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Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.

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fenbaren: "daß der selbstsüchtige Mensch niedrige
Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortrefliche
befördert."

Kein falscher Schimmer wird sie blenden, kein
Vorurtheil der Zeit sie dahinreissen, denn sie erlebt
das letzte Schicksal aller Dinge. Alles was aufhört,
hat für sie gleich kurz gedauert: sie hält den verdienten
Olivenkranz frisch, und zerbricht den Obelisken, den
die Eitelkeit thürmte. Indem sie das feine Getriebe
auseinander legt, wodurch die stille Hand der Natur
schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Men-
schen planvoll entwickelt, und mit Genauigkeit andeu-
tet, was in jedem Zeitraume für diesen großen Natur-
plan gewonnen worden ist: so stellt sie den wahren
Maaßstab für Glückseligkeit und Verdienst wieder her,
den der herrschende Wahn in jedem Jahrhundert an-
ders verfälschte. Sie heilt uns von der übertriebenen
Bewunderung des Alterthums, und von der kindi-
schen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten; und indem
sie uns auf unsre eigenen Besitzungen aufmerksam
macht, läßt sie uns die gepriesenen goldnen Zeiten
Alexanders und Augusts nicht zurückwünschen.

Unser menschliches Jahrhundert herbey zu füh-
ren haben sich -- ohne es zu wissen oder zu erzielen --
alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind
alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und
Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimge-

bracht

fenbaren: „daß der ſelbſtſuͤchtige Menſch niedrige
Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortrefliche
befoͤrdert."

Kein falſcher Schimmer wird ſie blenden, kein
Vorurtheil der Zeit ſie dahinreiſſen, denn ſie erlebt
das letzte Schickſal aller Dinge. Alles was aufhoͤrt,
hat fuͤr ſie gleich kurz gedauert: ſie haͤlt den verdienten
Olivenkranz friſch, und zerbricht den Obeliſken, den
die Eitelkeit thuͤrmte. Indem ſie das feine Getriebe
auseinander legt, wodurch die ſtille Hand der Natur
ſchon ſeit dem Anfang der Welt die Kraͤfte des Men-
ſchen planvoll entwickelt, und mit Genauigkeit andeu-
tet, was in jedem Zeitraume fuͤr dieſen großen Natur-
plan gewonnen worden iſt: ſo ſtellt ſie den wahren
Maaßſtab fuͤr Gluͤckſeligkeit und Verdienſt wieder her,
den der herrſchende Wahn in jedem Jahrhundert an-
ders verfaͤlſchte. Sie heilt uns von der uͤbertriebenen
Bewunderung des Alterthums, und von der kindi-
ſchen Sehnſucht nach vergangenen Zeiten; und indem
ſie uns auf unſre eigenen Beſitzungen aufmerkſam
macht, laͤßt ſie uns die geprieſenen goldnen Zeiten
Alexanders und Auguſts nicht zuruͤckwuͤnſchen.

Unſer menſchliches Jahrhundert herbey zu fuͤh-
ren haben ſich — ohne es zu wiſſen oder zu erzielen —
alle vorhergehenden Zeitalter angeſtrengt. Unſer ſind
alle Schaͤtze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und
Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimge-

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[31/0033] fenbaren: „daß der ſelbſtſuͤchtige Menſch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortrefliche befoͤrdert." Kein falſcher Schimmer wird ſie blenden, kein Vorurtheil der Zeit ſie dahinreiſſen, denn ſie erlebt das letzte Schickſal aller Dinge. Alles was aufhoͤrt, hat fuͤr ſie gleich kurz gedauert: ſie haͤlt den verdienten Olivenkranz friſch, und zerbricht den Obeliſken, den die Eitelkeit thuͤrmte. Indem ſie das feine Getriebe auseinander legt, wodurch die ſtille Hand der Natur ſchon ſeit dem Anfang der Welt die Kraͤfte des Men- ſchen planvoll entwickelt, und mit Genauigkeit andeu- tet, was in jedem Zeitraume fuͤr dieſen großen Natur- plan gewonnen worden iſt: ſo ſtellt ſie den wahren Maaßſtab fuͤr Gluͤckſeligkeit und Verdienſt wieder her, den der herrſchende Wahn in jedem Jahrhundert an- ders verfaͤlſchte. Sie heilt uns von der uͤbertriebenen Bewunderung des Alterthums, und von der kindi- ſchen Sehnſucht nach vergangenen Zeiten; und indem ſie uns auf unſre eigenen Beſitzungen aufmerkſam macht, laͤßt ſie uns die geprieſenen goldnen Zeiten Alexanders und Auguſts nicht zuruͤckwuͤnſchen. Unſer menſchliches Jahrhundert herbey zu fuͤh- ren haben ſich — ohne es zu wiſſen oder zu erzielen — alle vorhergehenden Zeitalter angeſtrengt. Unſer ſind alle Schaͤtze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimge- bracht

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/33>, abgerufen am 29.03.2024.