Die Schriften, von welchen hier die Rede iſt, begrei-
fen weniger nicht als die ganze eigentliche Maſſe des
Volkes in ihrem Wirkungskreis. Nach keiner Seite hin
hat die Literatur einen größeren Umfang und eine allge-
meinere Verbreitung gewonnen, als indem ſie über-
tretend aus dem geſchloſſenen Kreiſe der höheren Stände,
durchbrach zu den untern Claſſen, unter ihnen wohnte,
mit dem Volke ſelbſt zum Volke, Fleiſch von ſeinem
Fleiſch, und Leben von ſeinem Leben wurde. Wie
Halm an Halm auf dem Felde in die Höhe ſteigt, wie
Gräſer ſich an Gräſer drängen, wie unter der Erde
Wurzel mit Wurzel ſich verflicht, und die Natur einſilbig
aber unermüdet immer daſſelbe dort, aber immer ein
Anderes ſagt, ſo thut auch der Geiſt in dieſen Werken.
Wie ſehen wir nicht jedes Jahr in der höheren Literatur
die Geburten des Augenblicks wie Saturn ſeine Kinder
verſchlingen, aber dieſe Bücher leben ein unſterblich
unverwüſtlich Leben; viele Jahrhunderte hindurch haben
ſie Hunderttauſende, ein ungemeſſenes Publikum,
1.
beſchäftigt; nie veraltend ſind ſie, tauſend und tauſendmal
wiederkehrend, ſtets willkommen; unermüdlich durch
alle Stände durchpulſirend und von unzählbaren Geiſtern
aufgenommen und angeeignet, ſind ſie immer gleich
beluſtigend, gleich erquicklich, gleich belehrend geblieben,
für ſo viele viele Sinne, die unbefangen ihrem inwohnen-
den Geiſte ſich geöffnet. So bilden ſie gewiſſermaßen
den ſtammhafteſten Theil der ganzen Literatur, den
Kern ihres eigenthümlichen Lebens, das innerſte Fun-
dament ihres ganzen körperlichen Beſtandes, während
ihr höheres Leben bey den höheren Ständen wohnt.
Ob man wohlgethan, dieſen Körper des Volksgeiſtes
als das Werkzeug der Sünde ſo geradehin herabzuwür-
digen; ob man wohlgethan, jene Schriften als des
Pöbelwitzes dumpfe Ausgeburten zu verſchmähen, und
darum das Volk mit willkührlichen Beſchränkungen und
Gewaltthätigkeiten zu irren, das iſt wohl die Frage
nicht! Denn wir tadeln ja auch die Biene nicht, daß
ſie im Sechseck baue, und die Seidenraupe nicht, daß
ſie nur Seide und nicht Treſſen und Purpurkleider webe,
und beginnen allmählig jetzt die Welt zu achten, wie
ohne Menſchenweisheit ſie die Natur zu ihrem Beſtand
geordnet, und zur ſchönen humanen Duldung wohl
gelangt, laſſen wir leben was athmen mag,
weil es ſich nicht geziemt, des Herren Werke zu
vernichten. Von dieſer toleranten Geſinnung der Gebil-
deten gegen die Ungebildeten wäre es, dünkt uns,
gut und gelegen in der Unterſuchung auszugehen;
jene aber, die das Poſtulat nicht zuzugeben geſonnen
ſind, werden es zugleich mit begründet finden, wenn
bewieſen worden, was bewieſen werden ſollte. Das
nämlich iſt die Frage, ob dieſe Schriften bei ihrer
äußeren Verbreitung wohl auch eine gewiſſe angemeſ-
ſene innere Bedeutſamkeit beſitzen; ob nicht zu ſpär-
lich für den höhern Sinn der Funken der bildenden
Kraft in ihnen glimme; ob nicht, das Alles zugegeben,
das Höhere, ſobald es aus der Oberwelt in die pflan-
zenhafte, gefeſſelte Natur des Volks herabgeſtiegen,
dort ſeine ganze innere Lebendigkeit verliere, und in
ein unnützes Geranke verwildert, nur noch als ſchäd-
lich Unkraut üppig wuchre? Wahr iſt’s, ſchmackloſes
Waſſer führen die Ströme und die Brunnen nur,
die aus ſchlechter Erde quellen, während der Feuer-
wein nur auf wenigen ſonnigten, hochaufſtrebenden
Gebürgen reift; man hat recht gut und recht ſcharf-
ſinnig bemerkt, daß die Feldblumen wenig Reize für
den gebildeten Dilettanten beſitzen, und es iſt ein kläg-
lich Ding um Alles, was die Natur weggeworfen, es
iſt kaum des Aufhebens für den bemittelten Menſchen
werth, was aber wirklich koſtbar iſt, das verſteckt ſie
recht tief und geizig in die vielen Falten ihres weiten
Mantels, und nur wer die Wünſchelruthe hat, der
mag zu dem Verborgenen gelangen. Wahr ſcheints
ferner auch, das Volk lebt ein ſproſſend, träumend,
ſchläfrig Pflanzenleben; ſein Geiſt bildet ſelten nur
und wenig, und kann nur in dem Strahlenkreiſe der
höheren Weltkräfte ſich ſonnen, ſeine Blüthe aber
blüht Alles unter die Erde in die Wurzel hinab, um
dort wie die Kartoffel eßbare Knollen anzuſetzen, die
die Sonne nimmer ſehen. Nicht ganz ſo ungegründet
zeigt ſich daher wohl die Beſorgniß, es ſey da unten
nichts zu ſuchen, als werthloſes Gerölle, Kieſelſteine,
die die Ströme in den langen Zeitläuften rund und
glatt gewälzt, ſchmutzige Scheidemünzen, die vielfältiges
Betaſten abgegriffen. Aber Manches mögte doch die-
ſer Anſicht wieder entgegenreden. Für’s erſte könnte
es ſcheinen, als ob die künſtliche Differenz der Stände,
weil keineswegs die Natur unmittelbar ſie gegründet,
und in ſcharfen Umriſſen abgegränzt, auch auf keine
Weiſe von ſo gar mächtigem Einfluß wäre. In jedem
Menſchen ſind, dünkt uns, eigentlich alle Stände;
dieſe Zeit hat uns gelehrt, wie ſie in einzelnen Indi-
viduen alle der Reihe nach erwachten, bis endlich oben
gar Kronen aus dem Unſcheinbaren erblühten. In den
obern Ständen ſehen wir daher den Bauer und den
Bürger hinter der äußeren Eleganz verſteckt, im
Bauer aber in der Regel den guten Ton ſo zu ſagen
ins Fleiſch geſchlagen, und dort zum Tonus des Mus-
kels werden. Man ſollte denken, daß der eingeſperrte
Bauer dort wohl auch einmal, wenn er ſich durchge-
ſchlagen, auf bäueriſch ſich erquicken mögte, und wie-
der daß wohl auch in den unteren Ständen,
beſonders an Sonn- und Feſttagen, wenn der Wo-
chenſchmutz abgerieben, und der Körper im Staate
auch zu Staatsactionen aufgelegt ſich fühlt, der kniende
Herr im Menſchen ſich aufrichten, und um ſich blicken,
und auch nach den goldenen Aepfeln lüſtern mögte,
die oben in dem dunkeln Laube hängen. Wir wollen
indeſſen keineswegs auf dieſem fußen: jene würden
ſchamhaft darum ſich verbergen, daß ſie in einem
ſchwachen Momente ſich überraſcht; dieſe würde man
als eitle Parvenus verlachen und in Spott entlaſſen.
