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[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.

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meisten jener Volkslieder gedichtet; seit undenklichen Zeiten sind sie in Aller Munde, aber namen- und vaterlos wissen sie den nicht anzugeben, der sie zuerst articulirt; die Gewähr ihres innern Lebens tragen sie in ihrer Vollendung, und bedürfen dazu nicht eines fremden Lebens, daß es ihnen Zeugniß gebe. Einmal hervorgegangen überraschten sie durch ihre Volksmäßigkeit die Menge, daß die Nation in ihrer Gesammtheit sie adoptirte, und Vaterstelle bey ihnen vertreten wollte; aber eben dadurch muß es uns auch wahrscheinlich bedünken, daß sie meist Kinder der Liebe und einer augenblicklichen Begeisterung sind. Ohne Zweifel sind manche dieser Lieder von Geistern ausgeworfen worden, die nicht vorher und nicht hernach weiter mehr gedichtet haben. Einer der hellen, klaren, lichten Lebensmomente war ergriffen worden, und aus ihm sprang der blaue Blitzesfunken in einem Schlag hervor, und fernhin sprühte der ganze Umkreis im electrischen Lichte. Die ganze Menge fühlte sich erregt, ohne viel zu fragen, woher ihr der Schlag gekommen sey. Viele sagen ausdrücklich, wie sie bey Weine und in froher Lust des Lebens geworden; die meisten der melancholischen sind so geradehin aus dem Herzen übergetreten, wie die Thräne, wenn die Augen übergehen, ausbricht und überfließt, sie sind ein Schluchzen oft aus innerster Brust hervor, das der Weinende lieber zurückhalten möchte; scherzhaft aber stillt Eines die Nachfrage um den Ursprung durch die Antwort, es habens drey Gänse über das Wasser gebracht. Beynahe alle mußten aufhören, Privateigenthum zu seyn, ehe sie öffentliches Gut werden konnten, und an vielen auch hat die Gemeinde ohne allen Zweifel ihr Recht ausgeübt, und sie mannichfaltig nach der herrschenden Temperatur und Stimmung umgebildet. Die Limpurger Chronik erzählt gar viel von den mancherley Liedern, die zu verschiednen Zeiten am Rhein und an der Lahn gesungen worden; wie die Musikweisen zugleich mit dem Jnhalt der Lieder häufig gewechselt, wie besonders die Gesänge eines fränkischen Bruders zu einer gewissen Zeit in Aller Mund gewesen seyn. Ein

meisten jener Volkslieder gedichtet; seit undenklichen Zeiten sind sie in Aller Munde, aber namen- und vaterlos wissen sie den nicht anzugeben, der sie zuerst articulirt; die Gewaͤhr ihres innern Lebens tragen sie in ihrer Vollendung, und beduͤrfen dazu nicht eines fremden Lebens, daß es ihnen Zeugniß gebe. Einmal hervorgegangen uͤberraschten sie durch ihre Volksmaͤßigkeit die Menge, daß die Nation in ihrer Gesammtheit sie adoptirte, und Vaterstelle bey ihnen vertreten wollte; aber eben dadurch muß es uns auch wahrscheinlich beduͤnken, daß sie meist Kinder der Liebe und einer augenblicklichen Begeisterung sind. Ohne Zweifel sind manche dieser Lieder von Geistern ausgeworfen worden, die nicht vorher und nicht hernach weiter mehr gedichtet haben. Einer der hellen, klaren, lichten Lebensmomente war ergriffen worden, und aus ihm sprang der blaue Blitzesfunken in einem Schlag hervor, und fernhin spruͤhte der ganze Umkreis im electrischen Lichte. Die ganze Menge fuͤhlte sich erregt, ohne viel zu fragen, woher ihr der Schlag gekommen sey. Viele sagen ausdruͤcklich, wie sie bey Weine und in froher Lust des Lebens geworden; die meisten der melancholischen sind so geradehin aus dem Herzen uͤbergetreten, wie die Thraͤne, wenn die Augen uͤbergehen, ausbricht und uͤberfließt, sie sind ein Schluchzen oft aus innerster Brust hervor, das der Weinende lieber zuruͤckhalten moͤchte; scherzhaft aber stillt Eines die Nachfrage um den Ursprung durch die Antwort, es habens drey Gaͤnse uͤber das Wasser gebracht. Beynahe alle mußten aufhoͤren, Privateigenthum zu seyn, ehe sie oͤffentliches Gut werden konnten, und an vielen auch hat die Gemeinde ohne allen Zweifel ihr Recht ausgeuͤbt, und sie mannichfaltig nach der herrschenden Temperatur und Stimmung umgebildet. Die Limpurger Chronik erzaͤhlt gar viel von den mancherley Liedern, die zu verschiednen Zeiten am Rhein und an der Lahn gesungen worden; wie die Musikweisen zugleich mit dem Jnhalt der Lieder haͤufig gewechselt, wie besonders die Gesaͤnge eines fraͤnkischen Bruders zu einer gewissen Zeit in Aller Mund gewesen seyn. Ein

