Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Sobald die doppelte Unthat geschehen war, gedach¬
ten die Mörder, auf ihren Anhang vertrauend, sie nicht
länger zu verbergen. Die beiden Leichname wurden im
Pallaste ausgestellt; Klytämnestra berief die Häupter der
Stadt und sprach ohne Rückhalt und ohne Scheu: "Ver¬
arget mir, Freunde, meine bisherige Verstellung nicht.
Ich habe dem Todfeinde meines Hauses, dem Mörder
meines geliebtesten Kindes seine Blutschuld nicht anders
bezahlen können; ja ich habe ihn ins Netz gelockt, wie
einen Fisch habe ich ihn gefangen; mit drei Dolchstichen,
im Namen des unterirdischen Pluto geführt, habe ich
meine Tochter gerächt. Es ist Agamemnon, mein Gatte,
von meiner eigenen Hand umgebracht, ich läugne es
nicht. Hat er doch, als handelte es sich von dem Tode
eines Schlachtviehes, sein eigenes Kind, mir das liebste,
geopfert, um mit meinem Mutterschmerze die thracischen
Winde zu besänftigen. Verdiente ein solcher Frevler zu
leben, verdiente er ein so schönes, ein so frommes Land
zu beherrschen? Ist's nicht gerechter, daß Aegisthus euch
befehle, der keinen Kindermord auf dem Gewissen hat,
der in Atreus und im Atriden nur Erbfeinde seines
Vaters gerächt hat? Ja es ist billig, daß ich ihm die
Hand reiche, daß ich Pallast und Thron mit ihm theile,
der das Werk der beleidigten Mutterliebe, das Werk
der Gerechtigkeit mir vollbringen half. Er ist ein Schild
meiner Kühnheit; so lang er und sein Anhang mich be¬
schützt, wird Niemand es wagen, mich wegen meiner
That zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Was diese
Sklavin betrifft" (mit diesen Worten deutete sie auf
Kassandra's Leichnam) "so war sie die Buhlerin des
Treulosen; sie hat die Strafe des Ehebruchs erlitten,

Sobald die doppelte Unthat geſchehen war, gedach¬
ten die Mörder, auf ihren Anhang vertrauend, ſie nicht
länger zu verbergen. Die beiden Leichname wurden im
Pallaſte ausgeſtellt; Klytämneſtra berief die Häupter der
Stadt und ſprach ohne Rückhalt und ohne Scheu: „Ver¬
arget mir, Freunde, meine bisherige Verſtellung nicht.
Ich habe dem Todfeinde meines Hauſes, dem Mörder
meines geliebteſten Kindes ſeine Blutſchuld nicht anders
bezahlen können; ja ich habe ihn ins Netz gelockt, wie
einen Fiſch habe ich ihn gefangen; mit drei Dolchſtichen,
im Namen des unterirdiſchen Pluto geführt, habe ich
meine Tochter gerächt. Es iſt Agamemnon, mein Gatte,
von meiner eigenen Hand umgebracht, ich läugne es
nicht. Hat er doch, als handelte es ſich von dem Tode
eines Schlachtviehes, ſein eigenes Kind, mir das liebſte,
geopfert, um mit meinem Mutterſchmerze die thraciſchen
Winde zu beſänftigen. Verdiente ein ſolcher Frevler zu
leben, verdiente er ein ſo ſchönes, ein ſo frommes Land
zu beherrſchen? Iſt's nicht gerechter, daß Aegiſthus euch
befehle, der keinen Kindermord auf dem Gewiſſen hat,
der in Atreus und im Atriden nur Erbfeinde ſeines
Vaters gerächt hat? Ja es iſt billig, daß ich ihm die
Hand reiche, daß ich Pallaſt und Thron mit ihm theile,
der das Werk der beleidigten Mutterliebe, das Werk
der Gerechtigkeit mir vollbringen half. Er iſt ein Schild
meiner Kühnheit; ſo lang er und ſein Anhang mich be¬
ſchützt, wird Niemand es wagen, mich wegen meiner
That zur Rechenſchaft ziehen zu wollen. Was dieſe
Sklavin betrifft“ (mit dieſen Worten deutete ſie auf
Kaſſandra's Leichnam) „ſo war ſie die Buhlerin des
Treuloſen; ſie hat die Strafe des Ehebruchs erlitten,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0034" n="12"/>
            <p>Sobald die doppelte Unthat ge&#x017F;chehen war, gedach¬<lb/>
ten die Mörder, auf ihren Anhang vertrauend, &#x017F;ie nicht<lb/>
länger zu verbergen. Die beiden Leichname wurden im<lb/>
Palla&#x017F;te ausge&#x017F;tellt; Klytämne&#x017F;tra berief die Häupter der<lb/>
