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Krüger, Elsa; Lengefeld, Selma von: Über Wahlrecht und Wahlpflicht der deutschen Frau. Weimar, 1918.

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Berücksichtigung des Alters, des Vermögens und der Lebensstellung.
Das Gegenteil vom Einstimmenwahlrecht ist das Plural- oder Mehr-
stimmenwahlrecht. Durch dieses erhalten gewisse Wähler, wenn sie
ein bestimmtes Alter erreicht haben, Grundbesitzer sind, öffentliche
Ämter bekleiden, große Vermögen haben usw. eine oder mehrere
Zusatzstimmen. Diese Art des Wahlrechts hat den Zweck, der Ver-
schiedenheit unter den Menschen Rechnung zu tragen und der ab-
soluten Majoritätsherrschaft entgegen zu treten. Die Landtage der
Bundesstaaten hatten vielfach solche Wahlordnungen, in denen ein-
zelne Stände, Berufe oder Grund- und Vermögensbesitzer noch bevor-
zugt wurden. Am rückständigsten war das berüchtigte Dreiklassenwahlrecht
des preußischen Landtages, um dessen Beseitigung seit Jahren von
den fortschrittlichen und sozialdemokratischen Parteien gekämpft wurde.

Alle diese Einzelbestimmungen gehören der Vergangenheit an,
denn das für die Nationalversammlung festgesetzte Wahlrecht soll nun
auch für sämtliche Parlamente in den Bundesstaaten das allein
gültige sein. Für dieses neue Wahlrecht zur Nationalversammlung
ist die ehemalige Grundlage der Reichstagswahl, daß sie eine all-
gemeine, gleiche, geheime und direkte sein soll, beibehalten worden, denn sie
ist eine Voraussetzung der demokratischen Gleichheit. Neu ist dagegen
die Einführung des Verhältniswahlrechts, auch Proportionalwahl-
recht, kurz Proporz genannt. Nach diesem werden alle Deutschen
jetzt zu wählen haben, darum ist es notwendig, seine schwierige
Handhabung etwas ausführlicher zu erklären. Bisher ist die Ver-
hältniswahl in Deutschland nur bei einzelnen Organisationen, z. B.
für die Kaufmanns- und Gewerbegerichte, für die Reichsangestellten-
versicherung und die Krankenkassen, sowie in kleineren staatlichen
Gemeinschaften, z. B. für die Hamburger Bürgerschaftsvertretung und
den württembergischen Landtag angewandt worden. Für ein so
großes Gebiet, wie das Deutsche Reich es ist, wird diese Art der
Wahl überhaupt zum ersten Mal versucht.

Bei den bisher üblichen Wahlen stellten die verschiedenen Parteien
in einem Wahlkreis je einen Kandidaten auf, der Wähler gab für
einen derselben seine Stimme ab, und derjenige galt als gewählt,
der mehr Stimmen auf sich vereinigte, als die übrigen Kandidaten
seines Wahlkreises zusammen erhalten hatten. Wurde eine solche
absolute Majorität der Stimmen bei der ersten Wahl nicht erreicht,
so mußte noch eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten an-
gesetzt werden, welche die meisten Stimmen aufzuweisen hatten. Also
schließlich ging aus jedem Wahlkreis ein einzelner Abgeordneter her-
vor, und nur die Anschauung seiner Wähler war durch ihn im
Parlament vertreten, alle übrigen Wählerstimmen des Kreises kamen
nicht zur Geltung. Ein grundlegender Unterschied des Verhältnis-
wahlrechtes gegen diese alte Wahlform ist, daß nicht mehr einzelne
Kandidaten in kleineren Wahlkreisen aufgestellt und gewählt werden, son-
dern daß man größere Wahlbezirke macht und in diesen jede in ihnen ver-
tretene Partei je eine ganze Liste von Kandidaten zur Wahl aufstellen
läßt. Der Wähler hat sich für die Gesamtannahme solcher Liste einer Partei

