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Reichspost. Nr. 280, Wien, 06.12.1894.

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1. Jahrgang.



Redgetion, Administration,
Expedition
und Druckerei
VIII., Josefstädterstraße 14.




Stadtexpedition I., Schulerstr.,
Zeitungsbureau Weis.




Unfrankierte Briefe werden nicht an-
genommen; Manuscripte in der Regel
nicht zurückgestellt. Unverschlossene
Reclamationen sind portofrei.




Ankündigungs-Bureau:
VIII., Josefstädterstraße 14,
sowie bei dem Annoncenbureau für
kathol.-conserv. Blätter, Hubert
Friedl,
Wien V. 1.




Abonnements werden angenommen
außer in den Expeditionen bei
J. Heindl, I. Stephansplatz 7.




Erscheint täglich 6 Uhr abends
mit Ausnahme der Sonn- und
Feiertage.


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Wien, Donnerstag 6. December 1894.


Reichspost.
Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk Oesterreich-Ungarns.

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Nr. 280.



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ganzjährig ...... 15 kr.
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Bei Abholung in unserer Admini
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Länder des Weltpostvereines
viertelj. 6 fl. oder 10 Mark.




Telephon 1828.




[Spaltenumbruch]
Ueber Bord mit dem Ballast!

Das Ratenhandelsgesetz ist im Herrenhause seiner
werthvollsten Bestimmungen beraubt worden, das
Trunkenheitsgesetz liegt noch im Abgeordnetenhause und
kann nicht leben und nicht sterben, die Wahlreform-
frage wird im Ausschuß behandelt, als gelte es ein
völlig neues, noch niemals in der Welt behandeltes
Problem zu lösen, nur noch vier Wochen trennen uns
vom Jahresschluß und es hat noch nicht einmal der
Budgetausschuß recht mit seinen Arbeiten begonnen,
geschweige denn, daß das Haus etwa schon an das
Budget gegangen wäre, kur[z], die parlamentarische
Maschinerie arbeitet zwar unaufhörlich, aber sie er-
zeugt nichts. Trotz der Coalition sagen die Einen,
wegen der Coalition die Anderen.

Die Hauptursache der Stockung scheint nns in der
Frage der Wahlreform zu liegen. Im Augen-
blick, da diese aufgerollt war, war das jetzige Wahl-
system und war das jetzige Parlament zum Tode ver-
urtheilt. Wer nicht ein Brett vor den Kopf und Scheu-
leder vor den Augen und Ohren hat, erkannte das
auf den ersten Blick. Auch viele Abgeordnete fühlten
das und daher kam ja eben die furchtbare Wuth gegen
den Grafen Taaffe und den Dr. Steinbach.
Was am 10. October v. J. geschehen ist, läßt sich nicht
mehr ungeschehen machen, läßt sich nicht mehr aus dem
Bewußtsein, nicht mehr aus der Geschichte streichen. Die
Wahlreform muß gemacht werden, das sehen allgemach
selbst Graf Stadnicki, sogar Herr Josef Kopp
ein. Im Augenblicke, da aber das feststeht, steht auch
fest, daß das jetzige Abgeordnetenhaus zum Tode ver-
urtheilt ist. Zu glauben, daß man Hundertausende
von neuen Wählern schaffen und diese dann in das
alte Parlament hineinwählen lassen könnte, so wie
etwa ein armer Mann auf einen zerrissenen schwarzen
Rock einen braunen Fleck aufsetzt, das gehört zu den
Dingen, die sich zwar ein Coalierter, der für sein
Mandat zittert, wünschen kann, die aber vernünftige
Leute nicht ernsthaft discutiren. Es ist auch noch
niemals, in keinem Lande der Welt,

je vorgekommen, daß nach einer umfassenderen Aen-
derung des Wahlgesetzes das alte Parlament hätte
[Spaltenumbruch] fortbestehen dürfen. Immer war die erste Folge der
Wahlreform die sofortige, unmittelbare Auf-
lösung des bestehenden Parlamentes und die Aus-
schreibung von Neuwahlen nach dem neuen Wahlgesetz.
So hat man es in diesem Jahrhundert dreimal in
England, dreimal in Frankreich, zweimal in Italien,
einmal in Belgien gemacht. Niemals ist es noch
irgendwo anders gemacht worden. Ein Parlament ist
keine alte Hose, die man ausflickt.

Die Mitglieder des gegenwärtigen Abgeordneten-
hauses haben nun das Bewußtsein, daß sie verurtheilt
sind und daß nur die Execution noch aufgeschoben ist.
Daher die Friktionen, welche die gedeihliche Arbeit ver-
hindern. Dafür gibt es eben nur eine Lösung, die
Wahlreform fertig machen und dann so rasch als
möglich auflösen und das neue Parlament zusammen-
berufen. Wir möchten also dem Ministerium nahe-
legen, das Arbeitsprogramm des gegenwärtigen Abge-
ordnetenhauses auf ein Minimum zu beschränken;
man erledige das Budget und dergl. und mache die
Wahlreform. Alles andere ist Zeitvergeudung, weil
man es wohl in Angriff nehmen, aber nicht fertig
machen können wird. Also -- über Bord mit dem
Ballast und an die Wahlreform gegangen! Diese
muß gemacht werden, also mache man sie so schnell
als möglich. Das neue, aus breiteren Volksschichten
hervorgegangene Parlament wird mit frischen Kräften
an seine Aufgabe gehen können, das jetzige hat aus-
gedient, und je eher es den blauen Bogen bekommt,
desto besser.




Die Situation in Ungarn

ist außerordentlich unklar und zeigt die Tendenz noch
unklarer zu werden. Herr Wekerle hat im ministeriellen
Parteiclub mitgetheilt, daß Se. Majestät ihm zugesagt
habe, die bereits votirten kirchenpolitischen Vorlagen
zu sanctioniren. So weit wäre formell alles in der
Ordnung. Daß Herr Wekerle in einer solchen Sache
nicht die Unwahrheit gesprochen haben kann, liegt
auf der Hand. Er wäre, hätte er das gethan, heute
nicht mehr Minister. Also der Monarch hat die Sanc-
tionirung der Vorlagen zugesagt, und zwar, wie Herr
[Spaltenumbruch] Wekerle ausdrücklich betonte, dem jetzigen Cabinet.
Seither ist mehr als eine Woche verflossen, die Sanc-
tionirung ist nicht erfolgt. Was geht da vor? Oder
was ist da vorgegangen? Hat Herr Wekerle doch an-
dere zu täuschen gesucht? Oder hat er sich selbst getäuscht?

