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Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883.

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vollziehen, nicht aber von vornherein zu sagen, die bestehenden
Gesetze, die ich noch gar nicht bis an die Grenze der Macht-
vollkommenheit, die man mir gewährt, erschöpft habe, genügen
mir nicht, und ich klage also die bestehende Gesetzgebung an.

Ich habe unsere bestehende strafrechtliche Gesetzgebung
verglichen mit der der übrigen europäischen Culturstaaten und
habe gefunden, daß diese verschiedenen Legislationen sich alle
ungefähr auf gleichem Niveau bewegen, und daß unsere deutsche
Gesetzgebung nicht eigentlich zu den mildesten gehört. Unsere
Gesetze bestimmen ganz genau, wie auf die Vagabunden ge-
fahndet werden kann, wie sie anzuzeigen sind, wie der Rückfall
bestraft werden soll, wie es mit dem Strafvollzug gehalten werden
soll. In allen diesen Dingen finden wir bei der Execution, welche
der Regierung obliegt, allerlei Mängel, und diese Mängel werden
kaum noch bestritten.

Unsere Verwaltungs- und Polizeibehörden, sie mögen Staats-
oder Selbstverwaltungsorgane sein, genügen in dem Fahnden
und der Anklage der Vagabunden keineswegs allen denjenigen
Vorschriften, die das Gesetz außtellt. Es wird namentlich nicht
ausreichend gesorgt dafür, daß die Identität der Person der
Vagabunden festgestellt wird, und das ist ja das einzige Mittel,
um die Rückfälligkeit festzustellen, worauf so außerordentlich
viel ankommt.

Ebenso ist der eigentliche Strafvollzug ein außerordentlich
mangelhafter.

Es ist für bestrafte, namentlich für rückfällige Vagabunden
ein ganz anderer Strafvollzug nöthig, als für andere Bestrafte
und für Verbrecher. Man muß die Vagabunden wieder an die
Arbeit gewöhnen, man muß ihnen ihre Willenskraft, ihre mo-
ralische Individualität wiedergeben, ihnen Mittel an die Hand geben,
sich aus dieser Indolenz, aus dieser Versunkenheit, aus diesem
Schlaraffenleben, aus diesem willen- und thatlosen Sichgehnlassen
wieder herauszureißen. Dafür geschieht aber in unserem gegen-
wärtigen Strafvollzug wenig oder gar nichts.

Bevor man also Anklagen gegen die volkswirthschaftliche
Gesetzgebung erhebt, sollte vor allen Dingen die Volksvertretung
wie die Regierung einmal prüfen, ob die letztere diejenigen
Mittel, die ihr das Gesetz an die Hand giebt, in erschöpfender
Weise anwendet. Davon ist in unseren parlamentarischen Ver-

vollziehen, nicht aber von vornherein zu sagen, die bestehenden
Gesetze, die ich noch gar nicht bis an die Grenze der Macht-
vollkommenheit, die man mir gewährt, erschöpft habe, genügen
mir nicht, und ich klage also die bestehende Gesetzgebung an.

Ich habe unsere bestehende strafrechtliche Gesetzgebung
verglichen mit der der übrigen europäischen Culturstaaten und
habe gefunden, daß diese verschiedenen Legislationen sich alle
ungefähr auf gleichem Niveau bewegen, und daß unsere deutsche
Gesetzgebung nicht eigentlich zu den mildesten gehört. Unsere
Gesetze bestimmen ganz genau, wie auf die Vagabunden ge-
fahndet werden kann, wie sie anzuzeigen sind, wie der Rückfall
bestraft werden soll, wie es mit dem Strafvollzug gehalten werden
soll. In allen diesen Dingen finden wir bei der Execution, welche
der Regierung obliegt, allerlei Mängel, und diese Mängel werden
kaum noch bestritten.

Unsere Verwaltungs- und Polizeibehörden, sie mögen Staats-
oder Selbstverwaltungsorgane sein, genügen in dem Fahnden
und der Anklage der Vagabunden keineswegs allen denjenigen
Vorschriften, die das Gesetz außtellt. Es wird namentlich nicht
ausreichend gesorgt dafür, daß die Identität der Person der
Vagabunden festgestellt wird, und das ist ja das einzige Mittel,
um die Rückfälligkeit festzustellen, worauf so außerordentlich
viel ankommt.

