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Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. In: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Erster Vortrag. München, 1919.

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Physik, Chemie, Astronomie setzen als selbstverständlich voraus,
daß die - soweit die Wissenschaft reicht, konstruierbaren -
letzten Gesetze des kosmischen Geschehens wert sind, gekannt
zu werden. Nicht nur, weil man mit diesen Kenntnissen tech-
nische Erfolge erzielen kann, sondern, wenn sie "Beruf" sein sollen,
"um ihrer selbst willen". Diese Voraussetzung ist selbst schlecht-
hin nicht beweisbar. Und ob diese Welt, die sie beschreiben,
wert ist, zu existieren: ob sie einen "Sinn" hat, und ob es einen
Sinn hat: in ihr zu existieren, erst recht nicht. Danach fragen
sie nicht. Oder nehmen Sie eine wissenschaftlich so hoch ent-
wickelte praktische Kunstlehre wie die moderne Medizin. Die
allgemeine "Voraussetzung" des medizinischen Betriebs ist, tri-
vial ausgedrückt: daß die Aufgabe der Erhaltung des Lebens
rein als solche und die möglichste Verminderung des Leidens
rein als solche bejaht werde. Und das ist problematisch. Der
Mediziner erhält mit seinen Mitteln den Todkranken, auch
wenn er um Erlösung vom Leben fleht, auch wenn die An-
gehörigen, denen dies Leben wertlos ist, die ihm die Erlösung
vom Leiden gönnen, denen die Kosten der Erhaltung des wertlosen
Lebens unerträglich werden - es handelt sich vielleicht um einen
armseligen Jrren - seinen Tod, eingestandener- oder uneingestan-
denermaßen, wünschen und wünschen müssen. Allein die Vor-
aussetzungen der Medizin und das Strafgesetzbuch hindern den
Arzt, davon abzugehen. Ob das Leben lebenswert ist und
wann? - danach fragt sie nicht. Alle Naturwissenschaften
geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun,
wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob
wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das
letztlich eigentlich Sinn hat: - das lassen sie ganz dahingestellt
oder setzen es für ihre Zwecke voraus. Oder nehmen sie
eine Dißiplin wie die Kunstwissenschaft. Die Tatsache,
daß es Kunstwerke gibt, ist der Ästhetik gegeben. Sie sucht
zu ergründen, unter welchen Bedingungen dieser Sachverhalt
vorliegt. Aber sie wirft die Frage nicht auf, ob das Reich
der Kunst nicht vielleicht ein Reich diabolischer Herrlichkeit
sei, ein Reich von dieser Welt, deshalb widergöttlich im
tiefsten Jnnern und in seinem tiefinnerlichst aristokratischen