Mittlerweile wird die Situation des Cabinetes
Szilagy, genannt Wekerle, von Tag zu Tag
eine unbehaglichere. Es kann nicht leben und es kann
nicht sterben. Daß es das Vertrauen der Krone nicht
besitzt, weiß Jedermann, daß es das Vertra en der
Krone auch nicht verdient, geben im Stillen nicht
wenige seiner Freunde zu. Es hat aber auch alle
Autorität im Parlamente verloren. Am Montag hat
das Abgeordnetenhaus eine wichtige Vorlage des
Ministeriums mit einer Majorität von 4 Stimmen
verworfen. Das Ministerium wird jetzt die Votirung
eines Budgetprovisoriums verlangen müssen und dabei
wird es zu politischen Stürmen kommen, die dem
Cabinet leicht neue Niederlagen zuziehen können. Man
steht wirklich einem Räthsel gegenüber. Hier hat man
ein Ministerium, das das Vertrauen der Krone nicht
genießt und das im Parlament keine stabile Majorität
hat, und doch hält es sich. Wie geht das zu? Welche
Kräfte halten ein Cabinet, das oben keinen Stützpunkt
und unten keine Basis hat?

Von Budapest und Wien aus wird in den letzten
Tagen von gewisser Seite her mit Hochdruck gearbeitet
um -- sagen wir es deutlich heraus -- die Sanction
der kirchenpolitischen Vorlagen zu erpressen.
Bis jetzt noch ohne Erfolg. Darf das christliche Volk
noch hoffen? Wird sich die Situation auch zum
Besseren wenden lassen? Man kann unmöglich über-
sehen haben, daß die Leute, die Wekerle und Szilagyi
Gefolgschaft geleistet und deren bisherige politische
Erfolge ermöglicht haben, im Grunde genommen
nichts sind, als die ungarische Revolutions-
partei,
die Partei, die Ungarn von den Dynastie
und der Monarchie losreißen will. Soll diese Partei
Millionen von Getreuen in allen ihren Empfindungen
kränken dürfen?

Wir wiederholen, was wir dieser Tage sagten:
Die Dinge stehen trotz alledem noch gar nicht so arg,
als man meint. Sie könnten noch schlimmer stehen,




[Spaltenumbruch]
Feuilleton.



Christianistrung der Juden in Rußland.

Von einer competenten und daher glaubwürdigen
Persönlichkeit in Rußland erhalten wir eine Mitthei-
lung, welche geeignet ist, allgemeines Aufsehen zu er-
regen. Es sollen nämlich die in Rußland lebenden
5 Millionen Juden mit den Russen christlich-orthodoxen
Glaubens gleichgestellt und zu diesem Zwecke zum
Christenthum bekehrt werden. Die Bekehrung solle
aber nicht eine mit Gewaltmitteln verbundene, er-
zwungene, sondern eine auf friedlichen Wegen durchzu-
führende, freiwillige sein. Die Idee der Bekehrung
und Gleichberechtigung der Juden in Rußland soll
von dem Hofe des Kaisers Nicolaj II. nahestehenden
hohen russischen Persönlichkeiten ausgehen und von
dem jetzigen Kaiser Nicolaj II. gutgeheißen worden
sein. Um diese Idee zu verwirklichen, werden in allen
Städten Rußlands, in welchen Juden leben, Vereine
gegründet, welche den Zweck haben werden, die be-
reits bekehrten oder noch zu bekehrenden Juden
moralisch und materiell zu unterstützen, ihnen An-
stellungen und dergleichen zu verschaffen, für die Aus-
bildung ihrer Kinder zu sorgen und sie vor An-
feindungen, Verfolgungen u. s. w. zu schützen. Ein
solcher Verein habe sich bereits in Odessa unter dem
Namen "Verein zur Unterstützung der
Juden, welche den orthodox-christ-
lichen Glauben angenommen haben"

constituirt und ein zweiter gleicher Verein sei gegen-
wärtig in Warschau im Entstehen begriffen. Warschau
und Odessa seien die Mittelpunkt der zwei Rayons in
Rußland, in welchen die meisten Juden leben.

Die russische Persönlichkeit, welche uns diese Mit-
theilung zukommen ließ, sandte uns gleichzeitig eine
Nummer des Warschauer amtlichen russichen Blattes
"Warschowskij Dnewnik" vom 7. November l. J., an
deren Spitze ein Artikel über diesen Gegenstand ver-
öffentlicht steht. Dieser Artikel des russischen Amts-
organes ist so interessant, daß wir nicht umhin
können, denselben hier vollinhaltlich wiederzugeben:
[Spaltenumbruch] "Die Gründung dieses Vereines," heißt es da
unter Anderem wörtlich, "erscheint vollkommen
zeitgemäß in Anbetracht der reformatorischen Be-
strebungen und der Gährung, welche gegenwärtig in der
jüdischen Bevölkerung unseres Staates vor sich gehen.
Unter den gebildeten Juden reift nun immer mehr die
Ueberzeugung heran, daß unser Judenthum einen un-
möglichen Anachronismus in allen Beziehungen bildet
und daß dessen Reform unausschiebbar und nothwendig
sei. Projecte der Reform des Judenthums werden von
sehr vielen gebildeten Juden im Ueberfluß gemacht und
einige der energischen Vertreter dieser reformatorischen
Bewegung haben, ohne sich auf die Entwürfe dieser
Projecte zu beschränken, Anhänger dieser Ideen unter
den Juden geworben und neue jüdische Secten ge-
bildet."

"Die jüdischen Reformatoren geben zu und er-
klären, daß noch niemals, selbst in den für das
Judenthum schwierigsten Epochen die Lage desselben
so gefahrdrohend gewesen sei, wie in der jetzigen Zeit.
Das Judenthum habe auch in den früheren Zeiten
gelitten, dasselbe haben aber dessen Glaube und dessen
Solidarität gerettet, was jetzt nicht mehr da sei. Das
Judenthum werde nicht von Außen bedroht, ihm drohe
das in ihm anwachsende innere Uebel -- die in ihm
immer mehr zunehmende Schwächung seines Glaubens,
welche es im Laufe so vieler Jahrhunderte zu einem
festen und widerstandsfähigen Ganzen vereinigte.
Dieses Einigungsmittel beginne unter dem Ein-
fluße der das Judenthum umgebenden Gesellschaft und
einer anderen Cultur zu zerfallen, und die frühere
Solidarität der Juden wird Dank dem engherzigen,
persönlichen Egoismus und der moralischen Verdor-
benheit immer lockerer. In den Juden nisten Mängel,
die nur diesem Volksstamme eigen sind und die in
deren Charakter, in deren geistigen Anlagen und in
deren moralischem Wesen Wurzel gefaßt haben. So
lange die Juden isolirt waren, waren diese Mängel
weniger bemerkbar; seitdem sie aber mit der übrigen
Welt in unmittelbare, nächste Berührung gekommen
sind, werden ihre Mängel umso mehr empfunden und
fallen umso stärker auf. In Folge dessen wird die
Lage der Juden immer unnormaler."