Ebenso ist der eigentliche Strafvollzug ein außerordentlich
mangelhafter.

Es ist für bestrafte, namentlich für rückfällige Vagabunden
ein ganz anderer Strafvollzug nöthig, als für andere Bestrafte
und für Verbrecher. Man muß die Vagabunden wieder an die
Arbeit gewöhnen, man muß ihnen ihre Willenskraft, ihre mo-
ralische Individualität wiedergeben, ihnen Mittel an die Hand geben,
sich aus dieser Indolenz, aus dieser Versunkenheit, aus diesem
Schlaraffenleben, aus diesem willen- und thatlosen Sichgehnlassen
wieder herauszureißen. Dafür geschieht aber in unserem gegen-
wärtigen Strafvollzug wenig oder gar nichts.

Bevor man also Anklagen gegen die volkswirthschaftliche
Gesetzgebung erhebt, sollte vor allen Dingen die Volksvertretung
wie die Regierung einmal prüfen, ob die letztere diejenigen
Mittel, die ihr das Gesetz an die Hand giebt, in erschöpfender
Weise anwendet. Davon ist in unseren parlamentarischen Ver-

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[6/0008] vollziehen, nicht aber von vornherein zu sagen, die bestehenden Gesetze, die ich noch gar nicht bis an die Grenze der Macht- vollkommenheit, die man mir gewährt, erschöpft habe, genügen mir nicht, und ich klage also die bestehende Gesetzgebung an. Ich habe unsere bestehende strafrechtliche Gesetzgebung verglichen mit der der übrigen europäischen Culturstaaten und habe gefunden, daß diese verschiedenen Legislationen sich alle ungefähr auf gleichem Niveau bewegen, und daß unsere deutsche Gesetzgebung nicht eigentlich zu den mildesten gehört. Unsere Gesetze bestimmen ganz genau, wie auf die Vagabunden ge- fahndet werden kann, wie sie anzuzeigen sind, wie der Rückfall bestraft werden soll, wie es mit dem Strafvollzug gehalten werden soll. In allen diesen Dingen finden wir bei der Execution, welche der Regierung obliegt, allerlei Mängel, und diese Mängel werden kaum noch bestritten. Unsere Verwaltungs- und Polizeibehörden, sie mögen Staats- oder Selbstverwaltungsorgane sein, genügen in dem Fahnden und der Anklage der Vagabunden keineswegs allen denjenigen Vorschriften, die das Gesetz außtellt. Es wird namentlich nicht ausreichend gesorgt dafür, daß die Identität der Person der Vagabunden festgestellt wird, und das ist ja das einzige Mittel, um die Rückfälligkeit festzustellen, worauf so außerordentlich viel ankommt. Ebenso ist der eigentliche Strafvollzug ein außerordentlich mangelhafter. Es ist für bestrafte, namentlich für rückfällige Vagabunden ein ganz anderer Strafvollzug nöthig, als für andere Bestrafte und für Verbrecher. Man muß die Vagabunden wieder an die Arbeit gewöhnen, man muß ihnen ihre Willenskraft, ihre mo- ralische Individualität wiedergeben, ihnen Mittel an die Hand geben, sich aus dieser Indolenz, aus dieser Versunkenheit, aus diesem Schlaraffenleben, aus diesem willen- und thatlosen Sichgehnlassen wieder herauszureißen. Dafür geschieht aber in unserem gegen- wärtigen Strafvollzug wenig oder gar nichts. Bevor man also Anklagen gegen die volkswirthschaftliche Gesetzgebung erhebt, sollte vor allen Dingen die Volksvertretung wie die Regierung einmal prüfen, ob die letztere diejenigen Mittel, die ihr das Gesetz an die Hand giebt, in erschöpfender Weise anwendet. Davon ist in unseren parlamentarischen Ver-

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Zitationshilfe: Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/8>, abgerufen am 20.04.2024.