Aber eines wollen wir vorzüglich in’s Auge nehmen,
daß wir die Pöbelhaftigkeit, als Solche rein ſchlecht
und verwerflich unterſcheiden von Volksgeiſt und Volkes-
ſinn, die in ihrer Ausartung und Verderbniß nur in
jenen übergehen. Wir werden dann der alten Bemer-
kung uns erinnern, wie dieſe Pöbelhaftigkeit durch alle
Stände greifend keineswegs allein auf die Unteren ſich be-
ſchränkt. Wenn wir das lärmende Marktvolk in
unſerer feinen Literatur die Kunſtwerke umſummen
und ſtier und dumm begaffen ſehen, und dann in dem
böſen Pfuhle, der ſich um die hohen Bilder ſammelt,
die ſchönen Formen in mißfälligen Verzerrungen wie-
derſcheinen, dann wittern wir Pöbelluft; die Schlech-
tigkeit im Volke hat ihre Repräſentanten zum großen
Convente abgeſendet, und die ſitzen nun im Rathe zu
Gericht über Leben, Kunſt und Wiſſenſchaft, und
legen ihren Comittenten periodiſch Rechenſchaft von
ihrem Thun und Laſſen ab, und es iſt ein Geiſt und
ein Willen und eine Geſinnung, die unter den ver-
bundenen Brüdern und Freunden herrſchen. So hat
das Böſe, das Schlechte, das Gemeine ſeine Kirche,
ſeinen ſichtbaren Statthalter auf Erden, betraute
Näthe, Prieſter, Ritter, Layen, alles Janhagel,
feiner, gröber, beſtialiſch, geſchliffen, pfiffig, dumm,
alles Janhagel. Von dieſes Volkes Büchern reden
wir nicht, es würde zu weitläuftig ſeyn, und wir
würden uns zu hoch verſteigen müſſen. Aber es giebt
ein anderes Volk in dieſem Volke, alle Genien in
Tugend, Kunſt und Wiſſenſchaft, und in jedem Thun
ſind dieſes Volkes Blüthe; jeder, der reinen Herzens
und lauterer Geſinnung iſt, gehört zu ihm; durch
alle Stände zieht es, alles Niedere adelnd, ſich hin-
durch, und jeglichen Standes innerſter Kern, und
eigenſter Character iſt in ihm gegeben. Jedem Stande
kann nämlich ein Idealcharakter inwohnend gedacht
werden, höher hinauf geſtimmt in den höheren Stän-
den; tiefer verleiblicht, aber immer noch vollkommen
im Volke. Körperliche Geſundheit iſt ſo vollendet in
ſich und achtbar, wie innere Geiſtesharmonie, und
Eines jedesmal durch das Andere bedingt. Von die-
ſem heiligen Geiſte, der im Volke wohnt, und nichts
zu ſchaffen hat mit unheil gem Pöbel, reden wir
jetzt, ob er darum weil er derber, ſinnlicher im Nie-
derſteigen geworden iſt, verwerflich ſey. So iſt der
Geiſt, der z. B. am franzöſiſchen Volke übrig bleibt,
nachdem man Alles, was die Verruchtheit von Jahrhun-
derten ihm eingebrannt, mit jenem Pöbel von ihm abge-
ſchieden, ein harmloſer, gutmüthiger, leichter, heiterer
Lebensgeiſt; gewandt und raſch in allen Aeußerungen,
für das Gute leicht empfänglich und berührſam. Das
iſt der herrliche Geiſt, der in den engliſchen Matroſen
wohnt, nachdem man alle Beſtialität in die Schlacken hin-
eingetrieben, dieſe kräftige, energiſche, unermüdliche,
brave Natur, die wie Damascenerſtahl im Sturmes-
braus gehärtet gegen den Ankampf aller Elemente
federt, und ſtolz und wild und ſiegreich mit dem
Meere ringt. Das der Spanier ſtolzer, hoher Bar-
bareskenſinn, der tönendes Erz im Buſen trägt, und
weil er Würdiges nicht vollbringen kann, lieber auf
ſeinem innern Reichthum ruht, und jede ungeziemende
Thätigkeit verſchmäht. So erkennen wir endlich auch
den ächten innern Geiſt des teutſchen Volkes, wie
die älteren Mahler ſeiner beſſeren Zeit ihn uns gebil-
det, einfach, ruhig, ſtill, in ſich geſchloſſen, ehrbar,
von ſinnlicher Tiefe weniger in ſich tragend, aber
dafür um ſo mehr für die höhern Motive aufgeſchloſ-
ſen. Gerade die Demüthigung, die dieſem Charakter
durch das Ungeſchick der Führer bereitet worden iſt,
muß die innere Scheidung in dem Weſen der Nation
vollenden; ſich losſagend von dem, was die Verwor-
renheit der nächſt vergangenen Zeit ihr aufgedrungen,
muß ſie zurückkehren in ſich ſelbſt, zu dem was ihr
Eigenſtes und Würdigſtes iſt, wegſtoßend und preis-
gebend das Verkehrte; damit ſie nicht gänzlich zer-
breche in dem feindſeligen Andrang der Zeit.
Nachdem wir das Alles auf dieſe Weiſe erwogen,
wird der Gedanken einer Volksliteratur uns keines-
wegs mehr ſo nichtig und in ſich ſelbſt verwerflich
ſcheinen, als es ſo geradehin auf den erſten Blick den An-
ſchein gewann. Nachdem wir einen inwendigen Geiſt in
allen Ständen wohnend, und gleich einem ſchlackenloſen
Metallkönig durch alle Verunreinigung von Zeit und
Gelegenheit durchblickend anerkannt, wird auch die
Idee näher uns befreundet, daß im allgemeinen Ge-
dankenkreiſe die unterſten Regionen auch etwas gelten
und bedeuten mögten, und daß der große Literatur-
ſtaat ſein Haus der Gemeinen habe, in dem die Na-
tion ſich ſelbſt unmittelbar repräſentire. Giebt es aber
nun wirklich einen Kreis von Schriften, die der Ge-
nius jener Völker, die wir aufgezählt, gleichmäßig
anerkennt, die viele einander folgenden Generationen
immer wieder von neuem ſanctionirt, die den Beſten
immer wohlgefallen, die die Menge niemal ſinken
laſſen, und nach denen Alle nimmer zu verlangen
aufgehört, dann thun wir klug, nicht mehr ſo ganz
wegwerfend abzuurtheilen; die Verachteten mögten uns
unter die Augen treten, und uns entgegen fragen,
was wir denn ſelber bedeuteten, und worauf unſer
Dünkel denn wohl ſich gründen mögte? So aber
iſt’s wirklich mit den Büchern, die wir im Auge ha-
ben, beſchaffen: ſo weit teutſche Zungen reden, ſind
ſie überall vom Volke geehret und geliebt; von der
Jugend werden ſie verſchlungen, vom Alter noch mit
Freude der Rückerinnerung belächelt, kein Stand iſt
von ihrer Einwirkung ausgeſchloſſen, während ſie bei
den Untern die einzige Geiſtesnahrung auf Lebenszeit
ausmachen, greifen ſie in die Höheren, wenigſtens
durch die Jugend ein, in der überhaupt aller
2.