[Spaltenumbruch]

"Wie mächtig aber die Ueberzeugung der aufge-
klärten Juden von der unaufschiebbaren Nothwendig-
keit der Reformirung des Judenthums durch die Be-
lebung des religiösen Gefühls in den Juden und durch
die Reinigung deren Lehren von einer Menge ver-
schiedener schädlicher Fälschungen, die in dem Juden-
thum im Laufe der langjährigen Herrschaft des Faua-
tismus, des Aberglaubens und der talmudischen
Pseudo-Casuistik Wurzel gefaßt haben, auch ist, die
Erfolge der Reform inmitten des Judenthums sind
bis jetzt derart unbedeutend, daß man an deren Zu-
kunft zweifeln muß. Eine solche skeptische Beurtheilung
des Erfolges der zeitgenössischen jüdischen Reforma-
toren wird durch deren Entzweiung und die Nichtig-
keit der von ihnen thatsächlich erreichten Resultate ge-
rechtfertigt. Ihre Entzweiung zeigte sich an dem Auf-
tauchen einiger jüdischen Secten mit einer geringen
Anzahl Proseliten, welche sich von der neuen
Lehre hinreißen ließen. Weder die "Biblische
Bruderschaft"
(in Jelissawetgrad), noch das
"Neue Israel" (in Odessa), noch die Kischinewer
Anhänger Rabinowitsch's, welche sich "Israeliten
des neuen Bundes"
nennen, konnten die in
ihren religiösen und socialen Traditionen versampfenden
jüdischen Massen erschüttern und alle Resultate ihrer
Propaganda beschränkten sich auf den Abfall einer so
geringen Anzahl von Juden, daß man in derselben
keine Symptome der Möglichkeit der Reform des
Judenthums in unserer Zeit erblicken kann."

"Doch wie gering auch die Erfolge der Reform
des Judenthums sind, dieselben zeigen, mit vielen noch
nicht verwirklichten Projecten zusammengestellt, daß
unter den Juden immer mehr die Ueberzeugung platz-
greife und erstarke, daß ein weiteres unbewegliches
Verharren der Juden in den alten, abgelebten Formen
des Cultus und des socialen Daseins unmöglich sei.
Die Juden suchen einen Ausweg aus dem Dunkel der
Verirrung und des Fanatismus und daher müssen wir
das Entstehen eines orthodoxen Vereines, welcher sich
zu dem Zwecke organisirt, um den zu unserem heiligen
Glauben bekehrten Juden zu helfen, mit besonderer Freude
begrüßen. Die Organisation einer solchen Hilfe, auf der


[Spaltenumbruch]
1. Jahrgang.



Redgetion, Adminiſtration,
Expedition
und Druckerei
VIII., Joſefſtädterſtraße 14.




Stadtexpedition I., Schulerſtr.,
Zeitungsbureau Weis.




Unfrankierte Briefe werden nicht an-
genommen; Manuſcripte in der Regel
nicht zurückgeſtellt. Unverſchloſſene
Reclamationen ſind portofrei.




Ankündigungs-Bureau:
VIII., Joſefſtädterſtraße 14,
ſowie bei dem Annoncenbureau für
kathol.-conſerv. Blätter, Hubert
Friedl,
Wien V. 1.




Abonnements werden angenommen
außer in den Expeditionen bei
J. Heindl, I. Stephansplatz 7.




Erſcheint täglich 6 Uhr abends
mit Ausnahme der Sonn- und
Feiertage.


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Wien, Donnerſtag 6. December 1894.


Reichspoſt.
Unabhängiges Tagblatt für das chriſtliche Volk Oeſterreich-Ungarns.

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Nr. 280.



Bezugspreiſe:
Für Wien mit Zuſtellung ins Haus
ganzjährig ...... 15 kr.
vierteljährig ... 3 fl. 80 kr.
monatlich .... 1 fl. 30 kr.
wöchentlich 30 kr.

Einzelne Nummern 4 kr., per Poſt
5 kr.

Bei Abholung in unſerer Admini
ſtration ganzj. 12 fl., monatlich 1 fl.

Für Oeſterreich-Ungarn
ganzjährig .... 16 fl. — kr.
vierteljährig ... 4 fl. 10 kr.
monatlich .... 1 fl. 40 kr.

Für Deutſchland
vierteljährig .... 4 fl. 50 kr.
oder 7½ Mark.

Länder des Weltpoſtvereines
viertelj. 6 fl. oder 10 Mark.




Telephon 1828.




[Spaltenumbruch]
Ueber Bord mit dem Ballaſt!

Das Ratenhandelsgeſetz iſt im Herrenhauſe ſeiner
werthvollſten Beſtimmungen beraubt worden, das
Trunkenheitsgeſetz liegt noch im Abgeordnetenhauſe und
kann nicht leben und nicht ſterben, die Wahlreform-
frage wird im Ausſchuß behandelt, als gelte es ein
völlig neues, noch niemals in der Welt behandeltes
Problem zu löſen, nur noch vier Wochen trennen uns
vom Jahresſchluß und es hat noch nicht einmal der
Budgetausſchuß recht mit ſeinen Arbeiten begonnen,
geſchweige denn, daß das Haus etwa ſchon an das
Budget gegangen wäre, kur[z], die parlamentariſche
Maſchinerie arbeitet zwar unaufhörlich, aber ſie er-
zeugt nichts. Trotz der Coalition ſagen die Einen,
wegen der Coalition die Anderen.

