Volkswirthschaftliche Zeitfragen,
Vorträge und Abhandlungen
herausgegeben von
der Volkswirthschaftlichen Gesellschaft in Berlin
und
der ständigen Deputation des Kongresses Deutscher Volkswirthe.
Heft 36.
(Jahrgang 5, Heft 4.)
DIE
VAGABUNDENFRAGE.
Vortrag
gehalten in der Berliner Volkswirthschaftlichen Gesellschaft.
VON
Dr. Karl Braun.
Mitglied des Reichstags.
BERLIN.
VERLAG VON LEONHARD SIMION.
1883.
Jährlich erscheinen 8 Hefte zum Abonnementspreise von 6 Mark.
Einzelpreis für jedes Heft 1 Mark.
DIE
VAGABUNDEN-FRAGE.
VORTRAG
gehalten in der Berliner volkswirthschaftlichen Gesellschaft
von
Dr. KARL BRAUN
Mitglied des Reichstages.
BERLIN 1883.
Verlag von Leonhard Simion.
LITERATUR.
A.
1. David Barthel, «Jura Vagabundorum.» Lipsiae, 1672.
2. R. Lammers, «Die Bettelplage.» Berlin, 1879.
3. P. Chuchul, Staatsanwalt, «Zum Kampf gegen Landstreicher und Bettler.
Kassel, 1881.
4. A. de la Chevallerie, Amtmann, «Zur Bekämpfung der Bettelei und Vaga-
bondage.» Münster i/W., 1882.
5. Karl Fulda, Landgerichtsrath a. D., «Das Verbrecherthum.» Heidelberg, 1883.
6. Rudolf Elvers, Landrath in Wernigerode, «Zur Vagabundenfrage.» Berlin, 1883.
7. Huzel, Oberamtmann in Blaubeuern, «Das System der communalen Natural-
verpflegung.» Stuttgart, 1883.
B.
(Zur Geschichte des Bettler- und Vagabundenwesens.)
1. Knebel, «Chronik aus der Zeit des Burgunder-Kriegs.» Basel, 1851.
2. Jos. Baaders, Archiv-Coservator in Nürnberg, «Nürnberger Polizei-Verord-
nungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert.» Stuttgart, 1861.
3. Avé-Lallemant, «Das Deutsche Gaunerthum.» Leipzig, 1858.
4. B. Becker, «Die Räuberbanden an beiden Ufern des Rheins.» Köln, 1804.
5. Pfister, «Geschichte der Räuberbanden am Main, im Spessart und im Oden-
walde.» Heidelberg, 1812.
6. Gustav Klemm, «Die Kulturgeschichte des christlichen Europa.» Leipzig, 1851.
7. H. A. Fregier, «Les classes dangereuses.» Paris, 1838.
8. Alfred Lagrésille, «Du Vagabondage.» Nancy, 1881.
Meine Herren! Der Gegenstand, über den wir uns heute Abend
unterhalten wollen, ist auf der Tagesordnung bezeichnet: «die
Vagabundenfrage».
Dieser Ausdruck ist in einem besonderen Sinne aufzufassen.
Die Vagabunden sind eigentlich keine Frage, sondern eine That-
sache, keine angenehme, vielmehr eine recht «brutale» That-
sache.
Freilich hat man es verstanden aus den Vagabunden eine
«Frage» zu machen, und zwar eine Frage in dem Sinne, daß
man, wie das heut zu Tage so häufig geschieht, in Unkenntniß
1
oder wenigstens unter theilweiser Ignorirung und Verleugnung
von Thatsachen irgend einen Gegenstand willkürlich aufbauscht
und aus ihm Klagen gegen die liberale Gesetzgebung seit der
Existenz des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches
zu formuliren versucht.
Insofern ist es allerdings eine Frage, und zwar eine solche,
die uns lebhaft erinnert an die Recriminationen, wie sie statt-
gefunden haben im 17. Jahrhundert, während des dreißigjährigen
Krieges und nach demselben, wo Deutschland in einem eminent
höheren Grade von dem Uebel der Vagabondage zu leiden hatte,
und wo auch die verschiedenen Parteien sich die Schuld gegen-
seitig in die Schuhe zu schieben versuchten.
Ich kann dabei die Bemerkung nicht unterdrücken, daß,
wenn wir die Bestrebungen unserer heutigen rückschrittlichen
Parteien vergleichen mit denen des 17. Jahrhunderts, sich zu-
weilen eine Aehnlichkeit zeigt, die Einen bedenklich machen
könnte, wenn nicht die zwischenzeitige Culturentwickelung solche
Fortschritte gemacht hätte, daß wir sicher sein können, auch
diese Uebel und Irrthümer, die eigentlich blos eine schlechte
neue Auflage vergangenen alten Unsinns sind, zu überwinden.
Insofern verdient der Gegenstand allerdings als eine «Frage» be-
zeichnet und behandelt zu werden.
Jedenfalls fordert er unsere Aufmerksamkeit in sofern heraus,
als das plötzliche Ueberhandnehmen der Vagabondage, welche
einen Theil unserer Mitbürger bis zu einem gewissen Grade der
Beunruhigung und Vergewaltigung schutzlos preisgiebt, die öffent-
liche Meinung aufregt; und es daher einer allseitigen Unter-
suchung und Prüfung des Gegenstandes bedarf, um zunächst die
Ansichten zu sammeln und zu klären, und sodann zu erwägen,
welche Stellung sowohl die Einzelnen, als auch der Staat und
die bürgerliche Gesellschaft gegenüber diesem Phänomen, das
allerdings nicht zum ersten Male unter uns auftritt, einzunehmen
haben.
Ich werde zuerst sprechen von dem Begriff Vagabondage
und den Mitteln derselben zu steuern, und dann von den Contro-
versen, die sich in der letzten Zeit über die Vagabondage er-
hoben haben, namentlich von den parlamentarisch-dogmatischen
Controversen.
Ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten die Wahrnehmung
gemacht, daß die Parteien, welche für die politische und wirth-
schaftliche Reaction eintreten, uns unterschieben, als sähen wir
das Vagabundenthum mit besonders milden und gleichsam pro-
tegirenden Augen an. Das ist ein Irrthum, der sich nur mit der
Ignoranz entschuldigen läßt. Denn die Partei der wirthschaft-
lichen Freiheit ist ja darüber einig, daß das Vagabundenthum
ein Uebel ist, namentlich ein wirthschaftliches Uebel.
Nach der Definition unserer Gesetze sind die Vagabunden
Menschen, die «mittel- und erwerbslos umherschweifen». Will
man aber die Definition nicht juristisch, sondern wirthschaftlich
und ad hominem formuliren, so muß man sagen: «Ein Vaga-
bund ist ein Mensch, der unter dem Vorwande Arbeit zu suchen,
der Arbeit mit Sorgfalt, Geflissenheit, Dreistigkeit und List aus
dem Wege geht.» Ich glaube diese wirthschaftliche Definition
ist richtiger als die juristische.
Die Vagabondage ist eine Landplage, und sie ist es von
jeher gewesen, und zwar, weil sie absolut unwirthschaftlich ist,
und weil sie eine Pflanzschule ist für Bettelei, für Raub, für
Stehler und Hehler. Das Alles grenzt ja sehr nahe aneinander.
Das Betteln legt ja schon, wenn es mit einer gewissen Energie
betrieben wird, dem Angebettelten einen gewissen moralischen
Zwang auf; namentlich wenn es von mehreren Personen gemein-
sam verübt wird, grenzt es dicht an Erpressung, Nöthigung, Raub.
Ebenso entwickeln sich aus der Vagabondage leicht Räuber-
banden; denn wenn man mit der Güte nicht ausreicht, so pflegt
man überzugehen zu den Mitteln der Gewalt. Es ist dann eine
Art von Requisitionswesen im Frieden.
Nun hat man in neuerer Zeit, auch in unseren Parlamenten,
namentlich im preußischen Abgeordnetenhause sich den Kopf
darüber zerbrochen, welches die Ursachen des Zunehmens der
Vagabondage seien (ich sage des angeblichen Zunehmens),
und welches die besten Mittel zu deren Beseitigung seien. Man
ist gleichsam wie auf Verabredung ausgegangen von der Vor-
aussetzung, daß die gegenwärtigen Gesetze schlecht sind und
nicht ausreichen, dem Uebel zu steuern. Da möchte ich nun
doch erst einmal bitten, den Inhalt der gegenwärtig bestehenden
Strafgesetze ins Auge zu fassen und zu sehen, ob dieselben denn
in einer erschöpfenden Weise angewendet worden sind. Denn
die Regierung hat die Verpflichtung, die bestehenden Gesetze zu
vollziehen, nicht aber von vornherein zu sagen, die bestehenden
Gesetze, die ich noch gar nicht bis an die Grenze der Macht-
vollkommenheit, die man mir gewährt, erschöpft habe, genügen
mir nicht, und ich klage also die bestehende Gesetzgebung an.
Ich habe unsere bestehende strafrechtliche Gesetzgebung
verglichen mit der der übrigen europäischen Culturstaaten und
habe gefunden, daß diese verschiedenen Legislationen sich alle
ungefähr auf gleichem Niveau bewegen, und daß unsere deutsche
Gesetzgebung nicht eigentlich zu den mildesten gehört. Unsere
Gesetze bestimmen ganz genau, wie auf die Vagabunden ge-
fahndet werden kann, wie sie anzuzeigen sind, wie der Rückfall
bestraft werden soll, wie es mit dem Strafvollzug gehalten werden
soll. In allen diesen Dingen finden wir bei der Execution, welche
der Regierung obliegt, allerlei Mängel, und diese Mängel werden
kaum noch bestritten.
Unsere Verwaltungs- und Polizeibehörden, sie mögen Staats-
oder Selbstverwaltungsorgane sein, genügen in dem Fahnden
und der Anklage der Vagabunden keineswegs allen denjenigen
Vorschriften, die das Gesetz außtellt. Es wird namentlich nicht
ausreichend gesorgt dafür, daß die Identität der Person der
Vagabunden festgestellt wird, und das ist ja das einzige Mittel,
um die Rückfälligkeit festzustellen, worauf so außerordentlich
viel ankommt.
Ebenso ist der eigentliche Strafvollzug ein außerordentlich
mangelhafter.
Es ist für bestrafte, namentlich für rückfällige Vagabunden
ein ganz anderer Strafvollzug nöthig, als für andere Bestrafte
und für Verbrecher. Man muß die Vagabunden wieder an die
Arbeit gewöhnen, man muß ihnen ihre Willenskraft, ihre mo-
ralische Individualität wiedergeben, ihnen Mittel an die Hand geben,
sich aus dieser Indolenz, aus dieser Versunkenheit, aus diesem
Schlaraffenleben, aus diesem willen- und thatlosen Sichgehnlassen
wieder herauszureißen. Dafür geschieht aber in unserem gegen-
wärtigen Strafvollzug wenig oder gar nichts.