Standesunterſchied ſich mehr ausgleicht, und die in
ihnen oft für ihre ganze künftige Exiſtenz den äuße-
ren Anſtoß findet, und den Enthuſiasmus ihres Lebens
ſaugt. Aber keineswegs auf dieſen großen nationellen
Kreis haben ſie ihre Wirkſamkeit beſchränkt; wie bei
den Teutſchen, ſo finden wir ſie auf gleiche Weiſe
bei den Franzoſen in allgemeinem Umlauf; wie dort
Cöln und vorzüglich Nürnberg ſie zu tauſenden nach
allen Richtungen hin vertreiben, ſo iſt hier Troyes der
allgemeine Stapelplatz, von wo aus ſie, in gleicher
Menge, nur in der Form häufig ſorgfältiger und
correcter wie bei den Teutſchen, ſich über die Nation
verbreiten, und einen unzuberechnenden Einfluß auf
ihren Geiſt und Character üben. Und auch damit noch
iſt der Wirkungskreis dieſer Bücher nicht begränzt;
während die Holländer und die Engelländer die Mei-
ſten in ihrer Sprache beſitzen, haben nicht minder die
Spanier und die Italiäner ſie theils in die Ihrige
überſetzt, theils Manche ſelbſt für ſich producirt, ſo
daß vielleicht ſechszig und mehr Millionen Menſchen
um ihre Exiſtenz wiſſen, und mehr oder weniger an
ihnen ſich erfreuen. Nimmt man nun noch hinzu,
daß während im Jahrhunderte dreimal die Generatio-
nen wechſeln, dieſe Bücher drei, vier und mehrere
Jahrhunderte überlebten; Manche wie wir ſehen werden,
bis in die graueſten Zeiten des Alterthums hinaufrei-
chen, dann gewinnen ſie ein wahrhaft ungemeſſenes
Publicum, und ſie ſtehen keineswegs mehr als Gegen-
ſtände unſerer Toleranz uns gegenüber, ſondern viel-
mehr als Objecte unſerer höchſten Verehrung und
unſerer wahrhaftigen Hochachtung; als ehrwürdige
Alterthümer, die durch das läuternde Feuer ſo vieler
Zeiten und Geiſter unverſehrt durchgegangen ſind.
Man glaube nur nicht, daß ein Schlechtes für ſich
dieſe Prüfung der Menge und der Zeit beſtehen könne;
es kann mit unterlaufen, von dem Guten durchge-
ſchleppt, aber nimmer ſich für ſich ſelbſt allein be-
haupten. Die Nation iſt nicht einem todten Felſen
ähnlich, dem der Meiſel willkührlich jedes Bild ein-
graben kann, es muß etwas ihm Zuſagendes in dem
ſeyn, was man von ihr aufgenommen wiſſen will;
ein dunkler Inſtinct für das Gute iſt keiner Creatur
verſagt, und damit fühlt ſich leicht, was gut und ge-
deihlich was ſchädlich und giftig iſt, heraus, und kräftig,
und ohne ſich zu beſinnen, ſtößt die Menge alles ab,
vor dem dieſer dunkle Trieb ſie warnt. Und wenn
auch einzelne Irrungen unterlaufen, wenn das Schlechte,
das Kraftloſe augenblicklichen Eingang findet, bald
erwacht der innere Eckel und Ueberdruß, und die Zeit
ſpült in ihrem Strome alles wieder weg, und gleicht
alle Fehler wieder aus. Was aber dieſe Probe beſteht,
was Allen zuſagt, Individuen und Geſchlechtern,
was Allen, eine widerhaltende, kräftige Nahrung
giebt, wie Brod, das muß nothwendig Brodeskraft in
ſich beſitzen, und lebensſtärkend ſeyn. Wenn daher
auch der Zufall bei der Wahl dieſer Schriften gewal-
tet zu haben ſcheint, indem man dem Volke ſie gebo-
ten, bey der Aufnahme hat er keineswegs vorgeherrſcht;
ein großes fortdauerndes Bedürfniß muß im Volk
beſtehen, dem jede Einzelne für ſich zuſagt, und
das daher fortdauernd ſie erhält: nur gerade das
Schlechte mag durch den Zufall oben ſchwimmend
eine Weile erhalten werden, muß aber nothwendig auch
über lang oder kurz von ihm zerrieben werden. Und
dies Bedürfniß iſt gerade das unvertilgbar der menſch-
lichen Ratur eingepflanzte Streben, zu ſättigen den
Geiſt mit Gedanken, und mit Empfindungen das Ge-
müth; ein Streben, das gerade am überraſchendſten
auf dieſer Stufe ſiegreich ſich offenbart, wo es ſchei-
nen ſollte, als ob der dunkle ſinnliche Trieb, und die
Luſt, die mit ſeiner glücklichen Befriedigung verbun-
den iſt, alle die Kräfte feſſeln müßte, deren Spiel-
raum in Regionen fällt, wo das körperliche Bedürf-
niß nichts zu ſuchen hat. Aber durchbrechend durch
die feſte Corallenrinde, in der das Leben gegen die
unfreundliche Natur ſich wahren muß, drängt der
innere verſchloſſene Geiſt die Fühlhörner hinaus in
die weite freye Umgebung, und es iſt rührend zu ſe-
hen, wie er um ſich taſtend, und Alles umher begrei-
fend, und nach allen Richtungen ſich windend, nach
Weltanſchauung ringt, und auch ſich ergötzen mögte
in dem freundlichen Strahl, der die Seele aller Crea-
turen iſt. Es iſt daher ein anderer Hunger und ein
anderer Durſt, als jener blos ſinnliche, der hier ſich
im Volke regt; nicht nach körperlicher Speiſe ſehnt
er ſich, damit er in Leibliches ſie wandle, ſondern
nach dem höheren Geiſte lüſtert ihn, den der Genius
ausgegoſſen aus ſeiner Schaale in die rohe Materie,
und der als ihre Seele ſie ſich nun zugeſtaltet hat.