Stadt und &#x017F;prach ohne Rückhalt und ohne Scheu: &#x201E;Ver¬<lb/>
arget mir, Freunde, meine bisherige Ver&#x017F;tellung nicht.<lb/>
Ich habe dem Todfeinde meines Hau&#x017F;es, dem Mörder<lb/>
meines geliebte&#x017F;ten Kindes &#x017F;eine Blut&#x017F;chuld nicht anders<lb/>
bezahlen können; ja ich habe ihn ins Netz gelockt, wie<lb/>
einen Fi&#x017F;ch habe ich ihn gefangen; mit drei Dolch&#x017F;tichen,<lb/>
im Namen des unterirdi&#x017F;chen Pluto geführt, habe ich<lb/>
meine Tochter gerächt. Es i&#x017F;t Agamemnon, mein Gatte,<lb/>
von meiner eigenen Hand umgebracht, ich läugne es<lb/>
nicht. Hat er doch, als handelte es &#x017F;ich von dem Tode<lb/>
eines Schlachtviehes, &#x017F;ein eigenes Kind, mir das lieb&#x017F;te,<lb/>
geopfert, um mit meinem Mutter&#x017F;chmerze die thraci&#x017F;chen<lb/>
Winde zu be&#x017F;änftigen. Verdiente ein &#x017F;olcher Frevler zu<lb/>
leben, verdiente er ein &#x017F;o &#x017F;chönes, ein &#x017F;o frommes Land<lb/>
zu beherr&#x017F;chen? I&#x017F;t's nicht gerechter, daß Aegi&#x017F;thus euch<lb/>
befehle, der keinen Kindermord auf dem Gewi&#x017F;&#x017F;en hat,<lb/>
der in Atreus und im Atriden nur Erbfeinde &#x017F;eines<lb/>
Vaters gerächt hat? Ja es i&#x017F;t billig, daß ich ihm die<lb/>
Hand reiche, daß ich Palla&#x017F;t und Thron mit ihm theile,<lb/>
der das Werk der beleidigten Mutterliebe, das Werk<lb/>
der Gerechtigkeit mir vollbringen half. Er i&#x017F;t ein Schild<lb/>
meiner Kühnheit; &#x017F;o lang er und &#x017F;ein Anhang mich be¬<lb/>
&#x017F;chützt, wird Niemand es wagen, mich wegen meiner<lb/>
That zur Rechen&#x017F;chaft ziehen zu wollen. Was die&#x017F;e<lb/>
Sklavin betrifft&#x201C; (mit die&#x017F;en Worten deutete &#x017F;ie auf<lb/>
Ka&#x017F;&#x017F;andra's Leichnam) &#x201E;&#x017F;o war &#x017F;ie die Buhlerin des<lb/>
Treulo&#x017F;en; &#x017F;ie hat die Strafe des Ehebruchs erlitten,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0034] Sobald die doppelte Unthat geſchehen war, gedach¬ ten die Mörder, auf ihren Anhang vertrauend, ſie nicht länger zu verbergen. Die beiden Leichname wurden im Pallaſte ausgeſtellt; Klytämneſtra berief die Häupter der Stadt und ſprach ohne Rückhalt und ohne Scheu: „Ver¬ arget mir, Freunde, meine bisherige Verſtellung nicht. Ich habe dem Todfeinde meines Hauſes, dem Mörder meines geliebteſten Kindes ſeine Blutſchuld nicht anders bezahlen können; ja ich habe ihn ins Netz gelockt, wie einen Fiſch habe ich ihn gefangen; mit drei Dolchſtichen, im Namen des unterirdiſchen Pluto geführt, habe ich meine Tochter gerächt. Es iſt Agamemnon, mein Gatte, von meiner eigenen Hand umgebracht, ich läugne es nicht. Hat er doch, als handelte es ſich von dem Tode eines Schlachtviehes, ſein eigenes Kind, mir das liebſte, geopfert, um mit meinem Mutterſchmerze die thraciſchen Winde zu beſänftigen. Verdiente ein ſolcher Frevler zu leben, verdiente er ein ſo ſchönes, ein ſo frommes Land zu beherrſchen? Iſt's nicht gerechter, daß Aegiſthus euch befehle, der keinen Kindermord auf dem Gewiſſen hat, der in Atreus und im Atriden nur Erbfeinde ſeines Vaters gerächt hat? Ja es iſt billig, daß ich ihm die Hand reiche, daß ich Pallaſt und Thron mit ihm theile, der das Werk der beleidigten Mutterliebe, das Werk der Gerechtigkeit mir vollbringen half. Er iſt ein Schild meiner Kühnheit; ſo lang er und ſein Anhang mich be¬ ſchützt, wird Niemand es wagen, mich wegen meiner That zur Rechenſchaft ziehen zu wollen. Was dieſe Sklavin betrifft“ (mit dieſen Worten deutete ſie auf Kaſſandra's Leichnam) „ſo war ſie die Buhlerin des Treuloſen; ſie hat die Strafe des Ehebruchs erlitten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/34
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/34>, abgerufen am 18.04.2024.