Bevor man also Anklagen gegen die volkswirthschaftliche
Gesetzgebung erhebt, sollte vor allen Dingen die Volksvertretung
wie die Regierung einmal prüfen, ob die letztere diejenigen
Mittel, die ihr das Gesetz an die Hand giebt, in erschöpfender
Weise anwendet. Davon ist in unseren parlamentarischen Ver-
handlungen, namentlich in denjenigen des Abgeordnetenhauses,
leider keine Rede gewesen. Statt dessen hat man sich in aller-
hand phantastischen Ansichten herumbewegt, die keine thatsäch-
liche Grundlage haben.
Ich will nun zunächst einige derjenigen Mittel erörtern, die
man im Gegensatze zu jenen Phantasieen, als realistische und
bis zu einem gewissen Grade als wirksame betrachten kann.
Da komme ich in erster Linie auf die vernünftige Ordnung
der Mildthätigkeit, auf die rationelle Regelung der Reichnisse,
die von der Privatmildthätigkeit denjenigen Personen gemacht
werden, die sich der Vagabondage und des Bettelns befleißigen.
Ich bin in der glücklichen Lage, ein Beispiel anführen zu können,
welches im preußischen Abgeordnetenhaus wie es scheint gar
nicht erwähnt worden ist. Es ist das die Regelung der Reich-
nisse an Bettler und Vagabunden, oder an Handwerksburschen
oder andere wandernde mittellose Menschen, Reisende in gutem
oder bösem Sinn, wie sie in Württemberg organisirt ist.
Ich verweise die geehrten Herren, welche sich über diesen
Gegenstand genauere Information, als ich solche in der mir knapp
zugemessenen Zeit zu geben im Stande bin, verschaffen wollen,
auf die klare und erschöpfende Darstellung, welche uns Herr
Huzel, Königl. Württembergischer Oberamtmann in Blaubeuren
gegeben hat in seiner höchst lesenswerthen Schrift: «Das System
der kommunalen Naturalverpflegung armer Reisender, zur Be-
kämpfung der Wanderbettelei, nach den bisherigen Erfahrungen
in Württemberg dargestellt» (Stuttgart, Kohlhammer, 1883).
Dort werden Sie Alles finden, was Sie zu wissen nöthig
haben.
Hier und für heute muß ich mich auf folgende Umrisse
und Bemerkungen beschränken:
In Württemberg haben sich die Gemeinden, zum Theil
gemeindeweise, oder oberamtsweise in der Art zusammengethan,
daß sie sich verpflichten, diese Reichnisse zu regeln mit gemein-
samen Mitteln, die entweder auf dem Wege der Steuer auf-
gebracht werden oder durch freiwillige Beiträge, auf der prin-
cipiellen Grundlage, daß baar Geld an die sog. «armen Reisenden»
unter keinen Umständen verabfolgt wird. Wenn die Leute
kommen, so kriegen sie eine kräftige Suppe und ein Nacht-
quartier und vielleicht auch am andern Morgen noch etwas zu
essen, und dann müssen sie wieder fort. Zur Noth bekommen
sie auch ein abgelegtes Kleidungsstück oder dergleichen. Die
Privatmildthätigkeit auf diesem Gebiete aber ist absolut inhibirt;
der Hausbettel darf nicht mehr stattfinden. Die Einwohner des
Ortes oder des Verbandes verpflichten sich, die fahrenden Leute
an diese Behörde zu verweisen. Diese Einrichtung hat die besten
Folgen gehabt; ich muß jedoch bemerken, sie kann solche nur
dann haben, wenn das System unterstützt wird durch die Selbst-
thätigkeit und gewissenhafte Beihülfe Seitens der Privaten
und Verbände, die ja insoweit es leicht haben dem Hausbettel
zu steuern, als sie die Leute an diejenige Stelle verweisen können,
wo diese Verabreichung stattfindet. Mir liegen außer der bereits
empfohlenen Schrift des Herrn Huzel noch verschiedene Num-
mern der Württembergischen Blätter für das Armenwesen, heraus-
gegeben von der Centralleitung der Wohlthätigkeitsvereine in
Württemberg, vor. Auch darin wird diese Einrichtung des
Näheren geschildert, und es ist nicht zu leugnen, daß danach
in denjenigen Oberamtsbezirken, wo diese Einrichtung besteht
— und es ist das die Mehrzahl — die Wirkung eine außer-
ordentlich vortheilhafte ist. Wenn früher täglich wenigstens acht
solcher «armen Reisenden» in einer Gemeinde «vorsprachen»,
so ist es jetzt höchstens noch einer.
Aber es steht der vollständigen Entfaltung dieser wohl-
thätigen Einrichtung noch der Umstand im Wege, daß sie nicht
allgemeine Geltung hat, daß sie auf dem guten Willen und nicht
auf irgend einer gesetzlichen Anordnung beruht. So geschieht
es denn, daß die Bettler und Vagabunden zuerst den Bezirk ab-
grasen, wo eine solche Einrichtung nicht besteht und da Geld
«zusammenfechten» und nachdem sie dieß zusammengebettelte
Geld vertrunken haben, dann in diejenigen Orte gehen, wo sie
zu essen bekommen. Dies wird auch in dem Bericht der Würt-
temberger Commission eingestanden. Es heißt dort ungefähr so:
Aus allen denjenigen Oberamtsbezirken, deren Nachbar-
bezirke sich noch nicht zur Einführung des Systems der Natural-
verpflegung entschlossen haben, — und ganz besonders aus den-
jenigen Bezirken, welche an die Nachbarländer Baden, Bayern
und Hohenzollern (Preußen) grenzen, kommt einstimmig die
Klage, daß die Vaganten in den angrenzenden Bezirken, die
keine Naturalverpflegung haben, den Tag über betteln und das
Erbettelte verzehren und dann Abends schaarenweise in die Ort-
schaften derjenigen Bezirke, welche sich auf Naturalverpflegung
beschränken, einfallen, um freies Nachtquartier und Frühstück
zu erhalten und alsdann am anderen Tage wieder in die dem
freien Bettel offen stehenden und Aussicht auf zu «erfechtendes»
Geld gewährenden Gebiete zurückkehren und so diese angenehme
Abwechslung zwischen Natural- und Geld-Reichnissen, wie der
Dichter in seinem berühmten Kukuks-Liede sagt, «mit Grazie in
infinitum» fortzusetzen beflissen sind.
Hierdurch wird in solchen Grenzorten der Erfolg des Systems
der Naturalverpflegung gefährdet, ja geradezu illusorisch gemacht;
und es ist daher nicht zu verwundern, wenn dadurch den Ge-
meinden und Bezirken, auf welche in der geschilderten Weise
Seitens ihrer Nachbarn so große Lasten ab- und übergewälzt
werden, der Muth geraubt wird, den durch das Verhalten ihrer
Nachbarn erschwerten, ja fast aussichtslos gemachten Kampf
gegen das übermächtige Vagantenthum fortzusetzen.
Dieser Mittheilung der württembergischen «Blätter für das
Armenwesen» (Num. 41 vom 14. October 1881, Seite 171), welche
mir von württembergischen Reichstagsabgeordneten bestätigt
wird und auch für die Gegenwart noch vollkommen zutrifft, kann
ich nicht umhin, schon an dieser Stelle die Bemerkung hinzuzu-
fügen, daß die von allen Seiten anerkannte Schwierigkeit, dieser
gesellschaftlichen Krankheit zu steuern, ihren Grund zum Theil
auch darin hat, daß Deutschland in so und so viele einzelne
Länder und Territorien zersplittert ist, und daß Jeder zunächst
nur für sich sorgt, ohne eine allgemeine Verpflichtung dem
Ganzen gegenüber auf allen Gebieten der Verwaltung in dem
Maaße anzuerkennen, in welchem es wünschenswerth wäre.
Wenn ich mich nach dieser Andeutung wieder der Betrach-
tung des Württembergischen Systems der Naturalverpflegung
zuwende, so habe ich noch Folgendes hervorzuheben:
Immerhin ist diese Leistung an Naturalien billiger und
ersprießlicher, als die Hingabe von Geld. Wie hoch sich die
letztere in einem Bezirke beläuft, entzieht sich jeder Berech-
nung, da weder der Geber noch der Empfänger geneigt oder
im Stande ist, wahrheitsgemäße und zuverläßige Angaben dar-
über zu machen. Der letztere schon deshalb nicht, weil er
sonst wegen Bettelns bestraft wird.
Jedenfalls aber ist das Geldalmosen mehr geeignet, zur Fort-
setzung der Bettelei zu reizen und zu ermuntern, als den Bedarf
des Bettlers zu decken. Denn es ist gewiß, daß die einzelne
Gabe so wenig für ihn leistet, daß der Empfänger trotz der-
selben noch auf weiteren Bettel angewiesen sein wird und muß.
Es steht fest, daß das Geldalmosen den Bettel erzeugt und
befördert, und daß es unmöglich ist, bezüglich desselben irgend
eine Controle oder Ordnung einzuführen. Anders ist dies hin-
sichtlich der Naturalunterstützung. In Württemberg z. B. hat
man, als es sich zeigte, daß öfters solch’ ein Mensch von Ort
zu Ort ging und so an verschiedenen Orten an einem Morgen
mehrmals frühstückte und Naturalverpflegung in Anspruch nahm
— also in mehreren verschiedenen Gemeinden hintereinander an
einem und dem nämlichen Tage, die Bestimmung getroffen, daß in
allen Gemeinden des Bezirks nur zu gleichen Stunden die Ver-
abreichung stattfindet, daß also überall zu einer und derselben
bestimmten Stunde Frühstück, zu einer andern Mittagessen, wieder
zu einer dritten Nachtessen und in der Zwischenzeit nur Brot
abgegeben wird. Das hat sich als sehr zweckmäßig erwiesen.
Diese Württembergische Einrichtung, welche die Geld-
almosen ausschließt und die Naturalverpflegung gleichmäßig und
einheitlich regelt, gehört also zu denjenigen Mitteln, die man bei
der Erörterung der Abstellung der Vagabondage in Betracht
ziehen könnte und müßte.
Eine zweite Einrichtung ist die Strafhaft.
Unsere jetzige Strafhaft, welcher die Vagabunden unter-
worfen werden, entspricht gar nicht den Zwecken der Heilung.
Sie entspricht, wie ich bereits angedeutet habe, namentlich nicht
dem Zweck, die Leute aus ihrer Verthierung, aus ihrem Stumpf-
und Starrsinn, aus ihrer Indifferenz herauszureißen und die
Willenskraft wieder in ihnen wachzurufen.
