte sie angezogen und frisiert . Nun führte sie sie hinunter , und anfangs erkannte niemand unter der neuen Schönheit , von Madame geschminkt und zurechtgemacht , die keusche „ Hausdame “ . Da trat plötzlich , wie ein Deus ex Machina , Boris in den Empfangssaal , von allen mit Jubel begrüßt . Indra aber wäre ihm in der Freude ihres Herzens fast um den Hals gefallen .
„ Wie sehen Sie denn aus , “ meinte er stirnrunzelnd , „ wie die Leichtsinnigste aller Leichtsinnigen . “ Und dann hatte er mit Madame eine heimliche , lange und heftige Unterredung , in der er ihr bedeutete , daß die Polizei ihnen auf der Fährte sei und es absolut nötig sei , so schnell wie möglich , Indras Spur zu verwischen . Zu diesem Zweck müsse er sie morgen früh auf dem P. N.O-( Pieno )-Steamer nach Yokohama bringen , und zwar in ganz dunkler , schlichter Kleidung . Zum Austausch habe er die kleine , reizende Japanerin mitgebracht , von der er früher schon gesprochen . Sie wartete im Vorzimmer und war das allgemeine Entzücken , als er sie hereinbrachte . Fudji ( Glycinia ) küßte Madame die Hand und sah so reizend in ihrem blauseidenen Kimono aus , daß diese sich mit dem Gedanken vertraut machte , Indra zu verlieren , von deren Zukunft sie sich ja so goldene Berge versprochen hatte . Indra war zumute wie einem zum Tode Verurteilten , dem man im letzten Moment das Begnadigungsurteil gesprochen . Boris führte sie eigenhändig in ihr Zimmer zurück und — nahm sie wieder im Sturm .
Sie war ihm so dankbar , sie wehrte ihm nichts . Es tat ihr auch beinahe wohl , sich an seinem Herzen auszuleben . War er nicht ihr Retter , ihr Beschützer trotz allem ? Liebe fühlte sie nicht für ihn , das wußte sie nun , seitdem sie Margots Freund in die Augen gesehen — aber sie war ihm so dankbar , und seine Nähe tat ihr wohl . Und ihre Sinne hatten gedarbt in seiner Abwesenheit . In der Liebesluft ringsum waren sie unendlich ins Kraut geschossen . Er war erstaunt und berauscht , wie köstlich sich ihr Weibtum entfaltet hatte . Und er nahm sie ganz und nahm und gab ihr dunkle Freuden . Trotz allem — Astartens Fittiche rauschten wieder über beiden .
ZWEITER TEIL
S
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R
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Am anderen Tag zog Boris mit Indra in die Weite . Der Abschied von der Pension Vais fiel ihr nur allzu leicht . Sie hatte niemals viel übrig gehabt für Ella , Bella und Konsorten . Eine schrecklichere Madame konnte sie in keiner „ Pension “ von ganz Asien finden . Nur die Trennung von Margot tat ihr weh . Sie war trotz allem ein gutes , kleines Mädchen . War es denn ihre Schuld , diese „ Wassersucht “ der Sinne , die all ihre anderen guten und großen Gaben überwuchert hatte und sie zu einem blindwütigen Werkzeug der Natur gestempelt , von Kindheit an ? Das war eine Mänade von den Corybanten der Antike und an sich doch so gutherzig und arglos . Nur die Natur lehrte sie alle Tricks ihres Geschlechts . Sie brachte das Paar noch an Bord und weinte viele Tränen . Winkte noch zum Abschied mit dem Spitzentaschentüchlein , das hin und her flatterte wie ein weißer Schmetterling . Kaum vier Monate war es her , da hatte Indras Tüchlein
geflattert zu einem Lebewohl für die Mutter . Ach , dieser Schmetterling war lang verflogen , übers Meer , in Nacht und Schande , dachte wohl die Mutter in ihrem engen Sinn . Und hatte sie nicht vielleicht dennoch recht ? War alles , was sich Indra immer wieder sagte , nur ein Mäntelchen für ihre eigene böse Lust , die schlechten Instinkte , die der mehr wie dreimonatige Aufenthalt bei solcher Pensionsmutter in ihr geweckt ? Wie eine offene Wunde trug Indra das Verstummen ihrer Mutter , da sie doch wieder und wieder zu ihr gefleht hatte in ihrer tiefsten Not .
Auf dem Dampfer gab Brostoczicz Indra für seine Frau aus , und sie ruhte allnächtlich an seinem Herzen . Es war ja alles gleich , sagte sie sich , und Boris war besser als ein anderer . Sie fühlte auch , daß ihre Sinne jählings erwacht waren und nach Sättigung schrien .
Und der große Verführer tat sein Werk , er weihte sie ein in den Astartenkult — und sie wurde seine gelehrige Schülerin .
Nun würde sie ein würdiges Mitglied der berühmten Number nine werden . Boris war im
tiefsten entzückt und erschüttert . Er betrachtete dies Weib als sein Opfer , sein Werk und sein Geschöpf und war schon eifersüchtig im Geist auf seine Nachfolger . Nach vierzehn Tagen , am Nachmittag , kamen sie nach Yokohama und fuhren gleich , nach Number nine . — „ Ich werde mir natürlich vorbehalten , dir in den nächsten Tagen noch etwas von der Umgebung zeigen zu dürfen , wie in Singapore , “ sagte er .
Indra war dies nur allzu erfreulich . Ach Reisen , Reisen , die Welt sehen , alles lernen , Revelationen in sich fühlen und Emotionen . Was kam dem gleich ? Nicht einmal die Freuden des Sinnenkults . Sie nannte jetzt schon ganz unwillkürlich „ Freuden “ , was ihr anfangs nur Abscheulichkeiten waren . — Als beide vor „ Number nine “ aus ihren Rickshaws stiegen — die Dunkelheit war gerade hereingebrochen — konstatierte Indra eine ziemlich menschenleere Gasse mit niederen Häusern . Number nine war wirklich Number nine in dieser Straße , ein weitläufiges , nicht sehr hohes Haus , gelb angestrichen — mit vielen Holzgalerien . Es sah ziemlich unscheinbar
aus . Sie mußten lange pochen , endlich kam eine dunkelgekleidete , unendlich ehrbar aussehende , junge Japanerin mit dunkler Brille . „ Das ist die Hausdame , “ flüsterte Boris .
„ Das Haus ist nicht vor neun Uhr geöffnet , und jetzt ist es sechs Uhr , “ sagte sie . Boris antwortete : „ Ich weiß , aber ich bringe die neue ‚ Shiragiku ‘ . Das japanische Fräulein musterte Indra erstaunt . „ Ist sie nicht allzu groß und imposant für uns ? Wie soll sie jemals das Mausspiel lernen ? “ — „ Ist auch nicht nötig , daß jeder jedes kann , es lebe die Individualität . “ Das japanische Fräulein lächelte , ein gutes , harmloses Lächeln , das ihr sogleich Indras Herz gewann . „ Come in , please , bitte , treten Sie ein : Madame , meine Tante , hat mir von der Neuen gesprochen , die erst angelernt und japanisiert werden müsse . Vielleicht sieht sie im Kimono ganz echt aus . Ihre Augen stehen fast japanisch , nur sind sie etwas zu groß . Sie müßte dann vielleicht eine Brille tragen , und wir könnten sie Taubenauge nennen . “ — „ Alles schon dagewesen , “ lächelte Boris , „ drüben in
Tokio , in Yoshiwara , sitzt schon ein Taubenauge mit großer , schwarzer Brille , laßt ihr nur ihre eigenen Augen , sie sind schön genug ! “ — Sie waren mittlerweile durch eine große , betäubend nach frischen Blumen duftende Halle , eine breite , mattenbelegte Treppe emporgestiegen . Indra mußte unwillkürlich an die knarrende Hühnerstiege der Madame Vais denken . Eine Galerie lief von hier um das ganze Haus , auf die sich , wie die Zellentüren in einem Kloster , zahlreiche Schiebetüren , sechs auf jeder Seite , also vierundzwanzig im ganzen , öffneten . „ Auf diesen beiden Seiten wohnen die Mädchen , “ sagte das ehrbare Fräulein . „ Und bei der einen wollen wir die meine Shiragiku einquartieren . Dann wird sie sich am schnellsten zur Japanerin umwandeln . “
Sie öffnete nun ein paar Schiebetüren . In jedem der kleinen , mit gelbem Naturholz vertäfelten Japanerstübchen saßen oder standen zwei Mädchen , plaudernd , lachend sich den Ohr , die breite Rückenschleife , zurechtzupfend , oder in einen anderen Kimono schlüpfend . Andere wieder hockten vor dem Spiegel , puderten und schminkten
sich , färbten sich die Augenbrauen und die Nägel , steckten sich Blumen ins Haar , wärmten sich an einem bronzenen Räucherbecken , dem Shibachi , knieten vor ihrem Teeservice .
Es waren reizende Momentbilder , die sich da mit dem Auf- und Zurollen der Schiebetüren vor Indras entzückten Augen zeigten . In manchen Stuben sah sie auch auf einer Estrade , in einer Nische der Holzwand , einzelne große Blütenzweige in Bronzedrachenvasen stehen . — „ That shall be your room , das ist Ihr Zimmer , “ sagte die Brillenmiß zu Indra , die letzte Tür aufschiebend , in der nur ein Mädchen , eine ziemlich Große , Schlanke , vor dem Spiegel stand . „ Und wo ist mein Bett ? “ fragte Indra unwillkürlich . Das Hausfräulein lächelte . Sie deutete aus den mattenbelegten Boden , vor dem am Eingang , wie in allen anderen Stuben , fein ordentlich die Holzpantöffelchen standen . Kein Japaner betritt mit staubigen Schuhen sein Gemach . An der Wand standen zwei winzige „ Kopfstützen “ , wie es Boris nannte , und lagen ein paar warme Decken . „ Man gewöhnt sich an alles , “ sagte Fräulein
Momidji . ( „ Das bedeutet Ahorn , “ flüsterte Boris . ) „ Aber es gibt auch Betten im Hause , ich will sie Ihnen zeigen . “ Und sie führte die beiden auf die andere Seite der Galerie . „ Here are the guestrooms , “ hier sind die Gastzimmer . Das waren kleine , weiße , viereckige Stuben , strahlend von Reinlichkeit . In der Mitte ein riesengroßes , schneeweiß bezogenes , französisches Bett , mit Bergen von Kissen , mit gestickten Volants und einer monogrammartigen Riesenneun in der Mitte , mit ein Wappen .
Auf der einen Seite ein marmorner Waschtisch mit großen , blanken , wassergefüllten Kannen , mit Eimern und einem Riesenpack frischer Hand- und Frottiertücher . Auf der weißen , glänzend polierten Marmorplatte des Nachttisches aber stand ein riesiger , frisch und üppig blühender Azaleentopf . Die einzige Farbe in der klösterlichen , keuschen Weiße , wie ein großer , bunter Schönheitsfleck ! Die zwölf Stuben waren in allem gleich , nur die Farben der Azaleenstöcke waren verschieden . Alles blitzte vor Sauberkeit . „ Number nine ist weltberühmt , “ sagte jetzt Miß
Momidji . „ Es ist alles klar zum Gefecht , “ flüsterte Boris . „ Sie müssen noch den tearoom und die Bar sehen , “ fuhr das bebrillte Fräulein fort , „ und den Salon , und unser Prachtstück , die Hall . Sie wird schon beleuchtet sein , jetzt . “ — Und sie gingen auf einer schmalen Wendeltreppe hinunter in den Salon , der einem modernen europäischen Hotel Ehre gemacht hätte , mit seinen schönen japanischen Stickereien und Möbeln , und dann , ein behagliches tearoom durchkreuzend , durch eine breite Schiebetür in die Hall . Ein Ausruf des Entzückens drang von Indras Lippen . Der ganze Hintergrund und die Treppenrampen waren bestellt mit tausenden blühender Azaleen- und Kamelientöpfe . Dazwischen blühende Orangenbäumchen , weißer Flieder und Tuberrosen . Es war wie die piece de résistence in einer großen Blumenausstellung . Einfach wundervoll . „ You are in Number nine , “ sagte die Brillenmiß fast ehrfurchtsvoll . „ Täglich werden die Blumen , wenn es nötig ist , erneuert . Das ganze Jahr hindurch ist hier eine flowershow mit den Blüten der Jahreszeit . “
„ Warum tragen Sie eigentlich eine Brille , “ fragte Boris , „ Ihre Augen sind doch japanisch schmal wie die Sinnenschlitze der Göttin der Wollust in Person . “
„ Ich war Lehrerin und bin es für ein paar Stunden am Tage noch , und dann — it looks so respektable , es sieht so ehrbar aus . Ich bin es ‚ Number nine ‘ geradezu schuldig . “ Ihre Stimme hatte wieder jenen ehrfurchtsvollen Klang . — „ Now let’s take some ‚ Sake ‘ to welcome you , nun müssen wir noch etwas Sake nehmen , Sie willkommen zu heißen , “ sagte sie und wandte sich wieder der Bar zu , dort setzte sie Indra und Boris jedem eine Tasse voll Reisschnaps vor , das Nationalgetränk der Japaner , den „ Sake “ , im Geschmack wie dünner Marsala ! Er schmeckte ganz gut . „ Daran und an die japanische Kost wirst du dich schon gewöhnen müssen , Indra . “ — „ Eigentlich muß er heiß getrunken werden , “ sagte das Fräulein , „ aber ich habe keine Zeit mehr , ich will nur Shiragiku noch in ihr Zimmer führen , dort soll sie sich nach all den neuen Eindrücken gleich schlafen legen — und morgen als Japanerin aufwachen .
Sie hat solch schönen Namen , Shiragiku bedeutet „ weiße Chrysantheme “ . — „ Weiße Chrysantheme “ , wiederholte Indra leise .
Aber Boris sprach : „ Morgen und übermorgen möcht’ ich ihr noch als Europäerin Yokohama , Kamakura und die ‚ heilige Insel ‘ Enoshima zeigen , wo die Göttin Benten in der Felsenhöhle den Drachen zähmte , indem sie ihn heiratete . Sie begreift dann rascher den japanischen Geist . Und den Fuji muß ich ihr vorstellen , Euern Schutzgeist , den Schneeriesen . “ — „ Den Fuji-no-yama ! “ Die Brillenmiß sprach den Namen des japanischen Schönheitsberges fast so ehrfürchtig aus wie „ Number nine “ . — „ Wo ist aber eigentlich Madame ? “ — „ Madame wohnt gar nicht hier , sie wohnt in ihrem Haus in Kamakura und kommt nur zweimal wöchentlich herüber , mit mir abzurechnen und nachzusehen , ob ich nichts vernachlässige . “ — „ So sind Sie eigentlich die Leiterin des Ganzen “ , rief Indra . „ Haben Sie da nicht allzuviel auf Ihren Schultern ? Sie müssen doch auch mit den Fremden abrechnen . “ — „ Es ist alles nicht so schwer , wie es scheint , und die
Mädchen machen mir ’s leicht , sie sind alle gutwillig und sanft . Und ich spreche vier Sprachen . “
— „ Und ich sechs ! “ rief Indra-Shiragiku .
