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Simmel, Georg: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung. In: Die Zukunft, 26. Februar, Bd. 22 (1898), S. 386–396.

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Stefan George.
Eine kunstphilosophische Betrachtung.
Bescheide Dich, wenn nur im Schattenschleier
Mild schimmernd Du genossne Fülle schaust
Und durch die müden Lüfte ein Befreier,
Der Wind der Weiten, zärtlich um uns braust.
Und sieh, die Tage, die wie Wunden brannten
Jn unsrer Vorgeschichte, schwinden schnell,
Doch alle Dinge, die wir Blumen nannten,
Versammeln sich am toten Quell.
Stefan George, Das Jahr der Seele.[ Berlin, 1897, S. [47].]*)
I.

Wenn alles Erkennen der Dinge und unser selbst nichts Anderes giebt als den Schein und Schimmer ihrer geheimnißvollen Wirklichkeit, wenn das Bild von uns, das unser Bewußtsein zeigt, nur ein Bild unseres wahrsten, wirklichsten Seins ist, so scheint das tiefste Leben der Seele mit all seiner Unerkennbarkeit dennoch als Gefühl für uns zu leben; als wüchse dies ganz unmittelbar aus den Wurzeln unseres Wesens auf; als spräche in ihm die Seele selbst, während in allem anderen Bewußtsein nur das Echo ihrer Stimme anklingt. Wenn wir Liebe oder Haß, Zorn oder Demuth, Entzücken oder Verzweiflung fühlen: Das sind wir, Das ist unsere Wirklichkeit, die gleich zum Schatten ihrer selbst abblaßt, sobald der Verstand daraus ein Bild der Erkenntniß und Selbsterkenntniß formt. Und dennoch: diese tiefste Einheit des Gefühles läßt in ihm selbst noch einer Scheidelinie Raum, für deren Diesseits und Jenseits noch keine Bezeichnungen gefunden sind. Vielerlei Augenblicke nämlich, ja ganze Szenen und Akte des Lebens durchfühlen wir in einer eigenthümlich fremden Art, als einen reinen Gefühlsinhalt, in dem die Note des Nur-Persönlichen fehlt, als ein gleichsam objektives Erleben der selben inneren Erregungen, die uns sonst als unser Persönlichstes erschüttern, die unser eigenstes Sein bedeuten. Was so, in Begriffen gedacht, einen Widerspruch zu enthalten scheint: daß die innerlichste Energie unserer Seele, in der allein ihr ungebrochen subjektives Wesen lebt, in dem sie ganz nur sie selbst

*) Von Stefan George sind bisher die folgenden Gedichtcyklen erschienen: Hymnen (1890), Pilgerfahrten (1891), Algabal (1892), die Bücher der Hirten und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (1895), das Jahr der Seele (1897). Alle sind nur in ganz wenigen Exemplaren gedruckt und im Buchhandel kaum erhältlich. Die von George und seinen Anhängern seit einigen Jahren herausgegebene Zeitschrift "Blätter für die Kunst" ist zwar auch nur für einen geladenen Leserkreis gedruckt, doch sind einzelne Hefte hier und da käuflich.
Stefan George.
Eine kunstphilosophische Betrachtung.
Bescheide Dich, wenn nur im Schattenschleier
Mild schimmernd Du genossne Fülle schaust
Und durch die müden Lüfte ein Befreier,
Der Wind der Weiten, zärtlich um uns braust.
Und sieh, die Tage, die wie Wunden brannten
Jn unsrer Vorgeschichte, schwinden schnell,
Doch alle Dinge, die wir Blumen nannten,
Versammeln sich am toten Quell.
Stefan George, Das Jahr der Seele.[ Berlin, 1897, S. [47].]*)
I.