Damit, daß man den Leuten eine rein äußerliche Fröm-
melei, welche die individuelle Wiedererstarkung mehr beein-
trächtigt als fördert, aufzwingt, wird das Ziel schwerlich erreicht
werden. Man müßte über die zweckmäßigste Art des Strafvoll-
zugs gegen Vagabunden Gutachten einsichtsvoller und menschen-
freundlicher Strafanstaltsdirectoren erheben, wie wir ja deren in
Deutschland besitzen. Zur Heilung des krankhaften Hanges zum
Vagabundiren, namentlich bei rückfälligen und alteingewöhnten
Vagabunden dürfte freilich eine kurze Strafzeit in der Regel nicht
ausreichen. Für diese verhängt das Strafgesetz zwar Freiheits-
strafen von längerer Dauer. Allein auch in dieser Beziehung
wird das bestehende Gesetz in der Regel nur mangelhaft oder
beinahe gar nicht vollzogen.
In dieser Beziehung kann ich mich ebenfalls auf die bereits
erwähnten Württembergischen «Blätter für das Armenwesen»
(Jahrgang 1882, Seite 172) berufen.
Sie klagen über die bei den Amtsgerichten vielfach ein-
gerissene Praxis, es sich bei der Untersuchung und Bestrafung
der Fälle von Vagabondage so leicht und bequem wie möglich
zu machen. (Dieselbe Praxis findet sich übrigens auch in an-
dern Ländern.)
Statt bei jedem Vagabunden, welcher eingeliefert wird,
selbst auf die Gefahr hin, daß dadurch eine Untersuchungshaft,
welche sich bei hartnäckiger Verweigerung wahrheitsgemäßer
Auskunft Seitens des Angeschuldigten zu verlängern droht, noth-
wendig wird, eine genaue Fesstellung der Person, sowie die
nöthigen Erhebungen über seine Vergangenheit und über die von
ihm bereits erlittenen Strafen, aus welchen sich das Vorhandensein
des Rückfalls und des wiederholten Rückfalls und somit die Noth-
wendigkeit höherer Strafen ergiebt, eintreten zu lassen, begnügt
sich der Richter damit, in summarischer — fast möchte man
sagen: standrechtlicher — Weise den Delinquenten auf ein Paar
Tage einzustecken, welche schnell verbüßt sind und so wenig
geeignet, etwas an der wirklichen Lage der Dinge zu ändern,
daß sich vielmehr der Bestrafte beeilt, nach deren Ablaufe die
Lebensweise, wegen deren er verurtheilt wurde, alsbald mit ge-
stärkten Kräften wieder von vorn anzufangen.
Bei einem solchen Verfahren wird dann auch die in unseren
Gesetzen vorgeschriebene Ueberweisung des gewohnheitsmäßigen
Landstreichers an die Landespolizeibehörde, sowie die so außer-
ordentlich wirksame und unter Umständen absolut nothwendige
Einweisung in das Arbeitshaus gänzlich vereitelt, — ein neuer
Beweis, wie ein Fehler im Vollzug eine ganze Reihe von Miß-
ständen erzeugt, und daß, wie ich bereits bemerkt habe, es
besser wäre, wenn man zunächst einmal sich bemühte, die be-
stehenden Gesetze in dem Sinne, in welchem sie gegeben sind,
genau und vollständig zu vollziehen, statt über den mangelhaften
Zustand unserer Gesetzgebung zu klagen und sich in phantasti-
schen und utopistischen Declamationen und Projecten zu er-
schöpfen, welche schwerlich etwas dazu beitragen, die öffentliche
Autorität zu befestigen und zu stärken.
In der Literatur anderer Länder, welche zur Zeit ebenfalls
an der Vagabunden-Plage leiden, namentlich in der französi-
schen, wird die Deportation empfohlen, «la transportation», und
zwar auf Lebenszeit wie in England. Ich will über den Gegen-
stand mich nicht weiter verbreiten, sondern nur auf die betreffende
Literatur verweisen, namentlich auf die Schrift von Alfred Lagré-
sille, «du Vagababondage et de la transportation», (Nancy, 1881),
in welcher es heißt:
Für die Deportation erhebt sich in Frankreich zur Zeit
die öffentliche Meinung, welche angeregt ist einestheils durch
die Erfahrungen, welche man in England mit diesem Aus-
kunftsmittel gemacht hat, anderntheils durch den Gesetzentwurf,
mit welchem sich unsere Regierung beschäftigt und der die An-
wendung der Deportation (transportation) in Vorschlag bringt
für Rückfällige und für Vagabunden.
Wie ich die Frage auffasse, würde die Deportation nicht
eigentlich als «Strafe» zu behandeln sein. Sie würde vielmehr
erst nach der Strafe kommen und den Zweck haben, die öffent-
liche Sicherheit zu befestigen und den Verurtheilten, nachdem
er die Bestrafung erlitten, zu heilen.
Die Deportation in diesem Sinne wäre von den Gerichten
zu verhängen. Denn nur durch richterliche Entscheidung kann
ein so schwerer Eingriff in die bürgerliche Freiheit des Einzelnen
gerechtfertigt werden.
Das Gericht würde die Ermächtigung haben, die Deportation
zu verhängen wider einen überführten Vagabunden, welcher vor-
her schon zweimal Bestrafungen wegen desselben Vergehens er-
litten. Der zweifache Rückfall würde in der Regel genügen, die
Vermuthung zu begründen, daß diese fehlerhafte Art zu existiren
bei diesem Manne zu einer eingerosteten Lebensgewohnheit ge-
worden, aus welcher ihn herauszureißen selbst wiederholte Straf-
verbüßung nicht vermocht hat. Die ordentliche Strafe hat sich
sonach bei ihm als gänzlich unwirksam erwiesen, sie muß also
durch eine außerordentliche Maaßregel ersetzt werden. Diese
kann in nichts anderem bestehen, als in der Ueberweisung des
Verurtheilten in eine coloniale Besitzung.
In der letzteren würden die Verurtheilten weder consignirt
oder internirt, noch der Zwangsarbeit unterworfen werden. Sie
würden nachdem man sie dort eingesetzt hat, im Uebrigen ihrer
Selbstbestimmung überlassen werden, gerade so, wie auch frei-
willige Colonisten, nur mit dem Unterschied, daß sie einer fort-
währenden polizeilichen Ueberwachung unterworfen wären, wel-
cher als Hauptaufgabe obliegt, die Einschiffung und Entweichung
zu verhindern.
Die Deportation muß eine solche auf Lebenszeit sein.
Es würde keinen vernünftigen Zweck haben, nach einem
gewissen Zeitablauf den Deportirten zurückkehren zu lassen.
Denn seine Mittellosigkeit würde ihn in das alte verderbliche
Geleise zurückführen und die Hoffnung auf die demnächstige
Rückkehr würde ihn verführen, die Gründung einer neuen
Existenz in der Colonie nur lässig zu betreiben.
Diese Deportation wäre ein unbestreitbare Wohlthat für
die bürgerliche Gesellschaft und die einzige Möglichkeit einer
Rettung und Besserung für diese verkommene und unglückliche
Klasse der Bevölkerung.
Sie würde dem in beunruhigender Weise sich steigernden
Wachsthum der Vagabondage und des Rückfalls und der damit
in Verbindung stehenden sonstigen Vergehen und Verbrechen
unübersteigliche Schranken setzen.
Die bürgerliche Gesellschaft würde berechtigt sein, zu diesem
Mittel zu greifen. Denn sie ist nicht verpflichtet, in ihrem
Schooße Diejenigen zu dulden, zu hegen und zu pflegen, welche
in offener Rebellion gegen die sociale und wirthschaftliche Ord-
nung beharren und sich darauf steifen, ihr Leben lang auf Kosten
ihrer Mitbürger zu leben, ohne durch Arbeit oder sonstwie irgend
Etwas zum Gemeinwohl beizutragen.
Soweit Lagrésille.
Man hat ja bei uns kürzlich einen Verein für Colonisation
gegründet; nun das wollen wir mit Geduld abwarten, um je nach
dem Erfolge auf die Frage der Deportation wieder zurück zu
kommen.
Jedenfalls ist der Hauptsitz der materies peccans in dieser
Frage meines Erachtens zu suchen in einer Thatsache, die bis-
her, ich weiß nicht, ob mit gutem Bedacht, oder aus Gleich-
giltigkeit, in unseren öffentlichen Verhandlungen noch nicht her-
vorgehoben worden ist, das ist nämlich unsere frühere Viel- und
Kleinstaaterei in Deutschland. Das Uebel hat sich ja sehr wesent-
lich gebessert; wir sind nicht mehr in dem Zustand wie vor
100 Jahren, wo wir noch 3—400 Souveräne in Deutschland
hatten, sehr komische zum Theil, nicht blos weltliche, sondern
auch geistliche, Bischöfe, Aebte und dergleichen «kleine» Herren,
die sich aber gleichwohl alle für außerordentlich souverän hielten
und nichts weniger duldeten, als einen Eingriff in ihre vermeint-
liche Machtvollkommenheit oder in ihr Gebiet. Da war die Brut-
stätte der eigentlichen Vagabondage. Denn schließt sich ein
Territorium gegen das andere ab, ist Niemand die Niederlassung
erlaubt, umgiebt sich jede Stadt mit einer chinesischen Mauer
dem Anziehenden gegenüber, kann Niemand an die Stelle ge-
langen, wo er seine geistigen und körperlichen Kräfte zu ent-
wickeln und zu bethätigen und sich eine bleibende und gesicherte
Existenz zu begründen im Stande ist, so muß sich daraus noth-
wendig die Vagabondage entwickeln. Gewiß ist die große Mehr-
zahl der Menschen weit mehr geneigt, sich in Ruhe und Behag-
lichkeit niederzulassen, als ohne Aufhören mit dem Aufenthalte
zu wechseln. Jeder will lieber sitzen, als schweifen.
Wenn es aber dem Menschen nicht erlaubt, sich zu setzen,
so schweift er, und so wird er ein Vagabund.
Zugleich aber erschwert das territorial zersplitterte und im
Gemenge liegende Land die Ergreifung und Verfolgung der
Vagabunden und damit die Unterdrückung der Vagabondage.
Die Züchtung von Vagabunden durch einen die Zug-,
Niederlassungs-, Verehelichungs- und Gewerbefreiheit ausschließen-
den Zustand der Staats- und Gemeinde-Verfassung und der son-
stigen Gesetzgebung einerseits, und die der Unterdrückung
der Vagabondage durch die weltliche und geistliche Kleinstaaterei
erwachsenden Schwierigkeiten andererseits, finden ihre beste
Illustration in den Zuständen Deutschlands am Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts.
Diese Mißstände zeigten sich da am schreiendsten, wo die
Territorialgrenzen am tollsten durch einander liefen, also in
Oberschwaben und in den fränkischen Landen.