„ Da wird es Ihnen nicht schwer werden , die siebente , japanische , zu lernen . Das ist vorläufig das Wichtigste . Und nun kommen Sie hinauf . “
— „ Ich komme also morgen früh neun Uhr , Indra , dich abzuholen . “ — „ Ich werde fertig sein . “ Er sah sie mit einem dunklen Blick an . „ Möchtest du hier glücklicher werden “ , er küßte ihr die Hand . — „ Ich hoffe es “ , murmelte sie leise . Dann ging sie mit Momidji ( Ahorn ) hinauf in Shidouttis , so hieß die Schlanke , Gemach . „ Ohajo , “ sagte diese , „ guten Tag “ und streckte ihr die Hand hin . — „ Deine Pflicht , Shidoutti , im nächsten Monat ist , Shiragiku möglichst zu ‚ japanisieren ‘ . Sprich kein Wort englisch mit ihr . Zwei Tage hat sie noch Urlaub , wird nur bei dir schlafen . Dann aber laß sie auch bei dir essen , lehre sie das Teezeremoniell , das Blumenbinden , die Stirnbeuge , so gut oder so schlecht natürlich , als das in vier Wochen möglich ist . “ Sie sprach englisch zu Shidoutti , damit Indra-Shiragiku sie
verstehen könne . Alle Mädchen von Number nine waren sprachgewandt und verhältnismäßig feingebildet , was Indra später sehr wohltuend empfinden sollte . Jetzt streckte sie sich auf das Polster , Shidoutti zeigte ihr wie und deckte sie zu . Sie schlief bald ein , sie schlief fest bis zum Morgen . Shidoutti machte Tee für beide . Kaum waren sie damit zu Ende , stand Boris schon vor ihnen . Er sah wieder übernächtig aus . „ Nun wollen wir deine beiden letzten Freiheitstage gut ausnützen , Indra “ , sprach er . Im Haus war noch alles still . Draußen warteten zwei Rickshawmänner . „ Heute will ich dir nur Yokohama zeigen , dann speisen wir in einem europäischen Hotel und trinken Tee im Teehaus der hundert Stufen , mit der berühmten Aussicht . Und morgen früh geht ’s zum Daibouts von Kamakura und nach der ‚ heiligen Insel ‘ , von der aus sich der Fuji so herrlich präsentiert . — „ Du bist gut , “ sagte Indra , „ du suchst nur immer , mir Freude zu machen . “ — „ Ich habe viel gutzumachen “ , murmelte er .
Und die Schönheiten , die Merkwürdigkeiten
von Yokohama nahmen Indras ganzes Sein gefangen . Sie war glücklich in solchen Momenten und dachte unwillkürlich : „ Wenn ich nun jetzt noch als dummes Gänschen in Friedenau säße ! “
Alles interessierte sie , alles . In Honkong und Shanghai , in Nagasaki und in Kobe hatte der Dampfer auf der Herreise schon je einen halben Tag Aufenthalt gehabt , und Boris hatte ihn nach Kräften für sie ausgenutzt , aber es war doch alles nur im Fluge gewesen . Am meisten entzückten sie die Prunusbäume , es war Mitte März , und sie fingen gerade an zu blühen — die Kirschblüte kam ja erst im April . — Wie sie die Blumen liebte , leidenschaftlich ! Und Number nine schien ihr bei weitem erträglicher durch seine ständige „ Flowershow “ . Auch daß es hier kühl , fast kalt war , tat ihr wohl , nach der Treibhausluft von Singapore . — Straßen auf , Straßen ab , unermüdlich liefen die Rickshawmänner mit ihren blauen Kitteln und den weißblauen Tüchern , sich den Schweiß zu wischen . Sie waren auch bei „ Samurai “ , dem großen Antiquar , um Indra einen Begriff zu geben von der ’Pracht des japanischen
Kunstgewerbes . Und in Photographieläden , um ihr viele der japanischen Wunder , zum Beispiel Nikko , wenigstens im Bilde , zu zeigen . Indra staunte immer wieder über Boris ’ tiefe Bildung , tiefes Verständnis für alle Schönheit der Welt . Wer war er , warum jagte er so rastlos von Ort zu Ort ? War er ein Künstler ? Ein Lebenskünstler jedenfalls — das wußte sie . Und dann fuhren sie hinaus nach der „ Mississippibucht “ und machten die Runde auf anderen herrlichen Waldwegen wieder zurück . Endlos streckte sich die Stadt , bergauf , bergab , erst an imposanten Villen in großen Gärten , mit prachtvoll blühenden Kamelienbüschen und Teppichbeeten , vorbei , dann wurden die Häuser immer kleiner und ärmlicher und dann kam Feld , Wiese , Wald , der hundertjährige Kamelienbaum , reizende , idyllische Pensionen mit Terrassengärten . Dann ging ’s hinunter ans Meer , nach dem kleinen Fischerdörfchen , mit den moosbedeckten Schilfdächern , auf denen überall die Iris schon zu blühen begannen . Das entzückte Indra vor allem , diese blühenden Irisdächer und dahinter das Meer . Sie hatte Künstleraugen und
trank die Weltenschöne mit vollen Zügen . All ihre Leiden , Kümmernisse und Prüfungen hatte sie vergessen . Boris sah mit Entzücken den beglückten Ausdruck ihrer Augen . „ Wenigstens eine Entschädigung “ , dachte er . Sie fuhren durch herrlichen Wald zurück und geradeaus in das Grandhotel am Pier zum Lunch . „ Das ist bald deine letzte europäische Mahlzeit “ , sagte er und ließ sich an einem kleinen Fenstertisch mit ihr nieder . Auch dies Mahl genoß Indra . Sie plauderten lange und angeregt von all den japanischen Wundern und kümmerten sich nicht um die Fremden ringsumher . Bis Indra plötzlich aufblickte und den letzten Blick , den fragenden , verwunderten , zweifelnden eines hochgewachsenen , blonden , jungen Mannes auffing . War das nicht Margots Freund ? Schon war er verschwunden . Was mußte er von ihr denken ? Nur die Wahrheit . Sie war eben nicht mehr „ nur Hausdame “ . Den ganzen übrigen Tag blieb sie zerstreut . Auch oben vor der Prachtaussicht , beim Teehaus der hundert Stufen , wo die Geishas so lieb zu ihr und Boris waren . Sie stiegen dann bei Sonnenuntergang
gang die hundert Stufen hinab , schlenderten am Strand entlang , nahmen ihr „ Supper “ , hier hieß es „ Dinner “ , in einem anderen großen Hotel , in dessen Halle ein ganzer , blühender Prunusbaum stand , und Japanerinnen servierten , was Indra tausendmal hübscher erschien als die befrackten , internationalen Kellner . Boris führte Indra zurück , als Number nine schon in vollem Betrieb war , und die „ Flowershow “ , die Blumenausstellung , im Glanz des elektrischen Lichtes in tausend Farben strahlte . Die Haustür stand weit offen , Number nine strahlte die berühmte Nummer grell hinaus im die Nacht , und Scharen von Leuten , Japaner und Fremde , zogen vorüber . Auch die Straße war aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht . Number nine ! Indra durfte stolz sein , solchem berühmten Hause einverleibt zu werden . Das war ein Schritt vorwärts nach der Pension Vais . Shidoutti war nicht in der Kammer , als sie die Schiebetür öffnete . Erst gegen Morgen kam sie herein und bettete das Haupt todmüde auf das harte Kopfpolster .
Pünktlich neun Uhr kam wieder Boris . Da
Shidoutti noch schlief , hatte Indra noch keinen Tee genommen , und sie trank ihn mit Boris im europäischen Hotel .
„ Das ist nun mein letzter Europatag für lange , “ sagte sie sich , „ wir wollen ihn ausnützen . “ Erst fuhren sie geradewegs zum Daibouts . Unterwegs kamen sie an vielen Villen vorbei . An der schönsten sagte der Rickshawmann : „ that is the house of the proprieter of Number nine . Das ist das Haus der Eigentümerin von Nummer neun “ . — Der berühmte riesige Bronzebuddha aus dem elften Jahrhundert , Daibouts genannt , steht in einem echt japanischen Park , mit Bächlein , Brücklein , Steinlaternen und Blütenbäumen , auf einem wundervollen Berghintergrund . Er ist so groß , daß man in sein Haupt hinaufsteigen kann , wie in das Haupt der Münchener Bavaria . Hiervon sahen beide jedoch ab . Indra konnte sich nicht satt sehen an dem Ausdruck seligen Friedens in den Zügen des Daibouts . Auch auf seinen Zügen lag ein Lächeln , aber es war nicht geheimnisvoll aufreizend wie das Lächeln der Monna Lisa — es war ein Lächeln völligster Weltentsagung . Indra
fiel ein Gedicht ein , das ihr einst tiefen Eindruck gemacht hatte .
Buddha starrt , schwarz und schweigend und groß ,
der rinnenden Nacht in den samtenen Schoß .
Dahinter die Abendgluten
am Himmel zitternd verbluten .
So hat er gestarrt vom ersten Tag
in tausende sehnender Herzen Schlag ,
so hat er gestarrt und geschwiegen ,
wenn zum Himmel die Wünsche stiegen .
Und er starrt noch immer , die Dschungelnacht
wächst höher und höher in grüner Pracht ;
und flüsternd die Bäume sich neigen —
sie kennen des Buddha Schweigen .
Sie wissen , nur eines frommt dem Sinn :
nichts träumen , nichts wünschen , am Boden hin
wunschlos und traumlos schwanken ,
flüchtig wie Blumenranken .
Einen Tag dem Buddha die Stirn umblühn ,
und dann vermodern und dann verglühn .
Nirwana , das große Traumesnichts ,
unersättlich verschlingend den Born des Lichts .
Den Urwald durchraunt ein Neigen —
der Buddha lächelt im Schweigen .
„ Der Buddha lächelt im Schweigen “ , sagte Indra halblaut .
„ Ja , er lächelt über die ganze Sansara des Lebens , die doch rings vom Nirwana umschlossen ist “ , meinte Boris , „ er lächelt über unsere Lust und unsere Not . Ist das Leben schließlich anderes wert , als nur ein Lächeln ? “
„ Das sagst du “ , fragte Indra erstaunt , „ du , der Prediger der Sinnenfreuden der Sansara ? “
„ Das ist nur die andere Seite der Medaille , mein Kind , — weil ich dich liebe , kann ich das ganze verstehen . Ich habe niemals geliebt und gelitten wie um dich . “ — Indra schwieg , was sollte sie ihm sagen . Sie starrte nur immer wie verzückt in das Antlitz des Daibouts .
„ Wir müssen gehen “ , sagte ein Rickshawman ; „ if you want to see the temples and get the Enoshima in time — wenn Sie die Tempel sehen und doch rechtzeitig nach Enoshima kommen wollen . “ Und so stiegen sie wieder ein und fuhren nach den Tempeln . Reizend lagen sie , ganz im Grünen , und waren uralt — ein jeder ein Gedicht . Aber sie mußten eilen , um noch rechtzeitig an den
Tram für Enoshima zu kommen . Endlich , nach schöner Fahrt am Meeresstrand , waren sie angelangt . Hier staute sich Kopf an Kopf , meist japanisches Landvolk . Erst gingen sie zur geheimnisvollen Grotte der Benten , die den Drachen durch eine Heirat bezähmen konnte . Sie standen lange in den dunklen Grotten mit den geheimnisvollen Altären . Indra war froh , als sie wieder in die Klippen heraustraten und dann über die Riesenbrücke nach der „ heiligen Insel “ hinüberwanderten . Der Fudji-no-yama lag vor ihnen , hinter dem violettduftigen Frühlingsmeer , in strahlender Pracht , mit dem leuchtenden , ständigen Hermelin , von seinem charakteristisch-stumpfen Kegelhaupt nach allen Seiten herniederstrahlend und schimmernd . Wie schön , wie unergründlich schön war diese Welt ! Und in dieser selben Welt gab es Menschen , die ihr Leben lang ihre Sinne kasteiten , die Sinne , die doch nur geschaffen waren , alle Schönheit des Lebens zu genießen . Es schien ihr Wahnsinn . Sie fühlte sich plötzlich glücklich und so dankbar gegen Boris . — Und dann gingen sie an all den bunten Volksschaubuden ,
den winkligen Dorfgassen , vorbei , vorbei an stillen Japanerhäusern in herrlich blühenden Kameliengärten , und dann stiegen sie empor auf steilen Wegen , im ewigen Schatten des heiligen Hains . — Von Tempel zu Tempel wanderten sie , und von Teehaus zu Teehaus . Fünfmal schon hatten sie den grünhellen „ Tsha “ getrunken und auf den roten Bettdecken gesessen , nur , um die jeweilige Aussicht besser zu genießen . Aber hier mußten sie länger weilen , es war zu schön . Die Schirmdächer der Pinien und riesige Cryptomerien standen tiefdunkel gegen das zarte Frühlingsviolett des Meeres , aus dem das Wahrzeichen Japans , der heilige Berg „ Fudji “ , emporstieg wie ein verklärter Geist . — Es war zum Hinknien , zum Weinen schön . Wie glücklich war Indra , daß sie das schauen durfte . War das nicht alle Opfer und Kämpfe wert ? Und die ewige Weltenschöne durchflutete sie wie ein Mysterium . Sie kam sich vor wie eine Priesterin dieser Schönheit . Stundenlang saß sie verzückt in Schweigen . — Boris betrachtete sie von Zeit zu Zeit , wie verwundert . Dann stürzte er sich ihr plötzlich zu
Füßen und verbarg aufschluchzend seinen Kopf in ihrem Schoß . — „ Was hast du ? “ — „ Ich liebe dich und ich habe dein Leben zerstört . Hätt’ ich dich früher finden dürfen . Nun ist alles , alles zu spät . “ — „ Ich ging doch freiwillig zu Madame Vais . “ — „ Ja , aber ich wußte , was deiner dort wartete und hab’ es verschwiegen , denn ich wollte dich besitzen um jeden Preis . “ — „ Ist das deine ganze Schuld ? “ fragte Indra leise . Er stöhnte laut , sprang auf und rannte in dem kleinen Teegarten auf und ab . „ Komm , du bist aufgeregt “ , sagte Indra ; „ der Abschied liegt dir in den Gliedern . Mir ist fast zumute wie einer Nonne , die ins Kloster muß , ins Kloster zu den heiligen Sünden . Du siehst , ich kann noch scherzen , aber meine Seele ist so erfüllt von der Harmonie und Schönheit dieses Tages , daß sie einen Glanz werfen in meine Seele , von dem ich meine , daß er alles Dunkel der Zukunft überstrahlen müsse . Nun sage mir , wie lange ich in Number nine bleiben soll , und wann du mich nach Yoshiwara in Tokio bringst , dem Freudenhaus des Lebens . “ — Er sah sie entgeistert an . „ Du denkst schon ans Fortgehen ? “
— „ Damit du mir wieder so ewig Schönes zeigen kannst wie heute , du sollst mich von Station zu Station meines Lebens geleiten . “
— „ Wie dein böser Geist “ , sprach er leise , doch sie hatte es gehört . — „ Wie das Schicksal , “ sagte sie , „ das mich von Entfaltung zu Entfaltung führt . Ich fühle es , Tage wie der heutige , und Lebenserfahrungen , wie ich sie jetzt gemacht , die reifen und entfalten eine Menschenseele früher als die Engen des häuslichen Alltags . “ Die Sonne sank jetzt tiefer , und bald war sie verschwunden , und nur der grüne Blitz , mit dem sie sank , und der purpurne Horizont zeugten noch von ihrer einstigen Pracht . Auf der anderen Seite der Wasser stieg der Mond empor , groß , purpurn . „ Wie in Tandjong Priok , weißt du noch , Indra , als ich dir die Ylang-Ylang-Blüten übers Haar streute . “
— „ Wie lange ist das her ! “ sagte Indra sinnend . „ Aber nun gib mir deine Adresse , damit ich dich rufen kann , wenn ich dich brauche . “ — „ Ich muß jetzt nach Europa fahren , “ sprach Boris ausweichend , „ aber übers Jahr komme ich wieder hierher . Und wenn du dann eine echte Japanerin
geworden bist in allem , wenn du für Yoshivara reif bist , dann bring’ ich dich nach Tokio . — Nun aber laß uns gehen . “ Sie gingen im Mondlicht den Berg hinab , durch das Dorf mit all seinen jetzt geschlossenen Buden , über die Brücke nach dem Tram und erreichten gerade noch den letzten Wagen . Von Kamakura fuhren sie nach Yokohama zurück . Vor der Tür hielt Boris lange Indras Hand . „ Der Himmel sei dir gnädig “ , sprach er zögernd . — „ Du sprichst vom Himmel “ , lachte sie . „ Sag lieber : Sansara und Nirwana mögen dich segnen . “ — „ Sansara und Nirwana mögen dich segnen “ , sagte er tonlos , und bald war er in der Menge verschwunden .