In die Tiefe zieht das Thier im Menſchen die Lei-
besnahrung zu ſich nieder, und wiederkäuend und
aſſimilirend die Lebenslymphe erſtarkt es, und gewinnt
Breite und Raum auf Erden; aber der Gott im
Menſchen mag nur den feinſten Wohlgeruch der Dinge,
den zarten Duft, der aus ihnen unbegreiflich und un-
ſichtbar athmet, er nährt ſich nur mit den Lebens-
geiſtern, die im Innerſten der Weſen verborgen woh-
nen, die er dann einſaugt mit allen Nerven, und ſich
aneignet als eines höheren Himmels Speiſe, und in
der Aneignung ſelbſt verklärt. Dieſer Geiſt muß ſich
vom Thiere losgerungen haben, zum Centauren muß
das rein Thieriſche ſich hinaufgeſteigert haben, in
dem das Menſchliche ſiegreich das Animaliſche über-
ragt und bändigt, wenn irgend der Drang nach jener
feinern Nahrung in ihm lebendig werden ſoll. Daß
aber im Volke jener Drang und die Mittel zu ſeiner
Befriedigung ſich finden, beweißt eben, daß in ihm
längſt ſchon jene Umwandlung vorgegangen iſt; daß
es längſt ſchon die Region der dumpfen Stupidität
verlaſſen hat, in die ſeine Verhältniſſe es unlösbar
gefeſſelt zu haben ſcheinen; daß nun in den unterſten
Claſſen der Geſellſchaft das Beſſere ſiegreich ſich offen-
hart, und daß oben auf dem durch und durch ſinn-
lichen Körper ein menſchlich Antlitz entſproſſen iſt,
das über die wagrechte Thierlinie ſich erhebend hin-
aufſtrebt zum Himmel, und Anderes denn das Ir-
diſche ſchon ſucht und kennt.
Auf zwiefach verſchiedene Weiſe aber hat jene in-
nere im Volke wach gewordene Poeſie ſich im Volke
ſebſt geäußert. Einmal im Volkslied, in dem die
jugendliche Menſchenſtimme zuerſt thieriſchem Gebelle
entblüht, wie der Schmetterling der Chryſalide, in un-
gekünſtelten Intonationen die Tonleiter auf- und nie-
derſteigend freudig ſich verſuchte, und in dem die erſten
Naturaccente klangen, in die das verlangende, freudige,
ſehnende, in innerem Lebensmuth begeiſterte Gemüth ſich
ergoſſen. Eintretend in die Welt, wie der Menſch ſelbſt in
ſie tritt, ohne Vorſatz, ohne Ueberlegung und willkührliche
Wahl, das Daſeyn ein Geſchenk höherer Mächte,
ſind ſie keineswegs Kunſtwerke, ſondern Naturwerke
wie die Pflanzen; oft aus dem Volke hinaus, oft
auch in daſſelbe hineingeſungen, bekunden ſie in jedem
Falle eine ihm einwohnende Genialität, dort produc-
tiv ſich äußernd, und durch die Naivität, die ſie in
der Regel characteriſirt, die Unſchuld und die durchgän-
gige Verſchlungenheit aller Kräfte in der Maſſe,
aus der ſie aufgeblüht, verkündigend; hier aber durch
ihre innere Trefflichkeit den feinen Tact und den gera-
den Sinn bewährend, der ſchon ſo tief unten wohnt,
und nur von dem Beſſeren gerührt nur allein das
Beſſere ſich aneignet und bewahrt. Wie aber in die-
ſen Liedern der im Volke verborgene lyriſche Geiſt in
fröhlichen Lauten zuerſt erwacht, und in wenig kunſt-
loſen Formen die innere Begeiſterung ſich offenbart,
und bald gegen das Ueberirdiſche hingerichtet, vom
Heiligen ſpricht und ſingt, ſo gut die ſchwere wenig
gelenke Zunge dem innern Enthuſiasm Worte geben
kann; dann aber wieder der Umgebung zugewendet,
von dem Leben und ſeinen mannichfaltigen Beziehun-
gen dichtet, jubelt oder klagt und ſcherzt: ſo muß auf
gleiche Weiſe auch der epiſche Naturgeiſt ſich bald
ebenfalls dichtend und bildend zu erkennen geben, und
auch mit ſeinen Geſtaltungen den ihm in dieſer Region
gezogenen Kreis anfüllen. Jenen religiöſen und pro-
fanen Geſängen, in denen des Volkes Gemüth ſein
Inneres ausſpricht, werden daher auch bald andere
Gedichte im Character jenes ruhigen Naturgeiſtes ſich
gegenüberſtellen, in denen das Gemüth was es durch
ſeine Anſchauung in der Welt geſehen, mahlt und
verkündigt, und gleichfalls bald als heilige Geſchichte
das Ueberirdiſche bedeutſam bezeichnet, bald als Ro-
mantiſche dem unmittelbar Menſchlichen näher ge-
rückt, durch Schönheit, Lebendigkeit, Größe, Kraft,
Zauber oder treffenden Witz ergötzt. Dieſe Dich-
tungen ſind die Volksſagen, die die Tradition von
Geſchlecht zu Geſchlechte fortgepflanzt, indem ſie zu-
gleich mit jenen Liedern, durch die Geſangweiſe die
ſich dem Organe eingeprägt, einmal gebildet, vor dem
Untergange ſich bewahrten. In den früheſten Zeiten
entſtanden die meiſten dieſer Sagen, da wo die Na-
tionen, klare friſche Brunnen der quellenreichen, jun-
gen Erde eben erſt entſprudelt waren; da wo der
Menſch gleich jugendlich wie die Natur mit Enthuſi-
asmus und liebender Begeiſterung ſie anſchaute, und
von ihr wieder die gleiche Liebe und die gleiche
Begeiſterung erfuhr; wo Beyde noch nicht alltäglich ſich
geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in
dieſer Periode, wo der Geiſt noch keine Anſprüche auf
die Umgebung machte, ſondern allein die Empfindung;
wo es daher nur eine Naturpoeſie und keine Naturge-
ſchichte gab, mußten nothwendig in dieſem lebendigen
Naturgefühle die vielfältig verſchiedenen Traditionen
der mancherlei Nationen hervorgehen, die kein Lebloſes
anerkannten, und überall ein Heldenleben, große gigan-
tiſche Kraft in allen Weſen ſahen, überall nur großes,
heroiſches Thun in allen Erſcheinungen erblickten, und
die ganze Geſchichte zur großen Legende machten.