Um eine Probe jener Zustände zu geben, verweise ich auf
Schlözer’s «Staatsanzeigen», Band XIV, Heft 56, wo sich eine
sehr interessante Beschreibung, Charakteristik und Kritik des
Verhaltens der so zahlreichen Klöster in der Wetterau findet,
wie dieselben durch zweck- und planlose Verabreichung von Al-
mosen an Jeden den Müßiggang gefördert und nicht nur ein-
heimische Bettler großgezogen, sondern auch fremde Vagabunden
angelockt und in ihren «heiligen Schutz» genommen haben.
Gleichwohl haben wir heute wieder Staatsweise, welche die Rück-
kehr zu jenem Zustande der Gebundenheit und der Absperrung
als unfehlbares Mittel gegen die Vagabondage empfehlen.
Wenn wir in unserem heutigen Deutschland wirklich in dem
Sinne, wie es in einheitlichen Staaten der Fall ist, eine einheit-
liche und generelle Landespolizei hätten, dann hätten wir
schon lange nicht mehr den Grad von Vagabondage, den wir
gegenwärtig beklagen. Man könnte dann in einem und dem-
selben Tage oder in einer Nacht unvermutheter Weise eine
Generalstreife über und durch ganz Deutschland machen, etwa
unter der Centralleitung der Berliner Polizei, und ähnlich wie im
Kleinen bei einer Razzia im Berliner Thiergarten, im Großen alle
das fahrende Volk aufbringen, welches der öffentlichen Sicher-
heit gefährlich ist.
Wenn, wie die Dinge heute stehen, eine solche durch-
greifende Maaßregel zur energischen Repression der Vagabon-
dage unmöglich erscheint, so ist das eine Thatsache, die viel-
leicht zu bedauern, die aber mit unseren jetzigen Zuständen un-
trennbar verbunden ist, und für die man gewiß am allerwenig-
sten die wirthschaftlich-freisinnige Bundes- und Reichs-Gesetz-
gebung der Jahre 1867—1876 verantwortlich machen kann.
Endlich wäre noch zu erörtern die Frage der Arbeits-
häuser, d. h. der Zwangsarbeitsanstalten. Ich weiß, daß bei
uns in Deutschland viele weichherzige Seelen dieses Institut nicht
sehr goutiren. Aber ist es denn am Ende so unvernünftig, daß
der Staat oder der Communalverband zu einem Menschen, der
den öffentlichen Fonds, sei es der Staatsfonds oder der Commu-
nalfonds, zwingt ihn zu ernähren, sagt: «Du zwingst mich,
dich zu ernähren, und deswegen zwinge ich dich, für mich
zu arbeiten?» Warum soll denn der öffentliche Verband, mag es
Staat oder Gemeinde sein, dem Vagabunden gegenüber, der, trotz-
dem er Gelegenheit zur Arbeit hat, sich darauf capricirt zu faul-
lenzen und auf Kosten der Gemeinschaft zu leben, diese Conse-
quenz der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortlichkeit
nicht ziehen dürfen? Ein anerkannter schweizerischer Schriftsteller
J. J. Vogt (von Thun), welcher Gelegenheit hatte, reichliche
praktische Erfahrungen über das Armen-, Bettel- und Vaga-
bunden-Wesen zu machen, sagt in seinem Buche «Das Armen-
wesen. Beleuchtung der Armutszustände und Vorschläge zu
einer gründlichen Armen-Reform. Ein Beitrag zur glücklichen
Lösung gesellschaftlicher Lebensfragen» (Zwei Bände, Bern 1856):
«Wenn Jemand aus beharrlicher Mißachtung der ihm obliegenden
persönlichen Selbsterhaltungspflicht die zur Ausübung derselben
vorhandenen Möglichkeiten und Gelegenheiten verschmäht und
ohne Gegenleistung auf Kosten der Gemeinheit zu leben begehrt,
und wenn eine dem Gemeinwohl Schädigung drohende Anhäu-
fung solcher Selbsterhaltungs-Verweigerungsfälle eintritt, dann ist
die öffentliche Zwangs-Arbeits-Anstalt eine Nothwendigkeit, viel-
leicht eine traurige Nothwendigkeit, oder ein nothwendiges Uebel.
Ihre Aufgabe ist, die ihr übergebenen Individuen auf dem Wege
der bessernden Zucht und der (nöthigenfalls zu erzwingenden)
Arbeit zur freien Selbsterhaltung zurückzuführen durch Beseiti-
gung der obwaltenden Ursachen der Nichterfüllung dieser Pflicht.
Diese Ursachen finden sich vorzugsweise im gewerbsmäßigen
Betteln und Vagabundiren. Arme solchen Schlags sind nur
schwer und selten auf gewöhnlichem Wege zu bessern. Sie
werden auf so lange mit aller Gewißheit in ihr altes Unwesen
zurückfallen, bis sie eine andere Lebensanschauung gewonnen
und in ihnen, auf Grund des wieder gewonnenen Selbstvertrauens
und Hoffens ein geistiger Neubau oder Wiederaufbau bewirkt ist.»
So J. J. Vogt.
Was nun die Zustände in Deutschland anlangt, so ist die
Armengesetzgebung zur Zeit noch Sache der einzelnen Staaten,
wodurch die Ausführung durchgreifender einheitlicher Maßregeln
erschwert wird.
In Betreff der Einrichtung von Zwangsarbeitshäusern besteht
eine ziemlich buntscheckige Gesetzgebung. Es wäre daher in
einem jedem Einzelstaate die Frage der Arbeitshäuser an sich
und die ihrer Verwendbarkeit zur Repression und zur Heilung
der Vagabondage zu untersuchen.
Es fragt sich also, ob unsere Arbeitshäuser, wo solche
bestehen, dem oben aufgestellten strengen Grundsatze ent-
sprechen, und ob die betreffenden Gesetzgebungen, soweit sie
demselben wirklich entsprechen, auch in einer diesem Ideal an-
gemessenen Weise gehandhabt werden.
Wenn ich bisher die Mittel gegen die Vagabondage erörtert
habe, die theils innerhalb des jetzigen Zustandes unserer Gesetz-
gebung angewendet werden können, theils auf dem Wege der
Gesetzgebung zu realisiren sind, so will ich nun zuletzt, aber
nicht am Geringsten, gedenken einer Anstalt, die viel besprochen
worden ist und die, ohne irgend wie den Beistand der öffentlichen
Gewalt, des Staats oder der Gesetzgebung anzurufen, hervor-
gegangen aus der Einsicht, der Willenskraft und der Menschen-
liebe eines einzelnen hochbegabten Mannes, uns den Weg gezeigt
hat, wie ohne jede staatssocialistische Beimischung und unter
Verschmähung eines jeglichen Zwanges die Vagabundenfrage zu
lösen. Ich spreche von der Privatanstalt des Pastor Bodel-
schwingh in Westphalen, die bei allen Parteien, ohne Unter-
schied der politischen und religiösen Gesinnung, allgemeine An-
erkennung findet, und dem Uebel in einer Weise entgegen-
getreten ist, daß dessen Beseitigung wenigstens innerhalb einer
gewissen Möglichkeit liegt. Ich halte es für überflüssig, Ihnen
die Einrichtung dieser Anstalt zu beschreiben. Sie kennen die-
selbe ohne Zweifel. Sie hat in vielen Theilen unseres Vater-
landes nicht nur Anerkennung, sondern auch Nachahmung ge-
funden. Ich fürchte nur, es wird nicht lange dauern, so wird
man den Versuch machen, auch sie zu «verstaatlichen»; denn
heutzutage wird ja alles verstaatlicht. Ich für meine Person
glaube, daß man die Ausübung der Mildthätigkeit, der Menschen-
freundlichkeit, der Humanität, der Moral, des wahren Christen-
thums, oder wie man heute zu sagen liebt, des «praktischen
Christenthums» nicht verstaatlichen kann, weil sie sonst aufhört
zu existiren. Insofern bekenne ich mich auch hier zu dem laissez
faire, wobei ich aber den Ton lege auf das «faire»; das heißt,
ich sage, man soll niemand hindern etwas Gutes zu thun.
Unsere großen academischen staatssocialistischen Propheten und
Weltverbesserer freilich, die so sehr gegen den Grundsatz des
laisssez faire declamiren, scheinen dabei das «faire» gar nicht
im Auge zu haben, d. h. das handeln. Sie reden viel und thun
garnichts. Sie machen Projecte und haben keine Mittel sie zu
2
verwirklichen; und wenn sie einen Drang der Wohlthätigkeit
und Menschenfreundlichkeit in sich fühlen, so denken sie auch
hier nicht an das eigene «faire» aus eigenen Mitteln, sondern
verweisen diejenigen, welchen sie Wohlthaten erwiesen zu sehen
wünschen, auf die Mittel anderer Personen, sie ziehen Wechsel
auf das «Patrimonium der Enterbten», oder wie man das nennen
will, was erst gebildet werden soll.
Dadurch, daß man blühende Industriezweige ruinirt oder
monopolisirt, um aus deren Ertrage das gedachte phantastische
«Patrimonium» zu bilden, glaube man doch ja nicht seinen
volkswirthschaftlichen Beruf zur socialen Reform bethätigen zu
können. Ich glaube vielmehr, der Pastor Bodelschwingh, der
selbständig und aus eigenen Mitteln hilft, ist auf einem richtigeren
Wege als diejenigen, welche uns vertrösten auf ein «Patrimonium
der Enterbten», welches nirgends existirt und nirgends existiren
wird, so lange nicht die Grundlagen unsrer wirthschaftlichen
Gesellschaftsordnung umgestürzt werden.
Nun m. H.! komme ich zum zweiten Theil, nämlich zu
der parlamentarisch-dogmatischen Beurtheilung der Frage,
welcher Theil ja am meisten actuelles Tagesinteresse hat. Ich
lehne mich dabei möglichst genau an an die Verhandlungen
des Abgeordnetenhauses vom 28. November vorigen Jahres, in
welchen das Thema der Vagabondage sehr ergiebig erörtert
worden ist.
Ich hoffe, Sie werden es gerechtfertigt finden, wenn ich die
fraglichen Debatten vor Ihnen noch einmal Revue passiren
lasse und da, wo ich die Auffassung für eine irrthümliche halte,
einige kurze Randglossen hinzufüge.
Wenn die von den Oberpräsidenten der preußischen Mon-
archie über den gegenwärtigen Stand des Vagabunden-Wesens
an den Minister des Innern erstatteten Berichte bereits der Oeffent-
lichkeit übergeben wären, so würde ich der Erörterung eines
solchen schätzbaren Materials den Vorzug einräumen. Allein
dasselbe liegt der Oeffentlichkeit immer noch nicht vor. In Er-
mangelung dessen halten wir uns an die Debatten der Landes-
vertretung, welche den gegenwärtigen Stand der öffentlichen
Meinung, natürlich auch mit Inbegriff der Irrthümer derselben,
einigermaaßen wiederspiegelt.