Und Indra begab sich in Shidouttis Schule . Sie hieß eigentlich Ume ( Pflaume ) , wurde aber seit ihrer Kindheit , nach ihrer Puppe , Shidoutti genannt .
Nach einem Monat wußte Indra ein paar japanische Brocken , konnte Tee machen und kredenzen , mit der Stirn zum Gruß den Boden berühren ,
und ward mit ihrer japanischen Frisur und den ein klein wenig japanisch stehenden , allerdings großen Augen , denen die schräg geführten Augenbrauen nachhelfen mußten , in einem hellgrünen , reich mit goldenen Drachen bestickten Kimono und orangefarbenen breiten Obi , die Miß Momidji ihr gestiftet , eine frappierend schöne , sehr auffallende Japanerin , wirklich eine „ weiße Chrysantheme “ . Heut’ sollte sie zum erstenmal hinunter in den Salon kommen und ihr Glück versuchen .
Sie saß neben Shidoutti im Liegestuhl und rauchte eine Zigarette . Neben ihr stand das bronzene Kohlenbecken , das Shibachi .
Wenngleich es schon April war und die Kirschblüte in vollem Flor , abends wurde es noch immer empfindlich kalt . — Ein Herr kam herein , groß , schlank , blond . Indra erkannte ihn auf den ersten Blick ; er trat vor und machte eine Verbeugung vor ihr . Indra ward dunkelrot . „ Is not your name Shiragiku ? “ fragte er . „ Ich sah unten in der Hall Ihre Photographie und möchte Sie näher kennen lernen . “ — „ Und warum gerade
mich ? “ fragte Indra . — „ You remind me of a girl , I am fond of , and I think of her , when I look at you . Sie erinnern mich an ein Mädchen , das ich liebe , und ich gedenke ihrer , wenn ich Sie anblicke . “ — „ That is not very flattering for me , — wenig schmeichelhaft für mich “ , sagte Shiragiku . Er sah sie nur immer an . „ Könnten wir nicht in Ihr Zimmer gehen , ‚ weiße Chrysantheme ? ‘ “ — „ In mein Zimmer ? “ dachte Indra bitter . Shidoutti machte ihr ein Zeichen , mit ihm hinauszugehen . Sie erhob sich langsam , wie zögernd , wie im Traum . Wohin ging sie mit ihm , den sie liebte , vom ersten Blick , wohin ging sie — zu ihrer Hochzeitsnacht ? Und dann wollte sie sterben . Sie ging ihm langsam voraus , langsam , Stufe für Stufe , die mattenbelegte Treppe hinauf , in eins der hellerleuchteten Zimmer , mit dem großen Blumentopf auf dem Nachttisch . Heute war ’s ein blühendes Kirschenbäumchen . Er sah sie nur immer an . „ Du bist schön , Shiragiku , und dein Name paßt für dich ; aber die andere ist noch schöner als du . Ich will in deinen Armen die andere lieben . “ Und er legte ihr die Hände
auf die Schultern und sah ihr in die Augen . — „ Die andere ist ich “ , sagte Shiragiku langsam . Und sie las in den Tiefen seiner Augen alle zukünftigen Entzückungen ihrer eigenen Seele . — „ Kann man durch die Sinne die Seele finden ? “ fragte sie . Er horchte hoch auf . — „ I want your soul , — ich will Ihre Seele “ , sagte sie . Da stürzte er sich über sie und küßte sie , daß ihr die Sinne schwanden . „ I want your soul , “ sagte sie immer wieder . — „ Do you not feel it , “ antwortete er , „ here it is here . “ ( „ Fühlst du sie nicht , hier ist sie , hier . “ ) Und er preßte sie ans Herz . — „ Ich hab’ dich geliebt vom ersten Moment “ , sprach Indra . — „ Bist du ’s denn wirklich ? Du bist doch Shiragiku . “ — „ Ich bin Indra , die vor Madame Vais ’ Anforderungen in das Kleid der Shiragiku geflohen ist . “ — „ Ich will dich herausziehen aus dem Pfuhl , komm mit mir , du bist entsühnt durch unsere Liebe . “ Doch sie schüttelte den Kopf . „ Wenn du mich nicht liebst als Shiragiku , mit all meinen Sünden , gegenwärtigen und zukünftigen , so ist es für mich nicht die rechte Liebe , und du kannst mich nicht erlösen . “ — Er meinte : „ Du bist
wie eine Heilige im Kot . “ — „ Wenn ich eine Heilige bin , so ist es kein Kot , so sind es die Rosen des Lebens , die mich umblühen . Schon Buddha nannte uns ‚ Lotosblumen im Schlamm‘ . Wenn du das einsehen wirst , dann wirst du mich nicht ‚ erlösen ‘ wollen , sondern dann wirst du dein Leben mit mir leben wollen . Bis dahin bleibe ich Shiragiku . “ — „ Morgen fährt mein Schiff nach England zurück , ich kann erst übers Jahr wiederkommen . “ — „ So muß ich solange Shiragiku bleiben “ , sprach sie leise . — Darauf er : „ Du , die ich gesucht mein Leben lang , und die ich gefühlt vom ersten Blick , komm mit mir , du sollst mein Weib sein , ich will dich hüten und hegen wie das Kleinod meines Lebens . “ — Indra antwortete : „ Geliebter , ich bin durch mein Leben , meine Erfahrungen über die Ehe hinausgewachsen . Wenn deine Liebe nicht größer und freier ist , wenn sie noch der Ehesessel bedarf , um Treue zu halten , dann ist es nicht die rechte Liebe , und du mußt ihr entsagen . Meines Geliebten muß ich sicher sein können , ohne alle Fessel , weil er seiner eigensten Natur nach gar nichts anderes kann , als
mich lieben bis zum Tode . “ — „ Wenn ich nun aber übers Jahr zu deinem Standpunkt bekehrt bin und dich noch ebenso liebe wie jetzt , Shiragiku-Indra , und komme hierher und ich finde dich nicht mehr , was dann ? “ — „ Dann mußt du mich suchen , ich bleibe deiner Seele treu , auch wenn mein Körper anderen Göttern dienen muß . Du mußt mich suchen , bis du wirklich zu mir gefunden hast . Wenn du mich aber nicht findest , dann warst du niemals meiner Seele wert . “ Sie sah wie verzückt aus in diesem Augenblick , und er küßte sie , wie er niemals vorher ein Weib geküßt hatte . Und die Natur , die große Meisterin , die zwei vollkommene , zusammengehörende Seelen in zwei vollkommenen Körpern geschaffen , die ließ diese Seelen in diesen Körpern in nie vorhergefühlten Mysterien des Entzückens sich vermählen .
Als der Morgen graute , lagen sie noch eng umschlungen . „ Ich muß nun gehen , “ sagte Shiragiku , „ übers Jahr sehen wir uns wieder . “ Sie löste sich von ihm und verschwand . — „ Bleib hier ! “ rief er und streckte die Arme nach ihr . — Shiragiku aber schlich hinüber in ihre und Shidouttis
Kammer und bettete ihr glückliches Haupt auf das harte japanische Kopfpolster .
Abend für Abend ging Shiragiku nach dem Salon . Die „ weiße Chrysantheme “ erregte Entzückungen , aber sie war wie eine schöne Leiche , sie selber blieb ungerührt , ihre asbestene Seele blieb unbefleckt vom Kot , der sich zu ihr heranwälzte , an ihren Marmorgliedern emporspritzte . Sie dachte an Guy , den Seefahrer , und ob er sich zu ihrer Lebensauffassung durchringen würde . Und sie blieb glücklich und strahlend im Erinnern an die Hochzeitsnacht ihrer Seelen . So vergingen Monate ; der heiße japanische Sommer kam und der leuchtend japanische Herbst mit seiner rotgelben Ahorn- und Chrysanthemenpracht . Sie merkte sie nur an der Veränderung in der Flowershow im Treppenhaus und auf den Marmornachttischchen . Wie viele Männer sie besessen , sie wußte es nicht , es berührte sie nicht , ihr Körper war tot , seit Guy gegangen ; Boris hätte ihn vielleicht wieder zum Bewußtsein gebracht , aber auch er war fern . Er schrieb niemals ein Wort von
all seinen rätselhaften „ Transaktionen “ , von denen er ihr am ersten Tage ihrer Bekanntschaft — und dann niemals wieder , — erzählt . — Shiragiku , die weiße Chrysantheme , plauderte schon ganz nett Japanisch , ihr großes Sprachtalent kam ihr auch hierbei zu Hilfe . Sie hatte eine herzliche Freundschaft zu Shidoutti und Miß Momidji gefaßt . Und auch die anderen Mädchen waren gutherzig und ohne Intrigen . Sie hatten alle eine kindliche Freude an Shiragikus Fortschritten im Japanertum . Miß Momidji brachte ihr viel englische und französische Bücher über Japan und begann sie in japanischer Schrift und japanischem Druck zu unterrichten . Mit den ihr angeborenen starken Lehrtalenten brachte sie ihre begabte Schülerin bald vorwärts . Shiragiku hatte ihr früheres Leben begraben . Nur die Erinnerung an die Mutter , an die sie in ihrer großen Not sich hilfeflehend umsonst gewandt hatte , brannte wie eine offene Wunde in ihrer Brust . Die würde die Zeit nie heilen .
An Boris dachte sie selten oder nie . Er würde schon wieder vor ihr stehen eines Tages
wie der dunkle Wanderer , wenn das Schicksal ihr wieder eine neue Lebensphase vorbereitet hatte . Mit Guy aber lebte sie täglich . Er schrieb oft , aber sie antwortete nie , was sie ihm vorausgesagt ; ohne ihr Zutun mußte er sich zu ihrer Lebensauffassung bekehren , wenn anders sie Wert haben sollte . Lebenswert und Lebensdauer . — Eines Abends , im Januar , es lag ausnahmsweise Schnee auf allen Höhen und auf den Gassen von Yokohama , und der Fudji war bis zum Fuß in seinen Hermelinwintermantel gehüllt , stand Boris plötzlich vor ihr . Er erkannte sie kaum . „ I am Shiragiku ! “ rief sie lachend . — „ So schön , so schön “ , murmelte er und sah sie verzehrend an . Er sah sehr elend aus und um Jahre gealtert . „ Wie von Erynnien verfolgt “ , dachte Indra . Es kam gerade ein „ Kunde “ für sie , und sie ging gleichgültigen Schrittes mit ihm hinaus . — „ Das hast du aus ihr gemacht ! “ schrie es in Boris . „ Ihre Seele wird man einst von dir fordern . “ Ach , er wußte ja nicht , daß ihre Seele , unberührt von allem Schmutz , in goldener Wolke wandelte , von der Liebe geküßt . — Er sah nur die äußere Shiragiku ,
die gewandte Shiragiku von Number nine . Nach einiger Zeit kam sie wieder , blaß , wohlgepflegt , ohne jede Spur von Aufregung , die echte „ weiße Chrysantheme “ . — „ Und nun erzähle mir , Boris . “ — „ Ich will dich nach Tokio bringen , nach Yoshiwara , Indra . “ — „ Shiragiku , “ verbesserte sie lächelnd . — „ Du bist reif dafür . “ Er verschwieg ihr , daß sein böses Gewissen ihm zuflüsterte , sein trübes Geheimnis sei auch in Number nine noch gefährdet . Ganz sicher vor Entdeckung sei es erst in Yoshiwara .
„ Yoshiwara , “ sagte sie sinnend , „ das Freudenhaus des Lebens . — Wie schwer hält es doch uns Menschen , sich zu dieser Ansicht vom „ Freudenhaus “ durchzuringen .
Von Kindheit an predigt man uns , die Welt sei nur ein Jammertal , und wir seien einzig dazu da , unser Fleisch und all seine bösen Lüste zu kreuzigen . Die nur solange ‚ böse Lüste ‘ sind , als sie nicht staatlich konzessioniert sind . “ — „ Ich sehe , du bist eine gelehrige Schülerin “ , sagte er matt . “ — „ Bist du krank , Boris ? “ fragte sie erstaunt . —
„Nein , aber die Sehnsucht nach dir verzehrt mich und die Reue , daß ich es zuließ , daß du in die Pension Vais gekommen , die Reue , daß ich dich nicht , dich allen Versuchungen entreißend , zu meiner Frau gemacht . “ — „ Meinst du , ich wäre da tugendreiner geblieben ? “ fragte sie spöttisch . „ Boris , Boris , ich kenne dich nicht wieder , du verleugnest all deine Theorien . Du vergißt , daß ich schon lange , der Pension Vais entwachsen , in Number nine die Kulturen von Orient und Okzident zu vermählen suche . Bin ich denn schon reif für das große Freudenhaus in Yoshiwara ? “ — „ Ich weiß nicht , ich weiß nur , daß ich Angst um dich habe , und ich habe schon mit Madame gesprochen , morgen können wir gehen . “ — „ Wenn ich will “ , entgegnete Indra . Sie dachte an Guy , der übers Jahr sie hier suchen wollte . Aber , wenn er sie wirklich liebte , war ihm dann die kleine Prüfung nicht heilsam , würde er sie nicht leicht finden in dem großen Freudenhaus von Yoshiwara ? Vielleicht käme er da gerade zur Kirschblüte , in der schönsten Zeit des Jahres . — „ Ich gehe mit dir , “ sagte sie dann , „ aber du mußt mir einen
Urlaub auswirken und vorher mit mir nach Nikko fahren . “
Und am anderen Tage hieß es wieder Abschied nehmen . Auch Shidoutti und Momidji weinten . „ Sajanara , “ riefen sie , „ auf Wiedersehen “ , und ließen ihre Tüchlein an der Bahn flattern — sie waren nur von Seidenpapier , nach japanischer Sitte . Die Japaner sind nicht so schmutzig wie die Europäer , wie sie gern zu sagen pflegen . Die offene Wunde in Shiragiku begann zu schmerzen . Wo hatte sie doch auch so ein weißes Tüchlein flattern und von Nacht und Dunkel und Tod verschlingen sehen wie einen weißen Schmetterling ?
