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[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.

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Metallglanz weißt die Ansprüche und reine Formen in den spielenden Reflexen ab: damit sie die Grundlage ihres Wesens einigermaßen doch begreife, muß sie sich selbst in den Formen größerer Gebundenheit aufsuchen, wo sie noch schärferen Schnitt gezeigt. Hat die Muschel ihre Perle hervorgebracht, dann mag sie selbst verwesen, ihr Kleinod bleibt zurück im Perlmutterglanze liegend. Viele solcher Perlen sind hier in eine Schnur gereiht, ihr Bestes haben viele auf einander folgende Zeitalter dargebracht, indem sie vorübergegangen, ein bedeutender Ueberrest vom Leben und Dichten und Trachten der Nation ist hier aufbewahrt, und es möchte nicht schwer seyn, die allgemeinen Lineamente ihrer Persönlichkeit aus diesen Elementen heraus zu zeichnen. Ein flüchtiger Entwurf zu dieser Zeichnung wird uns zugleich auch zur nähern Betrachtung der vorliegenden Blätter überführen.

Wie um den Anfang des Jahres die zwölf Merktage liegen, in denen sich die Witterung für die zwölf Monate entscheidet, so fallen in die Kindheit die Merktage für das Leben der Völker und Jndividuen, in denen vorbedeutet wird, was künftig daraus werden soll. Da ist die Weihnacht der Nation, da muß ihr guter Stern über der Wiege am Himmel stehen; dann kommen die Hirten und Weisen und bringen ihre Gaben, und das wackere Kind wächst auch zum wackeren Manne auf. Das Andenken dieser eignen Jugendfeyer erbleicht wohl jeder Generation in der Erinnerung, aber es wird jedesmal in ihrem Verhältnisse zu den Folgenden wieder aufgefrischt, und so spiegelt sich die Jugend des Volkes immer von neuem wieder in diesen Beziehungen und ihre Poesie in den zarten Spielen, in denen sich die lebende Kinderwelt durch ihre Anschauung durchbewegt. Von dieser Seite muß man den Deutschen eine schöne fröhliche Jugend zuerkennen, und wir führen zum Zeugniß für diese Aussage gleich zuerst die Kinderlieder im Anhange des Wunderhornes auf. Vom ersten einsilbigten Lallen der Poesie an, vom ersten Flügelschlage der Phantasie noch in der Mutter Neste bis zur Zurückbildung

Metallglanz weißt die Anspruͤche und reine Formen in den spielenden Reflexen ab: damit sie die Grundlage ihres Wesens einigermaßen doch begreife, muß sie sich selbst in den Formen groͤßerer Gebundenheit aufsuchen, wo sie noch schaͤrferen Schnitt gezeigt. Hat die Muschel ihre Perle hervorgebracht, dann mag sie selbst verwesen, ihr Kleinod bleibt zuruͤck im Perlmutterglanze liegend. Viele solcher Perlen sind hier in eine Schnur gereiht, ihr Bestes haben viele auf einander folgende Zeitalter dargebracht, indem sie voruͤbergegangen, ein bedeutender Ueberrest vom Leben und Dichten und Trachten der Nation ist hier aufbewahrt, und es moͤchte nicht schwer seyn, die allgemeinen Lineamente ihrer Persoͤnlichkeit aus diesen Elementen heraus zu zeichnen. Ein fluͤchtiger Entwurf zu dieser Zeichnung wird uns zugleich auch zur naͤhern Betrachtung der vorliegenden Blaͤtter uͤberfuͤhren.

Wie um den Anfang des Jahres die zwoͤlf Merktage liegen, in denen sich die Witterung fuͤr die zwoͤlf Monate entscheidet, so fallen in die Kindheit die Merktage fuͤr das Leben der Voͤlker und Jndividuen, in denen vorbedeutet wird, was kuͤnftig daraus werden soll. Da ist die Weihnacht der Nation, da muß ihr guter Stern uͤber der Wiege am Himmel stehen; dann kommen die Hirten und Weisen und bringen ihre Gaben, und das wackere Kind waͤchst auch zum wackeren Manne auf. Das Andenken dieser eignen Jugendfeyer erbleicht wohl jeder Generation in der Erinnerung, aber es wird jedesmal in ihrem Verhaͤltnisse zu den Folgenden wieder aufgefrischt, und so spiegelt sich die Jugend des Volkes immer von neuem wieder in diesen Beziehungen und ihre Poesie in den zarten Spielen, in denen sich die lebende Kinderwelt durch ihre Anschauung durchbewegt. Von dieser Seite muß man den Deutschen eine schoͤne froͤhliche Jugend zuerkennen, und wir fuͤhren zum Zeugniß fuͤr diese Aussage gleich zuerst die Kinderlieder im Anhange des Wunderhornes auf. Vom ersten einsilbigten Lallen der Poesie an, vom ersten Fluͤgelschlage der Phantasie noch in der Mutter Neste bis zur Zuruͤckbildung

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[233/0013] Metallglanz weißt die Anspruͤche und reine Formen in den spielenden Reflexen ab: damit sie die Grundlage ihres Wesens einigermaßen doch begreife, muß sie sich selbst in den Formen groͤßerer Gebundenheit aufsuchen, wo sie noch schaͤrferen Schnitt gezeigt. Hat die Muschel ihre Perle hervorgebracht, dann mag sie selbst verwesen, ihr Kleinod bleibt zuruͤck im Perlmutterglanze liegend. Viele solcher Perlen sind hier in eine Schnur gereiht, ihr Bestes haben viele auf einander folgende Zeitalter dargebracht, indem sie voruͤbergegangen, ein bedeutender Ueberrest vom Leben und Dichten und Trachten der Nation ist hier aufbewahrt, und es moͤchte nicht schwer seyn, die allgemeinen Lineamente ihrer Persoͤnlichkeit aus diesen Elementen heraus zu zeichnen. Ein fluͤchtiger Entwurf zu dieser Zeichnung wird uns zugleich auch zur naͤhern Betrachtung der vorliegenden Blaͤtter uͤberfuͤhren. Wie um den Anfang des Jahres die zwoͤlf Merktage liegen, in denen sich die Witterung fuͤr die zwoͤlf Monate entscheidet, so fallen in die Kindheit die Merktage fuͤr das Leben der Voͤlker und Jndividuen, in denen vorbedeutet wird, was kuͤnftig daraus werden soll. Da ist die Weihnacht der Nation, da muß ihr guter Stern uͤber der Wiege am Himmel stehen; dann kommen die Hirten und Weisen und bringen ihre Gaben, und das wackere Kind waͤchst auch zum wackeren Manne auf. Das Andenken dieser eignen Jugendfeyer erbleicht wohl jeder Generation in der Erinnerung, aber es wird jedesmal in ihrem Verhaͤltnisse zu den Folgenden wieder aufgefrischt, und so spiegelt sich die Jugend des Volkes immer von neuem wieder in diesen Beziehungen und ihre Poesie in den zarten Spielen, in denen sich die lebende Kinderwelt durch ihre Anschauung durchbewegt. Von dieser Seite muß man den Deutschen eine schoͤne froͤhliche Jugend zuerkennen, und wir fuͤhren zum Zeugniß fuͤr diese Aussage gleich zuerst die Kinderlieder im Anhange des Wunderhornes auf. Vom ersten einsilbigten Lallen der Poesie an, vom ersten Fluͤgelschlage der Phantasie noch in der Mutter Neste bis zur Zuruͤckbildung

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Zitationshilfe: [Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/13>, abgerufen am 28.03.2024.