Lebendig wandelten dieſe Geſänge mit den Liedern,
vom Ton beſeelt, im Leben um; da aber, als die Er-
findung der Schreibkunſt und ſpäter der Buchdruckerey
dem Ton das Bild unterſchob, da wurde freilich das
Leben in ihnen matter, aber dafür in demſelben Maaße
zäher, und was ſie an innerer Intenſität verlohren,
gewannen ſie wenigſtens an äußerer Extenſion wieder.
So wurden die Lieder in jenen fliegenden Blättern
fixirt, die ſie wie auf Windes-Fittig durch alle Länder
trugen; und was im Munde des Volkes allmählig mehr
und mehr verſtummte, das bewahrte das Blatt wenig-
ſtens für die Erinnerung auf. Jene andern Geſänge
aber, ihrer Natur nach mehr ruhend, beſtimmt, mehr
3.
an das Bild als an den Ton gebunden, und daher
Zauberſpiegeln gleich, in denen das Volk ſich und ſeine
Vergangenheit, und ſeine Zukunft, und die andere
Welt, und ſein innerſtes geheimſtes Gemüth, und Alles
was es ſich ſelbſt nicht nennen kann, deutlich und klar
ausgeſprochen vor ſich ſtehen ſieht; dieſe Gebilde mußten
vorzüglich in jenem äußeren Fixirenden ein glückliches
Organ für ihre freie Entwicklung finden, weil ſie ihrer
Natur nach mehr im Extenſiven ſind, und nun, indem
die Schranken, die die enge Capacität des Gedächtniſſes
ihnen zog, gefallen waren, ſich frei nach allen Nich-
tungen verbreiten konnten. So ſind daher aus jenen
Sagen die meiſten Volksbücher ausgegangen, indem
man ſie, aufgenommen aus dem mündlichen Verkehr in
den Schriftlichen, in ſich ſelbſt erweiterte und vollendete:
nur Eines haben ſie bei dieſer Metamarphoſe eingebüßt;
die äußere poetiſche Form, die man als bloßes Hülfs-
mittel des Gedächtniſſes jetzt unnütz geworden wähnte,
und daher mit der gemeinen Proſaiſchen verwechſelte.
So gut nämlich wie der alten griechiſchen Sage von
der Einnahme Trojas iſt es wenigen Späteren geworden,
daß ſie nämlich einen Homer gefunden hätten, der
aus dem Munde der Nation ſie übernehmend, während
er extenſive zum großen Epos ſie erweiterte, ſie zugleich
auch in ihrer innern Form verklärte, und das große
Werk nun in Tafeln von Erz gegraben im großen Tempel
der Nation aufgeſtellt. Die Tradition ſelbſt aber, nach-
dem ſie auf dieſe Weiſe ein bleibendes Organ gefunden,
verlor nun als Solche ſich allmählig; während Andere
Jahrhunderte hindurch umſonſt auf die gleiche Erlöſung
wartend, von der fortſchreitenden Kultur erreicht, in
ſich vergangen ſind, und noch Andere in den entlegneren
Gegenden, wo die Zeit das alte Dunkel noch nicht auf-
geklärt, in der Dämmerung ſtillen Lichtern gleich,
ſchweben, und auf eine beſſere Zukunft verzweifelnd
harren, weil die Misgunſt der Umſtände nicht wollte,
daß die Vergangenheit ihnen Körper und Beſtand gege-
ben hätte. Von vielen dieſer Volksbücher ſagt ihre
Geſchichte ausdrücklich, daß ſie auf ſolche Weiſe entſtan-
den ſind; Andere tragen unverkennbar den Character
dieſer Abkunft in ihrem ganzen Weſen, und wenn man
bei noch Anderen auf beſondere hiſtoriſche Quellen ſich be-
ruft, dann findet man, wenn man die Natur dieſer Quellen
genauer prüft, immer wieder, wie ſie zuletzt auf jene
Sagen ſich beziehen, und aus ihnen ſich geſammelt
haben.
Was aber die Didactiſchen, Lehrenden unter den
Volksbüchern betrifft, ſo ſind ſie eben ihres innern reflec-
tirenden Characters wegen durchaus modern, und in
demſelben Grade mehr modern, wie das Verſtändige in
ihnen mehr vorherrſcht. Und in den Aelteſten herrſcht
es noch am meiſten vor; jene wunderbare Anſicht von
ſeltſamen Eigenſchaften der Naturproducte, z. B. in
den Kräuterbüchern dieſer Zeit, die die Phyſik bei ihrem
Fortſchreiten völlig vernichtet hat, iſt in dem Grade
poetiſch, wie ſie unwiſſenſchaftlich iſt; und gerade weil
ſie ſo alt ſind, iſt ſo viel von Poeſie in ihnen, ſo wenig
hingegen von Wahrheit. Denn in dem Maaße, wie die Na-
turkraft im einzelnen Menſchen und im ganzen Volke in
jugendlicher Fülle, und in raſchem Lebensmuth vor-
herrſcht, in dem Maaße wird er auch von dem Lebens-
rauſch beſeſſen, und er taucht mit ſeinem ganzen Weſen
unter in dem friſchen warmen Quelle, und iſt lauter
Phantaſie, und Empfindung und Poeſie. Wenn aber,
nachdem das Ganze in kräftiger Fülle ſich geründet hat,
die Natur im Menſchen zur Vollendung reift: dann
ſammelt er ſich in ſich ſelber wieder, und reißt ſich von
ſich ſelber los, und tritt nun in ſeiner Freiheit dieſer
Natur und ſeiner ganzen Vergangenheit, eben ſo als
einem Gegenſtändlichen gegenüber, wie vorher das Ob-
ject ſelbſt der ganzen äußern Natur ſich entgegenſetzte,
und mit dieſem Gegenſatz erwacht zuerſt die Reflection
und das Nachdenken, und mit ihnen die freie, klare Er-
kenntniß, und des Gedankens weites, ſchrankenloſes
Reich iſt dann geöffnet. Alle dieſe Schriften ſind daher
nicht von früherer mündlicher Ueberlieferung ausgegan-
gen, mithin auch nicht wie die rein Poetiſchen aus
dem Volke ſelbſt hervorgewachſen, und auch keineswegs
ſo tief mit ſeiner innerſten Natur verwachſen, wie es
Dieſe ſind. Sie ordnen ſich am nächſten jenen ſpätern
Verſuchen der Neuern bey, dieſe Literatur zu erweitern
durch andere der großen Maſſe fremde Combinationen,
mit denen vorher nie das Volk vertraut geweſen, die
daher auch in ihrer Wirkung ſo wenig gedeihlich und
ſo oft unnütz geweſen ſind Ich rechne dahin unter Andern die neuen Leipziger Volks-
bücher bei Solbrig, mehrere aus Muſäus abgedruckte
Volksſagen ſind zwar nicht unzweckmäßig gewählt, obgleich
der in ihnen herrſchende Ton keineswegs eigentlicher
Volkston, und ihre Naivetät nicht Volksnaivetät iſt.
