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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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selbe als einen apoplectischen Anfall und es konnte sich
nach unserer Ansicht nur um Embolie oder Hirnblutung
handeln. Die Therapie bestand in Verordnung leichter
Kost, Aufenthalt im Freien, ohne zu gehen (Fahrstuhl),
Regulirung des Stuhlganges und ausserdem Digitalis. Von
mir aus wurde ein schwaches Convexglas verschrieben.

Ich habe die Patientin nur 2 mal wiedergesehen, das
erste Mal nach 8 Tagen. Damals war das Kopfweh und
der Schwindel entschieden gebessert, aber die Lesestö-
rung bestand unverändert fort. Ich will hier bemerken,
dass ich mich sowohl das erste Mal als auch bei der zwei-
ten Consultation auf das Eingehendste bemüht habe, zu
eruiren, welch' einen Einfluss etwa die geistige Ermüdung
auf die Lesestörung habe, resp. ob überhaupt eine schnelle
Ermüdung der geistigen Fähigkeiten eintrete. Ich habe
mich bis zu einer halben Stunde mit der Patientin unter-
halten und zwar über Gegenstände, welche Nachdenken
von ihrer Seite erforderten. Aber, obgleich sie gern und
fleissig sprach, so waren keinerlei Zeichen von Nachlass
ihrer geistigen Energie zu entdecken, vor Allem bestand
während der mündlichen Unterhaltung keinerlei Störung
im Sprechen; dieselbe war nur immer bei den Lesever-
suchen vorhanden, die Lesestörung bestand aber, wie ich
aussdrücklich hervorhebe, ebensowohl wenn die Patientin
für sich lesen wollte, als wenn sie vorlas und zeigte
stets dieselbe Form und Intensität.

Herr Dr. Deahna erhielt unabhängig von mir hin-
sichtlich der Untersuchung auf etwaige Ermüdung beim
Sprechen dieselben negativen Resultate. Drei Wochen
nach dem Auftreten der Erkrankung sah ich die Kranke
zum letzten Male, aber nur ganz flüchtig. Ich erfuhr von
ihr, dass das Lesen etwas besser gehe, konnte indessen
keine genügende Untersuchung über den Grad und die
Art dieser Besserung anstellen, da sie im Begriff stand,
zu verreisen.

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selbe als einen apoplectischen Anfall und es konnte sich
nach unserer Ansicht nur um Embolie oder Hirnblutung
handeln. Die Therapie bestand in Verordnung leichter
Kost, Aufenthalt im Freien, ohne zu gehen (Fahrstuhl),
Regulirung des Stuhlganges und ausserdem Digitalis. Von
mir aus wurde ein schwaches Convexglas verschrieben.

Ich habe die Patientin nur 2 mal wiedergesehen, das
erste Mal nach 8 Tagen. Damals war das Kopfweh und
der Schwindel entschieden gebessert, aber die Lesestö-
rung bestand unverändert fort. Ich will hier bemerken,
dass ich mich sowohl das erste Mal als auch bei der zwei-
ten Consultation auf das Eingehendste bemüht habe, zu
eruiren, welch’ einen Einfluss etwa die geistige Ermüdung
auf die Lesestörung habe, resp. ob überhaupt eine schnelle
Ermüdung der geistigen Fähigkeiten eintrete. Ich habe
mich bis zu einer halben Stunde mit der Patientin unter-
halten und zwar über Gegenstände, welche Nachdenken
von ihrer Seite erforderten. Aber, obgleich sie gern und
fleissig sprach, so waren keinerlei Zeichen von Nachlass
ihrer geistigen Energie zu entdecken, vor Allem bestand
während der mündlichen Unterhaltung keinerlei Störung
im Sprechen; dieselbe war nur immer bei den Lesever-
suchen vorhanden, die Lesestörung bestand aber, wie ich
aussdrücklich hervorhebe, ebensowohl wenn die Patientin
für sich lesen wollte, als wenn sie vorlas und zeigte
stets dieselbe Form und Intensität.

Herr Dr. Deahna erhielt unabhängig von mir hin-
sichtlich der Untersuchung auf etwaige Ermüdung beim
Sprechen dieselben negativen Resultate. Drei Wochen
nach dem Auftreten der Erkrankung sah ich die Kranke
zum letzten Male, aber nur ganz flüchtig. Ich erfuhr von
ihr, dass das Lesen etwas besser gehe, konnte indessen
keine genügende Untersuchung über den Grad und die
Art dieser Besserung anstellen, da sie im Begriff stand,
zu verreisen.

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[19/0023] selbe als einen apoplectischen Anfall und es konnte sich nach unserer Ansicht nur um Embolie oder Hirnblutung handeln. Die Therapie bestand in Verordnung leichter Kost, Aufenthalt im Freien, ohne zu gehen (Fahrstuhl), Regulirung des Stuhlganges und ausserdem Digitalis. Von mir aus wurde ein schwaches Convexglas verschrieben. Ich habe die Patientin nur 2 mal wiedergesehen, das erste Mal nach 8 Tagen. Damals war das Kopfweh und der Schwindel entschieden gebessert, aber die Lesestö- rung bestand unverändert fort. Ich will hier bemerken, dass ich mich sowohl das erste Mal als auch bei der zwei- ten Consultation auf das Eingehendste bemüht habe, zu eruiren, welch’ einen Einfluss etwa die geistige Ermüdung auf die Lesestörung habe, resp. ob überhaupt eine schnelle Ermüdung der geistigen Fähigkeiten eintrete. Ich habe mich bis zu einer halben Stunde mit der Patientin unter- halten und zwar über Gegenstände, welche Nachdenken von ihrer Seite erforderten. Aber, obgleich sie gern und fleissig sprach, so waren keinerlei Zeichen von Nachlass ihrer geistigen Energie zu entdecken, vor Allem bestand während der mündlichen Unterhaltung keinerlei Störung im Sprechen; dieselbe war nur immer bei den Lesever- suchen vorhanden, die Lesestörung bestand aber, wie ich aussdrücklich hervorhebe, ebensowohl wenn die Patientin für sich lesen wollte, als wenn sie vorlas und zeigte stets dieselbe Form und Intensität. Herr Dr. Deahna erhielt unabhängig von mir hin- sichtlich der Untersuchung auf etwaige Ermüdung beim Sprechen dieselben negativen Resultate. Drei Wochen nach dem Auftreten der Erkrankung sah ich die Kranke zum letzten Male, aber nur ganz flüchtig. Ich erfuhr von ihr, dass das Lesen etwas besser gehe, konnte indessen keine genügende Untersuchung über den Grad und die Art dieser Besserung anstellen, da sie im Begriff stand, zu verreisen. 2*

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/23>, abgerufen am 28.03.2024.