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Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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"Der Himmel voll Wolken, Die Seele voll Leid! Geschieden, geschieden, Auf ewige Zeit!"

So sang, näher und näher klingend, eine morgenfrische Stimme in den trüben Tag hinein. War die Rose-Marie schon bei den ersten Worten erschrocken aus ihren Gedanken aufgefahren, so steigerte sich ihre Unruhe mit jedem folgenden, und ein beinahe feindseliger Blick streifte den ihr entgegenkommenden Sänger, einen harmlosen, ihr gänzlich fremden Wanderer, der es gewiß nicht auf sie "gemünzt", sondern nur gesungen hatte, was ihm eben, vielleicht beim Anblick des umwölbten Himmels, auf die Zunge gekommen war. Daß die Stimmung der Natur übrigens nicht die seines Innern, verrieth der muntre Schritt und das der dunklen Strophe folgende helle Pfeifen des Studenten, dessen Reiseziel gewiß noch irgendwo in den Sonnengegenden des Zufalls lag, oder das, wie man zu sagen pflegt, ins Blaue ging.

"Ade, mein Feinsliebchen!
Muß wandern nun gehn --
Du wirst mich nicht drunten,
Nicht droben mehr sehn.
So bleibe im Lande
Ich fahre zur See --
Nach Abend! nach Morgen!
Feinsliebchen -- ade!
Und droben am Tage
Vom jüngsten Gericht --"

Hier hielt der Sänger plötzlich ein, um sein buntes Käppchen zu ziehen und mit einer lustigen Studentenneckerei die ländliche Erscheinung zu begrüßen, der er mittlerweile nahe genug gekommen war, um sie "famos"

„Der Himmel voll Wolken, Die Seele voll Leid! Geschieden, geschieden, Auf ewige Zeit!“

So sang, näher und näher klingend, eine morgenfrische Stimme in den trüben Tag hinein. War die Rose-Marie schon bei den ersten Worten erschrocken aus ihren Gedanken aufgefahren, so steigerte sich ihre Unruhe mit jedem folgenden, und ein beinahe feindseliger Blick streifte den ihr entgegenkommenden Sänger, einen harmlosen, ihr gänzlich fremden Wanderer, der es gewiß nicht auf sie „gemünzt“, sondern nur gesungen hatte, was ihm eben, vielleicht beim Anblick des umwölbten Himmels, auf die Zunge gekommen war. Daß die Stimmung der Natur übrigens nicht die seines Innern, verrieth der muntre Schritt und das der dunklen Strophe folgende helle Pfeifen des Studenten, dessen Reiseziel gewiß noch irgendwo in den Sonnengegenden des Zufalls lag, oder das, wie man zu sagen pflegt, ins Blaue ging.

„Ade, mein Feinsliebchen!
Muß wandern nun gehn —
Du wirst mich nicht drunten,
Nicht droben mehr sehn.
So bleibe im Lande
Ich fahre zur See —
Nach Abend! nach Morgen!
Feinsliebchen — ade!
Und droben am Tage
Vom jüngsten Gericht —“

Hier hielt der Sänger plötzlich ein, um sein buntes Käppchen zu ziehen und mit einer lustigen Studentenneckerei die ländliche Erscheinung zu begrüßen, der er mittlerweile nahe genug gekommen war, um sie „famos“

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[0019] „Der Himmel voll Wolken, Die Seele voll Leid! Geschieden, geschieden, Auf ewige Zeit!“ So sang, näher und näher klingend, eine morgenfrische Stimme in den trüben Tag hinein. War die Rose-Marie schon bei den ersten Worten erschrocken aus ihren Gedanken aufgefahren, so steigerte sich ihre Unruhe mit jedem folgenden, und ein beinahe feindseliger Blick streifte den ihr entgegenkommenden Sänger, einen harmlosen, ihr gänzlich fremden Wanderer, der es gewiß nicht auf sie „gemünzt“, sondern nur gesungen hatte, was ihm eben, vielleicht beim Anblick des umwölbten Himmels, auf die Zunge gekommen war. Daß die Stimmung der Natur übrigens nicht die seines Innern, verrieth der muntre Schritt und das der dunklen Strophe folgende helle Pfeifen des Studenten, dessen Reiseziel gewiß noch irgendwo in den Sonnengegenden des Zufalls lag, oder das, wie man zu sagen pflegt, ins Blaue ging. „Ade, mein Feinsliebchen! Muß wandern nun gehn — Du wirst mich nicht drunten, Nicht droben mehr sehn. So bleibe im Lande Ich fahre zur See — Nach Abend! nach Morgen! Feinsliebchen — ade! Und droben am Tage Vom jüngsten Gericht —“ Hier hielt der Sänger plötzlich ein, um sein buntes Käppchen zu ziehen und mit einer lustigen Studentenneckerei die ländliche Erscheinung zu begrüßen, der er mittlerweile nahe genug gekommen war, um sie „famos“

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Zitationshilfe: Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/19>, abgerufen am 25.04.2024.