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[230/0010] meisten jener Volkslieder gedichtet; seit undenklichen Zeiten sind sie in Aller Munde, aber namen- und vaterlos wissen sie den nicht anzugeben, der sie zuerst articulirt; die Gewaͤhr ihres innern Lebens tragen sie in ihrer Vollendung, und beduͤrfen dazu nicht eines fremden Lebens, daß es ihnen Zeugniß gebe. Einmal hervorgegangen uͤberraschten sie durch ihre Volksmaͤßigkeit die Menge, daß die Nation in ihrer Gesammtheit sie adoptirte, und Vaterstelle bey ihnen vertreten wollte; aber eben dadurch muß es uns auch wahrscheinlich beduͤnken, daß sie meist Kinder der Liebe und einer augenblicklichen Begeisterung sind. Ohne Zweifel sind manche dieser Lieder von Geistern ausgeworfen worden, die nicht vorher und nicht hernach weiter mehr gedichtet haben. Einer der hellen, klaren, lichten Lebensmomente war ergriffen worden, und aus ihm sprang der blaue Blitzesfunken in einem Schlag hervor, und fernhin spruͤhte der ganze Umkreis im electrischen Lichte. Die ganze Menge fuͤhlte sich erregt, ohne viel zu fragen, woher ihr der Schlag gekommen sey. Viele sagen ausdruͤcklich, wie sie bey Weine und in froher Lust des Lebens geworden; die meisten der melancholischen sind so geradehin aus dem Herzen uͤbergetreten, wie die Thraͤne, wenn die Augen uͤbergehen, ausbricht und uͤberfließt, sie sind ein Schluchzen oft aus innerster Brust hervor, das der Weinende lieber zuruͤckhalten moͤchte; scherzhaft aber stillt Eines die Nachfrage um den Ursprung durch die Antwort, es habens drey Gaͤnse uͤber das Wasser gebracht. Beynahe alle mußten aufhoͤren, Privateigenthum zu seyn, ehe sie oͤffentliches Gut werden konnten, und an vielen auch hat die Gemeinde ohne allen Zweifel ihr Recht ausgeuͤbt, und sie mannichfaltig nach der herrschenden Temperatur und Stimmung umgebildet. Die Limpurger Chronik erzaͤhlt gar viel von den mancherley Liedern, die zu verschiednen Zeiten am Rhein und an der Lahn gesungen worden; wie die Musikweisen zugleich mit dem Jnhalt der Lieder haͤufig gewechselt, wie besonders die Gesaͤnge eines fraͤnkischen Bruders zu einer gewissen Zeit in Aller Mund gewesen seyn. Ein

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Zitationshilfe: [Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/10>, abgerufen am 28.03.2024.