In der Debatte vom 28. November 1882 hat zunächst der
Abg. Graf Posadowski die jetzigen Mißstände erörtert. Die
Opfer, welche sie der Bevölkerung auferlegen, die Frage, ob die
Vagabondage eine vorübergehende oder bleibende Calamität ist,
hat er in vollständig objectiver und leidenschaftsloser Weise be-
handelt.
Ueber die Bekämpfung der Vagabondage auf dem Wege
des Vereinswesens bemerkt er, solche Vereine könnten nur dann
erfolgreich wirken, wenn sie über die ganze Monarchie verbreitet
würden; andernfalls, wenn dieselben nur sporadisch existirten, so
dienten sie nur dazu, die Etappenstraße der Vagabunden zu ver-
legen. «Auch der Eifer der Vereine pflegt, sobald man sieht,
daß die Sache schwierig und undankbar ist, und daß man nur
halben Erfolg hat, sehr bald zu erkalten, sie pflegen wieder ein-
zuschlafen, und auf dem Lande, wo die Leute sich schutzlos
fühlen, giebt der Bauer seinen Tribut, da er sonst für Haus und
Hof zu fürchten hat.
Es ist also zu prüfen, ob die bestehenden gesetzlichen und
administrativen Bestimmungen ausreichend sind, die Landescala-
mität zu bekämpfen.»
Das ist in der That ein vernünftiger, objectiver, praktischer
Standpunkt, daß man zuerst untersucht, ob man nicht auf dem
Wege des Vollzugs der bestehenden Gesetze des Uebels Herr
werden kann.
Nach dieser einleitenden Auseinandersetzung hat der Mi-
nister des Innern, Herr v. Puttkamer das Wort ergriffen. Zu-
nächst hat er hervorgehoben eine Thatsache, die Beachtung ver-
dient, daß nämlich die Vagabundenfrage in verschiedenen Pro-
vinzen ganz verschieden liegt, indem es am wenigsten Vaga-
bunden giebt in denjenigen Provinzen, die schon lange, d. h. seit
Anfang des Jahrhunderts, wie das bei der Mehrzahl der altpreußi-
schen Provinzen der Fall ist, sich der Freizügigkeit erfreuen, daß
dagegen die meisten Vagabunden sich vorfinden in denjenigen Lan-
destheilen (also namentlich den neuen Provinzen), wo erst durch
die neuere Gesetzgebung die Freizügigkeit eingeführt worden ist,
also in denjenigen Territorien, die sich zur Zeit noch in einem
Uebergangsstadium befinden. Er hat namentlich erwähnt die
Provinz Schleswig-Holstein, wo der Bauer noch, wie er sagt, «aus
Gutmüthigkeit» sich nicht dem Schicksal entzieht, dem Vaga-
bunden tributpflichtig zu sein. Er hat ferner angeführt, daß er,
2*
der Minister des Innern, Berichte von den Oberpräsidenten ein-
gefordert habe, daß diese Berichte nunmehr vollständig einge-
gangen sind und einer näheren Erwägung und Beachtung unter-
zogen werden sollen. Es wäre sehr zweckmäßig, wenn man
diese Berichte so bald wie möglich der Oeffentlichkeit übergäbe,
damit wir Alle mit theilnehmen können an der Prüfung der Frage,
wie man diesem Landschaden steuern kann. Denn gerade nach
der Behauptung, vor allem der conservativen Redner, existirt
der Mißstand schon 10 Jahre, und kein Mensch kann be-
haupten, daß die Regierung und insbesondere das Ministerium
innerhalb dieser 10 Jahre etwas durchgreifendes gethan hat, um
dem Landschaden zu steuern, insbesondere, daß es die beste-
henden Gesetze in derjenigen Ausdehnung und mit allen den
Mitteln angewendet und gehandhabt hat, wie ihr solche zur
Verfügung stehen. Denn ehe man klagt, daß die bestehende
Gesetzgebung schlecht sei, muß man doch erst einmal sehen,
ob man mit dieser bestehenden Gesetzgebung nicht ausreichen
kann, wenn man dieselbe nach allen Richtungen hin erschöpfend
zur Anwendung bringt.
Dieser Versuch ist bis jetzt nicht in einem Maße gemacht
worden wie es erforderlich gewesen wäre. Man findet das heut-
zutage gar zu oft: Die Beamten sagen, das Gesetz giebt uns
keine Mittel. Ich sage: Erst wollen wir doch einmal prüfen,
welche Machtmittel die Gesetze gestatten, und welcher Gebrauch
davon gemacht wird. Ich glaube aber bereits nachgewiesen zu
haben, daß die Gesetze gegen Vagabondage bis jetzt in dem
größeren Theile von Deutschland eine correcte und erschöpfende
Anwendung nicht gefunden haben, namentlich nicht in Bezug
auf die Ermittelung und Bestrafung des Rückfalls.
Der Rückfall aber bildet den Brennpunkt der Frage, soweit
es sich um die Thätigkeit der Polizei und der Gerichte handelt.
Ich habe mich für diese Auffassung bereits auf eine deutsche
und auf eine französische Autorität berufen.
Ich kann diesen Beiden auch noch eine englische hinzu-
fügen. Ich meine den kürzlich erschienenen Bericht einer Com-
mission der Howard-Association, jener verdienstvollen Gesell-
schaft, welche, von Lord Brougham gegründet, sich die Ermitte-
lung und Förderung der besten Methoden, die Verbrechen zu
verhindern und zu bestrafen, zur Aufgabe gesetzt hat. Der Be-
richt führt den Titel «Vagrancy and Mendicancy, a report based
on a general inquiry instituted by the committee of the Howard
Association».
Auch Nordamerika bietet uns in seiner Presse vielfach Aus-
kunft über die Vagabondage, welche dort durch die Vielstaaterei
des Ostens gefördert wird; denn die «tramps» treiben sich dort
an einem einzigen Tage in drei verschiedenen Staaten umher.
Ich bitte mir diese Abschweifung zu verzeihen. Ich bin
zu derselben veranlaßt durch die sich mir immer mehr auf-
drängende Ueberzeugung, daß in Deutschland die Vagabunden-
frage sehr einseitig behandelt wird, und daß Minister und Ab-
geordnete wohl daran thun würden, auch von der Literatur
anderer Länder Kenntniß zu nehmen, welche ebenfalls unter
der Vagabundenfrage leiden. Ich kehre nunmehr zurück zu den
Auseinandersetzungen des Herrn Ministers des Innern. Er ist
weiter auf die Vermehrung der Gensdarmen zurückgekommen.
Ich will mich über diesen Punkt nicht weiter verbreiten.
Wir behandeln hier die Frage vom volkswirthschaftlichen Stand-
punkt. Die Erörterung des Thema’s «Vermehrung der Gens-
darmerie» aber ist nur zu geeignet, uns zu Excursen auf das
Gebiet der Politik zu verleiten, welche ich im Interesse der
Wahrung des rein wissenschaftlichen Charakters unserer Gesell-
schaft vermieden zu sehn wünsche. Der Inhalt meines Vortrags
wird indessen, wie ich hoffe, meinen verehrten Herren Zuhörern
nicht schwer machen, zu erkennen, daß ich von der «Vermehrung
der Gensdarmerie» weder allein noch vorzugsweise eine Heilung
dieser Krankheit des Vagantenthums erwarte.
Nach dem preußischen Minister des Innern ergreift das
Wort der vormalige Justizminister von Hannover, der Herr Abg.
Windthorst-Meppen.
Nach seiner Versicherung ist früher in Hannover alles vor-
trefflich gewesen, aber jetzt geht es auch dort schief, namentlich
auch in Betreff der Vagabondage. Zunächst kommt Herr Dr.
Windthorst auf eine Lieblingsidee zurück, die er schon bei ver-
schiedenen Gelegenheiten geäußert hat, namentlich auch neuer-
dings im deutschen Reichstag. Er sagt, die Vagabondage hat
ihren Grund in dem starken Anwachsen der Bevölkerung, in
der «Uebervölkerung», welche eine der Ursachen ist, warum es
so viele gewerbs- und hilfslose Menschen in der Welt giebt.
Nun, der berühmte Thomas Morus hat schon i. J. 1500, oder
etwas später, eine sehr gelehrte und gründliche Abhandlung
geschrieben, worin er zu dem Resultat kommt, daß damals in
England eine solche Uebervölkerung herrschte, daß es nicht
mehr zehn Jahre so fort gehn oder andauern könnte, dann
würden die Menschen einander auffressen. Seitdem ist die Be-
völkerung in England auf das Sechsfache gewachsen, und die
Leute fressen sich noch immer nicht gegenseitig auf, im Gegen-
theil, diese sechsfache Zahl von Menschen lebt weit besser, ver-
gnüglicher und auskömmlicher als damals das eine Sechstel.
Woher kommt das? Das kommt von dem allgemeinen Cultur-
fortschritt, von der Weiterentwicklung, durch welche die Men-
schen immer mehr Herr werden über die Natur, und durch
welche sie im Stande sind, eine immer intensivere Wirthschaft
zu entfalten und immer mehr Mittel zur Befriedigung der Be-
dürfnisse auch einer wachsenden Bevölkerung zu beschaffen.
Das hat nicht nur England gezeigt, sondern auch alle anderen
Länder, in welchen ein gleicher Culturfortschritt stattfindet und
die Menschen nicht durch eine zurückgebliebene Gesetzgebung
gehindert werden, ihre wirthschaftlichen Kräfte zu entfalten. Ich
weiß ja, daß in Deutschland diese Uebervölkerungsangst auch
in verschiedenen Staaten, in welchen man sich darin gefiel, der
Cultur-Entwickelung allerlei künstliche Hindernisse entgegen zu
stellen, grassirt hat; und vielleicht wird, bei wachsender volks-
wirthschaftlicher Reaction dieses Gespenst auf einige Zeit wieder-
kehren und den Menschen eine ungerechtfertigte Angst einflößen.
Predigt ja doch schon heute ein großer Gelehrter, der die
Häupter seiner Lieben nach Halbdutzend zählt, die «Zwei-
Kinderwirthschaft.»
Haben ja doch im Laufe des letzten Menschenalters, na-
mentlich während der Reactionszeit von 1850 bis 1858 ver-
schiedene deutsche Staaten auf ihre oder der Gemeinde Kosten
ganze Gemeinden nach Amerika spedirt. Sie haben aus Angst
vor der Uebervölkerung fleißige, brauchbare, tüchtige Menschen
und deren Vermögen über den atlantischen Ocean geschafft.
Das geschah damals namentlich in Nassau, Hessen-Darmstadt
und einigen ähnlichen Ländern. Es ist doch wunderbar, daß
die Staaten an Uebervölkerung nur bei diesen fleißigen Menschen
dachten, bei dem damals schier zahllosen Heer von Beamten
aber nicht.