Diesmal aber blieb sie in der japanischen Tracht . Sie zog nur einen dunklen , dickwattierten , rotgefütterten Kimono über ihren leichtseidenen , reich gestickten , den sie sich , wie einst Margot , von den Prozenten der Number nine angeschafft hatte . Und Boris fuhr nun mit einer Frau , die aussah wie eine königlich auftretende Geisha , hinauf nach Nikko . Es war noch kalt oben , und es lag dichter Schnee , die wunderbaren , schwarz und goldenen
und rotlackierten Tempel leuchteten nur um so farbiger aus dem Dunkelgrün der Cryptomerien . Wieder fühlte sie sich glücklich und im innersten Leben wachsend , als sie nun endlich an all diesen Orten wandelte , die ihre Seele so heiß ersehnt hatte . Sie sah die alten Tempeltänze von einer einstigen Geisha tanzen , in weiß und roter , altjapanischer , schleppender Tracht aus dem elften Jahrhundert . Sie hörte die alte , traditionelle Musik wie Klänge aus einer anderen Welt . Sie stieg empor im Cryptomerienhain , zum Grabmal des Shogun , und sie entzückte sich über die Katze und den Affen des Jingoro . Was sie aber am meisten interessierte , das war die Schatzkammer im „ Hondo “ , im Heiligsten , für deren Besuch die frommen Tempelhüter von Globetrottern so fabelhafte Eintrittspreise nahmen . Natürlich erwarteten sie von einem Herrn , der mit einer eingeborenen Geisha reiste , nur freiwillige Gaben .
Indra strahlte , als sie in all diesen Schätzen schwelgte , sie konnte sich kaum davon trennen . Als aber am Abend Boris nach dem Dinner in ihrem Zimmer sich ihr nähern wollte , versagte sie
sich ihm . „ Wozu , Lieber , ich könnte nichts mehr empfinden , und dafür bist du mir zu gut . “ — Allem Bitten und Flehen gegenüber blieb sie unerbittlich .
Brostoczicz fühlte , dies Weib , das er so freventlich und grausam aus der ihm vorgeschriebenen Bahn geschleudert und in so dunkle , pfadlose Labyrinthe des Lebens gestürzt , das hatte auch im Dunkeln seinen Weg gefunden und war über ihn hinausgewachsen . Sie fuhren bei der Abreise mit der Rickshaw bis Imachi , um die berühmte Cryptomerienallee zu genießen , der ja kein Winter etwas anhaben kann . Freilich blies der Wind eisig . Boris schlug vor , bis man Tokio gesehen , noch mit ihm ins Hotel zu kommen , ehe sie ihr Freudenkloster bezöge . Indra war damit einverstanden . Und nun wählte er das Hotel Tokio auf dem Monogama , mit der männlichen und der weiblichen Steintreppe , die hinaufführten , und mit der wunderbaren Fernsicht auf Stadt und Fudji . Doch der Fudji-no-yama lag verschleiert , die Stadt im Nebel , und all die Bäume , unter deren Blütenschnee Tempel und Teehäuser im
Frühling fast begraben sind , starrten nackt und kahl in die grauen Lüfte . Eine unendliche Traurigkeit überfiel Boris . Was hatte er im Leben erreicht mit all seinen Kniffen und Schurkenstreichen ? Die einzige Frauenseele , der einzige Frauenkörper , um die er sich wahrhaft bemüht , waren ihm entglitten . So fest glaubte er sie in Händen zu halten ! Wie Schemen waren sie ihm entglitten , Körper und Seele . Und nur die eine furchtbare Wahrheit blieb — er hatte sie aus ihrer Bahn geschleudert , mit verbrecherischer Hand , zu welchem Ende ? Noch niemals vorher hatte Brostoczicz Gewissensbisse gefühlt , wie viele arglose Opfer auch der seit Jahren vergebens von der Polizei gesuchte , verbrecherische Mädchenhändler zusammen mit seiner Mätresse , Madame Toussaint , schon eingefangen . Hier fühlte er sich zum erstenmal besiegt und zum vollen Bewußtsein seiner Schlechtigkeit gebracht . Es schien ihm , als ob die Sonne niemals mehr über ihm leuchten würde , als ob er für Zeit und Ewigkeit verloren wäre . Indra vermißte in ihm den brillanten , geistvollen Causeur von einst , wenn auch der
tadellose Weltmann niemals etwas zu wünschen übrig ließ . Sie schob es auf das dunkle , unfreundliche Winterwetter . Und sie sehnte sich nach Sonne , Frühling , Kirschblüten . Warum hatte sie Boris ’ Drängen nachgegeben , jetzt schon mit ihm nach Tokio zu kommen ? Es hatte jedenfalls besser in seine Reisepläne gepaßt . Warum hatte sie ihn nicht doch bestimmt , bis zum Frühling zu warten , wie es anfangs vereinbart war ? Und wenn nun Guy sie nicht fand ? Er hatte schon so lange nicht geschrieben , sie kannte seine jetzige Adresse gar nicht . Eine furchtbare Angst schnürte ihr plötzlich die Seele zusammen . Wenn ihm etwas zugestoßen wäre ? Auch ihr erschien diese Reise nicht so leuchtend wie die Tage in Yokohama . Dennoch zeigte ihr Brostoczicz alles und jedes . Den von ihrem Hotel so nahe gelegenen Shibapark , in dem die wunderbaren Shogungrabmäler sie an die herrlichen Kunstwerke droben in Nikko erinnerten . Und die Gräber der siebenundvierzig Roni . Und die noch bei weitem schöneren und überhaupt stimmungsvollsten Tokugawagräber im Uennopark , überall mit dem Tokugawawappen . Dort in
ihren geschützten Gärten blühten schon die mannshohen , weißen Kamelienbüsche , ein herrlicher Anblick . Und der Asakusatempel und das Museum ! Indra hatte bald alles gesehen , bis auf ihre künftige Heimat , das Yoshiwaraviertel . Aber sie hatte manches darüber gelesen , und Boris hatte ihr viel davon erzählt . Die von Yoshiwara hatten einen ganzen großen Stadtteil für sich , einen Tempel , einen Park für ihre Spaziergänge , ein Krankenhaus und endlose Straßen , ein wahres Labyrinth von bei Tage ziemlich nüchtern aussehenden kleinen Häusern , in denen allen unten ganz gleich der große „ Showroom “ , die Frauenausstellung , allabendlich von acht bis zwölf oder ein Uhr stattfindet . Bei Tage ist ’s wie lauter leere Bühnen . Indra dachte sich nicht viel bei diesem öffentlichen Markt , wenn sie ’s aber dachte , schien es ihr abscheulich . Aber sie hatte nicht mit dem Geist des Ostens gerechnet , der aus diesem ganzen abscheulichen Fleischmarkt , wie er es in Europa unweigerlich geworden wäre , ein liebenswürdiges , behagliches Meeting , gewissermaßen einen riesengroßen rout der ganzen Bevölkerung gestaltete ,
in dem die Gitterstäbe keinen Käfig , sondern nur einen Schutz für zarte Frauen bedeuteten .
Eines Abends , den letzten Abend vor ihrem Eintritt , führte Brostoczicz Indra als Zuschauerin an Yoshiwara vorüber , und da ward es ihr zum ersten Male völlig bewußt , wie riesengroß der Unterschied der Lebensauffassung von Orient und Okzident ist . Was sie immer gehört und gedacht , und was ihr Boris immerzu gepredigt , hier sah sie es in die Tat umgesetzt . Die bevorzugte und geachtete , gewissermaßen beneidete Stellung der Courtisanen im Osten . Sie sah sie allseitig und zwar von Männern und Frauen so umschwärmt , wie man etwa in Europa berühmte Schauspielerinnen umschwärmt . Sie gaben ja auch allabendlich ein fürstliches Schauspiel , das Schauspiel der Lebensschönheit . Einen höheren Triumph haben Kunst , Frauenschönheit und Kunstgewerbe wohl niemals gefeiert wie in den allnächtlichen routs von Yoshiwara , dem „ Freudenhaus “ . — „ Jede kleinste Stadt von Japan besitzt ein solches Yoshiwara , “ erzählte Boris , „ ein Freudenviertel , ein
Schönheitsviertel , nach dem am Abend die ganze Bevölkerung hinauszieht ( ausgenommen Studenten und Gymnasiasten , die das nur an einem großen Fest , im November , tun dürfen ) . Alt und jung , groß und klein zieht hinaus , einfach um diese Frauen , diese Liebesgöttinnen zu begrüßen , ihnen die Hand zu schütteln , mit ihnen zu plaudern . Es treten hierbei gar keine lüsternen Gedanken an sie heran , es sind geachtete , gefeierte , schöne , junge Frau aus der Gesellschaft , die man begrüßt , denen man durch ein Gitter ( in Europa wär ’s ein Gitter wie für wilde Tiere ) die Hände schüttelt , mit ihnen eine Zigarette austauscht . — Indra sah es mit freudigem Staunen . Das war wirklich noch besser als in Number nine , dem doch noch etwas , wenn auch unmerklich , von okzidentalem Odium anhaftete . Hier in Yoshiwara war es ein geachteter und beliebter Beruf wie jeder andere , — die allermeisten der Mädchen waren von ihren Eltern aus Geldnot ( und fast gar nicht aus eigenem Sinnendrang ) dahin gebracht , die für jedes Mädchen etwa zwei- bis fünfhundert Yen erhielten , und die Mädchen selber waren verpflichtet ,
diese Summe abzuarbeiten . Nach dieser Zeit konnten sie gehen , kehrten aber oft noch mit einer hübschen Aussteuer , die sie sich ehrlich verdient und erworben hatten , in ihre Heimat zurück und machten dort oft gute Partien . Die Männer rissen sich sogar manchmal um sie , die aus Leben und Liebe doch ganz anderes zu machen wußten , als die dummen , zu Hause gebliebenen Landgänschen .
In den ganz feinen Häusern hingen auch Preislisten und Photographien der Mädchen mit ihren noms de guerre in Schaukästen wie in Number nine . — Indra konnte sich nicht satt sehen an allem . Straßen auf , Straßen ab , ein Bild immer schöner als das andere . Ein wundervoller , reichgeschnitzter und echt vergoldeter Hintergrund wie in den chinesischen Kaufläden . — Rosengewinde , auf denen Pfauen und Kraniche , Reiher und Störche saßen . Und vor diesem wundervollen , leuchtend altgoldenen Hintergrund ( Indra dachte unwillkürlich an die weißgoldenen , blechartigen Schauerrahmen im Salon der Madame Vais ) saßen und hockten auf leuchtend rotem Teppich in jedem Hause etwa fünfzehn bis
zwanzig Frauen in altjapanischer Tracht . Neben sich die bronzenen und messingnen Shibachi , die Räucherkohlenbecken . Vor ihnen stand das Teegeschirr und lagen Purpurkissen . Das künstlerischste vom ganzen aber war , daß in jedem Haus die Mädchen die gleiche Tracht trugen . — „ Das ist hier dein Haus “ , flüsterte Boris und zeigte auf eine der reichsten und kostbarsten Ausstellungen . „ Das wird dir stehen , Indra . “ Die Mädchen hinter diesem vergitterten Raum trugen alle blaßblaue , schleppende Kimonos mit gestickten Silberdrachen und orangerote Obis . Das hochgesteckte Haar ganz bespickt mit silbernen und goldenen Pfeilen . Ein paar Mädchen streckten jetzt freundlich Indra die Hand entgegen . „ Ohajo , guten Tag , wie geht’s . “ Es machte Indra Freude , daß sie das verstand . Sie wurde nun nach ihrem Namen gefragt , und als sie sagte „ Shiragiku “ , drehten sich alle nach rückwärts . Dort hingen die Photographien in einem Rahmen . Sie konnte sie nicht erkennen . Indra ging mit Brostoczicz weiter . Sie konnte sich nicht satt sehen an dieser Pracht , sie berauschte sich förmlich an aller Schönheit . Über
dem Eingangstor zur Freudenstadt stand eine weibliche Statue , die eine Laterne hielt . — „ Wie eine Madonna “ , dachte Indra . In vielen Straßen standen Kirschbäume , kahl und dürr natürlich jetzt im Winter . Wie berauschend schön aber mußte das zur Kirschblüte sein . Viele Stunden wanderten sie so zu Fuß dicht an den Gittern , ihre Rickshaws fuhren leer nebenher . Indra beobachtete , daß selbst die Touristen , von dem allgemeinen Achtungstaumel angesteckt , ehrfurchtsvoller mit den Mädchen scherzten , auch die höheren Töchter , unter den Augen der Eltern , und alte Jungfern deutscher , englischer und französischer Provenienz mit diesen „ Künstlerinnen “ shakehands machten .
Und anderen Tags brachte Brostoczicz Shiragiku in ihr „ Haus “ . Da sah sie obenan bei den Photographien die ihre — Shiragiku ( genannt tausendjähriger Lenz ) sechzig Yen . „ Das habe ich durchgesetzt , “ flüsterte Boris , „ so verbrauchst du dich nicht vor der Zeit und stehst gesellschaftlich höher . “ Da spielte diesmal ein Lächeln um Indras Lippen , auch wie das Lächeln der Monna Lisa .
Dann wurden sie zum Manager geführt . Das war ein klug aussehender Japaner von etwa vierzig Jahren . — „ You are Shiragiku , “ sagte er , „ well , your fotos don’t lie and you merit your price . Ihre Photographien lügen nicht , und Sie sind Ihres Preises wert . “ Dann führte er sie in ein Einzelgemach mit Matten , Decken und Kopfpolster , sogar ein buntseidener , dick wattierter „ Futon “ , ein Unterbrett , war diesmal dabei . Auch wieder die obligate , kostbare Bronzedrachenvase . „ For the flowers of the season “ ( „ für die Blumen der Jahreszeit “ ) . Dann ließ er sie allein . Ihr Koffer war schon angekommen — aber sie würde nur die Kimonos des Hauses tragen können , blaßblaue , mit silbernen Drachen und orangeroten Obis . Eine Japanerin kam , sie zu frisieren , die Haartracht von Yoshiwara war viel ausgiebiger , kühner und höher als die von Number nine . Doch mit Indra-Shiragikus üppigem Haar gelang sie aufs beste . Mit zehn oder zwölf schimmernden Pfeilen ward sie dann geschmückt . Es war die alte Hoffrisur aus dem zwölften Jahrhundert , wie Indra sie im Museum
an den Wachsfiguren gesehen . Sie stand ihr ausgezeichnet . Sie streckte sich zum Ruhen und hatte schon so viel gelernt von japanischen Sitten , daß sie den Kopf auf das Kopfpolster legte , ohne die Frisur zu ruinieren .
Acht Tage und länger mußte bei manchen Frauen solche japanische Kunstfrisur aushalten , und die Hauptsache war , wenn sie schliefen , mußte sie in Ordnung sein . Auch zum Schlafen schmückt und schminkt sich jede Japanerin , die ja selten einen Schlafraum für sich allein besitzt und immer die Pflicht hat , „ schön “ zu sein . Dann kam ein Boy mit vielen Lackbrettchen und stellte alles , mit dem heißen Sake , auf den Fußboden vor sie hin . In Number nine hatten sich die Mädchen selbst kochen müssen . Hier brachte man ihnen das fertige Dinner — sie war wirklich in aufsteigender Linie . Den rohen , geschabten Fisch , der wie Kaviar schmeckte , ließ sie sich munden , und all die vielen anderen japanischen Leckerbissen . Und die starke Bouillon und die Eier . Sie konnte auch schon mit den Stäbchen umgehen und brauchte sie ziemlich geschickt .
Nachdem sie gegessen , Sake und Tee getrunken und eine Weile geruht hatte , kam ein Mädchen und brachte ihr die „ Uniform “ des Hauses . Der blaßblaue Drachenkimono stand ihr großartig , er kam ihr aber etwas reicher gestickt vor als die der übrigen . Sie fing an , zu begreifen , daß sie zur Showgirl des Hauses herangezüchtet werden sollte . Sie ließ es sich gerne gefallen . Alles das verdankte sie ja Boris ’ Fürsorge .