Die Haupturſache der Stockung ſcheint nns in der
Frage der Wahlreform zu liegen. Im Augen-
blick, da dieſe aufgerollt war, war das jetzige Wahl-
ſyſtem und war das jetzige Parlament zum Tode ver-
urtheilt. Wer nicht ein Brett vor den Kopf und Scheu-
leder vor den Augen und Ohren hat, erkannte das
auf den erſten Blick. Auch viele Abgeordnete fühlten
das und daher kam ja eben die furchtbare Wuth gegen
den Grafen Taaffe und den Dr. Steinbach.
Was am 10. October v. J. geſchehen iſt, läßt ſich nicht
mehr ungeſchehen machen, läßt ſich nicht mehr aus dem
Bewußtſein, nicht mehr aus der Geſchichte ſtreichen. Die
Wahlreform muß gemacht werden, das ſehen allgemach
ſelbſt Graf Stadnicki, ſogar Herr Joſef Kopp
ein. Im Augenblicke, da aber das feſtſteht, ſteht auch
feſt, daß das jetzige Abgeordnetenhaus zum Tode ver-
urtheilt iſt. Zu glauben, daß man Hundertauſende
von neuen Wählern ſchaffen und dieſe dann in das
alte Parlament hineinwählen laſſen könnte, ſo wie
etwa ein armer Mann auf einen zerriſſenen ſchwarzen
Rock einen braunen Fleck aufſetzt, das gehört zu den
Dingen, die ſich zwar ein Coalierter, der für ſein
Mandat zittert, wünſchen kann, die aber vernünftige
Leute nicht ernſthaft discutiren. Es iſt auch noch
niemals, in keinem Lande der Welt,

je vorgekommen, daß nach einer umfaſſenderen Aen-
derung des Wahlgeſetzes das alte Parlament hätte
[Spaltenumbruch] fortbeſtehen dürfen. Immer war die erſte Folge der
Wahlreform die ſofortige, unmittelbare Auf-
löſung des beſtehenden Parlamentes und die Aus-
ſchreibung von Neuwahlen nach dem neuen Wahlgeſetz.
So hat man es in dieſem Jahrhundert dreimal in
England, dreimal in Frankreich, zweimal in Italien,
einmal in Belgien gemacht. Niemals iſt es noch
irgendwo anders gemacht worden. Ein Parlament iſt
keine alte Hoſe, die man ausflickt.

Die Mitglieder des gegenwärtigen Abgeordneten-
hauſes haben nun das Bewußtſein, daß ſie verurtheilt
ſind und daß nur die Execution noch aufgeſchoben iſt.
Daher die Friktionen, welche die gedeihliche Arbeit ver-
hindern. Dafür gibt es eben nur eine Löſung, die
Wahlreform fertig machen und dann ſo raſch als
möglich auflöſen und das neue Parlament zuſammen-
berufen. Wir möchten alſo dem Miniſterium nahe-
legen, das Arbeitsprogramm des gegenwärtigen Abge-
ordnetenhauſes auf ein Minimum zu beſchränken;
man erledige das Budget und dergl. und mache die
Wahlreform. Alles andere iſt Zeitvergeudung, weil
man es wohl in Angriff nehmen, aber nicht fertig
machen können wird. Alſo — über Bord mit dem
Ballaſt und an die Wahlreform gegangen! Dieſe
muß gemacht werden, alſo mache man ſie ſo ſchnell
als möglich. Das neue, aus breiteren Volksſchichten
hervorgegangene Parlament wird mit friſchen Kräften
an ſeine Aufgabe gehen können, das jetzige hat aus-
gedient, und je eher es den blauen Bogen bekommt,
deſto beſſer.




Die Situation in Ungarn

iſt außerordentlich unklar und zeigt die Tendenz noch
unklarer zu werden. Herr Wekerle hat im miniſteriellen
Parteiclub mitgetheilt, daß Se. Majeſtät ihm zugeſagt
habe, die bereits votirten kirchenpolitiſchen Vorlagen
zu ſanctioniren. So weit wäre formell alles in der
Ordnung. Daß Herr Wekerle in einer ſolchen Sache
nicht die Unwahrheit geſprochen haben kann, liegt
auf der Hand. Er wäre, hätte er das gethan, heute
nicht mehr Miniſter. Alſo der Monarch hat die Sanc-
tionirung der Vorlagen zugeſagt, und zwar, wie Herr
[Spaltenumbruch] Wekerle ausdrücklich betonte, dem jetzigen Cabinet.
Seither iſt mehr als eine Woche verfloſſen, die Sanc-
tionirung iſt nicht erfolgt. Was geht da vor? Oder
was iſt da vorgegangen? Hat Herr Wekerle doch an-
dere zu täuſchen geſucht? Oder hat er ſich ſelbſt getäuſcht?

Mittlerweile wird die Situation des Cabinetes
Szilagy, genannt Wekerle, von Tag zu Tag
eine unbehaglichere. Es kann nicht leben und es kann
nicht ſterben. Daß es das Vertrauen der Krone nicht
beſitzt, weiß Jedermann, daß es das Vertra en der
Krone auch nicht verdient, geben im Stillen nicht
wenige ſeiner Freunde zu. Es hat aber auch alle
Autorität im Parlamente verloren. Am Montag hat
das Abgeordnetenhaus eine wichtige Vorlage des
Miniſteriums mit einer Majorität von 4 Stimmen
verworfen. Das Miniſterium wird jetzt die Votirung
eines Budgetproviſoriums verlangen müſſen und dabei
wird es zu politiſchen Stürmen kommen, die dem
Cabinet leicht neue Niederlagen zuziehen können. Man
ſteht wirklich einem Räthſel gegenüber. Hier hat man
ein Miniſterium, das das Vertrauen der Krone nicht
genießt und das im Parlament keine ſtabile Majorität
hat, und doch hält es ſich. Wie geht das zu? Welche
Kräfte halten ein Cabinet, das oben keinen Stützpunkt
und unten keine Baſis hat?

Von Budapeſt und Wien aus wird in den letzten
Tagen von gewiſſer Seite her mit Hochdruck gearbeitet
um — ſagen wir es deutlich heraus — die Sanction
der kirchenpolitiſchen Vorlagen zu erpreſſen.
Bis jetzt noch ohne Erfolg. Darf das chriſtliche Volk
noch hoffen? Wird ſich die Situation auch zum
Beſſeren wenden laſſen? Man kann unmöglich über-
ſehen haben, daß die Leute, die Wekerle und Szilagyi
Gefolgſchaft geleiſtet und deren bisherige politiſche
Erfolge ermöglicht haben, im Grunde genommen
nichts ſind, als die ungariſche Revolutions-
partei,
die Partei, die Ungarn von den Dynaſtie
und der Monarchie losreißen will. Soll dieſe Partei
Millionen von Getreuen in allen ihren Empfindungen
kränken dürfen?