Wenn alles Erkennen der Dinge und unser selbst nichts Anderes giebt als den Schein und Schimmer ihrer geheimnißvollen Wirklichkeit, wenn das Bild von uns, das unser Bewußtsein zeigt, nur ein Bild unseres wahrsten, wirklichsten Seins ist, so scheint das tiefste Leben der Seele mit all seiner Unerkennbarkeit dennoch als Gefühl für uns zu leben; als wüchse dies ganz unmittelbar aus den Wurzeln unseres Wesens auf; als spräche in ihm die Seele selbst, während in allem anderen Bewußtsein nur das Echo ihrer Stimme anklingt. Wenn wir Liebe oder Haß, Zorn oder Demuth, Entzücken oder Verzweiflung fühlen: Das sind wir, Das ist unsere Wirklichkeit, die gleich zum Schatten ihrer selbst abblaßt, sobald der Verstand daraus ein Bild der Erkenntniß und Selbsterkenntniß formt. Und dennoch: diese tiefste Einheit des Gefühles läßt in ihm selbst noch einer Scheidelinie Raum, für deren Diesseits und Jenseits noch keine Bezeichnungen gefunden sind. Vielerlei Augenblicke nämlich, ja ganze Szenen und Akte des Lebens durchfühlen wir in einer eigenthümlich fremden Art, als einen reinen Gefühlsinhalt, in dem die Note des Nur-Persönlichen fehlt, als ein gleichsam objektives Erleben der selben inneren Erregungen, die uns sonst als unser Persönlichstes erschüttern, die unser eigenstes Sein bedeuten. Was so, in Begriffen gedacht, einen Widerspruch zu enthalten scheint: daß die innerlichste Energie unserer Seele, in der allein ihr ungebrochen subjektives Wesen lebt, in dem sie ganz nur sie selbst

*) Von Stefan George sind bisher die folgenden Gedichtcyklen erschienen: Hymnen (1890), Pilgerfahrten (1891), Algabal (1892), die Bücher der Hirten und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (1895), das Jahr der Seele (1897). Alle sind nur in ganz wenigen Exemplaren gedruckt und im Buchhandel kaum erhältlich. Die von George und seinen Anhängern seit einigen Jahren herausgegebene Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ ist zwar auch nur für einen geladenen Leserkreis gedruckt, doch sind einzelne Hefte hier und da käuflich.
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[386/0002] Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung. Bescheide Dich, wenn nur im Schattenschleier Mild schimmernd Du genossne Fülle schaust Und durch die müden Lüfte ein Befreier, Der Wind der Weiten, zärtlich um uns braust. Und sieh, die Tage, die wie Wunden brannten Jn unsrer Vorgeschichte, schwinden schnell, Doch alle Dinge, die wir Blumen nannten, Versammeln sich am toten Quell. Stefan George, Das Jahr der Seele. Berlin, 1897, S. [47]. *) I. Wenn alles Erkennen der Dinge und unser selbst nichts Anderes giebt als den Schein und Schimmer ihrer geheimnißvollen Wirklichkeit, wenn das Bild von uns, das unser Bewußtsein zeigt, nur ein Bild unseres wahrsten, wirklichsten Seins ist, so scheint das tiefste Leben der Seele mit all seiner Unerkennbarkeit dennoch als Gefühl für uns zu leben; als wüchse dies ganz unmittelbar aus den Wurzeln unseres Wesens auf; als spräche in ihm die Seele selbst, während in allem anderen Bewußtsein nur das Echo ihrer Stimme anklingt. Wenn wir Liebe oder Haß, Zorn oder Demuth, Entzücken oder Verzweiflung fühlen: Das sind wir, Das ist unsere Wirklichkeit, die gleich zum Schatten ihrer selbst abblaßt, sobald der Verstand daraus ein Bild der Erkenntniß und Selbsterkenntniß formt. Und dennoch: diese tiefste Einheit des Gefühles läßt in ihm selbst noch einer Scheidelinie Raum, für deren Diesseits und Jenseits noch keine Bezeichnungen gefunden sind. Vielerlei Augenblicke nämlich, ja ganze Szenen und Akte des Lebens durchfühlen wir in einer eigenthümlich fremden Art, als einen reinen Gefühlsinhalt, in dem die Note des Nur-Persönlichen fehlt, als ein gleichsam objektives Erleben der selben inneren Erregungen, die uns sonst als unser Persönlichstes erschüttern, die unser eigenstes Sein bedeuten. Was so, in Begriffen gedacht, einen Widerspruch zu enthalten scheint: daß die innerlichste Energie unserer Seele, in der allein ihr ungebrochen subjektives Wesen lebt, in dem sie ganz nur sie selbst *) Von Stefan George sind bisher die folgenden Gedichtcyklen erschienen: Hymnen (1890), Pilgerfahrten (1891), Algabal (1892), die Bücher der Hirten und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (1895), das Jahr der Seele (1897). Alle sind nur in ganz wenigen Exemplaren gedruckt und im Buchhandel kaum erhältlich. Die von George und seinen Anhängern seit einigen Jahren herausgegebene Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ ist zwar auch nur für einen geladenen Leserkreis gedruckt, doch sind einzelne Hefte hier und da käuflich.

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung. In: Die Zukunft, 26. Februar, Bd. 22 (1898), S. 386–396, hier S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_george_1898/2>, abgerufen am 28.03.2024.