„ Do you want , to see the guestrooms ? “
„ Wollen Sie die Gastzimmer sehen ? “ fragte jetzt eine Neueintretende . Sie nickte — mußte sie doch das Feld ihrer künftigen Tätigkeit inspizieren . Alles sauber und nett , aber weit japanischer als in Number nine , und keine Blumentöpfe der Saison auf den Nachttischen mit Marmorplatten . Nun — „ sechzig Yen “ , da würde sie nicht mehr als ein bis zweimal pro Nacht zu arbeiten brauchen . Wie ein Gefühl des Behagens überkam es sie , da konnte sie hier in Ruhe auf Guys Kommen warten .
Wenn er aber nicht kam ? Die offene Wunde in ihrer Seele schmerzte stärker — dann war sie
wieder ganz allein , dann hatte sie niemand als Boris , Boris , den rätselhaften . Es war Nacht geworden , man brachte eine Lampe und Tee . Sie machte sich nun fertig , mit Schminken und Pudern , kunstvoll , wie sie’s von Shidoutti gelernt . Nach einer Weile ging sie hinunter . Es saßen schon ein paar Mädchen im Käfig , wie sie es für sich nannte . Bei ihrem Eintritt standen sie aber alle auf und reichten ihr auf englische Art die Hand , gaben ihr Feuer zur Zigarette und waren in jeder Weise um sie bemüht . Sie hockte sich japanisch am Boden nieder und ward bald der stolze Mittelpunkt einer entzückenden Gruppe . Draußen begann jetzt das Publikum zu defilieren und über ihre Schönheit sich zu unterhalten . Gar viele ausgestreckte Hände mußte sie ergreifen und schütteln .
Da sah sie Brostoczicz ’ gramverzerrtes Antlitz an das Gitter gepreßt . „ Das habe ich aus dir gemacht , “ flüsterte er . „ Never mind “ , sprach sie heiter und winkte ihm tröstend zu . Der Manager trat jetzt in den „ Käfig “ wie ein Tierbändiger unter seine Bestien . Er schlug Feuerstein und
Zunder über Indras Haupt , ein Feuerregen sprühte über sie hin . Dann schlug er auch Feuer über alle anderen Mädchen , aber die Funken kamen weit spärlicher geflogen . „ Je mehr Funken , je mehr Gold und Liebe , “ sagte eine der Courtisanen . Boris hörte es und stöhnte . — „ Die moderne Danaë . “ — „ Aber Boris , ich erkenne dich nicht wieder , “ sagte Indra und trat ans Gitter . — „ Willst du mir nicht wenigstens Lebewohl sagen ? “ — „ Wann sehe ich dich wieder ? Wohin führst du mich von hier ? “ — „ Ich werde dich niemals mehr sehen , ich werde dich niemals mehr führen — ich gehe den Weg , von dem es keine Rückkehr gibt . “ — Ehrlich erschrocken sah sie ihm ins Gesicht . „ Soll ich auch noch den letzten Freund verlieren ? “ Er griff nach ihrer Hand , küßte sie heiß und inbrünstig und verschwand im Dunkel . — —
Und wieder gingen die Tage ihren Gang , ein jeder mehr dem Frühling entgegen . Shiragiku galt als eine der Schönsten in Yoshiwara . Eine der Eigenartigsten war sie jedenfalls , und manch reicher Globetrotter gönnte sich sechzig Yen
für eine Liebesnacht mit der schönen Japanerin , der „ weißen Chrysantheme “ , genannt „ tausendjähriger Lenz “ , deren Glieder wie Marmor waren , die so wenig sprach und so rätselhaft lächelte .
Und dann kam der Lenz , erst mit seinen schimmernden Prunusblüten . In allen japanischen Häusern standen weißrosa Blütenzweige . Auch in Shiragikus Kammer , sie sah sie oft mit verzehrenden Augen an . „ Nun muß er bald kommen und mich aus dem Freudenhaus von Yoshiwara zum Freudenfest des Lebens holen . “ — Dann blühten die Kirschbäume in der Allee von Mukojima und in den Gassen von Yoshiwara , und im Kaiserpalast feierte man das Sakurafest . Aber in Yoshiwara wehte der Blütenschnee durch die Gitter herein in die goldenen Frauenkäfige und umspülte wie Wellenschaum die Füße der Courtisanen . Fremde Kriegsschiffe liefen täglich in den Hafen , aber von Guy kam keine Kunde . Täglich wurde Indra sehnsüchtiger und — hoffnungsloser . Aber der
Manager war stolz auf sie , sie war der Erfolg der Saison . Man pflegte in den anderen Häusern schon zu sagen : „ So schön wie Shiragiku . “ Und die Frau , die so gelobt worden war , wußte sich nicht zu lassen vor Stolz .
Der Blütenschnee war längst verweht , und die Tage wurden länger und heißer . Rosen , Jasmin und Oleander blühten in betäubend duftender Pracht . — Shiragikus Drachenvase war gefüllt mit weißem Oleander . Sie selber aber wurde täglich müder . Sie mußte immer an Tennysons Gedicht denken .
She only said , my life is dreary ,
he will not come , she said ,
she said I am aweary , aweary —
o God , that I were dead !
( Sie spricht , wie ist mein Leben trostlos —
er kommt nicht mehr — sie sagt —
sie spricht , ich bin so müd und glücklos —
o wär ich tot , sie klagt . )
Wieder saßen die Mädchen in Drachenmontur neben dem Konkurrenzhaus , dessen Mädchen
in Feuerrot und Gold einhergehen . Es kommen nicht mehr viele Fremde . Aber heute ist eine englische Dame vorübergegangen , die stand lange wie gebannt und blickte auf Shiragiku . „ Do you speak english , “ fragte sie schüchtern ; „ Yes , whatever you want . Ja , was immer Sie wollen “ , ertönte es von Indras Lippen .
„ Warum bist du hier ? “ fragte die Frau .
— „ Warum sollt ich nicht hier sein , “ antwortete Indra , „ das ist ein Beruf , so ehrlich wie ein anderer . “ — „ Aber vielleicht weniger beglückend . “
— „ Und welcher wäre beglückender ? “ — „ Der meine . “ — „ Und wer sind Sie ? “ — „ Ich bin Lehrerin am Hindukollege der Annie Besant in Benares . “
„ Die hat mich schon lange interessiert , “ sagte Indra . „ Was sie lehrt , das scheint mir die einzige Religion , die eine Zukunft hat , allen verständlich , ein Volapük , ein Esperanto der Religionen . “
Die Fremde starrte wie entgeistert . „ Wer bist du ? “ — „ Eine , die über sich und das Leben nachgedacht hat , eine , die stolz ist auf dies Leben , seine
Schönheit und seine Tiefen . Eine , die enttäuscht ist von diesem Leben , — eine , die müde ist noch in ihrem Lebensmittag — , eine , die sterben müßte , weil sie unglücklich ist und doch leben möchte , der Menschheit zu dienen . “ — „ Willst du mit mir kommen ? “ — „ Wie kann ich , ich bin hier verpflichtet . “ — „ Und wenn ich dich frei mache ? “ — „ So will ich Ihnen die Hände küssen und mit Ihnen ziehen und Ihre Lehren lehren und meinen ganzen Sinnenkult vergessen . “ — —
Die Fremde ging weiter . „ Du hörst morgen von mir ! “ Shiragiku lag schlaflos in der heißen Julinacht . Die Sterne flimmerten in ihre Kammer . Anderen Tags kam der Manager zu ihr . „ Es ist eine Dame dagewesen , die dich loskaufen will von deiner nächstjährigen Verpflichtung , willst du mit ihr gehen ? “ — Er nannte sie jetzt du wie die andern . — „ Ich will . “ — „ Dann will ich dir deine Prozente auszahlen , und du bist von morgen an frei . “ Nun war also heute die letzte Nacht vor ihrer Abreise . Wie schnell war doch alles gekommen . Es war zwei Uhr , und das „ Nachtlose Schloß “ , wie die Japaner Yoshiwara
nennen , war zur Ruhe gegangen . Seine Arbeit war getan . Indra aber konnte nicht schlafen . Sie lehnte auf der Veranda und hörte die vorüberziehenden Shinaisänger ihre melancholischen Liebeslieder singen wie alle Nacht . Und sie hörte verhaltenes Schluchzen von irgendwo nebenan . Das war wohl die kleine Otome ( „ Jungfrau “ ) , die Heimweh hatte nach Eltern und Geliebten . — Auch sie hatte Heimweh nach Guy , würde er sie finden in Benares ? Sie wollte doch lieber schwach sein und dem Manager ihre Adresse hinterlassen . Näher kamen die Shinaisänger , Otome warf ihnen Geld zu , und sie wiederholten ihr tragisches Liebeslied unter den jetzt dunklen Fenstern des „ Nachtlosen Schlosses “ . Dann kamen die Nachtwächter und schlugen die Eichenklöppel , die Hiashigi , aneinander . Dies charakteristische Geräusch der japanischen Nächte — wann würde sie es jemals wieder hören ? Würde Guy sie wirklich in Benares finden ? Oder hatte er sie vergessen ? Oder war er tot ? Sie wußte jetzt plötzlich nicht , sollte sie sich freuen oder trauern , daß Mrs. Higgins sie von Yoshiwara erlöst hatte ! Sie war
schlaflos bis zum Morgen . Immer wieder dachte sie : „ Kann er mich auch finden ? “
Mrs . Higgins kam schon ganz früh zu ihr in ihre Kammer ; sie war Annie Besants rechte Hand und eine Menschenfischerin ; sie war stolz auf ihren Fang und fürchtete , daß er ihr noch im letzten Moment wieder entwischen könne .
Nun zog Indra also wieder weiter , doch kein Boris war da , ihr das Geleit zu geben . Beim Abschied von Yoshiwara hatte sie gemischte Gefühle trotz aller dort genossenen Triumphe . Als sie aber am frühen Nachmittag mit Mrs. Higgins nach dem Dampfer wanderte , stand Boris plötzlich in ihrem Weg . — „ Ich wollte dich noch einmal sehen , bevor ich sterbe , du sollst mir verzeihen , ich habe dich belogen und betrogen . “
Sie sah ihn an : „ Ich verzeih’ dir alles , um all dessen , was ich durch dich geworden ; lebe wohl ! “ — Er sah ihr nach mit schwimmenden Augen . Auch sie sah sich nochmals um . „ Ach , Boris , sei gut , bring’ mich auch noch nach dieser neuen Station meines Leben , “ bat sie . „ Mrs.
Higgins wird es schon zugeben , wenn ich ihr sage , daß du mein Freund bist . “ — So zog denn Boris nochmals mit ihr , den langen , endlosen Seeweg um Japan herum , durch die Formosabai , durch die Südsee , um die Halbinsel Malakka , in den Golf von Bengalen , nach Kalkutta , und dann mit der Eisenbahn nach Benares . In Yoshiwara war sie wirklich so „ schwach “ gewesen , ihren künftigen Aufenthalt zu verraten . Es war ja unnötig , aber sie wollte doch nicht alle Brücken , alle Möglichkeiten abschneiden .
Und nun also war sie in Benares , und ehe sie sich ins Hindukollege begab , hatte der Freund seine Pflicht zu tun , ihr die Wunder von Benares zu zeigen . Er tat es mit einer fanatischen Gier , er wußte , es war das letzte , was er ihr Liebes antun konnte vor seinem Tode , denn er wollte sterben . — Das Leben hatte jeden Reiz für ihn verloren , seit er nicht nur an seinem Glück vorübergegangen , seit er es mutwillig selber zerstört hatte . Aber vorher hatte er noch seine Pflichten zu erfüllen ; er hatte Indra in die indischen Mysterien einzuweihen . Mrs. Higgins hatte ihr für
für acht Tage Urlaub gegeben , nun zogen sie beide aus nach allem Schönen , wie einst in Ceylon , in Singapore , in Yokohama , in Nikko , in Tokio . Der „ Wanderer “ erfüllte zum letzten Male seine Pflicht als Schicksalsweiser .
DRITTER
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Benares ist das Herz von Indien . Alle Ströme seines Lebens fließen nach ihm und fließen wieder zurück , von seinem Blut und Leben durchtränkt , in die tausend und abertausend Arterien des Riesenreiches . Benares ist das Herz von Indien ! Und Indra , so jäh mitten hineinversetzt in die ihr neue , uralte Kultur , fühlte eine kleine Weile all ihr eigenes , inneres Leben stocken , so gewaltsam war der Anprall der auf sie einstürmenden neuen Eindrücke . — Mitten aus dem Freudenhaus des Lebens , aus dem Yoshiwara aller irdischen Lust , als deren Priesterin sie schon so einsame Höhen erklommen hatte , fühlte sie sich herausgeschleudert in das Herz der Verneinung aller irdischen Seligkeit . Und doch , sie mußte es bald erkennen : Boris , ihr Schicksalsführer , hatte recht — das indische Nirwana ist nur die Kehrseite der Medaille der großen Lebenssansara !
Und das eine , das fühlte sie bald ganz klar ,
ist ebenso wahr und ebenso wichtig wie das andere . Es handelte sich nur darum , daß der Mensch die richtige Verbindung zwischen beiden findet .
Benares ist das Herz von Indien — und seine Lebensströme würden ihr das wohl bald zuraunen . Indra war eine Instinktnatur . Dieser Instinkt konnte sich wohl täuschen , wie er sich in Boris getäuscht . Und doch — hatte Boris sie nicht immer wieder zu den wichtigsten Stationen ihres Lebens geführt ? Nun war er abermals , zum letztenmal , wie er sagte — und sie glaubte es ihm , wenn sie in seine zerstörten Züge sah — und wie durch ein Wunder an ihrer Seite . Nun sollte er sie einführen in die indischen Mysterien . Wie eine abergläubische Furcht ergriff es sie plötzlich vor ihm , und doch war er ihr vertraut wie niemand sonst auf der Welt . Und doch fühlte sie Zuneigung zu ihm — wie der Mensch sein eigenes Schicksal liebt , wie der Mensch seinem eigenen Schicksal freiwillig in die Arme rennt .
Auf dem Schiff hatte er sich völlig zurückgehalten , man sah ihn kaum . Er hatte eine unüberwindliche
Scheu vor Mrs. Higgins ’ durchdringenden Falkenaugen . Es war ihm , als könnte sie all das Otterngezücht auf dem Grunde seiner Seele sehen . — Aber bei einem Sturm war er plötzlich zur Stelle und hielt Indras Hand . Sie ruhte leichenblaß auf ihrem Deckstuhl , und es war mehr Furcht als Seekrankheit , die sie gefangen hielt . — „ Ende Juli ist eine böse Zeit für die Südmeere . Da begannen die Taifune aus ihrem Schlaf zu erwachen “ , sagte er . „ Aber fürchte nichts , ich bin bei dir , ich wache über dich . “ — Ihr war’s , als wenn ihr Schicksal gesprochen : „ Noch ist es nicht Zeit für dich ! “ — Und sie ward sonderbar ruhig .
Und nun schritt er also auch bei diesem neuen Lebensabschnitt wieder an ihrer Seite . Er hatte ganz richtig gefühlt , Mrs. Higgins durchschaute ihn . Dennoch — sie wachte ja nun über Indra . Die hatte ihr eine ausführliche Schilderung ihres Lebensganges gegeben , und sie fühlte eine keimende , menschliche Zuneigung zu dem merkwürdigen Mädchen , diesem Gemisch von Stolz und Weichheit , von Hingebung und Kraft . — Sie glaubte , daß Indra ihr eine Stütze werden würde in ihren theosophischen
Bestrebungen großen Stils . Sie hoffte auf sie , wie jeder auf sie gehofft hatte , in dessen Bereich sie trat .