Wir wiederholen, was wir dieſer Tage ſagten:
Die Dinge ſtehen trotz alledem noch gar nicht ſo arg,
als man meint. Sie könnten noch ſchlimmer ſtehen,




[Spaltenumbruch]
Feuilleton.



Chriſtianiſtrung der Juden in Rußland.

Von einer competenten und daher glaubwürdigen
Perſönlichkeit in Rußland erhalten wir eine Mitthei-
lung, welche geeignet iſt, allgemeines Aufſehen zu er-
regen. Es ſollen nämlich die in Rußland lebenden
5 Millionen Juden mit den Ruſſen chriſtlich-orthodoxen
Glaubens gleichgeſtellt und zu dieſem Zwecke zum
Chriſtenthum bekehrt werden. Die Bekehrung ſolle
aber nicht eine mit Gewaltmitteln verbundene, er-
zwungene, ſondern eine auf friedlichen Wegen durchzu-
führende, freiwillige ſein. Die Idee der Bekehrung
und Gleichberechtigung der Juden in Rußland ſoll
von dem Hofe des Kaiſers Nicolaj II. naheſtehenden
hohen ruſſiſchen Perſönlichkeiten ausgehen und von
dem jetzigen Kaiſer Nicolaj II. gutgeheißen worden
ſein. Um dieſe Idee zu verwirklichen, werden in allen
Städten Rußlands, in welchen Juden leben, Vereine
gegründet, welche den Zweck haben werden, die be-
reits bekehrten oder noch zu bekehrenden Juden
moraliſch und materiell zu unterſtützen, ihnen An-
ſtellungen und dergleichen zu verſchaffen, für die Aus-
bildung ihrer Kinder zu ſorgen und ſie vor An-
feindungen, Verfolgungen u. ſ. w. zu ſchützen. Ein
ſolcher Verein habe ſich bereits in Odeſſa unter dem
Namen „Verein zur Unterſtützung der
Juden, welche den orthodox-chriſt-
lichen Glauben angenommen haben“

conſtituirt und ein zweiter gleicher Verein ſei gegen-
wärtig in Warſchau im Entſtehen begriffen. Warſchau
und Odeſſa ſeien die Mittelpunkt der zwei Rayons in
Rußland, in welchen die meiſten Juden leben.

Die ruſſiſche Perſönlichkeit, welche uns dieſe Mit-
theilung zukommen ließ, ſandte uns gleichzeitig eine
Nummer des Warſchauer amtlichen ruſſichen Blattes
„Warſchowskij Dnewnik“ vom 7. November l. J., an
deren Spitze ein Artikel über dieſen Gegenſtand ver-
öffentlicht ſteht. Dieſer Artikel des ruſſiſchen Amts-
organes iſt ſo intereſſant, daß wir nicht umhin
können, denſelben hier vollinhaltlich wiederzugeben:
[Spaltenumbruch] „Die Gründung dieſes Vereines,“ heißt es da
unter Anderem wörtlich, „erſcheint vollkommen
zeitgemäß in Anbetracht der reformatoriſchen Be-
ſtrebungen und der Gährung, welche gegenwärtig in der
jüdiſchen Bevölkerung unſeres Staates vor ſich gehen.
Unter den gebildeten Juden reift nun immer mehr die
Ueberzeugung heran, daß unſer Judenthum einen un-
möglichen Anachronismus in allen Beziehungen bildet
und daß deſſen Reform unauſſchiebbar und nothwendig
ſei. Projecte der Reform des Judenthums werden von
ſehr vielen gebildeten Juden im Ueberfluß gemacht und
einige der energiſchen Vertreter dieſer reformatoriſchen
Bewegung haben, ohne ſich auf die Entwürfe dieſer
Projecte zu beſchränken, Anhänger dieſer Ideen unter
den Juden geworben und neue jüdiſche Secten ge-
bildet.“

„Die jüdiſchen Reformatoren geben zu und er-
klären, daß noch niemals, ſelbſt in den für das
Judenthum ſchwierigſten Epochen die Lage desſelben
ſo gefahrdrohend geweſen ſei, wie in der jetzigen Zeit.
Das Judenthum habe auch in den früheren Zeiten
gelitten, dasſelbe haben aber deſſen Glaube und deſſen
Solidarität gerettet, was jetzt nicht mehr da ſei. Das
Judenthum werde nicht von Außen bedroht, ihm drohe
das in ihm anwachſende innere Uebel — die in ihm
immer mehr zunehmende Schwächung ſeines Glaubens,
welche es im Laufe ſo vieler Jahrhunderte zu einem
feſten und widerſtandsfähigen Ganzen vereinigte.
Dieſes Einigungsmittel beginne unter dem Ein-
fluße der das Judenthum umgebenden Geſellſchaft und
einer anderen Cultur zu zerfallen, und die frühere
Solidarität der Juden wird Dank dem engherzigen,
perſönlichen Egoismus und der moraliſchen Verdor-
benheit immer lockerer. In den Juden niſten Mängel,
die nur dieſem Volksſtamme eigen ſind und die in
deren Charakter, in deren geiſtigen Anlagen und in
deren moraliſchem Weſen Wurzel gefaßt haben. So
lange die Juden iſolirt waren, waren dieſe Mängel
weniger bemerkbar; ſeitdem ſie aber mit der übrigen
Welt in unmittelbare, nächſte Berührung gekommen
ſind, werden ihre Mängel umſo mehr empfunden und
fallen umſo ſtärker auf. In Folge deſſen wird die
Lage der Juden immer unnormaler.“


[Spaltenumbruch]

