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Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.

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Bündnisse geknüpft, zerrissen und aufs neue geknüpft
werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz
zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Bür-
gern vergönnt, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu
richten, und ihre Kräfte zu einem verständigen Zwecke
zu versammeln!

Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bür-
gerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die
Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die
ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu
unsrer Kultur, wie die entlegendsten Welttheile zu un-
serm Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Würze
an unsern Speisen und der Preis, um den wir sie kau-
fen, viele unsrer kräftigsten Heilmittel, und eben so
viele neue Werkzeuge unsers Verderbens -- setzen sie
nicht einen Columbus voraus, der Amerika entdeckte,
einen Vasco de Gama, der die Spitze von Afrika um-
schiffte?

Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenhei-
ten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum An-
fange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache
und Wirkung in einander greifen. Ganz und vollzäh-
lich überschauen kann sie nur der unendliche Verstand;
dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt. I. Unzäh-
lig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen mensch-
lichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder sie sind
durch kein Zeichen fest gehalten worden. Dahin gehö-

ren

Buͤndniſſe geknuͤpft, zerriſſen und aufs neue geknuͤpft
werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundſatz
zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Buͤr-
gern vergoͤnnt, ihre Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt zu
richten, und ihre Kraͤfte zu einem verſtaͤndigen Zwecke
zu verſammeln!

Selbſt in den alltaͤglichſten Verrichtungen des buͤr-
gerlichen Lebens koͤnnen wir es nicht vermeiden, die
Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die
ungleichartigſten Perioden der Menſchheit ſteuern zu
unſrer Kultur, wie die entlegendſten Welttheile zu un-
ſerm Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Wuͤrze
an unſern Speiſen und der Preis, um den wir ſie kau-
fen, viele unſrer kraͤftigſten Heilmittel, und eben ſo
viele neue Werkzeuge unſers Verderbens — ſetzen ſie
nicht einen Columbus voraus, der Amerika entdeckte,
einen Vaſco de Gama, der die Spitze von Afrika um-
ſchiffte?

Es zieht ſich alſo eine lange Kette von Begebenhei-
ten von dem gegenwaͤrtigen Augenblicke bis zum An-
fange des Menſchengeſchlechts hinauf, die wie Urſache
und Wirkung in einander greifen. Ganz und vollzaͤh-
lich uͤberſchauen kann ſie nur der unendliche Verſtand;
dem Menſchen ſind engere Grenzen geſetzt. I. Unzaͤh-
lig viele dieſer Ereigniſſe haben entweder keinen menſch-
lichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder ſie ſind
durch kein Zeichen feſt gehalten worden. Dahin gehoͤ-

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[22/0024] Buͤndniſſe geknuͤpft, zerriſſen und aufs neue geknuͤpft werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundſatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Buͤr- gern vergoͤnnt, ihre Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt zu richten, und ihre Kraͤfte zu einem verſtaͤndigen Zwecke zu verſammeln! Selbſt in den alltaͤglichſten Verrichtungen des buͤr- gerlichen Lebens koͤnnen wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigſten Perioden der Menſchheit ſteuern zu unſrer Kultur, wie die entlegendſten Welttheile zu un- ſerm Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Wuͤrze an unſern Speiſen und der Preis, um den wir ſie kau- fen, viele unſrer kraͤftigſten Heilmittel, und eben ſo viele neue Werkzeuge unſers Verderbens — ſetzen ſie nicht einen Columbus voraus, der Amerika entdeckte, einen Vaſco de Gama, der die Spitze von Afrika um- ſchiffte? Es zieht ſich alſo eine lange Kette von Begebenhei- ten von dem gegenwaͤrtigen Augenblicke bis zum An- fange des Menſchengeſchlechts hinauf, die wie Urſache und Wirkung in einander greifen. Ganz und vollzaͤh- lich uͤberſchauen kann ſie nur der unendliche Verſtand; dem Menſchen ſind engere Grenzen geſetzt. I. Unzaͤh- lig viele dieſer Ereigniſſe haben entweder keinen menſch- lichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder ſie ſind durch kein Zeichen feſt gehalten worden. Dahin gehoͤ- ren

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/24>, abgerufen am 28.03.2024.