Berücksichtigung des Alters, des Vermögens und der Lebensstellung.
Das Gegenteil vom Einstimmenwahlrecht ist das Plural- oder Mehr-
stimmenwahlrecht. Durch dieses erhalten gewisse Wähler, wenn sie
ein bestimmtes Alter erreicht haben, Grundbesitzer sind, öffentliche
Ämter bekleiden, große Vermögen haben usw. eine oder mehrere
Zusatzstimmen. Diese Art des Wahlrechts hat den Zweck, der Ver-
schiedenheit unter den Menschen Rechnung zu tragen und der ab-
soluten Majoritätsherrschaft entgegen zu treten. Die Landtage der
Bundesstaaten hatten vielfach solche Wahlordnungen, in denen ein-
zelne Stände, Berufe oder Grund- und Vermögensbesitzer noch bevor-
zugt wurden. Am rückständigsten war das berüchtigte Dreiklassenwahlrecht
des preußischen Landtages, um dessen Beseitigung seit Jahren von
den fortschrittlichen und sozialdemokratischen Parteien gekämpft wurde.

Alle diese Einzelbestimmungen gehören der Vergangenheit an,
denn das für die Nationalversammlung festgesetzte Wahlrecht soll nun
auch für sämtliche Parlamente in den Bundesstaaten das allein
gültige sein. Für dieses neue Wahlrecht zur Nationalversammlung
ist die ehemalige Grundlage der Reichstagswahl, daß sie eine all-
gemeine, gleiche, geheime und direkte sein soll, beibehalten worden, denn sie
ist eine Voraussetzung der demokratischen Gleichheit. Neu ist dagegen
die Einführung des Verhältniswahlrechts, auch Proportionalwahl-
recht, kurz Proporz genannt. Nach diesem werden alle Deutschen
jetzt zu wählen haben, darum ist es notwendig, seine schwierige
Handhabung etwas ausführlicher zu erklären. Bisher ist die Ver-
hältniswahl in Deutschland nur bei einzelnen Organisationen, z. B.
für die Kaufmanns- und Gewerbegerichte, für die Reichsangestellten-
versicherung und die Krankenkassen, sowie in kleineren staatlichen
Gemeinschaften, z. B. für die Hamburger Bürgerschaftsvertretung und
den württembergischen Landtag angewandt worden. Für ein so
großes Gebiet, wie das Deutsche Reich es ist, wird diese Art der
Wahl überhaupt zum ersten Mal versucht.

Bei den bisher üblichen Wahlen stellten die verschiedenen Parteien
in einem Wahlkreis je einen Kandidaten auf, der Wähler gab für
einen derselben seine Stimme ab, und derjenige galt als gewählt,
der mehr Stimmen auf sich vereinigte, als die übrigen Kandidaten
seines Wahlkreises zusammen erhalten hatten. Wurde eine solche
absolute Majorität der Stimmen bei der ersten Wahl nicht erreicht,
so mußte noch eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten an-
gesetzt werden, welche die meisten Stimmen aufzuweisen hatten. Also
schließlich ging aus jedem Wahlkreis ein einzelner Abgeordneter her-
vor, und nur die Anschauung seiner Wähler war durch ihn im
Parlament vertreten, alle übrigen Wählerstimmen des Kreises kamen
nicht zur Geltung. Ein grundlegender Unterschied des Verhältnis-
wahlrechtes gegen diese alte Wahlform ist, daß nicht mehr einzelne
Kandidaten in kleineren Wahlkreisen aufgestellt und gewählt werden, son-
dern daß man größere Wahlbezirke macht und in diesen jede in ihnen ver-
tretene Partei je eine ganze Liste von Kandidaten zur Wahl aufstellen
läßt. Der Wähler hat sich für die Gesamtannahme solcher Liste einer Partei