„Wie mächtig aber die Ueberzeugung der aufge-
klärten Juden von der unaufſchiebbaren Nothwendig-
keit der Reformirung des Judenthums durch die Be-
lebung des religiöſen Gefühls in den Juden und durch
die Reinigung deren Lehren von einer Menge ver-
ſchiedener ſchädlicher Fälſchungen, die in dem Juden-
thum im Laufe der langjährigen Herrſchaft des Faua-
tismus, des Aberglaubens und der talmudiſchen
Pſeudo-Caſuiſtik Wurzel gefaßt haben, auch iſt, die
Erfolge der Reform inmitten des Judenthums ſind
bis jetzt derart unbedeutend, daß man an deren Zu-
kunft zweifeln muß. Eine ſolche ſkeptiſche Beurtheilung
des Erfolges der zeitgenöſſiſchen jüdiſchen Reforma-
toren wird durch deren Entzweiung und die Nichtig-
keit der von ihnen thatſächlich erreichten Reſultate ge-
rechtfertigt. Ihre Entzweiung zeigte ſich an dem Auf-
tauchen einiger jüdiſchen Secten mit einer geringen
Anzahl Proſeliten, welche ſich von der neuen
Lehre hinreißen ließen. Weder die „Bibliſche
Bruderſchaft“
(in Jeliſſawetgrad), noch das
„Neue Iſrael“ (in Odeſſa), noch die Kiſchinewer
Anhänger Rabinowitſch’s, welche ſich „Iſraeliten
des neuen Bundes“
nennen, konnten die in
ihren religiöſen und ſocialen Traditionen verſampfenden
jüdiſchen Maſſen erſchüttern und alle Reſultate ihrer
Propaganda beſchränkten ſich auf den Abfall einer ſo
geringen Anzahl von Juden, daß man in derſelben
keine Symptome der Möglichkeit der Reform des
Judenthums in unſerer Zeit erblicken kann.“

„Doch wie gering auch die Erfolge der Reform
des Judenthums ſind, dieſelben zeigen, mit vielen noch
nicht verwirklichten Projecten zuſammengeſtellt, daß
unter den Juden immer mehr die Ueberzeugung platz-
greife und erſtarke, daß ein weiteres unbewegliches
Verharren der Juden in den alten, abgelebten Formen
des Cultus und des ſocialen Daſeins unmöglich ſei.
Die Juden ſuchen einen Ausweg aus dem Dunkel der
Verirrung und des Fanatismus und daher müſſen wir
das Entſtehen eines orthodoxen Vereines, welcher ſich
zu dem Zwecke organiſirt, um den zu unſerem heiligen
Glauben bekehrten Juden zu helfen, mit beſonderer Freude
begrüßen. Die Organiſation einer ſolchen Hilfe, auf der