Aus einem sehr reichen Hause stammend und früh Witwe geworden , hatte sie Annie Besant , die große Oratorin , diese wunderbarste weibliche Rednerin unserer Zeit , vor Jahren einmal in London gehört und hatte sich mit ihrem ganzen Sein und Wesen zu ihrer Jüngerin gemacht . Sie verkaufte all ihr Hab und Gut und zog für immer mit ihrer „ Prophetin “ , wie sie sagte , nach Benares , ans Hindukollege . In jedem Sommer aber reiste sie entweder nach Birma oder nach Siam , oder Java oder Japan . Sie suchte dort im buddhistischen Kult neue Nahrung für das „ Volapük “ oder „ Esperanto aller Religionen “ , wie Indra es so treffend bezeichnet hatte . Wie ein Wunder war ihr das Finden von Indra erschienen , ebenso wie dieser selber . Und auch sie wußte : nur von der Höhe der Sanisara kann der Geist die göttliche Ruhe des Nirwana begreifen . Darum hoffte sie viel von ihrer neuen Schülerin . Sie hoffte Unendliches !
Indra unterdessen drang mit Boris in die Tiefen der indischen Mystik — soweit dies in acht Tagen möglich war , heißt das .
Viele , die meisten der Tempel , sind für Fremde gar nicht zugänglich , aber sie hörte die aufreizende , barbarische Musik und das Geschrei und Tanzen der zahllosen , grellbunten Scharen , die sie hineinströmen sah . — Sie stand mit Boris auf der Terrasse des Hauses , gegenüber dem großen Tempel . Da sah sie erst einen jeden bei dem Blumenverkäufer im Erdgeschoß eine der grellgelben Blütenketten von „ Gendalflowers “ , wie man sie hier nannte , kaufen . ( Sie kannte sie noch von ihres Vaters Rosengarten , dort hießen sie Studentenblumen . ) „ Wo kommen sie nur mit den Tausenden von Metern Blütenketten hin ? “ — „ Sie bekränzen die Altäre , sie bekränzen die Linghams damit “ , sagte Boris . Dies Gemisch von Buddhismus und altem Hinduglauben , dem Brahma-Wischnu-Shivakult , war ihr das Befremdlichste . In manchen Tempeln war sogar beides vereinigt , und in den Köpfen vieler Inder sicherlich auch . Sie beteten zu Buddha und trieben eifrig
Linghamkult , mit dem Wahrzeichen des Shiva , dem Glied der Fruchtbarkeit . So sah Indra ein junges Hindumädchen eine Gruppe schwarzer Linghams sorgsam mit Wasser und Seife abbürsten und gleich darauf vor einem Buddha sich zur Erde werfen . Boris meinte : „ Das ist wohl der Hauptgrund von Annie Besants phänomenalen Erfolgen im Hindukollege — die Purifizierung des Buddhismus von den Schlacken des Linghamkult . Und die Neuanhängsel der Madame Blavatzky , der großen Meisterin der Annie Besant , nehmen sie um dessentwillen ruhig mit in Kauf . “ — Brostoczicz hätte nicht er selber sein müssen , wäre nicht eine der ersten „ Sehenswürdigkeiten “ , mit denen er Indra bekannt machte , der „ Nepalesetempel “ gewesen .— „ Von dem habe ich noch niemals etwas gehört “ , meinte Indra . — „ Desto mehr aber vom Nepalesekult “ , antwortete er . „ Du wirst gleich sehen . “ Und dann stiegen sie den schattigen Weg empor , nahe der großen Brücke , und kamen an eine herrliche Gruppe dunkel glänzender Mangobäume . Auf deren Schatten stand ein zierlicher , rot gemalter
Tempel mit spitzschnäbligen Dächern ( der einzige dieser Art in ganz Indien ) , an denen zahllose Bronzeglöckchen hingen , die bei jedem Windhauch leise tönten wie Äolsharfen ! An zwei Seiten war der Tempel offen , und von großen Schiebetüren hingen , halb welk , endlose Girlanden gelber Gendalblütenketten . Der Tempel aber hatte vierundzwanzig Pforten , um die sich , schwarz vor Alter , holzgeschnitzte Umrahmungen und vierundzwanzig schwarze , geschnitzte Sopraporten zogen .
„ Dieser Tempel “ , sagte Boris , „ ward von den Einwohnern von Nepal und Sikkim gegründet . Du weißt , jeder indische Stamm hat hier in Benares seinen eigenen Tempel , um darin den Göttern näher zu sein . Es gilt auch als Anwartschaft auf die himmlische Seligkeit ( hier sind wir wieder im Brahmanenkult ) , in Benares zu sterben . Darum haben hier viele Granden des Landes ihre Sterbepaläste . Die Nepalesen aber wollen der irdischen Liebe und aller Sinnenfreuden auch im Tode nicht vergessen . Darum ließen sie hier von inspirierten Künstlern die vierundzwanzig Arten der Sinnenliebe in ihrer rohesten
Form und in rohesten Formen verewigen . Der Tempel ist uralt . Aber noch täglich erfreuen sich die Hindus an diesen urwüchsigen und — naiven Darstellungen . Aber nun komme ich wieder auf mein Thema von Orient und Okzident . Der Orient sieht sich das ruhig und offen an . Der Okzident verpönt das Ganze . „ Nur für Herren ! “ heißt es . In der Reisezeit aber kannst du täglich Scharen von Globetrotterinnen heimlich , mit pochendem Herzen und lüsternen Augen , hierher pilgern sehen ; wenn Männer nahen , verbergen sich diese Frauen , von perversen Backfischen bis zu den ältesten Jungfern . Was aber das schlimmste ist : der Orient setzt Millionen um nach dem Okzident von rohen , widerlichen Reproduktionen dieser ursprünglich naiv empfundenen Bildwerke . — Verlangst du nach einem packenderen Beweis , wie pervers der europäische Sinnenkult geworden ist und betrieben wird ? Alles öffentlich verschreien und heimlich üben . Der alte Goethe hatte wahrlich recht :
„ Man soll das nicht vor keuschen Ohren nennen , was keusche Herzen nicht entbehren können . “
„ Wir müssen unser Leben eben zum Yoshiwara gestalten , zum Freudenhaus für alles Echte , Gesunde , Natürliche “ , meinte Indra . „ Wir dürfen uns nicht mehr unserer Sinne schämen . Was wären wir denn ohne sie ? Keine große Kunst ohne starke Sinnlichkeit ! — Warum sich nicht ausleben dürfen , frei und groß , statt verborgen , wie die Europäer , im Schmutz zu wühlen . Wahrlich , die europäische Kultur mit ihrem Schein und Sein , mit ihrer ganzen Verlogenheit wird mir immer fataler . Auf ‚ Tugendschemeln ‘ sitzen die ‚ ehrbaren Frauen ‘ , die vielleicht die schlimmsten Courtisanen sind , und brechen den Stab über ein Mädchen — ein gefallenes Mädchen — das zu stolz war , eine ‚ demivierge ‘ zu werden . “ — Boris sah sie erstaunt an . „ Du solltest deine Gedanken aufschreiben , Indra , ein Buch daraus formen . Das könnte vielleicht einen Baustein bilden zum Tempel der neuen Zeit und des neuen Weibes , dieser so oft zitierten und so völlig mißverstandenen Dinge . “
„ Und du könntest mir dabei helfen , Boris . “ — „ Nein , meine Zeit ist um , und mein Maß ist voll ; ich bin der Sansara müde , mich verlangt’s
nach Nirwana . Aber vielleicht gibt es kein Nirwana für mich , vielleicht muß ich mich ewig erinnern , ewig . “ Seine Züge nahmen einen gehetzten Ausdruck an . — Am anderen Morgen fuhren sie durch grüne Gefilde nach Sarnath , wo Buddha seine Erleuchtung gefunden haben soll . Ein ganzes Museum hat man dort gemacht von allen Ausgrabungen . Auch den Plan des einstigen Klosters zeigt man noch und die Stelle , wo der heilige Geist über ihn kam , „ daß er , der Prinz , hinauszog , heimlich , von Weib und Kind , von Glanz und Pracht , um die Welt zu erlösen “ .
„ In Java , “ sagte Boris , „ an den herrlichen Skulpturen des Borobudur , da wird einem die wunderbare Schönheit der Buddhalegenden erst völlig klar und die überraschende Übereinstimmung mit der Geschichte Christi :
‚ Empfangen vom heiligen Geist ! ‘
Empfangen vom weißen Elefanten , der zu allen Zeiten im Osten heilig war . — Und Christus zog hinaus aus dem himmlischen Glanz von seines Vaters Wohnung , Buddha zog hinaus aus dem fürstlichen , irdischen Glanz und Glück . Sie entäußerten
sich beide alles Äußeren , sie lehrten uns , nur auf die innersten Dinge Wert zu legen .
Buddha hat als Attribut die Kobra , die ihre sieben Köpfe als Baldachin über ihn deckt . Christus hat die weiße Taube des heiligen Geistes . “ Lange wanderten sie umher und dachten und sprachen . Boris erzählte , daß ein Zweig des Baumes , der einst hier gestanden , von einem Schüler des Buddha , dem Mahinda , in einem eigenen , glanzvollen Schiff nach Ceylon gebracht worden sei , der damaligen Insel Lanka des Affenkönigs Hanuman . Daß dieser „ Botree “ nun zweitaufend Jahre zähle und unter seinem Schatten in Anuradhapura , die Singhalesen noch heut’ in jeder Vollmondnacht Buddha ihre Opfer bringen . — „ Ach Boris , du bist mir wirklich unentbehrlich für mein Buch , “ meinte Indra , „ du bist das reine Konversationslexikon , man braucht nur nachzuschlagen . “ — „ Und findet das große ‚ Nichts ‘ , das Fazit meines Leben “ , entgegnete er düster .
„ Morgen fahren wir auf dem Ganges , es ist Feiertag . Erst in der früh und dann abends
bei Mondenschein . Und dann ziehst du in dein neues Kloster . “ — Am anderen Morgen früh , es war noch empfindlich kalt , fuhr Indra mit Boris auf dem „ Pearlship “ , dem Perlschiff eines reichen Inders , dem es schmeichelte , Europäern seine kleine Jacht zu zeigen . Sie fuhren langsam , ganz langsam den Ganges hinauf . Die Sonne glomm empor und tauchte alles in Glut und Glanz . Tausende , Hunderttausende von Menschen badeten in der „ heiligen Flut “ . Man konnte sich kaum denken , daß es so viele Menschen gibt , wie sie hier als leuchtende Punkte auf und nieder in das Wasser tauchten . Nichts Keuscheres wie das Bad der Hindufrauen , und wie sie dann aus den Fluten steigend den trockenen Saron mit dem durchnäßten vertauschen — man merkt es kaum . Die ganze Flut war von Gendalblumenketten durchleuchtet . Alle „ Ghats “ , die breiten Treppen , die zum Fluß führen , waren buchstäblich überdeckt mit Menschen .
„ Siehst du dort die Gruppe von Frauen mit den dunkellila Sarons ? “ fragte Boris . — „ Ja , aber warum tragen die keinen Schmuck , weder an
Beinen , Armen noch Ohren und Nasen ; die sehen ja beinahe aus wie gerupfte Vögel . “ — „ Das sind die Witwen , “ sprach Boris , „ aber ihnen zum Trost hat man nebenan das Bad der Witwer eingerichtet ; siehst du dicht dabei den Haufen von Männern in lila Sarons ? “ — Indra lachte . „ Nichts ist köstlicher als der Humor , der unbewußte , in vielen Gebräuchen des Ostens . “
Langsam , ganz langsam zog das Perlschiff weiter . Jetzt kamen sie an ein Ghat , das weniger belebt schien als die anderen .
Mehrere Männer waren beschäftigt , Holzstöße aufzurichten . Etwas Weißes schaute hier und da daraus hervor . Die Männer waren sehr eifrig , stopften dürres Gras dazwischen , schürten und stocherten , als wollten sie einen Holzstoß für einen Braten zurechtmachen .
„ Wieviel weiße Punkte siehst du daraus ? “ fragte Boris . — „ Drei , auf jedem Haufen drei . “
— „ Das sind die Füße “ , sprach Boris ; „ wieviel siehst du am Strande liegen in blauen und roten Mänteln , die bloßen Füße im heiligen Wasser ? “ — „ Vier , “ antwortete sie , „ sie scheinen fest zu
schlafen . “ — „ Nein , sie sind tot “ , sprach Boris ; „ die im blauen Schleier sind Männer , und die im roten Schleier sind Frauen , oder umgekehrt . Jetzt kommen also auf jeden Scheiterhaufen noch zwei , oder sie errichten einen dritten . Je nachdem sie denken , daß der Holzstoß genügend Luft hat und brennt , anstatt zu schwelen . — Nein , sie zünden schon an , die vier übrigen kommen auf einen neuen Scheiterhaufen . Der Mann mit der Fackel dort ist der Domra , der Verbrenner , der erhält für jede Leichenverbrennung bis zu tausend Ruppees . Das Geschäft macht ihn schwer reich . “ — Die Holzstöße flammten jetzt hell auf , und blaue Rauchwolken zogen in die Lüfte . Die Scheiterhaufen strahlten warme Glut herüber und wärmten , unwillkürlich wohltuend , in der Morgenglut .
„ Und im Vorüberziehen wärmt mich
der Toten Glut ,
die meinem armen Leben wie letzte
Liebe tut , “
dachte Indra , „ die Glut des Vergangenen , die noch zu mir herüberzuckt . “ Eine schwere Trauer füllte ihre Seele .
Die Schar der Leidtragenden setzte sich jetzt im Wasser , auf einer Art Podium , zum Mahl . Den Toten wurden ihre Speisen vom Festmahl in den Ganges geworfen . Fische und Geier übermittelten sie ihnen wohl . Lautes Klagegeschrei erfüllte plötzlich die Luft . Die Flammen züngelten jetzt an ein paar Füßen und roten und blauen Schleierfetzen empor . „ Wie ein Haufen Krammetsvögel , die knusprig braun werden sollen “ , dachte Indra wieder . „ Laß uns weiterfahren , Boris , ich bin müde von dem grausigen Anblick , grausig , inmitten von Sonnenglanz und Schönheit . “ Sie wanderten dann später noch am Land in den engen Gassen , einer hinter dem anderen . Da ward Indra rauh zur Seite gestoßen , und eine „ heilige Kuh “ zog unbeirrt ihres Weges nach dem nahen Tempel der „ heiligen Kühe “ .