Alles andere aber iſt meiſt ſo leer, ſo gehaltlos und fatal,
daß die fade Speiſe nothwendig den Inſtinct des Volkes
eckeln mußte.. Das Volk hat ſie nicht
mit der Liebe umfaſſen können, wie jene Früheren,
mit denen es gleichſam aufgewachſen, und in welchen
es erſtaunt auf einmal ſein eigenſtes Eigenthum erkannte,
und klar und deutlich im Worte ausgeſprochen fand,
was es wohl oft mit ſchwerer, dicker Zunge undeutlich
nur articuliren konnte.
Fragen wir aber nun noch nach dem allgemeinen
Character, der alle dieſe Schriften gemeinſchaftlich
bezeichnet, dann müſſen wir uns vor Allem überzeugen,
daß, ſollten dieſe Gebilde Wurzel greifen in der Menge,
und eine eigene ſelbſtſtändige Exiſtenz in ihr gewinnen,
eine innere Sympathie zwiſchen ihnen und der Nation
ſelbſt, beſtehen mußte; es muß ein Moment für dieſe
Wahlverwandſchaft in ihnen ſeyn, und ein gleiches
Entſprechendes im Volke, und im Zug und Gegenzug
konnte dann Alles in Liebe ſich verbinden, und eins
werden in der allgemeinen Luſt und Vertraulichkeit.
Wir ſahen eben wie das Element, welches das Volk zur
Bildung hergegeben, jene uralte Sagenpoeſie war,
die wie ein leiſes Murmeln fortlief durch alle Geſchlech-
ter, bis der Letzten Eines ſie zur vollen Sprache bil-
dete; das parallel gegenüber eingreifende Moment in
den Büchern aber iſt der durchaus ſtammhafte, ſinn-
lich kräftige, derbe, markirte Character, in dem ſie
gedacht und gedichtet ſind, mit Holzſtöcken und ſtarken
Lichtern und ſchwarzen Schatten abgedruckt, mit
wenigen feſten, groben, kecken Strichen viel und gut
bezeichnend. So nur kann die Poeſie dem Volke etwas
ſeyn, nur für den ſtarken, derbanſchlagenden Ton,
hat dieſer grobgefaſerte Boden Reſonanz, und die
ſtarke Fiber kann dem tief Einſchneidenden nur ertönen.
Nur dadurch wird die Poeſie zur Volkspoeſie, daß ſie
ſeinen Formen ſich eingeſtaltet; hat die Natur in dieſen
Formen ihre bildende Kraft offenbaren wollen, dann
darf die Kunſt auf keine Weiße ſich ſcheuen ihr zu
folgen in dieſer Metamorphoſe, und im Worte wieder
auszuprägen, was jene ſtumm und ſtill geſtaltete. Aber
doch iſt nicht ſo ganz gleichmäßig in allen dieſen Bil-
dungen ohne Unterſchied derſelbe Geiſt herrſchend;
durch die ganze fortlaufende Entwickelung der Zeit iſt
die Kunſt von ferneher der Nation gefolgt, und die
vorzüglichſten Epochen dieſer allmähligen Entwickelung
ſind durch eben ſo viel vorſtechende Werke bezeichnet.
Als die etrusciſchen Satyren, und die osciſchen
Atellanen zuerſt eingeführt wurden in Rom, da
nahm das Volk ſie freudig und willig auf; überraſcht,
fand es ſeine ganze Natur in dieſen rohen, wilden,
barbariſchen Geſtaltungen widerſcheinend; die Kunſt
rang mit ſeiner Kraft und ſeiner innern Energie, und
es rang wieder mit dem Geiſte, der ſo derb anzufaſſen
wußte, und es gewann Geſchmack dem Schimpfſpiel
ab zwiſchen ſeinen Kräften und den Kräften des frem-
den wunderbaren Zaubers, und alle Poeſie war noch
ganz Volkspoeſie im eigentlichen Sinn, und in Allem
war große, feſte, kernhafte Alpennatur. Nicht auf
dieſer Stufe von Gediegenheit hat in neuern Zeiten
ſich das Volk erhalten; ſchon dadurch daß eben ein
höherer Anflug aus der Maſſe ſich heraus verflüchtigte,
und gerade das Geiſtigſte ihm entführte, mußte der
Rückſtand im Gegenſatz mit dieſem Flüchtigen gewiſ-
ſermaßen einen mehr phlegmatiſchen und minder
elaſtiſchen Character annehmen, und manche der älteſten
Volksbücher, die dem früheren, antiken Volksgeiſt rein
zuſagten, ſind dem Gegenwärtigen fremd geworden;
und manche Neuere, indem ſie jenem veränderten
Genius ſich anſchmiegten, traten zugleich in einer
Form hervor, die nicht ganz mehr mit jener Nor-
malen zuſammenſtimmen will. Es ziehen keine Bären
mehr durch unſere Wälder, keine Elennthiere und keine
Auerochſen; mit Ihnen iſt daher auch das Bärenhafte,
was die älteſten Sagen und Bildungen bezeichnet,
gewichen, und wie die Sonnenſtrahlen durch die ge-
lichteten Wälder Bahn ſich brachen, hat auch in der
entſprechenden Kunſtentwicklung ein milderer Geiſt
Platz gegriffen, der manchmal rein für ſich in einzelnen
Bildungen daſteht, manchmal mit jenem Früheren ſich
verſchmelzend, einen gewiſſen mittelſchlägigen Charac-
ter bildet. Nicht mehr des Urſen und des Bären
unbändige Wildheit ſpricht daher aus dieſen Büchern,
wohl aber ein raſcher, geſunder, friſcher Geiſt, wie
er das Reh durch’s Dickigt treibt, und in den andern
Thieren des Waldes lebt; es iſt nichts Zahmes, Häus-
liches, Gepflegtes in Ihnen, Alles wie draußen im
wilden Forſt geworden, geboren im Eichenſchatten,
erzogen in Bergesklüften, frei und frank über die
Höhen ſchweifend, und zutraulich von Zeit zu Zeit
zu den Wohnungen des Volkes niederkommend, und
von dem freien Leben draußen ihm Kunde bringend.
Das iſt der eigentliche Geiſt jener Schriften, fern von
Jenem, den man in den neueſten Zeiten in den Noth-
und Hilfsbüchern als eine feuchtwarme, lindernde
Bähung ſeinen Preßhaftigkeiten aufgelegt, und die,
obgleich vielleicht den augenblicklichen Bedürfniſſen
entſprechend, doch eben dadurch Zeugniß geben von
dem chroniſch-krankhaften Geiſt der Zeit.