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[[1]/0001] 1. Jahrgang. Redgetion, Adminiſtration, Expedition und Druckerei VIII., Joſefſtädterſtraße 14. Stadtexpedition I., Schulerſtr., Zeitungsbureau Weis. Unfrankierte Briefe werden nicht an- genommen; Manuſcripte in der Regel nicht zurückgeſtellt. Unverſchloſſene Reclamationen ſind portofrei. Ankündigungs-Bureau: VIII., Joſefſtädterſtraße 14, ſowie bei dem Annoncenbureau für kathol.-conſerv. Blätter, Hubert Friedl, Wien V. 1. Abonnements werden angenommen außer in den Expeditionen bei J. Heindl, I. Stephansplatz 7. Erſcheint täglich 6 Uhr abends mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage. Wien, Donnerſtag 6. December 1894. Reichspoſt. Unabhängiges Tagblatt für das chriſtliche Volk Oeſterreich-Ungarns. Nr. 280. Bezugspreiſe: Für Wien mit Zuſtellung ins Haus ganzjährig ...... 15 kr. vierteljährig ... 3 fl. 80 kr. monatlich .... 1 fl. 30 kr. wöchentlich 30 kr. Einzelne Nummern 4 kr., per Poſt 5 kr. Bei Abholung in unſerer Admini ſtration ganzj. 12 fl., monatlich 1 fl. Für Oeſterreich-Ungarn ganzjährig .... 16 fl. — kr. vierteljährig ... 4 fl. 10 kr. monatlich .... 1 fl. 40 kr. Für Deutſchland vierteljährig .... 4 fl. 50 kr. oder 7½ Mark. Länder des Weltpoſtvereines viertelj. 6 fl. oder 10 Mark. Telephon 1828. Ueber Bord mit dem Ballaſt! Das Ratenhandelsgeſetz iſt im Herrenhauſe ſeiner werthvollſten Beſtimmungen beraubt worden, das Trunkenheitsgeſetz liegt noch im Abgeordnetenhauſe und kann nicht leben und nicht ſterben, die Wahlreform- frage wird im Ausſchuß behandelt, als gelte es ein völlig neues, noch niemals in der Welt behandeltes Problem zu löſen, nur noch vier Wochen trennen uns vom Jahresſchluß und es hat noch nicht einmal der Budgetausſchuß recht mit ſeinen Arbeiten begonnen, geſchweige denn, daß das Haus etwa ſchon an das Budget gegangen wäre, kurz, die parlamentariſche Maſchinerie arbeitet zwar unaufhörlich, aber ſie er- zeugt nichts. Trotz der Coalition ſagen die Einen, wegen der Coalition die Anderen. Die Haupturſache der Stockung ſcheint nns in der Frage der Wahlreform zu liegen. Im Augen- blick, da dieſe aufgerollt war, war das jetzige Wahl- ſyſtem und war das jetzige Parlament zum Tode ver- urtheilt. Wer nicht ein Brett vor den Kopf und Scheu- leder vor den Augen und Ohren hat, erkannte das auf den erſten Blick. Auch viele Abgeordnete fühlten das und daher kam ja eben die furchtbare Wuth gegen den Grafen Taaffe und den Dr. Steinbach. Was am 10. October v. J. geſchehen iſt, läßt ſich nicht mehr ungeſchehen machen, läßt ſich nicht mehr aus dem Bewußtſein, nicht mehr aus der Geſchichte ſtreichen. Die Wahlreform muß gemacht werden, das ſehen allgemach ſelbſt Graf Stadnicki, ſogar Herr Joſef Kopp ein. Im Augenblicke, da aber das feſtſteht, ſteht auch feſt, daß das jetzige Abgeordnetenhaus zum Tode ver- urtheilt iſt. Zu glauben, daß man Hundertauſende von neuen Wählern ſchaffen und dieſe dann in das alte Parlament hineinwählen laſſen könnte, ſo wie etwa ein armer Mann auf einen zerriſſenen ſchwarzen Rock einen braunen Fleck aufſetzt, das gehört zu den Dingen, die ſich zwar ein Coalierter, der für ſein Mandat zittert, wünſchen kann, die aber vernünftige Leute nicht ernſthaft discutiren. Es iſt auch noch niemals, in keinem Lande der Welt, je vorgekommen, daß nach einer umfaſſenderen Aen- derung des Wahlgeſetzes das alte Parlament hätte fortbeſtehen dürfen. Immer war die erſte Folge der Wahlreform die ſofortige, unmittelbare Auf- löſung des beſtehenden Parlamentes und die Aus- ſchreibung von Neuwahlen nach dem neuen Wahlgeſetz. So hat man es in dieſem Jahrhundert dreimal in England, dreimal in Frankreich, zweimal in Italien, einmal in Belgien gemacht. Niemals iſt es noch irgendwo anders gemacht worden. Ein Parlament iſt keine alte Hoſe, die man ausflickt. Die Mitglieder des gegenwärtigen Abgeordneten- hauſes haben nun das Bewußtſein, daß ſie verurtheilt ſind und daß nur die Execution noch aufgeſchoben iſt. Daher die Friktionen, welche die gedeihliche Arbeit ver- hindern. Dafür gibt es eben nur eine Löſung, die Wahlreform fertig machen und dann ſo raſch als möglich auflöſen und das neue Parlament zuſammen- berufen. Wir möchten alſo dem Miniſterium nahe- legen, das Arbeitsprogramm des gegenwärtigen Abge- ordnetenhauſes auf ein Minimum zu beſchränken; man erledige das Budget und dergl. und mache die Wahlreform. Alles andere iſt Zeitvergeudung, weil man es wohl in Angriff nehmen, aber nicht fertig machen können wird. Alſo — über Bord mit dem Ballaſt und an die Wahlreform gegangen! Dieſe muß gemacht werden, alſo mache man ſie ſo ſchnell als möglich. Das neue, aus breiteren Volksſchichten hervorgegangene Parlament wird mit friſchen Kräften an ſeine Aufgabe gehen können, das jetzige hat aus- gedient, und je eher es den blauen Bogen bekommt, deſto beſſer. Die Situation in Ungarn iſt außerordentlich unklar und zeigt die Tendenz noch unklarer zu werden. Herr Wekerle hat im miniſteriellen Parteiclub mitgetheilt, daß Se. Majeſtät ihm zugeſagt habe, die bereits votirten kirchenpolitiſchen Vorlagen zu ſanctioniren. So weit wäre formell alles in der Ordnung. Daß Herr Wekerle in einer ſolchen Sache nicht die Unwahrheit geſprochen haben kann, liegt auf der Hand. Er wäre, hätte er das gethan, heute nicht mehr Miniſter. Alſo der Monarch hat die Sanc- tionirung der Vorlagen zugeſagt, und zwar, wie Herr Wekerle ausdrücklich betonte, dem jetzigen Cabinet. Seither iſt mehr als eine Woche verfloſſen, die Sanc- tionirung iſt nicht erfolgt. Was geht da vor? Oder was iſt da vorgegangen? Hat Herr Wekerle doch an- dere zu täuſchen geſucht? Oder hat er ſich ſelbſt getäuſcht? Mittlerweile wird die Situation des Cabinetes Szilagy, genannt Wekerle, von Tag zu Tag eine unbehaglichere. Es kann nicht leben und es kann nicht ſterben. Daß es das Vertrauen der Krone nicht beſitzt, weiß Jedermann, daß es das Vertra en der Krone auch nicht verdient, geben im Stillen nicht wenige ſeiner Freunde zu. Es hat aber auch alle Autorität im Parlamente verloren. Am Montag hat das Abgeordnetenhaus eine wichtige Vorlage des Miniſteriums mit einer Majorität von 4 Stimmen verworfen. Das Miniſterium wird jetzt die Votirung eines Budgetproviſoriums verlangen müſſen und dabei wird es zu politiſchen Stürmen kommen, die dem Cabinet leicht neue Niederlagen zuziehen können. Man ſteht wirklich einem Räthſel gegenüber. Hier hat man ein Miniſterium, das das Vertrauen der Krone nicht genießt und das im Parlament keine ſtabile Majorität hat, und doch hält es ſich. Wie geht das zu? Welche Kräfte halten ein Cabinet, das oben keinen Stützpunkt und unten keine Baſis hat? Von Budapeſt und Wien aus wird in den letzten Tagen von gewiſſer Seite her mit Hochdruck gearbeitet um — ſagen wir es deutlich heraus — die Sanction der kirchenpolitiſchen Vorlagen zu erpreſſen. Bis jetzt noch ohne Erfolg. Darf das chriſtliche Volk noch hoffen? Wird ſich die Situation auch zum Beſſeren