Weiter kommt Hr. Dr. Windhorst auf eine zweite Lieblings-
idee, indem er sagt, die Hauptursache des Vagabondenthums
ist die ungemein leichte Weise, mit welcher Heirathen ge-
schlossen werden, die Männer heirathen jetzt schon im 20., die
Mädchen sogar im 16. Jahre, daraus entsteht diese Uebervölke-
rung, und daraus dann wieder die Unzahl Vagabonden.
Auf was läuft das hinaus? Auf die bekannte Malthus’sche
Theorie, die heutzutage, abgesehen von einem gelehrten Quer-
kopfe in England, im Großen und Ganzen wohl für einen über-
wundenen Standpunkt gelten darf, für die man allerdings vor
30, 40 Jahren schwärmte. Ich erinnere mich, daß damals ein
sächsischer Schriftsteller vorschlug, daß bezüglich der Menschen
weiblichen Geschlechts eine ähnliche Vorrichtung gemacht werden
solle, wie sie bei weiblichen Schafen stattzufinden pflegt. Sie
ist den Landwirthen in unserer Mitte wohlbekannt und ich darf
mich daher wohl enthalten, sie zu schildern. Ich habe nicht ge-
hört, daß man heutzutage auf diesen wahrhaft empörenden Vor-
schlag wieder zurückgekommen wäre. Möglich ist es immerhin
bei der heute in gewissen Regionen herrschenden social-phan-
tastischen und gewaltthätigen Richtung.
Gewiß stimme ich darin dem Herrn Abg. Dr. Windthorst
bei, daß es besser wäre, wenn unsere Bevölkerung ähnlich, wie
es in anderen Ländern, wie z. B. in der Schweiz, der Fall ist,
in Betreff der Verheirathung jenen Grad der Vorsicht und Zurück-
haltung bethätigte, welcher den Eheschluß auf ein etwas reiferes
Alter hinausschiebt, und wenn sie überhaupt etwas mehr Selbst-
beherrschung an den Tag legte.
Allein dergleichen läßt sich durch Ge- und Verbote, durch
Polizeimaaßregeln und dergl. nicht erzwingen. Auch vermag
die Erschwerung der Eheschließung, namentlich das der weniger
bemittelten Klasse von der Polizei und Verwaltungsbehörde auf-
erlegte Zwangscölibat, einen Einfluß in jener sittlichen Richtung
nicht auszuüben. Wir haben ja früher solche Einrichtungen in
einer großen Zahl deutscher Staaten besessen und dadurch Ge-
legenheit gehabt, vergleichende Studien zu machen. Die Er-
fahrung hat uns gelehrt, daß jene Beschränkungen keineswegs
die Zahl der Geburten vermindern, sondern nur die der unehe-
lichen Kinder im Verhältniß zu der Zahl der ehelichen ver-
mehren, oder mit anderen Worten den Procentsatz der unehe-
lichen Geburten erhöhen. Je stärker die Beschränkungen des Ver-
ehelichungsrechtes waren, desto größer war die Zahl der unehe-
lichen Kinder im Verhältniß zu den ehelichen. In Mecklenburg,
wo die Beschränkung am größten war, war auch die Zahl der
außerehelichen Geburten am größten. Daß jene veralteten In-
stitutionen auch heute, nachdem sie schon abgeschafft sind,
immer noch unheilvolle Einwirkungen und eine, nur allmählich
schwindende Verschlechterung der sittlichen Haltung des Volks
hinterlassen haben, beweist Ihnen die officielle Statistik des
Deutschen Reichs. Nehmen Sie z. B. das von dem Kaiserlichen
Statistischen Amt herausgegebene «Statistische Jahrbuch für das
Deutsche Reich», neuester, vierter Jahrgang, 1883 zur Hand und
werfen Sie nur einen Blick auf die letzte der demselben bei-
gegebenen graphisch-statistischen Karten, welche die unehelichen
Geburten im Verhältnisse zu der Gesammtzahl der Geburten für
das ganze Deutsche Reich in den Jahren von 1872 bis 1880 dar-
stellt. Da sind diejenigen Kreise, in welchen der Procentsatz
der unehelichen Geburten sechszehn und darüber beträgt, am
dunkelsten schattirt; und diese dunkelsten Schatten finden wir
in Mecklenburger, Württemberger und Bayrischen Kreisen, d. h.
also in denjenigen Ländern, in welchen das «Zwangscölibat für
Unbemittelte» am längsten sein durchaus unberechtigtes Dasein
gefristet.
Alle diese Heirathsbeschränkungen haben nur dahin ge-
wirkt, daß die ehrlichen Väter, welche die Absicht hatten, ihre
Verpflichtungen zu erfüllen, die gar nicht einen ausschweifenden
sexuellen Wandel führten, sondern in einer regelmäßigen mono-
gamen Gemeinschaft lebten, der nur die Sanction des öffentlichen
und kirchlichen Rechtes fehlte, verhindert wurden, sich officiell
als Ehemänner und Väter zu geriren, und daß der Frau die
Rechte eines ehelichen Weibes und der Nachkommenschaft die
Rechte ehelicher Kinder durch ein Gesetz von sinnloser Grausam-
keit vorenthalten wurden.
Die Folge war also, daß vormals die Zahl der unehelichen
Geburten die der ehelichen erreichte, wenn nicht gar überstieg!
Man störte die von der Natur angeordnete Reihenfolge der Dinge;
man machte Kinder, die in einer regelmäßigen Gemeinschaft
erzeugt waren, künstlich zu unehelichen; man prägte ihnen un-
gerechtfertigtermaaßen den Stempel von «Spuriis» oder «Vul-
goquäsitis» auf; man beraubte sie ihres natürlichen Ernährers
und stieß sie dadurch gerade in die Armuth, in das Elend, in
den Bettel und die Vagabondage; ja man hat vielfach (nament-
lich in Mecklenburg war dies der Fall) schließlich die Menschen
zur Auswanderung getrieben, wenn sie ehrlich genug waren, die-
jenigen Verpflichtungen, die ihnen gegenüber dem weiblichen
Wesen ihrer Wahl und gegenüber ihren mit ihm erzeugten Kin-
dern oblagen, erfüllen zu wollen. Also zu solchen Mitteln, die
einer bösen Vergangenheit angehören, wollen wir nicht zurück
greifen. Diese Arznei ist schlimmer als die Krankheit.
Dann sagt Herr Dr. Windthorst wörtlich: «Im Zusammen-
hang damit ist sehr zu erwägen, ob nicht die absolute Freizügig-
keit auf die Förderung des Vagabondenthums wesentlich einge-
wirkt hat.» Nun, in Preußen haben wir die Freizügigkeit schon
seit einer schönen Reihe von Jahren, seit beinahe einem Jahr-
hundert. Mißstände sind nicht zu Tage getreten. Was man
aber unter «absoluter» Freizügigkeit versteht, ob man auch nur
halbe oder drei Viertel Freizügigkeit kennt, weiß ich nicht.
Dann kommt, was man bei Herrn Windthorst zu erwarten
berechtigt ist: nämlich die Hauptsache des Vagabundenwesens
liege in dem kirchenpolitischen Streit. Ich sage:
Damit hat die Vagabundenfrage gar keinen Zusammenhang.
Es hat vielmehr gerade zu der Zeit, wo die Kirche absolut
herrschte, die meisten Vagabunden gegeben. Ich berufe mich
auf den italienischen Autor Genovesi, welcher sich s. Z. an-
heischig machte (siehe Schlözer, «Staats-Anzeigen» Band XIV
Heft 59), aus dem Königreich Neapel 60 000 Landstreicher, aus
Toscana 10 000 und aus dem Kirchenstaate 20 000 zu liefern.
Alle diese Dinge, welche der Herr Abg. Windthorst als die Ur-
sachen der heutigen Vagabondage bezeichnet, haben damals in
den genannten drei italienischen Staaten durchaus nicht bestanden,
am allerwenigsten in Rom und in dem Kirchenstaat, wo doch
gewiß auch ein «Culturkampf» niemals geherrscht hat.
Dann kommt Herr Windthorst zu der Hauptanklage; und
diese ist natürlich gegen die «liberale Gesetzgebung» gerichtet.
Er sagt:
«Daß diese mit der Vagabondage im Wechselverhältniß
steht, ist nicht zu leugnen, Sie werden das freilich bestreiten;
denn Sie müssen ihr Kind vertreten.»
Dieser Redensart sind wir schon oft begegnet. Aber ich
bemerke, daß für diese ganze Gesetzgebung, insbesondere auch
für die Gewerbeordnung von 1869, die Conservativen und Cleri-
calen ebensogut gestimmt haben wie die Liberalen. Der Unter-
schied ist nur der, daß allerdings wir unser Werk nicht verleugnen
und noch fortwährend für gut halten, während bei den Andern
das Gegentheil der Fall ist.
«Damit», sagt Herr Windthorst, «hängt die Entwickelung
des Vagabundenthums wesentlich zusammen, daß die kirchliche
Autorität und Zucht entschieden abgenommen hat.»
Nun, Vagabunden gab es, wie gezeigt, schon als jene Zucht
und Autorität größer war als jemals.
Er wendet sich dann gegen die socialistischen Projecte,
welche den Zwangsstaat unter schwarzweißer Fahne einführen
wollen.
Ja, entweder muß man ein Anhänger der wirthschaftlichen
Freiheit sein, oder ein Anhänger des Socialismus. Zu gleicher
Zeit die wirthschaftliche Freiheit bekämpfen und auch den sozia-
listischen Zwangsstaat, das wird doch auf die Dauer nicht durch-
zuführen sein.
Der Herr Abg. Windthorst hatte also die bestehende Gesetz-
gebung auf das Aeußerste angegriffen. Der Minister des Innern,
der unmittelbar nach ihm das Wort ergriff, hat sie mit keinem
Worte vertheidigt, sondern Herrn Windthorst seiner «Werth-
schätzung» versichert.
Dann kommt ein Wettrennen zwischen den Herren Abge-
ordneten v. Schorlemer-Alst und Hansen, die sich darüber streiten,
ob die Provinz Schleswig-Holstein oder die Provinz Westfalen
mehr von den Vagabunden heimgesucht sei. In beiden genann-
ten Provinzen ist die «Heimsuchung» ziemlich leicht zu begreifen.
Schleswig-Holstein war ja früher von Deutschland getrennt.
Gegen Deutschland bestand eine beinahe unübersteigliche Grenze.
Es kamen die Leute von Dänemark, aber nicht als Vagabunden
sondern als Herrscher, oder wie man damals sagte, als «Ty-
rannen». Jetzt kommen die Leute auch aus dem übrigen Deutsch-
land. Das gefällt den Herren nicht. Ob sie lieber die Dänen
wieder haben wollen, weiß ich nicht. Ich glaube es nicht.