Phyſik, Chemie, Aſtronomie ſetzen als ſelbſtverſtändlich voraus,
daß die – ſoweit die Wiſſenſchaft reicht, konſtruierbaren –
letzten Geſetze des kosmiſchen Geſchehens wert ſind, gekannt
zu werden. Nicht nur, weil man mit dieſen Kenntniſſen tech-
niſche Erfolge erzielen kann, ſondern, wenn ſie „Beruf“ ſein ſollen,
„um ihrer ſelbſt willen“. Dieſe Vorausſetzung iſt ſelbſt ſchlecht-
hin nicht beweisbar. Und ob dieſe Welt, die ſie beſchreiben,
wert iſt, zu exiſtieren: ob ſie einen „Sinn“ hat, und ob es einen
Sinn hat: in ihr zu exiſtieren, erſt recht nicht. Danach fragen
ſie nicht. Oder nehmen Sie eine wiſſenſchaftlich ſo hoch ent-
wickelte praktiſche Kunſtlehre wie die moderne Medizin. Die
allgemeine „Vorausſetzung“ des mediziniſchen Betriebs iſt, tri-
vial ausgedrückt: daß die Aufgabe der Erhaltung des Lebens
rein als solche und die möglichſte Verminderung des Leidens
rein als solche bejaht werde. Und das iſt problematiſch. Der
Mediziner erhält mit ſeinen Mitteln den Todkranken, auch
wenn er um Erlöſung vom Leben fleht, auch wenn die An-
gehörigen, denen dies Leben wertlos iſt, die ihm die Erlöſung
vom Leiden gönnen, denen die Koſten der Erhaltung des wertloſen
Lebens unerträglich werden – es handelt ſich vielleicht um einen
armſeligen Jrren – ſeinen Tod, eingeſtandener- oder uneingeſtan-
denermaßen, wünſchen und wünſchen müſſen. Allein die Vor-
ausſetzungen der Medizin und das Strafgeſetzbuch hindern den
Arzt, davon abzugehen. Ob das Leben lebenswert iſt und
wann? – danach fragt ſie nicht. Alle Naturwiſſenſchaften
geben uns Antwort auf die Frage: Was ſollen wir tun,
wenn wir das Leben techniſch beherrſchen wollen? Ob
wir es aber techniſch beherrſchen ſollen und wollen, und ob das
letztlich eigentlich Sinn hat: – das laſſen ſie ganz dahingeſtellt
oder ſetzen es für ihre Zwecke voraus. Oder nehmen ſie
eine Diſziplin wie die Kunſtwiſſenſchaft. Die Tatſache,
daß es Kunſtwerke gibt, iſt der Äſthetik gegeben. Sie ſucht
zu ergründen, unter welchen Bedingungen dieſer Sachverhalt
vorliegt. Aber ſie wirft die Frage nicht auf, ob das Reich
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[22/0021] Phyſik, Chemie, Aſtronomie ſetzen als ſelbſtverſtändlich voraus, daß die – ſoweit die Wiſſenſchaft reicht, konſtruierbaren – letzten Geſetze des kosmiſchen Geſchehens wert ſind, gekannt zu werden. Nicht nur, weil man mit dieſen Kenntniſſen tech- niſche Erfolge erzielen kann, ſondern, wenn ſie „Beruf“ ſein ſollen, „um ihrer ſelbſt willen“. Dieſe Vorausſetzung iſt ſelbſt ſchlecht- hin nicht beweisbar. Und ob dieſe Welt, die ſie beſchreiben, wert iſt, zu exiſtieren: ob ſie einen „Sinn“ hat, und ob es einen Sinn hat: in ihr zu exiſtieren, erſt recht nicht. Danach fragen ſie nicht. Oder nehmen Sie eine wiſſenſchaftlich ſo hoch ent- wickelte praktiſche Kunſtlehre wie die moderne Medizin. Die allgemeine „Vorausſetzung“ des mediziniſchen Betriebs iſt, tri- vial ausgedrückt: daß die Aufgabe der Erhaltung des Lebens rein als solche und die möglichſte Verminderung des Leidens rein als solche bejaht werde. Und das iſt problematiſch. Der Mediziner erhält mit ſeinen Mitteln den Todkranken, auch wenn er um Erlöſung vom Leben fleht, auch wenn die An- gehörigen, denen dies Leben wertlos iſt, die ihm die Erlöſung vom Leiden gönnen, denen die Koſten der Erhaltung des wertloſen Lebens unerträglich werden – es handelt ſich vielleicht um einen armſeligen Jrren – ſeinen Tod, eingeſtandener- oder uneingeſtan- denermaßen, wünſchen und wünſchen müſſen. Allein die Vor- ausſetzungen der Medizin und das Strafgeſetzbuch hindern den Arzt, davon abzugehen. Ob das Leben lebenswert iſt und wann? – danach fragt ſie nicht. Alle Naturwiſſenſchaften geben uns Antwort auf die Frage: Was ſollen wir tun, wenn wir das Leben techniſch beherrſchen wollen? Ob wir es aber techniſch beherrſchen ſollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: – das laſſen ſie ganz dahingeſtellt oder ſetzen es für ihre Zwecke voraus. Oder nehmen ſie eine Diſziplin wie die Kunſtwiſſenſchaft. Die Tatſache, daß es Kunſtwerke gibt, iſt der Äſthetik gegeben. Sie ſucht zu ergründen, unter welchen Bedingungen dieſer Sachverhalt vorliegt. Aber ſie wirft die Frage nicht auf, ob das Reich der Kunſt nicht vielleicht ein Reich diaboliſcher Herrlichkeit ſei, ein Reich von dieſer Welt, deshalb widergöttlich im tiefſten Jnnern und in ſeinem tiefinnerlichſt ariſtokratiſchen

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Zitationshilfe: Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. In: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Erster Vortrag. München, 1919, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weber_wissenschaft_1919/21>, abgerufen am 29.03.2024.