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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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tes aufweisen, um eine brauchbare Basis für weitere
Beobachtungen abzugeben.

Was zunächst die Form des Lesestörung angeht,
so bestand sie in allen Fällen gleichmässig darin, dass
Patient nur wenige Worte, von mittlerem Druck
etwa 3 bis 5, hintereinander laut lesen konnte.

Diese wenigen Worte wurden ganz correct wiedergegeben,
nie kam eine Verdrehung oder Verstümmelung eines der-
selben zu Tage. Die gleiche Unfähigkeit, weiter zu lesen,
trat aber auch ein, wenn der Kranke für sich las. Nach
einer Pause von einigen Secunden konnte er wieder, wie
vorher, von jedem Druck einige Worte herausbringen,
es war ihm indessen nicht möglich, aus diesen kleinen
unterbrochenen Leistungen eine grössere, wirkliche Ge-
sammtleistung zusammen zu setzen. Dabei war die Sprache
bei mündlicher Unterhaltung in jeder Richtung intact.

Diese Störung des Lesens hat auf den ersten Blick
eine grosse Ähnlichkeit mit derjenigen Störung der Nahe-
arbeit, welche wir unter dem Namen der Hebetudo visus,
Asthenopie oder Kopiopie, bei Presbyopischen, Hyper-
metropischen, bei Insufficienz der Musculi recti interni
und externi, bei Accommodationskrampf und bei Hysterie
etc. zu beobachten gewohnt sind. Sie trägt bei allen den
genannten Krankheitsformen das Gepräge der vermin-
derten Ausdauer,
hat aber durchgängig andere, mehr
oder weniger characteristische Formen, welche dem Patien-
ten selber in der Regel als Verschwimmen der Buch-
staben oder als Schmerzen im Auge oder um dasselbe
herum zum Bewusstsein kommen.

Von derartigen subjectiven Symptomen, welche das
Unvermögen, weiter zu lesen eingeleitet, oder hervorge-
rufen hätten, war hier indessen nicht die Rede; das Un-
vermögen war nach dem Lesen weniger Worte mit einem
Male da und nur die Gebärden, mit welchen die Kranken
das Buch zurückgaben oder wegzulegen pflegten, verriethen

tes aufweisen, um eine brauchbare Basis für weitere
Beobachtungen abzugeben.

Was zunächst die Form des Lesestörung angeht,
so bestand sie in allen Fällen gleichmässig darin, dass
Patient nur wenige Worte, von mittlerem Druck
etwa 3 bis 5, hintereinander laut lesen konnte.

Diese wenigen Worte wurden ganz correct wiedergegeben,
nie kam eine Verdrehung oder Verstümmelung eines der-
selben zu Tage. Die gleiche Unfähigkeit, weiter zu lesen,
trat aber auch ein, wenn der Kranke für sich las. Nach
einer Pause von einigen Secunden konnte er wieder, wie
vorher, von jedem Druck einige Worte herausbringen,
es war ihm indessen nicht möglich, aus diesen kleinen
unterbrochenen Leistungen eine grössere, wirkliche Ge-
sammtleistung zusammen zu setzen. Dabei war die Sprache
bei mündlicher Unterhaltung in jeder Richtung intact.

Diese Störung des Lesens hat auf den ersten Blick
eine grosse Ähnlichkeit mit derjenigen Störung der Nahe-
arbeit, welche wir unter dem Namen der Hebetudo visus,
Asthenopie oder Kopiopie, bei Presbyopischen, Hyper-
metropischen, bei Insufficienz der Musculi recti interni
und externi, bei Accommodationskrampf und bei Hysterie
etc. zu beobachten gewohnt sind. Sie trägt bei allen den
genannten Krankheitsformen das Gepräge der vermin-
derten Ausdauer,
hat aber durchgängig andere, mehr
oder weniger characteristische Formen, welche dem Patien-
ten selber in der Regel als Verschwimmen der Buch-
staben oder als Schmerzen im Auge oder um dasselbe
herum zum Bewusstsein kommen.

Von derartigen subjectiven Symptomen, welche das
Unvermögen, weiter zu lesen eingeleitet, oder hervorge-
rufen hätten, war hier indessen nicht die Rede; das Un-
vermögen war nach dem Lesen weniger Worte mit einem
Male da und nur die Gebärden, mit welchen die Kranken
das Buch zurückgaben oder wegzulegen pflegten, verriethen

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[30/0034] tes aufweisen, um eine brauchbare Basis für weitere Beobachtungen abzugeben. Was zunächst die Form des Lesestörung angeht, so bestand sie in allen Fällen gleichmässig darin, dass Patient nur wenige Worte, von mittlerem Druck etwa 3 bis 5, hintereinander laut lesen konnte. Diese wenigen Worte wurden ganz correct wiedergegeben, nie kam eine Verdrehung oder Verstümmelung eines der- selben zu Tage. Die gleiche Unfähigkeit, weiter zu lesen, trat aber auch ein, wenn der Kranke für sich las. Nach einer Pause von einigen Secunden konnte er wieder, wie vorher, von jedem Druck einige Worte herausbringen, es war ihm indessen nicht möglich, aus diesen kleinen unterbrochenen Leistungen eine grössere, wirkliche Ge- sammtleistung zusammen zu setzen. Dabei war die Sprache bei mündlicher Unterhaltung in jeder Richtung intact. Diese Störung des Lesens hat auf den ersten Blick eine grosse Ähnlichkeit mit derjenigen Störung der Nahe- arbeit, welche wir unter dem Namen der Hebetudo visus, Asthenopie oder Kopiopie, bei Presbyopischen, Hyper- metropischen, bei Insufficienz der Musculi recti interni und externi, bei Accommodationskrampf und bei Hysterie etc. zu beobachten gewohnt sind. Sie trägt bei allen den genannten Krankheitsformen das Gepräge der vermin- derten Ausdauer, hat aber durchgängig andere, mehr oder weniger characteristische Formen, welche dem Patien- ten selber in der Regel als Verschwimmen der Buch- staben oder als Schmerzen im Auge oder um dasselbe herum zum Bewusstsein kommen. Von derartigen subjectiven Symptomen, welche das Unvermögen, weiter zu lesen eingeleitet, oder hervorge- rufen hätten, war hier indessen nicht die Rede; das Un- vermögen war nach dem Lesen weniger Worte mit einem Male da und nur die Gebärden, mit welchen die Kranken das Buch zurückgaben oder wegzulegen pflegten, verriethen

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/34>, abgerufen am 24.04.2024.