Das Uebel, über welches sie klagen, ist eine Folge des Ueber-
gangszustandes, in welchem sie sich befinden. Man hat dort
die wirthschaftliche Freiheit nicht zu früh, sondern zu spät ein-
geführt.
Daß Westfalen unter der Fluctuirung der Arbeiterbevöl-
kerung zu leiden hat, ergiebt sich daraus, daß es eine große
Industrie besitzt und daß in Folge der wirthschaftlichen Krisis
eine Verschiebung der Bevölkerung theils von Westen nach
Osten und theils von Osten nach Westen stattgefunden hat, die
ihre Passage durch und nach Westfalen genommen, eine Ver-
schiebung, die u. A. auch gefördert worden ist durch die Zoll-
gesetzgebung, namentlich durch die Schutzzölle, die an Stelle
einer gesunden auswärtigen Concurrenz eine ungesunde Concur-
renz im Innern setzten, eine Concurrenz, die allerdings unter Um-
ständen sehr unangenehm und empfindlich werden musste.
Es heißt dann weiter: «Der Unterstützungswohnsitz, das
ist der Hauptfehler, der bedroht Alles.» Ja, m. H.! was ist der
Unterstützungswohnsitz? Sein Princip lautet: «Wo der Mann
arbeitet, soll er auch unterstützt werden.» Ehe man den Unter-
stützungswohnsitz hatte, wurde der Mann zurückgeschoben an
den Ort, wo er her war, wo er sein heimaths- und Domicilrecht
hatte, wo er aber lange fremd geworden. War das gerecht?
Dann sagt Hr. v. Schorlemer-Alst: «Die Vagabunden müssen
zuerst gereinigt und gespeist werden, aber vor Allem ist es
nöthig, daß sie eine tüchtige Tracht Prügel zum Willkomm
bekommen.»
Ja, mit der Tracht Prügel ist es ein eigenthümliches Ding.
Wenn man wüßte, daß sie immer an den richtigen Mann gelangt,
so könnte man im Grunde genommen nicht so viel dagegen
haben. Aber das ist ja eben das Schlimme, daß mit solchen
extremen Mitteln in der Regel ein schreiender Mißbrauch ge-
trieben wird. Ich weiß nicht, ob Hr. v. Schorlemer die schöne
Erzählung von Schiller gelesen hat: «Der Verbrecher aus ver-
lorener Ehre»; dann wüsste er vielleicht, wie unter Umständen
solche drastischen Mittel zu wirken pflegen, und wie namentlich
auf dem Gebiete, von welchem wir sprechen, die unzeitige An-
wendung von Prügeln den letzten Rest von Ehrgefühl erstickt
und die Leute für immer der Landstreicherei in die Arme wirft,
um jene Klasse der «Rückfälligen» zu vermehren, welche den
Behörden die meisten Schwierigkeiten bereitet.
Der Herr Abg. Hansen klagt dann über die Gefängnisse.
Er sagt, die Leute würden da zu gut behandelt,» ja sie haben
in den Gefängnissen alle Erfordernisse des Comforts, sogar
Badezimmer, nur Kegelbahnen und Billards fehlen noch.»
Ich weiß nicht, woher dieser kulturfeindliche Haß gegen
die Reinlichkeit kommt. Er ist sonst nur bei den Vagabunden
herkömmlich, die es sehr übel vermerken, wenn sie gereinigt
werden in der Anstalt. Sie haben die süße Gewohnheit des
Daseins in der Schweinerei und pflegen sich der Reinigung auf
das Aeußerste zu widersetzen. Das ist aber grade ein specifisches
Kurmittel. Wenn erst der Mensch so weit ist, daß er sich regel-
mäßig wäscht, so ist er zur Hälfte für die Cultur gewonnen.
Nun folgt eine Rede des Herrn Abg. Strosser, die Wahres
und Falsches vermischt enthält. Er sagt, «wenn man nach allen
Berechnungen die Jahr aus Jahr ein das deutsche Vaterland
durchziehenden Vagabunden auf 200 000 berechnet, so kommt
ein Kostenaufwand heraus von 100 Millionen Mark».
Ja, m. H.! Das sind so phantastische Rechnungen. Die
Rechnung ist so gemacht worden: In irgend einem Bezirk, der
stark unter der Vagabondage leidet, hat man gesagt: «Wir
haben für Vagabunden so und so viel ausgegeben in einem
Jahre, wir haben 100 000 Einwohner, das deutsche Reich hat
46 Millionen, folglich verhält sich die Gesammtausgabe wie
100 000 zu 46 000 000, und so ermitteln wir die Gesammtausgabe
des deutschen Reichs. So hat man sich das Exempel zurecht
gemacht. Daß das nicht richtig, nicht zuverlässig sein kann,
bedarf wohl keiner weiteren Ausführung. Wir lieben es über-
haupt heut zu Tage, uns an großen phantastischen Ziffern zu
berauschen. Aber nachweisbar sind diese Ziffern niemals, weil
es ihnen an jeder zuverlässigen factischen Unterlage gebricht;
und im Hinblick hierauf kann man kaum widersprechen, wenn
ein geistreicher Schriftsteller, Herr W. H. Riehl, in einer kultur-
wissenschaftlichen Skizze behauptet, wir litten gegenwärtig an
einer neuen Krankheit, an dem «Morbus statisticus», an der
statistischen Krankheit.
Dann sagt Hr. Strosser, «wir müssen diese Frage discutiren,
wenn wir auch diese späte Nachmittagsstunde vollständig dafür
ausnutzen sollten».
Ich erinnere mich einer sehr lebhaften Berathung im Jahre
1848, wo eins der Mitglieder sagte: M. H.! wir müssen die sociale
Frage lösen, und wenn wir die ganze Nacht hindurch sitzen
sollten bis zum Morgen.
Dann wird gesagt, eine Ursache des Zunehmens der Vaga-
bondage liege darin, daß die Innungen aufgehört haben und
keine feste Ordnung im Handwerk sei u. s. w.
Niemals aber war die Vagabondage größer, als zur Zeit
der mit prohibitiven Rechten ausgestatteten Zünfte, welche die
Leute am Zuzug und am Arbeiten hinderten, und dadurch
zwangen, zu «vaciren». Die Zünfte, diese so viel bewunderte
ständische oder corporative Gliederung, für die ja heutzutage
die sogenannten «staatserhaltenden Kräfte» schwärmen, konnten
nicht allein die Vagabondage nicht hindern, sondern im Gegen-
theil, die Vagabunden gründeten selbst auch eine Zunft, nämlich
die Zunft der «fahrenden Leute». Sie organisirten sich ebenfalls,
und die Zünfte der «unehrlichen» Leute hatten ebenso ihre Cor-
porative Verfassung wie die Zünfte der sogenannten «ehrlichen»
Leute.
Ich verweise Sie auf das ebenso lehrreiche als unterhaltende
Büchlein von Dr. Otto Beneke in Hamburg «Von unehrlichen
Leuten, culturhistorische Studien und Geschichten aus vergange-
nen Tagen deutscher Gewerbe und Dienste», (Hamburg 1863).
Niemals waren die vacirenden, vagirenden und vagabun-
direnden Handwerksburschen auf Straßen und Herbergen zahl-
reicher, als zur Zeit der dem Untergange geweihten Zünfte. Man
denke nur an das schöne Lied:
«Was das Fechten gewinnt
Durch die Gurgel rinnt.»
etc. etc.
aus dem «Lumpacivagabundus», das bekanntlich noch aus der
«guten alten Zeit» stammt, wo die Gebundenheit und Unfreiheit
florirte und man von der «liberalen Gesetzgebung» noch nichts
wußte.
Dann macht Hr. Strosser vortreffliche Bemerkungen über
das Institut des Pastors Bodelschwingh, dessen ich bereits in ver-
dienten Ehren gedacht habe.
Endlich kommt aber auch er auf die Prügel zurück, «Prügel,
Prügel und immer Prügel», die heute das Universalmittel sein
sollen gegen alle gesellschaftlichen Krankheiten. Herr Strosser
unterläßt aber als ehrlicher Mann nicht, hinzuzufügen, daß er
mit seinem Prügel-Antrage durchgefallen ist in einer Conferenz
der Beamten deutscher Strafanstalten, die in Stuttgart statt-
gefunden hat, daß die Majorität sich gegen diese seine Auf-
fassung erklärt hat, mit dem Anfügen, daß ein solches Mittel
schlimmer sei als die Krankheit, und daß ein einsichtiger Straf-
anstaltsdirector auch ohne solche Mittel im Stande sein müsse,
diese Krankheit zu heilen.
Ich komme nun noch zurück auf das Echo, welches diese
Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses gefunden
haben in der Sitzung des deutschen Reichstages vom 1. Fe-
bruar 1883.
In dieser Sitzung versuchte das verehrliche Mitglied Herr
Stöcker eine Rede zu halten beim Kapitel Oberpostdirectoren,
eine Rede nicht über die Oberpostdirectoren, sondern über die
Sonntagsfeier, was ihm nicht ganz gelang, weil es ja nicht in
Uebereinstimmung war mit der Tagesordnung, und der Präsident
Freiherr v. Frankenstein ihn hindern mußte in dem vollen Erguß
seiner oratorischen Talente. Er sprach nicht blos von der Sonn-
tagsfeier, er machte auch einen Abstecher auf den Unterstützungs-
wohnsitz. Er sagte: «Können wir leugnen, daß eine Menge von
Gesetzen, die in den letzten Jahrzehnten gegeben sind, unseren
Volksgeist verwirrt hat, daß der Unterstützungswohnsitz die
Vagabondage beförderte, können wir das leugnen?»
Sie sehen also, daß diese Dinge sich bereits zu einem
Dogma, zu einem Glaubensbekenntniß verdichtet haben, daß kein
Mensch sie leugnen darf, ohne aufzuhören, ich will nicht sagen
ein Mensch, aber doch wenigstens ein «frommer Mensch» zu
sein. Ja, weiß man denn nicht, daß die Freizügigkeit schon
unter Friedrich dem Großen eingeführt werden sollte durch Ab-
schaffung der Leibeigenschaft? Friedrich II. hatte schon den
Befehl gegeben, daß in Pommern die Leibeigenschaft aufgehoben
werden sollte. Da hat ihm die pommersche Ritterschaft Vorstel-
lungen gemacht und gesagt: Majestät, das geht nicht, dann haben
wir keine billigen Arbeitskräfte mehr, wir müssen diese Bauern,
sowie deren Buben und Mädchen haben, die für 3 Thaler per Jahr
arbeiten, und wenn wir sie nicht mehr an die Scholle fesseln,
so laufen sie fort, unser Land, so lautet der Ausdruck, wird «de-
peuplirt» werden; dann haben wir keine Bauern mehr, und
Majestät haben keine Soldaten. Das that eine gute Wirkung.