„ Benares ist das Herz von Indien , “ sagte Indra , „ und ganz Benares ist von Blutlachen bedeckt . All der ausgespuckte Bethel wirkt geradezu schauerlich blutrünstig . “ — „ Wir gehen jetzt zur ‚ Well of Knowledge ‘ , dem Born der Weisheit “ , erklärte Boris . Bald standen sie vor einem
viereckigen Bassin mit pechschwarzem , schieferglänzendem Wasser , von dem geradezu mephistische Dünste emporquollen . Die Gläubigen drängten sich mit großem Geschrei in dichten Scharen darum . Sie warfen alle lange Blütenketten hinein , und ein Becher mit dem schwarzen Pestilenzwasser ging von Mund zu Mund . „ Wer vom Born der Weisheit trinkt , “ lächelte Boris , „ hat ewige Weisheit und wird niemals krank . Da siehst du , wie die Weisheit schon mit Zungen redet . “ Er wies auf zwei Besessene . Der eine wälzte sich in epileptischen Krämpfen am Boden . Der andere saß mit gekreuzten Beinen und klingelte mit einer grellen Glocke , die er wie einen Kreisel um sein Haupt schwang . Es waren Töne , die durch Mark und Bein drangen . — „ Du siehst , hierum , um der dunklen Fluten willen , aus der ‚ Well of Knowledge ‘ , die täglich mit neuen Kränzen , Fäulniserregern , gefüttert wird , ist der große Erfolg des geläuterten Buddhismus und all seiner theosophischen Neuverzierungen . Aus diesen Tiefen steigen seine Keime . “
Und am Abend fuhren sie wieder auf dem
heiligen Strom . Zum letztenmal ! „ Morgen ziehst du nun in dein Kloster , Indra , heut’ komm’ ich von dir Abschied zu nehmen . Ich werde niemals wieder deinen Pfad kreuzen , denn ich habe dir ja schon gesagt , ich reise in das Land , von dem es keine Rückkehr gibt . “ — „ So soll ich meinen letzten Freund verlieren ? “ — „ Freund ! “ Wieder hatte er sein altes , zynisches Lächeln . „ Möchtest du niemals wieder in deinem Leben ähnliche Freunde finden . Aber du brauchst ja keinen Freund , du bist frei geworden , und das Leben , die Glut seiner Sansara , das Yoshiwara deiner Erkenntnis , daß nur in der Freude und in der Betätigung aller Sinne Zweck und Ziel des Lebens liegen , die haben dich befreit von den Banden der Dumpfheit , der Feigheit und der Konvention . Du bist groß geworden , Indra , du brauchst keinen Freund mehr . “ — Große Tränen tropften aus ihren Augen , sie dachte an die offene Wunde ihrer Seele , an die verflogenen , toten Schmetterlinge all ihrer Hoffnungen , und daß sie Guy niemals wiedersehen würde , niemals . „ Ich brauche keinen Freund “ , erwiderte sie tonlos .
Es war kühl und feucht . Wolken standen am Himmel . Dennoch aber stieg drüben blutrot der Mond empor . Wie manches Mal hatte sie ihn schon mit dem Mann an ihrer Seite heraussteigen sehen . Wie manches Mal ! Niemals aber war ihr das Leben so traurig erschienen wie heute , wie jetzt . Alle Ufer , alle Ghats lagen verödet . Wo bei Tagesanbruch ein so tolles Leben gepulst und gebraust , lagerte jetzt das große Schweigen . Nur vom „ burning Ghat “ herüber ( der Verbrennungsstätte ) kam ein leicht brenzlicher Geruch , kräuselte und schwelte ein leiser Hauch , die letzten Zuckungen aus den Scheiterhaufen . — Indra fröstelte es in ihrem leichten Kimono . Er sah es und hing ihr seinen Mantel über die Schultern . „ Die Liebe zu dir wird mir vielleicht das Nirwana erkaufen , “ sprach er leise , „ daß ich endlich Frieden finde . “ Sie schwiegen beide . Etwas Weißes kam herangeschwommen . Sie hielt es für eine Blume und haschte danach , ließ es aber gleich mit einem Aufschrei wieder los . — „ Was war das ? “ — „ Ein Kinderhändchen “ , sprach sie schaudernd , — „ Da sind die Glücklichen , “ sagte Boris , „ deren Leichen
unverbrannt in den Strom geworfen werden , die Priester und die Kinder unter vier Jahren . Fische und Vögel wollen doch auch ihr Recht . Aber die Aasgeyer haben diesen fetten Brocken übersehen , du hast sie nun darauf aufmerksam gemacht . “ — „ Wie traurig ist doch die Welt , die ich zu einem großen Freudenhaus des Lebens , mit ehrlichen Sinnen und ehrlichen Lüsten , umwandeln möchte . Wie tief traurig ist sie doch im letzten Grunde . “ — „ Dort liegt der Affentempel “ , sprach jetzt Boris . „ Hörst du ihr lautes Geschrei ? Das ganze Leben ist am Ende doch nur eine Affenkomödie . Hier ist ein Brief an dich , mein Vermächtnis . Das ganze Bekenntnis meiner Schuld dir gegenüber , und ein schwacher Versuch der Sühne . Du sollst ihn erst nach meinem Tode öffnen . Man wird dir Kunde geben . Du brauchst ja nun nicht mehr meine Schicksalsbegleitung , dich einst von hier fortzuführen . Du wirst im Hindukollege , im Asyl des Friedens , bleiben . “ — Indra nickte stumm und unterdrückte einen Seufzer . — „ So leb denn wohl , du einzige Frau , die ich je geliebt . Warum durfte ich dich nicht früher finden ? “
Er drückte einen Kuß auf ihre Stirn . Indra schwieg in tiefer Bewegung . Der Mond strahlte jetzt leuchtend klar über die beiden und verwandelte die Welt umher in flüssiges Silber . Brostoczicz geleitete Indra stumm an die Pforte ihres „ Klosters “ .
Und nun war sie bei Annie Besant , der Vielgerühmten , Vielgeliebten , Vielgeschmähten . Sie war nur im äußersten Schatten ihrer starken Persönlichkeit , ein kleines , neues Nichts , das die große Frau kaum bemerkte . Desto mehr bemerkte Indra alles um sich her . Mrs. Higgins hatte ihrem Schützling eine kleine Kammer in ihrer Nähe , in einem der Nebengebäude des Riesenpalastes eines Maharadja , in dem das Hindukollege sein Asyl gefunden , überlassen und eingeräumt . Die dreihundert Zöglinge , zum großen Teil aus den vornehmsten Hindufamilien stammend , wohnten , schliefen , lernten und aßen alle im Hauptgebäude .
So hatte Indra nach mehr als zwei Jahren Kopfpolster , wieder ein europäisches Bett , was ihr allein schon wie ein ungewohnter Luxus vorkam . Auch stand neben ihrem kleinen Fenster , das in
die Tropendickichte des Parks schaute , ein viereckiger Tisch mit Schreibzeug . Ihr war ’s nach den tausend bunten Eindrücken der letzten Jahre , als könne sie sich hier zum erstenmal wieder auf sich selbst besinnen . Mrs. Higgins hatte ihr drei von den peplumartigen Phantasiekleidern , die die lehrenden Damen am Hindukollege zu tragen pflegen , gegeben . Es war ein Gemisch von Griechisch und Altindisch , mit schönem Faltenwurf , einfach und geschmackvoll . Sie erhielt ein weißes aus byssusartigem Stoff , das sie sich selber zu reinigen hatte , ein graues und ein gelbes . Als Mantel wurde darüber , an kühlen Tagen , ein togaartiges Rad geworfen . Die peplumartigen Kleider waren an den Schultern mit Spangen gehalten . Es war ein Gewand wie geschaffen ( darum schuf sie es ) für die königliche Gestalt der Annie Besant . Aber es stand auch Indra ausgezeichnet . Sie sah so rein und keusch darin aus , und man dachte sich unwillkürlich eine griechische Amphora dazu , um das Bild zu vollenden . Einstweilen sollte sie sich unter Mrs. Higgins ’ Aufsicht in die Lehren der neuen oder doch rekonstruierten
und komprimierten Religion vertiefen und am Nachmittag in dem runden Saal der Dependenz ein Dutzend kleiner Hinduknaben und -mädchen beaufsichtigen . Die Mahlzeiten nahm sie mit den anderen Damen , ganz am untersten Ende sitzend . Mrs. Besant speiste allein , und niemand durfte sie bei ihrem Mahle stören . Die englischen Professoren saßen mit ihren Zöglingen in langen Reihen im Speisesaal des Hauptpalastes . Es war auch eine große Anzahl von externen Schülern im Kollege . Indra kam sich vor , als hätte nach einem wilden Sturm , in dem ihr alle Sinne zu schwinden drohten , eine hohe Welle sie plötzlich auf eine Sandbank gespien . Nun saß sie da , — um sich das Nichts , — und hatte sich aus diesem Nichts erst wieder neue Welten zu gründen , wenn anders sie dieses neue Leben ertragen sollte . Doch das sagt sich so leichthin , es erträgt sich so vieles . Vorläufig aber schien ihr dieses ganze Leben von einer ungeheuren Öde . Boris hatte gut sagen , sie sei stark . Sie war wohl stark im Sturm , aber da die Windstille eintrat , brach sie zusammen . Sie konnte sich kaum an Momente gleicher seelischer
Depression erinnern , nicht einmal in der Pension Vais , wo sie , wie eine Pallas Athene , ihr Hausdamenschild jederzeit kampfbereit der Außenwelt entgegenzuhalten hatte . Sie hatte wenig zu tun , und diese Ruhe , dies ewige Nachdenken über sich selber und ihr Geschick brachten sie zur Verzweiflung . Sie hatte die wildesten , gefährlichsten Lebensmeere durchschifft , ohne doch ihre große Gefahr voll erkannt zu haben . Jetzt aber kam sie sich vor wie der Reiter über dem Bodensee , der den ungeheuren Abgrund , den er durchmessen , erst nachträglich begreift . Und der Schreck warf sie darnieder . Jetzt erst begriff sie vollständig den Kot der Pension Vais . Einzelne Äußerungen von Ella und Bella und von Margot fielen ihr wieder ein und ließen sie erschaudern . Das war ja alles nicht halb so schlimm gewesen in Number nine und gar erst in Yoshiwara .
An Yoshiwara hatte sie eine beinahe freundliche Erinnerung , wäre nur das tödliche , vergebene Warten nicht gewesen . Aber ihr neuer Lebensumschwung kam so schnell , daß sie sich dessen erst voll bewußt wurde , als sie mit hartem Anprall
auf der Sandbank der ruhigen , ereignislosen Gegenwart auflag . Nein , ein Ereignis sollte doch heut’ stattfinden . Annie Besant , die zu Vorträgen in Madras gewesen , ward heute zurückerwartet und sollte ein paar Besucher empfangen . Die warteten schon über zwei Stunden in der Dependenz . Endlich erschien sie aus der tiefsten Tiefe des Gartens , mit ihrem Gefolge heraufschreitend . Wie eine Kleopatra oder Königin von Saba , mußte Indra denken . Die hohe Gestalt in der antiken Gewandung , mit dem weißen Lockenhaupt und den blitzenden , dunklen Augen , stützte sich leicht auf einen Sklaven , hätte Indra beinahe gesagt , der einen bunten japanischen Schirm über ihr aufgespannt hielt . Ein zweiter Diener ging daneben und trug einige dickleibige Bücher ; ein dritter trug die Schleppe ihrer Toga . So trat sie in den Saal . Die Fremden verbeugten sich bis zum Boden , und sie ließ sich , alle stehend , mit ihnen in eine kurze Konversation ein . Dann lud sie sie mit königlicher Handbewegung ein , sich von ihr den Park und ihre Tiere zeigen zu lassen . Sie wünschte einen Inspektionsgang nach ihrer Reise
und glaubte , hierbei störten sie die sichtlich imponierten Fremden am wenigsten .
Indra bewunderte ihr Organisations- und Dispositionstalent , überhaupt die ganze große Frau . Sie sah die Gesellschaft , Annie Besant und Trabanten , in der Tiefe des Parks zu den Rehen gehen , dann zu den Gazellen , dem weißen Esel , dann zu den Goldfasanen und Pfauen . Sie liebte all diese ihre Tiere aufs Zärtlichste und verlangte mehr nach einem Wiedersehen mit ihnen als nach dem ganzen Hindukollege . Gesprochen hatte Mrs. Besant noch nicht mit Indra , doch sie sah sie im Vorbeigehen immer so forschend an , als wolle sie sie auf Herz und Nieren prüfen .
Und so vergingen die Tage und die Wochen in stillem Gleichmaß . Der tötenden Hitze war eine kühlere Periode gefolgt , Weihnachten kam und ging unbeachtet vorüber , doch das Fest des Ganesha war ein Ereignis , auch im Hindukollege . Da wurden ( auch eine Mischung von Brahmanentum und Buddhismus ) vom Küchenchef Hekatomben von kleinen , elefantenrüßligen Göttern in Butterteig gebacken . Auch Indras Hinduschülerinnen
( in ihrer Kleinkinderbewahranstalt , wie sie es nannte ) erhielten jede einen kleinen und einen großen Ganesha .
Auch das ganze Personal ward mit den süßen Elefantenrüsseln bedacht . Und Tage und Wochen kamen und vergingen . Es wurde wieder heiß , das nannte man hier Frühling . Es kamen auch oft Touristen , die große Annie Besant zu besuchen , aber es kam niemand , der nach Indra fragte . Eine unendliche Müdigkeit und Öde hatte sie befallen . Wozu hatte ihr das Leben all diese namenlosen Kämpfe und Gefahren geschickt , um sie nachher auf einer Sandbank der Ereignislosigkeit vermodern zu lassen ? Sie fühlte sich noch zu jung für den Frieden des Hindukollege und den Frieden der Resignation . Sie wollte leben , kämpfen .
Mrs. Higgins war einigermaßen von Indra enttäuscht , sie kam ihr matt und schlaff vor , lahm in ihrem „ Glauben “ und in der Anbetung ihres Ideals . Freilich , man konnte ihr nichts vorwerfen . Sie tat ihre Pflicht im stillen . Aber es war , als wäre die Elastizität aus ihrem Wesen
gewichen , als wenn eine tiefe Melancholie sie überschatte .
Sie hatte angefangen an dem Buch , zu dem Boris sie ermutigt , einer Art Aufruf an alle , sich aus einem öden Jammertal ein selbsterobertes Yoshiwara zu gestalten . Sie wollte beweisen , daß die große , starke , elementare Sinnlichkeit in jedem wahren , lebenglühenden Kunstwerk enthalten sei ! Das brauchte sie zwar kaum zu beweisen , dies Faktum , das so alt ist wie die Welt und seit das erste Kunstwerk geschaffen ward . Aber es fehlte ihr plötzlich die Kraft , es glaubhaft , überzeugend auszudrücken . — Sie fühlte sich selber so matt — fast verschmachtend auf dieser Sandbank des Friedens .
Und so vergingen die Tage , die Wochen , die Monate immer in gleichem Schritt . Indra hatte fast vergessen , wie lange sie im Hindukollege weilte . Waren es zwei Jahre oder zwei Jahrzehnte ?
Eines Tages erhielt sie einen schwarzgerandeten Brief . Wer wußte denn ihren Aufenthalt hier , wer konnte ihr denn schreiben ? Es war
nicht Guys Handschrift , aber doch — wenn ihm etwas zugestoßen wäre . — Zitternd öffnete sie .
„ Gott dem Allmächtigen hat es gefallen , unsern Sohn und Bruder , Onkel und Neffen , Otto Boris Brostoczicz in jähem Tod in fernen Landen plötzlich zu sich zu nehmen . Friede seiner Asche .
Im Namen aller Hinterbliebenen
Otto Kasimir Brostoczicz ,
Rittergutsbesitzer und Rittmeister a. D .
Steglitz-Berlin , Juli 1913 .
Lange starrte sie aus die Anzeige mit dem fingerbreiten , schwarzen Rand . Die Konvention hatte ihn wieder eingefangen und die Familie , nach dem Tod , den Outsider des Lebens , den Glücksritter , den Abenteurer . — Und dennoch — „ Friede seiner Asche . “ Sein Empfinden ihr gegenüber war echt gewesen . Aber nun wollte sie seine Abschiedszeilen lesen . Sie holte den versiegelten , schon ganz vergilbten Brief aus seinem Schubfach . Ein steifes Blatt fiel ihr entgegen und ein paar ganz eng beschriebene , dünne Blätter .
