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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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und Kälte in beiden unteren Extremitäten. Dabei ist
die Bewegung vollkommen ungestört; weder Kopfweh
noch Schwindel. Am nächsten Tage stellt sich ein leichter
Grad von Aphasie ein, der Kranke findet nicht die rechten
Worte für das, was er sagen will, oder verwechselt die
Worte und dies versetzt ihn in eine sehr ärgerliche, reiz-
bare Stimmung. Dabei ist die Aussprache vollkommen
deutlich, auch sind keinerlei Bewegungsstörungen in der
Muskulatur der Zunge oder des Gesichts vorhanden. Der
Druck der Hand ist jederseits von normaler Stärke, aber
es besteht eine gewisse Unruhe in den Armen und den
Beinen. Ausserdem beklagt sich Patient über eine acut
entstandene Sehstörung, so zwar, dass er schwieriger
liest als sonst; auch schreibt er zittrig und mit veränderter
Handschrift. Puls und Herz normal, kein Eiweis im Urin.

Der Zustand hatte sich bis zum 14. September, an
welchem Tage ich den Kranken zum ersten Male sah,
wenig verändert, nur hatte sich die Aphasie beträchtlich
gebessert, während sich von neuem Pelzigsein und zwar
diesmal nur des rechten Beines, sowie eine Art Ungeschick-
lichkeit der rechten Hand eingestellt hatte.

Die augenärztliche Untersuchung ergab: Cornea,
Cammenwasser, Iris und Pupillen beiderseits normal; die
beiden Linsen im Zustande beginnender cataractöser Trü-
bung, doch konnte links noch Jäger No. 6, rechts Nr. 14
gelesen werden.

Beim Lesen mit beiden Augen zeigte sich nun fol-
gende Erscheinung: Patient las correct einige Worte, dann
gab er das Buch fort, entweder schweigend oder mit der
Bemerkung, dass er nicht weiter lesen könne. Nach einer
kurzen Pause ging es wieder mit dem Lesen, aber er
brachte, ebenso wie im Anfang, immer nur wenige Worte
hintereinander heraus.

Es fragte sich nun, ob die eigenthümliche Lese-
störung in diesem Falle nicht lediglich auf die Aphasie

und Kälte in beiden unteren Extremitäten. Dabei ist
die Bewegung vollkommen ungestört; weder Kopfweh
noch Schwindel. Am nächsten Tage stellt sich ein leichter
Grad von Aphasie ein, der Kranke findet nicht die rechten
Worte für das, was er sagen will, oder verwechselt die
Worte und dies versetzt ihn in eine sehr ärgerliche, reiz-
bare Stimmung. Dabei ist die Aussprache vollkommen
deutlich, auch sind keinerlei Bewegungsstörungen in der
Muskulatur der Zunge oder des Gesichts vorhanden. Der
Druck der Hand ist jederseits von normaler Stärke, aber
es besteht eine gewisse Unruhe in den Armen und den
Beinen. Ausserdem beklagt sich Patient über eine acut
entstandene Sehstörung, so zwar, dass er schwieriger
liest als sonst; auch schreibt er zittrig und mit veränderter
Handschrift. Puls und Herz normal, kein Eiweis im Urin.

Der Zustand hatte sich bis zum 14. September, an
welchem Tage ich den Kranken zum ersten Male sah,
wenig verändert, nur hatte sich die Aphasie beträchtlich
gebessert, während sich von neuem Pelzigsein und zwar
diesmal nur des rechten Beines, sowie eine Art Ungeschick-
lichkeit der rechten Hand eingestellt hatte.

Die augenärztliche Untersuchung ergab: Cornea,
Cammenwasser, Iris und Pupillen beiderseits normal; die
beiden Linsen im Zustande beginnender cataractöser Trü-
bung, doch konnte links noch Jäger No. 6, rechts Nr. 14
gelesen werden.

Beim Lesen mit beiden Augen zeigte sich nun fol-
gende Erscheinung: Patient las correct einige Worte, dann
gab er das Buch fort, entweder schweigend oder mit der
Bemerkung, dass er nicht weiter lesen könne. Nach einer
kurzen Pause ging es wieder mit dem Lesen, aber er
brachte, ebenso wie im Anfang, immer nur wenige Worte
hintereinander heraus.

Es fragte sich nun, ob die eigenthümliche Lese-
störung in diesem Falle nicht lediglich auf die Aphasie

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[9/0013] und Kälte in beiden unteren Extremitäten. Dabei ist die Bewegung vollkommen ungestört; weder Kopfweh noch Schwindel. Am nächsten Tage stellt sich ein leichter Grad von Aphasie ein, der Kranke findet nicht die rechten Worte für das, was er sagen will, oder verwechselt die Worte und dies versetzt ihn in eine sehr ärgerliche, reiz- bare Stimmung. Dabei ist die Aussprache vollkommen deutlich, auch sind keinerlei Bewegungsstörungen in der Muskulatur der Zunge oder des Gesichts vorhanden. Der Druck der Hand ist jederseits von normaler Stärke, aber es besteht eine gewisse Unruhe in den Armen und den Beinen. Ausserdem beklagt sich Patient über eine acut entstandene Sehstörung, so zwar, dass er schwieriger liest als sonst; auch schreibt er zittrig und mit veränderter Handschrift. Puls und Herz normal, kein Eiweis im Urin. Der Zustand hatte sich bis zum 14. September, an welchem Tage ich den Kranken zum ersten Male sah, wenig verändert, nur hatte sich die Aphasie beträchtlich gebessert, während sich von neuem Pelzigsein und zwar diesmal nur des rechten Beines, sowie eine Art Ungeschick- lichkeit der rechten Hand eingestellt hatte. Die augenärztliche Untersuchung ergab: Cornea, Cammenwasser, Iris und Pupillen beiderseits normal; die beiden Linsen im Zustande beginnender cataractöser Trü- bung, doch konnte links noch Jäger No. 6, rechts Nr. 14 gelesen werden. Beim Lesen mit beiden Augen zeigte sich nun fol- gende Erscheinung: Patient las correct einige Worte, dann gab er das Buch fort, entweder schweigend oder mit der Bemerkung, dass er nicht weiter lesen könne. Nach einer kurzen Pause ging es wieder mit dem Lesen, aber er brachte, ebenso wie im Anfang, immer nur wenige Worte hintereinander heraus. Es fragte sich nun, ob die eigenthümliche Lese- störung in diesem Falle nicht lediglich auf die Aphasie

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/13>, abgerufen am 19.04.2024.