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Schwimmer, Rosika: Sozialdemokratie und Frauenstimmrecht. In: Ethische Kultur 20 (1907), S. 153–155.

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Sozialdemokratie und Frauen-
stimmrecht.

Die Frage des Frauenstimmrechtes hat in den letzten
zwei Jahren Freunde und Feinde verblüffende Fortschritte
gemacht. Sie ist in dieser Zeit aus dem Stadium einer
als utopistisch angesehenen Ueberforderung "verrückter Frauen-
rechtlerinnen" in die sehr reale Sphäre der allgemeinen
Tagespolitik aufgerückt und so weit fortgeschritten, daß die
Sozialdemokratie ihr nunmehr auch praktische Bedeutung
beizumessen beginnt. Erst beginnt, denn die Füße scheinen
ihr auf dem Schwungbrett der theoretischen Anerkennung
von der Notwendigkeit des Frauenstimmrechts so fest ein-
geschlafen zu sein, daß sie sich sehr schwer zu dem Sprunge
in die praktische Förderung entschließt.

Nun wippt sie aber immer lebhafter auf ihrem Sprung-
brette, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so machte der
Stuttgarter internationale Sozialistenkongreß das längst
fällige Saltomortale.

Ein unvergängliches Verdienst hat sich die Sozialdemo-
kratie um die politische Gleichberechtigung der Frauen er-
worben. Allen übrigen politischen Parteien voran, hat sie
sie ins Programm aufgenommen. Alle übrigen Parteien,
die diese Forderung anerkannt haben, folgten ihr darin nur.
Aber dem großartigen ersten Schritt - der auf dem zweiten
internationalen Sozialistenkongreß zu Brüssel gefaßten Re-
solution für die volle politische Gleichberechtigung des weib-
lichen Geschlechtes - folgte eine schwere Reaktion.

Die parlamentarisch tätigen Sozialdemokraten versäumten
es nämlich, die Konsequenzen der Resolution zu ziehen, und
blieben bei der theoretischen Anerkennung entweder ganz
stehen oder sie taten Schlimmeres.

Anläßlich der Wahlkampagne 1902 zog die belgische
Sozialistenpartei scheinbar prinzipientreu das Frauenstimm-[Spaltenumbruch] recht auch in den Kreis seiner Parlamentsreform-Forderung,
ließ diese Forderung aber ohne Ueberlegung im Stich, als
die klerikale Partei erklärte, sie vollkommen zu akzeptieren.
Die Sozialdemokratie deckte den Rückzug mit der Ausrede,
die klerikale Geneigtheit zeigte, welchen Nutzen die verhaßte
Partei vom Frauenstimmrecht erwarte. Seither war es bei
allen radikalen Parteien, die logischerweise für das Frauen-
stimmrecht eintreten sollten, Trumpf: die klerikale Gefahr
gegen das Drängen der Frauenrechtlerinnen auszuspielen.

Jch hatte bereits vor Jahren Gelegenheit, die Unhalt-
barkeit dieses Argumentes darzulegen, und die Tatsache, daß die
Macht des Klerikalismus unter dem ausschließlichen Regime
der Männer entstanden und gewachsen ist, als Beweis heran-
zuziehen, dem ich als weiteren Beweis die offenkundige Ab-
neigung der klerikalen Regierungen (s.Z. in Holland) und Par-
lamentarier (bis auf Belgien in allen Ländern) hinzufügen
konnte. Wenn der Klerikalismus nur den geringsten Fort-
schritt vom Frauenstimmrecht zu erwarten hätte, so säßen
wahrscheinlich schon in allen Ländern Europas Frauen in
den Parlamenten. Der Klerus ist sich aber ganz genau be-
wußt, daß seine Macht, in der schwülen Finsternis des
Beichtstuhles unbegrenzt, im grellen Lichte der Oeffentlichkeit
zerrinnen würde. Er wird sich gewiß hüten, diese Krisis
heraufzubeschwören, denn durch die Zugänglichkeit der Frau
anderen Einflüssen gegenüber verliert er nicht nur die zu
radikalen Ueberzeugungen geneigten Frauen, sondern deren
jetzt durch den unkontrollierbaren Priester-Einfluß mit-
geangelten männlichen Angehörigen.

Einst hatte die aus dem gesellschaftlichen und industriellen
Leben vollkommen ausgeschlossene Frau eine einzige Ge-
meinschaft, in der sie auch zählte, wo sie sich auch als ein
dem Manne gleichwertiges Geschöpf fühlen durfte. Die
Kirche in ihrer äußerlichen Demokratie war die einzige Jn-
stitution, die der Frau auch das Gefühl ihrer selbst ver-
mittelte. Jst es ein Wunder, daß die Frau aus der Ab-
geschlossenheit der vier Wände in die einzige Gemeinschaft
flüchtete, die sie aufnahm, in die Kirche? Ueberall Abwehr,
hier Anziehung: so wurde die Frau klerikal, und sie bleibt
klerikal, so lange man ihr die Gemeinschaftlichkeit anderer
Kreise, anderer Jnteressen verwehrt. Und da sie innerhalb
ihrer vier Wände Mittel hat, sich der kirchlichen Lehren zu
bedienen, hängen die klerikalen Männer, oft vielleicht nur
unbewußt, an dem Faden, der im Beichtstuhl gesponnen wird.

Diese Minierarbeit verträgt aber nicht das Licht der
Oeffentlichkeit, in das sie in dem Moment geraten müßte,
da alle anderen Parteien auch politisches Jnteresse an der
Frau haben. Wie weit sie das aus der Erkenntnis dieser Tat-[Spaltenumbruch]

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Sozialdemokratie und Frauen-
stimmrecht.

