Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Jupiter unter der Gestalt eines Gutes ein blendendes
Uebel geschaffen, und nannte sie Pandora, das heißt
die Allbeschenkte, denn jeder der Unsterblichen hatte
dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geschenk für
die Menschen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬
frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit
den Göttern lustwandelten. Alle mit einander bewunder¬
ten die unvergleichliche Gestalt. Sie aber schritt zu Epi¬
metheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm
das Geschenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte
diesen der Bruder gewarnt, niemals ein Geschenk vom
Olympischen Jupiter anzunehmen, damit dem Menschen
kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort zurück¬
zusenden. Epimetheus, dieses Wortes uneingedenk, nahm
die schöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das
Uebel erst als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬
schlechter der Menschen, von seinem Bruder berathen, frei
vom Uebel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende
Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr
Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen.
Kaum bei Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel
zurück, und alsbald entflog dem Gefässe eine Schaar von
Uebeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die
Erde. Ein einziges Gut war zu unterst in dem Fasse
verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬
vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe sie her¬
ausflattern konnte und verschloß sie für immer in dem
Gefäß. Das Elend füllte inzwischen in allen Gestalten
Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag
und bei Nacht unter den Menschen umher, heimlich und
schweigend, denn Jupiter hatte ihnen keine Stimme gege¬

Jupiter unter der Geſtalt eines Gutes ein blendendes
Uebel geſchaffen, und nannte ſie Pandora, das heißt
die Allbeſchenkte, denn jeder der Unſterblichen hatte
dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geſchenk für
die Menſchen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬
frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermiſcht mit
den Göttern luſtwandelten. Alle mit einander bewunder¬
ten die unvergleichliche Geſtalt. Sie aber ſchritt zu Epi¬
metheus, dem argloſeren Bruder des Prometheus, ihm
das Geſchenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte
dieſen der Bruder gewarnt, niemals ein Geſchenk vom
Olympiſchen Jupiter anzunehmen, damit dem Menſchen
kein Leid dadurch widerführe, ſondern es ſofort zurück¬
zuſenden. Epimetheus, dieſes Wortes uneingedenk, nahm
die ſchöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das
Uebel erſt als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬
ſchlechter der Menſchen, von ſeinem Bruder berathen, frei
vom Uebel, ohne beſchwerliche Arbeit, ohne quälende
Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr
Geſchenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel verſehen.
Kaum bei Epimetheus angekommen, ſchlug ſie den Deckel
zurück, und alsbald entflog dem Gefäſſe eine Schaar von
Uebeln und verbreitete ſich mit Blitzesſchnelle über die
Erde. Ein einziges Gut war zu unterſt in dem Faſſe
verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬
vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe ſie her¬
ausflattern konnte und verſchloß ſie für immer in dem
Gefäß. Das Elend füllte inzwiſchen in allen Geſtalten
Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag
und bei Nacht unter den Menſchen umher, heimlich und
ſchweigend, denn Jupiter hatte ihnen keine Stimme gege¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0033" n="7"/>
Jupiter unter der Ge&#x017F;talt eines Gutes ein blendendes<lb/>
Uebel ge&#x017F;chaffen, und nannte &#x017F;ie <hi rendition="#g">Pandora</hi>, das heißt<lb/>
die <hi rendition="#g">Allbe&#x017F;chenkte</hi>, denn jeder der Un&#x017F;terblichen hatte<lb/>
dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Ge&#x017F;chenk für<lb/>
die Men&#x017F;chen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬<lb/>
frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermi&#x017F;cht mit<lb/>
den Göttern lu&#x017F;twandelten. Alle mit einander bewunder¬<lb/>
ten die unvergleichliche Ge&#x017F;talt. Sie aber &#x017F;chritt zu Epi¬<lb/>
metheus, dem arglo&#x017F;eren Bruder des Prometheus, ihm<lb/>
das Ge&#x017F;chenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte<lb/>
die&#x017F;en der Bruder gewarnt, niemals ein Ge&#x017F;chenk vom<lb/>
Olympi&#x017F;chen Jupiter anzunehmen, damit dem Men&#x017F;chen<lb/>
kein Leid dadurch widerführe, &#x017F;ondern es &#x017F;ofort zurück¬<lb/>
zu&#x017F;enden. Epimetheus, die&#x017F;es Wortes uneingedenk, nahm<lb/>
die &#x017F;chöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das<lb/>
Uebel er&#x017F;t als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬<lb/>
&#x017F;chlechter der Men&#x017F;chen, von &#x017F;einem Bruder berathen, frei<lb/>
vom Uebel, ohne be&#x017F;chwerliche Arbeit, ohne quälende<lb/>
Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr<lb/>
Ge&#x017F;chenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel ver&#x017F;ehen.<lb/>
Kaum bei Epimetheus angekommen, &#x017F;chlug &#x017F;ie den Deckel<lb/>
zurück, und alsbald entflog dem Gefä&#x017F;&#x017F;e eine Schaar von<lb/>
Uebeln und verbreitete &#x017F;ich mit Blitzes&#x017F;chnelle über die<lb/>
Erde. Ein einziges Gut war zu unter&#x017F;t in dem Fa&#x017F;&#x017F;e<lb/>
verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬<lb/>
vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe &#x017F;ie her¬<lb/>
ausflattern konnte und ver&#x017F;chloß &#x017F;ie für immer in dem<lb/>
Gefäß. Das Elend füllte inzwi&#x017F;chen in allen Ge&#x017F;talten<lb/>
Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag<lb/>
und bei Nacht unter den Men&#x017F;chen umher, heimlich und<lb/>
&#x017F;chweigend, denn Jupiter hatte ihnen keine Stimme gege¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0033] Jupiter unter der Geſtalt eines Gutes ein blendendes Uebel geſchaffen, und nannte ſie Pandora, das heißt die Allbeſchenkte, denn jeder der Unſterblichen hatte dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geſchenk für die Menſchen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬ frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermiſcht mit den Göttern luſtwandelten. Alle mit einander bewunder¬ ten die unvergleichliche Geſtalt. Sie aber ſchritt zu Epi¬ metheus, dem argloſeren Bruder des Prometheus, ihm das Geſchenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte dieſen der Bruder gewarnt, niemals ein Geſchenk vom Olympiſchen Jupiter anzunehmen, damit dem Menſchen kein Leid dadurch widerführe, ſondern es ſofort zurück¬ zuſenden. Epimetheus, dieſes Wortes uneingedenk, nahm die ſchöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das Uebel erſt als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬ ſchlechter der Menſchen, von ſeinem Bruder berathen, frei vom Uebel, ohne beſchwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr Geſchenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel verſehen. Kaum bei Epimetheus angekommen, ſchlug ſie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäſſe eine Schaar von Uebeln und verbreitete ſich mit Blitzesſchnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zu unterſt in dem Faſſe verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬ vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe ſie her¬ ausflattern konnte und verſchloß ſie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte inzwiſchen in allen Geſtalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter den Menſchen umher, heimlich und ſchweigend, denn Jupiter hatte ihnen keine Stimme gege¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/33
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/33>, abgerufen am 29.03.2024.