Wenn man, was wir in dieſen wenigen Blättern
über den Charakter und das Weſen dieſer Bücher
beigebracht, erwägt; wenn man, ſo oft die Hoffart auf
unſere feinere Poeſie uns übernehmen will, bedenkt,
wie es das Volk doch immer iſt, was uns im Früh-
linge die erſten, die wohlriechendſten und erquickend-
ſten Blumen aus ſeinen Wäldern und Hegen bringt,
wenn auch ſpäter freilich der Luxus unſerer Blumen-
gärten ſich geltend macht, deren ſchönſte Zierden aber
immer irgendwo wild gefunden werden; wenn man
ſich beſinnt, wie überhaupt alle Poeſie urſprünglich
doch immer von ihm ausgegangen iſt, weil alle In-
ſtitution und alle Verfaſſung, und das ganze Gerüſte
4.
der höheren Stände, immer ſich zuletzt auf dieſen
Boden gründet, und in den erſten Zeiten die gleiche
poetiſche, wie politiſche und moraliſche Naivetät herr-
ſchend war, dann können wir wohl endlich voraus-
ſetzen, daß jedes Vorurtheil gegen dies große Organ
im allgemeinen Kunſtkörper verſchwunden ſey′
und wir haben uns Bahn gemacht zur gehörigen
Würdigung dieſer Schriften im Einzelnen. Wir gehen
daher ohne weitern Aufenthalt zur Betrachtung der
beſonderen Bildungen dieſes Faches über, um zu
ſehen, in wiefern was wir ſo eben im Allgemeinen
ausgeſprochen, auch im Einzelnen ſich bewährt. Die
Ordnung aber, die wir bei dieſer Bücherſchau befol-
gen, wird Dieſe ſeyn, daß wir nämlich mit den Leh-
renden, dem Alter nach Jüngſten beginnen, von dort
aus zu den Romantiſchen, und dann zu den Religiö-
ſen übergehen, und endlich mit einem großen Blick
auf das durchlaufene Gebieth von der gewonnenen
Höhe hinab enden.
1.
Albertus magnus von Weibern und Geburten
der Kinder, ſammt denen dazu gehoͤrigen
Arzneien; und Unterricht, wie ſich ſowohl
die Gebaͤhrenden zu verhalten, als auch die
Hebammen ihrer Pflicht gemaͤß, oder andere
dabei benoͤthigte Perſonen ihren Dienſt
recht verſehen ſollen. Nebſt einer Erklaͤrung
von den Tugenden der vornehmſten Kraͤu-
ter, und von Kraft und Wirkung der Edel-
ſteine, von der Art und Natur etlicher
Thiere, aus Apollinaris groͤßerm Kraͤuter-
buch gezogen; auch ein bewaͤhrtes Mittel
fuͤr die Peſtilenz, und wie man ſich wegen
des Aderlaſſens verhalten ſoll. Aufs neue
verbeſſert und den Landleuten zum Nutzen
eingericht, mit dazu dienlichen Figuren.
Gedruckt in dieſem Jahr.
Das erſte Buch von Weibern und Geburten der
Kinder, iſt eine moderne Umarbeitung des Albertiſchen,
wahrſcheinlich durch die Endteriſche Verlagshandlung
in Nürnberg veranſtaltet, und enthält eine faßliche
Auseinanderſetzung der Erſcheinungen der Schwan-
gerſchaft, und eine ganz verſtändige Anleitung für
die Hebammen auf dem Lande, nach der ſie in
den meiſten Fällen ſich richten können; erläutert durch
Holzſchnitte, die die verſchiedenen Lagen der Kinder
in der Gebärmutter vorſtellen. Das andere Buch von
etlichen namhaften Kräutern und ihrer Tugend hin-
gegen iſt noch das Alte, und contraſtirt ſeltſam mit
dem Vorigen. Die Verbena, zwiſchen zwei Liebesper-
ſonen geworfen, ſtiftet großen Verdruß und Uneinig-
keit; Lamium bei ſich getragen, macht gütig und
gnadenreich; Metel mit Martagon gemiſcht, giebt
die Springwurzel, vor der alle Schlöſſer aufſpringen,
und mehr dergleichen, wiſſenſchaftlich unſinnig, prak-
tiſch unſchädlich, weil alle Angaben der mancherlei
Eigenſchaften auf Curioſitäten und Neckereien hinaus-
laufen, die, da das Ganze keinen weitern Grund in
der Wirklichkeit hat, ſich ſelbſt ohne irgend einigen
Nachtheil zerſtören. Das dritte Buch handelt von
den Eigenſchaften und Wirkungen etlicher Edelſteine.
Es war eine ſeltſame kindiſch naive Zeit, in der
man glauben konnte, daß der Magnet unter das
Haupt einer Frau gelegt, wenn ſie unkeuſch wäre,
ſie aus dem Bette fallen mache; daß ein Stein
Ophthalmus, in ein Lorbeerblatt gewickelt, Unſichtbar-
keit gebe; daß der Stein Meda geſtoßen und in Waſſer
zergangen, dem die Hände abfallen mache, der ſich
darin waſche; daß der Agat den Menſchen gewaltig
mache, daß der Saphir Friede und Einigkeit bewirke,
und mehr dergleichen. Die Zeit für dieſen Glauben
iſt vorüber, aber man dulde ihn immerhin, da ohne-
hin dergleichen Dinge in der öffentlichen Meinung
ſtillſchweigend als Mährchen gelten, und niemand
weiter mehr berücken. Daſſelbe iſt beim vierten Buche
der Fall, das von den Kräften und allerlei Tugen-
den einiger Thiere handelt. Im fünften Buche von
viel köſtlichen Arzneimitteln, beſonders Aqua vitae,
das iſt vom lebendigen Waſſer, oder vom Waſſer des
Lebens, meiſt unſchädliche Tincturen und Latwergen
aus dem Pflanzenreiche, ſelten mit Gewürzen ver-
ſetzt, daher nicht leicht dem Mißbrauche unterworfen,
und allenfalls nur negativ ſchädlich, durch Verhin-
derung des Beſſern, das aber dem Landmann nur ſelten
geboten werden kann. Albertus magnus war übri-
gens bekanntlich ſcholaſtiſcher Philoſoph, von 1254 an
Provinzial der Dominikaner in Deutſchland, 1260
Biſchof zu Regensburg bis 1280, wo er ſtarb in Cöln.
Dieſem Umſtand beſonders, nebſt ſeiner großen Celebrität,
iſt es wohl zuzuſchreiben, daß in dieſem Buche ein
Theil ſeiner Schrifften als Volksbuch in ſo allgemei-
nen Umlauf gekommen. Ein und zwanzig Foliobände
füllen dieſe Schriften, vom Dominikaner Peter
Jammy geſammelt, und 1687 herausgegeben, wor-
unter ſein Werk von der Natur der Dinge und von
den Geheimniſſen der Weiber, zu dieſem Buche zu-
nächſt die Veranlaſſung und den Stoff gegeben.
2.