Testament .
Ich setze mit diesem Indra Versen , z.Z. wohnhaft im Hindukollege in Benares , zu meiner Universalerbin ein für mein beim Credit Lyonnais in Paris in sicheren Papieren lagerndes Gesamtvermögen von 800 000 Francs .
Boris Brostoczicz .
Benares 1911 .
( Und Stempel verschiedener Gerichte . )
Sie starrte darauf in tiefem Sinnen .
Dann entfaltete sie die Briefblätter .
„ Wenn Du dies liest , kann ich nicht mehr in Deine Augen sehen , um darin zu lesen , ob Du verzeihen kannst , was ich Dir getan . Als ich Dich in Berlin im Frauencoupé dritter Klasse entdeckte , sagte ich mir , dies Mädchen muß ich einfangen , wie schon vor ihr so viele . Ich war einer der berüchtigsten Mädchenhändler , und Christa Toussaint war meine Komplize . Als ich Deinen Namen hörte , und daß du nach Tunis zu Frau Meranow führest , war mein Entschluß gefaßt . Ich ließ Dich nicht mehr aus den Fingern , bestieg das Schiff nach Alexandria mit Dir , — In Alexandria ( nicht
in Tunis ) kam Frau Toussaint als Botin der verstorbenen Frau Meranow ( die wahrscheinlich heute noch in Tunis lebt ) , und wir führten Dich zu unserer Hehlerin , Madame Vais . Da ich aber stets vor Entdeckung zitterte , — man war mir hart auf den Fersen , — brachte ich dich bald nach Number nine und dann nach Yoshiwara . — Deine sämtlichen Briefe an Deine Mutter , außer der ersten Karte , die Du mich in den Kasten werfen sahst , sind niemals befördert worden . Das ist die nackte Wahrheit . Wenn es eine Sühne gibt für solches Tun — meine wahre Liebe zu dir und das Bewußtsein meiner Schuld , das mich wie ein Fegefeuer umglüht und in den Tod treibt ! Vielleicht nützt das Geld , das meine Sünden Dir hinterlassen , der Sache der Yoshiwaraidee des irdischen Freudenhauses in diesem Jammertal , der echten , wahren , reinen Sinnenfreude , die die Lüge und heimliche Schande hinaustreibt und an Ihre Stelle die Schönheit , die Freiheit und die Größe setzt — dann habe ich trotz allem nicht umsonst gelebt . Der , der Dich mehr geliebt als sein Leben und seine Sünden
Boris .
Wie lange Indra so gesessen , sie wußte es nicht . Man rief sie hinunter zu ihren Hindukindern . Wie im Traum nur gab sie sich mit ihnen ab , spielte mit ihnen , beschäftigte sie .
Am Abend ging sie lange ruhelos im Park auf und ab . Sie sah Annie Besant mit dem Hinduknaben promenieren , den sie für die Reinkarnation des Buddha hielt , und der demnächst von ihr nach Oxford gebracht werden sollte . Ein jeder höhere Mensch hat doch eine Lebensidee , oder wie der Unbeteiligte vielleicht sagen würde , eine „ fixe Idee “ , und findet sein Glück in deren Betätigung . Indras Glück würde nun sein , die Heimlichkeit und die Lüge zu bekämpfen und den Augiasstall der heimlichen , bösen Lüste auszukehren . Mit Wort und Tat ! Tausend Pläne kamen in ihre Seele . Und dann überfiel sie ein großes Zittern . Jetzt wußte sie , woher ihr diese Frische und diese Stärke kam . Die offene , die fressende Wunde in ihrer Seele hatte sich geschlossen , ihre Mutter hatte sie nicht verstoßen ! Plötzlich aber befiel sie wie ein ungeheurer Berg all die Todesangst , die die Ärmste in fast fünf Jahren
namenloser Qualen und Ängste , dem Furchtbaren , dem Unbegreiflichen gegenüber , dem spurlosen Verschwinden ihrer Tochter , hatte aushalten müssen . Ein jeder Tag , den sie vergebens wartete , wie ein Jahr voll Sehnsucht ! Ach , Indra wußte , was Warten , was vergebliches Warten heißt ! — Sie wollte ihr gleich telegraphieren — nein , der freudige Schreck konnte die Ärmste töten . Sie mußte selber hinüberfahren , sobald sie nur irgend Geld flüssig machen konnte . Es war rasch dunkel geworden . Die Leuchtkäfer umglühten sie zu Tausenden . Von drüben , aus der „ black town “ , kamen Tambourin- und Zymbalklänge . Niemals mehr war sie drüben gewesen , seit Boris ihr den indischen Kult gezeigt hatte . Es kam ihr plötzlich vor , als ob sie die letzten zwei Jahre umsonst gelebt hätte . Nein , hier war nicht der rechte Ort für sie . Sie mußte wieder hinaus ins Leben , sich ihren vollen Kräften entsprechend zu betätigen .
Sie wollte Mrs. Higgins aufsuchen , um ihr alles Jüngsterlebte zu berichten . Doch diese war „ im Dienst “ bei Annie Besant . Beim Dinner war sie auch nicht anwesend . Indra mußte sich also bis
zum nächsten Morgen gedulden , so schwer ihr das auch fiel . Vor dem Einschlafen konnte sie zum ersten Male wieder ohne brennendes Weh an ihre Mutter denken . Es fiel ihr ein , wie sie allabendlich mit ihr und mit ihren toten Geschwistern gebetet hatte :
„ Kranken Herzen sende Ruh ,
müde Augen schließe zu .
Vater , laß die Augen dein ,
über unsern Betten sein ! “
Und dann kam der Vater und legte noch jedem der Kinder eine Rosenknospe aufs Bett . Und sie hielt sie in den Händen und roch sich daran in den Schlaf . Die ganze Nacht träumte sie von ihrer Kindheit und fragte sich beim Aufwachen verwundert , wo sie eigentlich sei . Endlich konnte sie in der Frühe Mrs. Higgins ihr Herz ausschütten . Doch diese schaute sie immer befremdeter an . „ Kind , Kind , Sie wollen wirklich fort . Sie können das übers Herz bringen , nachdem Sie seit über zwei Jahren in die wunderbaren Tiefen , in die unergründlichen Schönheiten unseres Glaubens eindringen ? In die Abgründe unserer Weisheit
gestiegen sind ? Und nachdem Sie die Reinkarnation Buddhas täglich vor Augen haben und wert befunden worden sind , seine Entwicklung zu beobachten , ihn sich entfalten zu sehen ? Es ist mir geradezu unfaßlich , wie ein fühlender Mensch , ein Weib mit Verstand und Herz , sich dem gegenüber verschließen kann . Sie haben mich ungeheuer enttäuscht . “ — Indra sah ihr ganz erstaunt in die fast fanatisch blickenden Augen . Da lebte sie nun zwei Jahre ganz dicht neben einer Fremden und hatte doch geglaubt , Teilnahme und Verständnis gefunden zu haben . Aber die galten ja niemals ihrer Person , sie galten einzig nur der neuen Jüngerin für den neuen , purifizierten und modernisierten Buddhismus . Sie fühlte sich plötzlich so allein — aber da kam eine warme Welle über eine vernarbte Wunde — ihre Mutter hatte sie nicht vergessen und verstoßen ! „ Ich will zu meiner Mutter zurück “ , sagte sie . „ Und was machen Sie mit dem vielen Geld ? Das wenigstens können Sie doch zum Zweck der Propaganda für unsere gute Sache anwenden . “
Indra war innerlich empört . „ Ich fühle ,
daß ich es dem Andenken von Herrn Brostoczicz schuldig bin , das Geld in seinem Sinne zu gebrauchen . “ — „ Wie Sie wollen , “ sagte Mrs . Higgins ganz kalt , „ ich werde eine Aufstellung machen von dem , was Sie uns schuldig sind . Nachdem Sie mir einen Scheck darüber ausgestellt , bin ich gerne bereit , Ihnen Reisegeld vorzuschießen . “ Um eben dieses hatte Indra bitten wollen , daß es aber so gewährt wurde , so — das tat ihr bitter weh . Nein , sie hatte niemand mehr hier , niemand . Sie wollte zu ihrer Mutter — so rasch als möglich . In tiefes Sinnen verloren , schritt sie durch den Park . Nun war kein Boris mehr , der sie als dunkler Wanderer zu dieser neuen Etappe ihres Schicksals führen konnte . In ihrer Zerstreuung rannte sie an einen Herrn , wohl an einen der Lehrer . — „ Pardon “ , sagte sie . — „ Indra “ , klang es da in einem Ton so voll jauchzender Seligkeit . — „ Guy “ — sie sprach es ganz still an seiner Brust . Und dann waren sie beide still , standen nur fest umschlungen im Schatten der Mangobäume . Die roten Hibiskusblüten rieselten zu ihren Füßen .
Sie hatten Welt und Zeit vergessen . — „ Indra , “ sagte dann Guy leise , „ ich bin gekommen , dir zu sagen , daß alles so werden soll , wie du es haben willst . — Ich hätte dir das schon vor zwei Jahren sagen können , aber ich halbe dich gesucht , gesucht in aller Welt vergebens . Ich fürchtete schon , du seist tot . “ — „ Wir wollen uns das alles später erzählen , mein Geliebter , jetzt brennt mir der Boden schon unter den Füßen . Erwarte mich zum Abend in Jacksons Hotel . Wenn ich nicht fertig werde , dann komme ich morgen früh . Jetzt will ich erst hier meine Pflichten abwickeln . “
Guy antwortete nicht viel . Er sah sie nur immerzu strahlend an . Dann schritt er zur Pforte . Wie groß er war , wie elastisch er ging . Das war ihr Geliebter , ihr Herr und Meister , das Alpha und Omega ihres Lebens . Nun würde eine neue Phase für sie beginnen — nun wollte sie mit ihm das Leben gestalten zu einem freien , großen Yoshiwara , einem Freudenhause des Glücks und aller besten Lebensgüter .
Bald hatte sie ihr Bündel geschnürt . Sie war so wenig hier eingewurzelt , daß sie sich selbst
darüber wunderte . Mrs. Higgins schrieb sie den Scheck in der von ihr gewünschten , nicht unbeträchtlichen Höhe , und diese ward danach sehr freundlich gegen Indra . Der Abschied von Annie Besant war sehr kühl . Ein so unendliches Befremden lag in deren Augen , daß man freiwillig von ihr und vom Hindukollege scheiden könne . Fast als geschähe ihr selber damit eine tödliche Beleidigung .
Es war noch nicht völlig dunkel , als Indra mit einem kleinen Bündel am Arm aus dem Schatten des Parkes , der ihr zwei Jahre lang ein Asyl geboten , heraustrat auf die Landstraße . Sie fand Guy dort schon ihrer wartend — seit Stunden . Sie waren noch immer beide wie sprachlos . „ Und zu fühlen , Guy , daß , wärst du nur einen Tag später gekommen , du mich für immer verfehlt hättest “ , sagte sie dann .
Das Grausen schüttelte ihn förmlich .
Sie fuhren noch am gleichen Abend nach Kalkutta . Nachdem sich Indra dort wieder mit europäischer Kleidung ausgerüstet und einen langen , ausführlichen Brief an ihre Mutter geschrieben , in
dem sie ihren und Guys demnächstigen Besuch ankündigte , den sie diesmal selber in den Kasten warf , obgleich es gerade diesmal nicht nötig gewesen wäre , fuhren sie mit dem nächsten Dampfer nach Ceylon , um dort erst eine Weile ganz sich selbst und ihrem Glück zu leben , wie Indra es sich dereinst gewünscht hatte .
Wieviel hatten sie sich zu sagen . Wie unendlich viel ! Aber nach sechs Wochen hatten sie sich noch nicht den hundertsten Teil von dem gesagt , was sie sich zu sagen hatten , und sie fühlten auch immer deutlicher , daß dazu ihr ganzes Leben nicht ausreichen würde .
In Yoshiwara war bald nach Indras Fortgang eine furchtbare Feuersbrunst ausgebrochen , bei der viele Courtisanen und der Manager von Indras Hause ums Leben kamen . Als Guy bald darauf in Tokio eintraf und in Yoshiwara nachfragte ( er war vorher erst durch Seemanöver , dann durch ein langwieriges Fieber davon abgehalten , früher zu kommen ) , nachdem er Indra vergebens in Number nine gesucht , glaubte er nicht anders , da sich einige der Mädchen in Yoshiwara
erinnerten , daß eine schöne Shiragiku dort gewesen , deren Beschreibung auf Indra zu passen schien , als daß sie mit vielen anderen jämmerlich im Feuer verbrannt sei . Dennoch — etwas in seinem Innern sprach immerzu : „ Sie lebt , sie wartet auf dich , du mußt sie suchen . “
So suchte er denn in allen Yoshiwaras von ganz Japan . Er war um seinen Abschied eingekommen , um sich ganz dem Suchen seiner verschwundenen Liebe zu widmen . — Endlich , in Osaka war’s , in der berühmten Theaterstraße ( das erfuhr er erst vor zwei Monaten ) , sagte ihm eine Geisha , es sei kurz vor dem Brande eines der Mädchen von Tokios Yoshiwara mit einer englischen Dame nach Benares gegangen . Er machte er sich denn nach Benares auf . Aber es waren schon zwei Jahre , daß er sie vergebens suchte , er hatte keine Hoffnung mehr . Er fuhr nur hin , um sich selber sagen zu können , daß er nichts , aber auch gar nichts unversucht gelassen habe .
So kam er und so fand er sie , und so hielten sie sich — bis zum Tod . Das sagte er ihr in den
Palmenwäldern um das Resthouse von Matare , das durch Ernst Haeckels Aufenthalt berühmt gemacht ist . — Und das sagte sie ihm in Banderavella angesichts der herrlichen Berglinien , und das sagten sie sich beide auf dem Adams Peak und auf dem Weg durch die blühenden Rhododendronwälder von Pietrogalla . Das sagten sie sich auch , als sie bei Vollmondschein vor dem zweitausendjährigen Botree standen , dem Ableger vom Baume Buddhas , von dem ihr Boris in Sarnath bei Benares erzählt . Wie sie beide miteinander die Schönheit und die Größe der Welt genossen und verstanden ! Nur über eines waren sie sich noch nicht ganz klar , wie sie das Legat von Boris im reinsten Sinn für das große Yoshiwara des Lebens verwenden sollten . Für sich selber nahmen sie nichts davon , Guy war ja völlig unabhängig . Ob sie ein Spital gründen sollten oder eine Schule , das erwogen sie täglich — oder gar beides . An einem großen Buch aber schreibt Indra über den Mut zur Wahrheit und über die Schönheit der Sinne , die erst dann sich voll und ganz entfalten können , wenn sie Hand in Hand
mit der Seele gehen . Aber auch ohne diese nicht unbedingt im Schlamm und Schmutz zu ersticken brauchen wie jetzt in Europa , sondern daß auch sie in reinen , lichten Flammen brennen können , denn sie sind , Sinne und Seele , beide köstliche Gottesgaben .
Und wenn der Occident vom Orient seine Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit lernt , dann wird das Hetärentum der Zukunft eine neue Aspasia gebären .
Dann wird das neue „ Yoshiwara “ nur Freuden bringen , die im Lichte der Wahrheit blühen , und die Menschen lebenstüchtig und froh machen , aller Heuchelei und Lüge feind .
Aber jedes Liebespaar , das sich mit Sinnen und Seele liebt , wird so glücklich werben wie Guy und Indra .
Inhalt
Vorwort
Seite 9
Indra
Seite 15
Shiragiku
Seite 93
Benares
Seite 153