Der König nahm Abstand von dieser Reform. Friedrich Wil-
helm III. aber hat sie durchgeführt und darüber nicht allein ein
Gesetz erlassen am 25. März 1809, sondern ihm auch eine sehr
schöne Begründung beigefügt, indem er sagte:
«Die Rittergutsbesitzer haben sich der Freizügigkeit
widersetzt und die Besorgniß geäußert, die Unterthanen
würden, sobald sie die natürliche Freiheit wieder erlangt
hätten, Mißbrauch damit treiben und
1. sich von dem Landbau entfernen und alle nach den
Städten gehen,
2. lieber als Tagelöhner wie als Gesinde arbeiten,
3. übermäßigen Lohn und bessere Kost fordern,
4. sich dem Müßiggange ergeben und vagabundiren etc.
Diese Einwendungen der Rittergutsbesitzer widerlegt
nun König Friedrich Wilhelm III., indem er bemerkt:
Zu 1. es sei nicht abzusehen, wie der Hang der Landbe-
wohner, in die Städte zu ziehen, dadurch vermehrt
werden könne, daß ihnen der Aufenthalt auf dem
Lande durch Erlangung der persönlichen Freiheit an-
genehmer gemacht wird; es stehe vielmehr zu erwarten,
daß mehr städtische Arbeitsleute auf das Land ziehen
werden, wenn auf dem Lande die bisher so abschreckend
wirkenden Beschränkungen der persönlichen Freiheit
aufgehoben sind;
Zu 2. durch Aufhebung des Dienstzwanges werde die Lage
des Gesindes verbessert, es werden daher weniger, als
bisher Veranlassung haben, das Dienen gegen Tage-
löhnerei zu vertauschen;
Zu 3. freilich werde und müsse da, wo man dem Zwangs-
Gesinde so wenig gereicht hat, daß es ohne Beistand
der Eltern nicht bestehen konnte, einige billige Er-
höhung eintreten; jedenfalls aber würde durch die per-
sönliche Freiheit die Concurrenz in heilsamer Weise ver-
mehrt; und da freie Leute im Gegensatz zum Zwangs-
gesinde mit mehr gutem Willen arbeiten, werde mehr
Arbeit mit weniger Händen verrichtet werden, als
vormals;
Zu 4 aber sagt der König wörtlich, indem er sich an seine
Beamten wendet:
«Es ist eine durchaus unrichtige Behauptung, daß
der Mensch, welcher sich freier und glücklicher fühlt,
mehr Neigung zur Unsittlichkeit, zum Müßiggange und
zum Vagabundiren habe, als der, welcher in der Knecht-
schaft lebt.
Im Gegentheil ist größere Sittlichkeit und erhöhter
Fleiß eben grade in den Provinzen zu finden, in wel-
chen der gemeine Mann wohlhabend und frei ist.
Diejenigen Unglücklichen aber, welche, durch
knechtische Behandlung und Mangel verwildert, An-
fangs die erlangte Freiheit mißbrauchen sollten, werdet
Ihr durch gesetzliche Zwangsmittel in die Schranken
der Ordnung zurückzuweisen, Euch angelegen sein
lassen.»
(Rabe, Sammlung der Preuß. Edicte und Verord-
nungen. Bd. X, Seite 60—62).
In dem Edict vom 27. October 1810 sagt der König:
«Wir wollen Gewerbefreiheit»,
und in dem Edict vom 7. September 1811 fügt er hinzu:
«Die Grundlagen, auf welchen die neuere Gesetzgebung
beruht — Gleichheit vor dem Gesetz — Eigenthum des
Grundes und Bodens — freie Benutzung desselben und freie
Verfügung über denselben — Gewerbefreiheit — Aufhören
der Zwangs- und Bann-Gerechtigkeiten und der Monopole
— Tragung der Abgaben nach gleichen Grundsätzen von
Jedermann — Vereinfachung derselben und ihrer Erhebung
— wollen wir nicht verlassen. Wir wollen den Zweck auf
einem langsamen aber sichern Wege erreichen und sind
entschlossen, gegen Diejenigen mit Ernst und Nachdruck
zu verfahren, die sich aus bloßem Privatinteresse Un-
sern landesväterlichen Ansichten entgegensetzen möchten.»
So sprach Friedrich Wilhelm III., als er die Gesetze erließ
und die Einrichtungen schuf, welche die Wiedergeburt Preußens
nach der schweren Niederlage von 1806 begründet und später
durch Aufrichtung und Ausdehnung des Zollvereins den Wohl-
stand Deutschlands herbeigeführt und die politische Einheit des-
selben vorbereitet haben.
Dann aber ist die Freizügigkeit weiter ausgebaut worden
durch das Gesetz Friedrich Wilhelms IV. über die Aufnahme neu
anziehender Personen, und der Unterstützungswohnsitz und durch
das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. De-
cember 1842, also zu einer Zeit, wo es weder einen preußischen
Landtag gab noch einen deutschen Reichstag, sondern wo der
König aus eigener Initiative die Gesetzgebung regelte.
Wenn man nun sagt, «wer wird es leugnen, daß die Gesetz-
gebung in den letzten Jahrzehnten, also seit 1865 den Volksgeist
verwirrt hat und daß das Unterstützungswohnsitzgesetz die Vaga-
bondage befördert hat», so scheint man nicht zu wissen, daß das
Unterstützungswohnsitzgesetz für Preußen nach seinem wesent-
lichen Inhalt schon seit 1842 besteht.
Doch ich will diesen Gegenstand nicht weiter verfolgen.
Ich möchte meine Ausführungen dadurch ergänzen, daß
ich Ihnen die Geschichte der Vagabondage in Deutschland, zu
der ich ein reichliches Material gesammelt habe, im Umriß vor-
führe. Allein die Zeit erlaubt es nicht. Ich werde daher diese
historische Skizze in der «Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft
und Kulturgeschichte» publiciren, worauf ich Sie im Voraus zu
verweisen mir hierdurch erlaube.
Hier will ich mich auf folgende Bemerkungen beschränken:
Die Geschichte lehrt uns, daß die Vagabondage periodisch
steigt und fällt, daß sie in Deutschland in früheren Jahrhunderten
weit schlimmer grassirt hat als gegenwärtig, und daß sie über-
haupt mit der steigenden Kultur-Entwickelung immer mehr ab-
nimmt, unbeschadet jedoch der bereits erwähnten periodischen
wellenförmigen Bewegung des Steigens und Fallens innerhalb
dieser im Ganzen von Jahrhundert zu Jahrhundert sinkenden
Scala.
Die Geschichte zeigt uns ferner, daß eine Anzahl von Er-
eignissen und Zuständen geeignet sind, die Vagabondage jedes
Mal zu steigern. Dahin gehören: Wirthschaftliche Krisen, große
politische und religiöse Exaltationen, durchgreifende Aenderungen
der Gesetzgebung, welche gewisse Schwierigkeiten für das un-
vermeidliche Uebergangsstadium herbeiführen, Hin- und Her-
3
schwanken, Vorwärts- und Rückwärts-Gehen in der Wirthschafts-
Politik und dergleichen.
Vor Allem aber zeigt sich ein unverkennbarer Einfluß des
Krieges.
Wir sehen eine große Steigerung der Vagabondage während
des dreißigjährigen Krieges und nach demselben.
Desgleichen nach dem siebenjährigen Kriege.
In den Kriegsjahren zu Ende des vorigen Jahrhunderts
bilden sich, namentlich in dem südlichen und westlichen Deutsch-
land, große Vagabunden- und Räuberbanden; und erst der ganzen
Energie der französischen Verwaltung gelingt es, dieselben einiger-
maßen zu unterdrücken.
Als aber dort die Viel- und Kleinstaaterei wiederhergestellt
war, begann das Unwesen sein Haupt wieder zu erheben,
namentlich von den Theuerungsjahren ab, welche dadurch noch
eine Verschärfung erhielten, daß damals in Deutschland noch
die Zwischenzölle bestanden, so daß das Getreide in Posen nur
halb so viel kostete wie in der Rheinprovinz, aber nicht hin-
geführt wurde, weil die Zwischenzölle bestanden, die erst später,
1818, ganz beseitigt worden sind. Wenn Hr. v. Rauchhaupt im
Abgeordnetenhause sagt, daß die Vagabondage nicht von dem
Kriege herrühren könne, denn 1870/71 habe kein fremder Fuß
deutschen Boden betreten, so kann ich ihm als Exempel anfüh-
ren das Jahr 1859; da hat auch kein fremder Fuß deutschen
Boden betreten, gleichwohl hatten wir in Süd- und Westdeutsch-
land eine so grimmige Vagabondage, wie wir sie vorher und
nachher lange Zeit nicht erlebt haben, das kam eben von dem
italienischen Kriege, der seinen Wellenschlag bis dahin erstreckte.
Wir sehen also, daß die Ursachen der Vagabondage ganz
andere sind, als wie die Herren glauben, die sich darüber im
Abgeordnetenhause geäußert haben. Ich habe da noch eine
Menge Notizen über die gegenwärtige Vagabondage in Frank-
reich, sowie über die Schriftsteller, die sich darüber verbreitet
haben, die allgemein constatiren, daß seit 1871 dort die Vaga-
bondage sich verzehnfacht hat und die ehrlich genug sind, zu
sagen, das rührt von dem Krieg her. Sie schieben die Vaga-
bondage auch nicht ihrer Gesetzgebung in die Schuhe, sondern
leiten sie theils von dem Krieg und theils von der wirthschaft-
lichen Krisis ab; und wenn wir ehrlich sein wollen, so müssen
wir von Deutschland dasselbe sagen. Der Krieg verwildert,
dann entsteht eine wirthschaftliche Krisis, und diese fördert das
Vagabundenthum. Daß in dieser wirthschaftlichen Krisis mitunter
Menschen «entgleisen», um ein Eisenbahnbild zu gebrauchen,
und dann Mühe haben, wieder in’s Geleise zu kommen, das ver-
steht sich eigentlich von selbst.
Ich habe mir Mühe gegeben, Ihnen thatsächliches Material
zu bringen, damit Sie in den Stand gesetzt werden, auf Grund
desselben zu urtheilen, was von den Behauptungen, die ich Ihnen
vorgeführt habe, zu halten ist. Ich glaube, daß es vor Allem
gilt, sich nicht in öde, zweck- und ziellose Phantastereien einzu-
lassen, nicht die Verfassung, die bürgerliche Gesellschaft auf den
Kopf zu stellen und nicht die Geschichte sich nach willkürlichen
Voraussetzungen zu construiren, sondern die Thatsachen zu er-
forschen und festzustellen und die ihnen zu Grunde liegenden
Gesetze zu erkennen. Nur wenn wir das thun, werden wir der
Wissenschaft und zugleich auch dem Vaterland dienen.
(Lebhafter Beifall.)
Druck von Leonhard Simion, Berlin SW.