Die Frage des Frauenstimmrechtes hat in den letzten
zwei Jahren Freunde und Feinde verblüffende Fortschritte
gemacht. Sie ist in dieser Zeit aus dem Stadium einer
als utopistisch angesehenen Ueberforderung „verrückter Frauen-
rechtlerinnen“ in die sehr reale Sphäre der allgemeinen
Tagespolitik aufgerückt und so weit fortgeschritten, daß die
Sozialdemokratie ihr nunmehr auch praktische Bedeutung
beizumessen beginnt. Erst beginnt, denn die Füße scheinen
ihr auf dem Schwungbrett der theoretischen Anerkennung
von der Notwendigkeit des Frauenstimmrechts so fest ein-
geschlafen zu sein, daß sie sich sehr schwer zu dem Sprunge
in die praktische Förderung entschließt.

Nun wippt sie aber immer lebhafter auf ihrem Sprung-
brette, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so machte der
Stuttgarter internationale Sozialistenkongreß das längst
fällige Saltomortale.

Ein unvergängliches Verdienst hat sich die Sozialdemo-
kratie um die politische Gleichberechtigung der Frauen er-
worben. Allen übrigen politischen Parteien voran, hat sie
sie ins Programm aufgenommen. Alle übrigen Parteien,
die diese Forderung anerkannt haben, folgten ihr darin nur.
Aber dem großartigen ersten Schritt – der auf dem zweiten
internationalen Sozialistenkongreß zu Brüssel gefaßten Re-
solution für die volle politische Gleichberechtigung des weib-
lichen Geschlechtes – folgte eine schwere Reaktion.

Die parlamentarisch tätigen Sozialdemokraten versäumten
es nämlich, die Konsequenzen der Resolution zu ziehen, und
blieben bei der theoretischen Anerkennung entweder ganz
stehen oder sie taten Schlimmeres.

Anläßlich der Wahlkampagne 1902 zog die belgische
Sozialistenpartei scheinbar prinzipientreu das Frauenstimm-[Spaltenumbruch] recht auch in den Kreis seiner Parlamentsreform-Forderung,
ließ diese Forderung aber ohne Ueberlegung im Stich, als
die klerikale Partei erklärte, sie vollkommen zu akzeptieren.
Die Sozialdemokratie deckte den Rückzug mit der Ausrede,
die klerikale Geneigtheit zeigte, welchen Nutzen die verhaßte
Partei vom Frauenstimmrecht erwarte. Seither war es bei
allen radikalen Parteien, die logischerweise für das Frauen-
stimmrecht eintreten sollten, Trumpf: die klerikale Gefahr
gegen das Drängen der Frauenrechtlerinnen auszuspielen.

Jch hatte bereits vor Jahren Gelegenheit, die Unhalt-
barkeit dieses Argumentes darzulegen, und die Tatsache, daß die
Macht des Klerikalismus unter dem ausschließlichen Regime
der Männer entstanden und gewachsen ist, als Beweis heran-
zuziehen, dem ich als weiteren Beweis die offenkundige Ab-
neigung der klerikalen Regierungen (s.Z. in Holland) und Par-
lamentarier (bis auf Belgien in allen Ländern) hinzufügen
konnte. Wenn der Klerikalismus nur den geringsten Fort-
schritt vom Frauenstimmrecht zu erwarten hätte, so säßen
wahrscheinlich schon in allen Ländern Europas Frauen in
den Parlamenten. Der Klerus ist sich aber ganz genau be-
wußt, daß seine Macht, in der schwülen Finsternis des
Beichtstuhles unbegrenzt, im grellen Lichte der Oeffentlichkeit
zerrinnen würde. Er wird sich gewiß hüten, diese Krisis
heraufzubeschwören, denn durch die Zugänglichkeit der Frau
anderen Einflüssen gegenüber verliert er nicht nur die zu
radikalen Ueberzeugungen geneigten Frauen, sondern deren
jetzt durch den unkontrollierbaren Priester-Einfluß mit-
geangelten männlichen Angehörigen.

Einst hatte die aus dem gesellschaftlichen und industriellen
Leben vollkommen ausgeschlossene Frau eine einzige Ge-
meinschaft, in der sie auch zählte, wo sie sich auch als ein
dem Manne gleichwertiges Geschöpf fühlen durfte. Die
Kirche in ihrer äußerlichen Demokratie war die einzige Jn-
stitution, die der Frau auch das Gefühl ihrer selbst ver-
mittelte. Jst es ein Wunder, daß die Frau aus der Ab-
geschlossenheit der vier Wände in die einzige Gemeinschaft
flüchtete, die sie aufnahm, in die Kirche? Ueberall Abwehr,
hier Anziehung: so wurde die Frau klerikal, und sie bleibt
klerikal, so lange man ihr die Gemeinschaftlichkeit anderer
Kreise, anderer Jnteressen verwehrt. Und da sie innerhalb
ihrer vier Wände Mittel hat, sich der kirchlichen Lehren zu
bedienen, hängen die klerikalen Männer, oft vielleicht nur
unbewußt, an dem Faden, der im Beichtstuhl gesponnen wird.

Diese Minierarbeit verträgt aber nicht das Licht der
Oeffentlichkeit, in das sie in dem Moment geraten müßte,
da alle anderen Parteien auch politisches Jnteresse an der
Frau haben. Wie weit sie das aus der Erkenntnis dieser Tat-[Spaltenumbruch]

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Zitationshilfe: Schwimmer, Rosika: Sozialdemokratie und Frauenstimmrecht. In: Ethische Kultur 20 (1907), S. 153–155, hier S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwimmer_sozialdemokratie_1907/1>, abgerufen am 29.03.2024.