wenden laſſen? Man kann unmöglich über- ſehen haben, daß die Leute, die Wekerle und Szilagyi Gefolgſchaft geleiſtet und deren bisherige politiſche Erfolge ermöglicht haben, im Grunde genommen nichts ſind, als die ungariſche Revolutions- partei, die Partei, die Ungarn von den Dynaſtie und der Monarchie losreißen will. Soll dieſe Partei Millionen von Getreuen in allen ihren Empfindungen kränken dürfen? Wir wiederholen, was wir dieſer Tage ſagten: Die Dinge ſtehen trotz alledem noch gar nicht ſo arg, als man meint. Sie könnten noch ſchlimmer ſtehen, Feuilleton. Chriſtianiſtrung der Juden in Rußland. Von einer competenten und daher glaubwürdigen Perſönlichkeit in Rußland erhalten wir eine Mitthei- lung, welche geeignet iſt, allgemeines Aufſehen zu er- regen. Es ſollen nämlich die in Rußland lebenden 5 Millionen Juden mit den Ruſſen chriſtlich-orthodoxen Glaubens gleichgeſtellt und zu dieſem Zwecke zum Chriſtenthum bekehrt werden. Die Bekehrung ſolle aber nicht eine mit Gewaltmitteln verbundene, er- zwungene, ſondern eine auf friedlichen Wegen durchzu- führende, freiwillige ſein. Die Idee der Bekehrung und Gleichberechtigung der Juden in Rußland ſoll von dem Hofe des Kaiſers Nicolaj II. naheſtehenden hohen ruſſiſchen Perſönlichkeiten ausgehen und von dem jetzigen Kaiſer Nicolaj II. gutgeheißen worden ſein. Um dieſe Idee zu verwirklichen, werden in allen Städten Rußlands, in welchen Juden leben, Vereine gegründet, welche den Zweck haben werden, die be- reits bekehrten oder noch zu bekehrenden Juden moraliſch und materiell zu unterſtützen, ihnen An- ſtellungen und dergleichen zu verſchaffen, für die Aus- bildung ihrer Kinder zu ſorgen und ſie vor An- feindungen, Verfolgungen u. ſ. w. zu ſchützen. Ein ſolcher Verein habe ſich bereits in Odeſſa unter dem Namen „Verein zur Unterſtützung der Juden, welche den orthodox-chriſt- lichen Glauben angenommen haben“ conſtituirt und ein zweiter gleicher Verein ſei gegen- wärtig in Warſchau im Entſtehen begriffen. Warſchau und Odeſſa ſeien die Mittelpunkt der zwei Rayons in Rußland, in welchen die meiſten Juden leben. Die ruſſiſche Perſönlichkeit, welche uns dieſe Mit- theilung zukommen ließ, ſandte uns gleichzeitig eine Nummer des Warſchauer amtlichen ruſſichen Blattes „Warſchowskij Dnewnik“ vom 7. November l. J., an deren Spitze ein Artikel über dieſen Gegenſtand ver- öffentlicht ſteht. Dieſer Artikel des ruſſiſchen Amts- organes iſt ſo intereſſant, daß wir nicht umhin können, denſelben hier vollinhaltlich wiederzugeben: „Die Gründung dieſes Vereines,“ heißt es da unter Anderem wörtlich, „erſcheint vollkommen zeitgemäß in Anbetracht der reformatoriſchen Be- ſtrebungen und der Gährung, welche gegenwärtig in der jüdiſchen Bevölkerung unſeres Staates vor ſich gehen. Unter den gebildeten Juden reift nun immer mehr die Ueberzeugung heran, daß unſer Judenthum einen un- möglichen Anachronismus in allen Beziehungen bildet und daß deſſen Reform unauſſchiebbar und nothwendig ſei. Projecte der Reform des Judenthums werden von ſehr vielen gebildeten Juden im Ueberfluß gemacht und einige der energiſchen Vertreter dieſer reformatoriſchen Bewegung haben, ohne ſich auf die Entwürfe dieſer Projecte zu beſchränken, Anhänger dieſer Ideen unter den Juden geworben und neue jüdiſche Secten ge- bildet.“ „Die jüdiſchen Reformatoren geben zu und er- klären, daß noch niemals, ſelbſt in den für das Judenthum ſchwierigſten Epochen die Lage desſelben ſo gefahrdrohend geweſen ſei, wie in der jetzigen Zeit. Das Judenthum habe auch in den früheren Zeiten gelitten, dasſelbe haben aber deſſen Glaube und deſſen Solidarität gerettet, was jetzt nicht mehr da ſei. Das Judenthum werde nicht von Außen bedroht, ihm drohe das in ihm anwachſende innere Uebel — die in ihm immer mehr zunehmende Schwächung ſeines Glaubens, welche es im Laufe ſo vieler Jahrhunderte zu einem feſten und widerſtandsfähigen Ganzen vereinigte. Dieſes Einigungsmittel beginne unter dem Ein- fluße der das Judenthum umgebenden Geſellſchaft und einer anderen Cultur zu zerfallen, und die frühere Solidarität der Juden wird Dank dem engherzigen, perſönlichen Egoismus und der moraliſchen Verdor- benheit immer lockerer. In den Juden niſten Mängel, die nur dieſem Volksſtamme eigen ſind und die in deren Charakter, in deren geiſtigen Anlagen und in deren moraliſchem Weſen Wurzel gefaßt haben. So lange die Juden iſolirt waren, waren dieſe Mängel weniger bemerkbar; ſeitdem ſie aber mit der übrigen Welt in unmittelbare, nächſte Berührung gekommen ſind, werden ihre Mängel umſo mehr empfunden und fallen umſo ſtärker auf. In Folge deſſen wird die Lage der Juden immer unnormaler.“ „Wie mächtig aber die Ueberzeugung der aufge- klärten Juden von der unaufſchiebbaren Nothwendig- keit der Reformirung des Judenthums durch die Be- lebung des religiöſen Gefühls in den Juden und durch die Reinigung deren Lehren von einer Menge ver- ſchiedener ſchädlicher Fälſchungen, die in dem Juden- thum im Laufe der langjährigen Herrſchaft des Faua- tismus, des Aberglaubens und der talmudiſchen Pſeudo-Caſuiſtik Wurzel gefaßt haben, auch iſt, die Erfolge der Reform inmitten des Judenthums ſind bis jetzt derart unbedeutend, daß man an deren Zu- kunft zweifeln muß. Eine ſolche ſkeptiſche Beurtheilung des Erfolges der zeitgenöſſiſchen jüdiſchen Reforma- toren wird durch deren Entzweiung und die Nichtig- keit der von ihnen thatſächlich erreichten Reſultate ge- rechtfertigt. Ihre Entzweiung zeigte ſich an dem Auf- tauchen einiger jüdiſchen Secten mit einer geringen Anzahl Proſeliten, welche ſich von der neuen Lehre hinreißen ließen. Weder die „Bibliſche Bruderſchaft“ (in Jeliſſawetgrad), noch das „Neue Iſrael“ (in Odeſſa), noch die Kiſchinewer Anhänger Rabinowitſch’s, welche ſich „Iſraeliten des neuen Bundes“ nennen, konnten die in ihren religiöſen und ſocialen Traditionen verſampfenden jüdiſchen Maſſen erſchüttern und alle Reſultate ihrer Propaganda beſchränkten ſich auf den Abfall einer ſo geringen Anzahl von Juden, daß man in derſelben keine Symptome der Möglichkeit der Reform des Judenthums in unſerer Zeit erblicken kann.“ „Doch wie gering auch die Erfolge der Reform des Judenthums ſind, dieſelben zeigen, mit vielen noch nicht verwirklichten Projecten zuſammengeſtellt, daß unter den Juden immer mehr die Ueberzeugung platz- greife und erſtarke, daß ein weiteres unbewegliches Verharren der Juden in den alten, abgelebten Formen des Cultus und des ſocialen Daſeins unmöglich ſei. Die Juden ſuchen einen Ausweg aus dem Dunkel der Verirrung und des Fanatismus und daher müſſen wir das Entſtehen eines orthodoxen Vereines, welcher ſich zu dem Zwecke organiſirt, um den zu unſerem heiligen Glauben bekehrten Juden zu helfen, mit beſonderer Freude begrüßen. Die Organiſation einer ſolchen Hilfe, auf der

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 280, Wien, 06.12.1894, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost280_1894/1>, abgerufen am 29.03.2024.