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[9/0009] Berücksichtigung des Alters, des Vermögens und der Lebensstellung. Das Gegenteil vom Einstimmenwahlrecht ist das Plural- oder Mehr- stimmenwahlrecht. Durch dieses erhalten gewisse Wähler, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, Grundbesitzer sind, öffentliche Ämter bekleiden, große Vermögen haben usw. eine oder mehrere Zusatzstimmen. Diese Art des Wahlrechts hat den Zweck, der Ver- schiedenheit unter den Menschen Rechnung zu tragen und der ab- soluten Majoritätsherrschaft entgegen zu treten. Die Landtage der Bundesstaaten hatten vielfach solche Wahlordnungen, in denen ein- zelne Stände, Berufe oder Grund- und Vermögensbesitzer noch bevor- zugt wurden. Am rückständigsten war das berüchtigte Dreiklassenwahlrecht des preußischen Landtages, um dessen Beseitigung seit Jahren von den fortschrittlichen und sozialdemokratischen Parteien gekämpft wurde. Alle diese Einzelbestimmungen gehören der Vergangenheit an, denn das für die Nationalversammlung festgesetzte Wahlrecht soll nun auch für sämtliche Parlamente in den Bundesstaaten das allein gültige sein. Für dieses neue Wahlrecht zur Nationalversammlung ist die ehemalige Grundlage der Reichstagswahl, daß sie eine all- gemeine, gleiche, geheime und direkte sein soll, beibehalten worden, denn sie ist eine Voraussetzung der demokratischen Gleichheit. Neu ist dagegen die Einführung des Verhältniswahlrechts, auch Proportionalwahl- recht, kurz Proporz genannt. Nach diesem werden alle Deutschen jetzt zu wählen haben, darum ist es notwendig, seine schwierige Handhabung etwas ausführlicher zu erklären. Bisher ist die Ver- hältniswahl in Deutschland nur bei einzelnen Organisationen, z. B. für die Kaufmanns- und Gewerbegerichte, für die Reichsangestellten- versicherung und die Krankenkassen, sowie in kleineren staatlichen Gemeinschaften, z. B. für die Hamburger Bürgerschaftsvertretung und den württembergischen Landtag angewandt worden. Für ein so großes Gebiet, wie das Deutsche Reich es ist, wird diese Art der Wahl überhaupt zum ersten Mal versucht. Bei den bisher üblichen Wahlen stellten die verschiedenen Parteien in einem Wahlkreis je einen Kandidaten auf, der Wähler gab für einen derselben seine Stimme ab, und derjenige galt als gewählt, der mehr Stimmen auf sich vereinigte, als die übrigen Kandidaten seines Wahlkreises zusammen erhalten hatten. Wurde eine solche absolute Majorität der Stimmen bei der ersten Wahl nicht erreicht, so mußte noch eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten an- gesetzt werden, welche die meisten Stimmen aufzuweisen hatten. Also schließlich ging aus jedem Wahlkreis ein einzelner Abgeordneter her- vor, und nur die Anschauung seiner Wähler war durch ihn im Parlament vertreten, alle übrigen Wählerstimmen des Kreises kamen nicht zur Geltung. Ein grundlegender Unterschied des Verhältnis- wahlrechtes gegen diese alte Wahlform ist, daß nicht mehr einzelne Kandidaten in kleineren Wahlkreisen aufgestellt und gewählt werden, son- dern daß man größere Wahlbezirke macht und in diesen jede in ihnen ver- tretene Partei je eine ganze Liste von Kandidaten zur Wahl aufstellen läßt. Der Wähler hat sich für die Gesamtannahme solcher Liste einer Partei

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-11-24T15:36:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-11-24T15:36:09Z)

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Zitationshilfe: Krüger, Elsa; Lengefeld, Selma von: Über Wahlrecht und Wahlpflicht der deutschen Frau. Weimar, 1918, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/krueger_wahlrecht_1918/9>, abgerufen am 23.04.2024.