Der barmherzige Samariter, oder freund-bruͤ-
derlicher Rath, allerhand Krankheiten und
Gebrechen des menſchlichen Leibs, innerlich
und aͤußerlich zu heilen, mit geringen und
verachteten Mitteln und Arzneien, die eine
lange Zeit daher bewaͤhrt erfunden worden,
und nunmehr aus ſchuldiger chriſtlicher
Liebe aufrichtig, dem gemeinen verlaſſenen
Mann zum Beſten an das Tageslicht gege-
ben durch Eliam Baynon den juͤngern,
V. D. M. ſammt einem Anhang fuͤr die
Hebammen, in allen zuſtoßenden Faͤllen zu
gebrauchen. Ganz neu gedruckt.
Keineswegs ſo verwerflich, als es auf den erſten
oberflächlichen Blick wohl ſcheinen mögte. Ein alter,
ehrlicher, wahrſcheinlich ſchwäbiſcher oder ſchweitzeri-
ſcher Arzt, der es herzlich gut mit dem Volke meint,
unter dem er eine ausgebreitete Praxis gehabt zu ha-
ben ſcheint, theilt hier ſeine Erfahrungen, ſeine Ent-
deckungen und ſogar ſeine Arcana in einer treuherzi-
gen, gutmüthigen, altväteriſchen Sprache mit; eine
Materia medica, nach den Hilfsmitteln des Volkes
eingerichtet, eine Diätetik für das Verhalten bei den
verſchiedenen Krankheiten, und eine faßliche Patholo-
gie der gewöhnlichen Zufälle, wie ſie in den untern
Ständen herrſchen. Natürlich iſt er Humeralpatholog
aus der Schule des Hippocrates und Galenus; allein
gerade dieſe Schule iſt ihrer durchgängigen Plaſtizität
wegen beynahe einzig auch für die populäre Darſtel-
lung geeignet. Gerade das Greifbare an der Krank-
heit, ihr Leib und ihr äußerer Körper iſt’s, was der
gemeine Mann an ihr begreift, und wenn er belehrt
werden ſoll über ſein Verhalten im ſündhaften Zu-
ſtande ſeines Organismus, dann muß die Sünde ihm
nothwendig Fleiſch werden, damit er ſie erkennen und
ausrotten möge. Ich weiß recht gut, was man gegen
die Populariſirung der Heilkunde eingewendet hat;
aber wer hinter die ſchönen Worte ſieht, der findet
nur zu oft die Unlauterkeit verborgen, die ſie eingege-
ben hat. Still und verhüllt, wie die Natur in den
Eingeweiden der Erde wirkt, ſo wirkt ſie auch in
den Tiefen des menſchlichen Körpers, die Menſchen
und ihr Verſtand ſind über Beide gleich wenig Meiſter
noch geworden. An der Oberfläche pflügen, ſäen,
graben, ärndten ſie, aber das matteſte Zucken des
großen Körpers, das ſchwächſte Erdbeben, vermag
keine Menſchenkraft noch zu bändigen. Nach vielen
Jahrhunderten des Dünkels und der Hoffart, iſt denn
auch die Heilkunde bald ſo weit gekommen, daß ſie
weiß wie wenig ſie vermag, und daß auch im Leben
die Natur ihren großen Gang durchgeht, wie die hö-
heren Geſtirne es gebieten, unbekümmert um die klei-
nen Zauberkreiſe, die Formeln, und alles Prickeln
des Verſtandes. Es ziemt ihr daher wohl auch, die
hohe Sprache gegen die ſogenannte quackſalbernde
Empirie abzulegen: ſeitdem die Bücherweisheit Ge-
meingut geworden iſt, kennen wir unſere Schwäche
wechſelſeitig, die vornehme Miene will ſich nicht mehr
behaupten laſſen, wir thun daher wohl, wenn wir
leben und leben laſſen, eingedenk, daß wir allzumal
unſern Beſitz als ein höheres Geſchenk vorgefunden
haben, und daß der, dem der Himmel ein Beſſeres
verliehen, wohl auch außer der Facultät damit wuchern
ſoll. Die Volksempirie in der Medizin, derb und ein-
ſchneidend wie der Volkswitz, beide gern auf die Sa-
burra ſich werfend, ſollte daher Gnade finden vor der
mediziniſchen Eleganz der obern Stände. Es iſt dabei
ein unveräußerliches Recht, nach Willkühr über phyſi-
ſches Wohl und Weh ſeines eigenen Körpers zu verfü-
gen, und mithin ein gegründeter Anſpruch des Volkes,
Unterricht zu empfangen, in dem was damit in Bezie-
hung ſteht, um auch außer der Innung für ſich ſelbſt
ſeines Lebens Gang reguliren zu können. Und in
neun und neunzig Fällen auf hundert, wird eine Arz-
ney aus dem vorliegenden Buche von einem nur
einigermaßen auf ſich ſelbſt aufmerkſamen Menſchen
ſich verordnet, wenigſtens eben ſo heilſam ſeyn, als
eine Andere von dem Schlendrian der gewöhnlichen
Aerzte auf geradewohl hin vorgeſchriebene Kunſtgerechte.
Denn die Heilmittel des Samariters ſind meiſt einfach,
und im ſchlimmſten Falle unſchädlich; Kräuter und
inländiſche Gewächſe, Hollunderſchößlinge ſtatt der
Sennesblätter, Maſtix, gewürzhafte Kräuter und er-
weichende; von chemiſchen Bereitungen allein Spiesglas,
5.
heroiſche Mittel, Gifte ſelten, und dann nur in
kleineren Doſen. Freilich iſt auch mitunter man-
cherlei Unſinns darin, von dem man allerdings das
Buch reinigen ſollte, obgleich keiner, der ſehr gefähr-
lich werden könnte; Menſchenkoth und Koth jeder Art,
ſpielt noch in der Materia medica ſeine Rolle; man-
cherlei Wunderliches läuft mitunter, z. B. die Sa-
chen, welche das Geſicht ſtärken, ſind mancherlei:
als ſchöne grüne Wieſen und Gärten, grüne Gläſer,
der Stein Saphir, grüne und blaue Vorhänge und
Teppiche, klare Waſſer, ein Sack voll Ducaten, die
man oft anſieht und zählt; lieblich Frauenzimmer
weidet die Augen und ſtärket ſie; Blumen, ſo blaue
Farbe haben, daraus man Kränze macht und in Zim-
mern aufhängt: als Borragen, Augentroſt, Ritter-
ſporn u. ſ. w. Aber es iſt auch Manches darin ent-
halten, Arzneien und Handgriffe, die eine ernſte Er-
wägung verdienen, und es dürfte ſich eben gerade kein
Arzt ſchämen, einen Blick hineinzuwerfen, wäre es
auch nur um Manches, was er über den neuern Theorien
vergeſſen, ſich wieder zurückzurufen, und manchen ge-
nialen Einfall, womit ſich die neuere Heilmittelkrä-
merei brüſtet, dort ganz einfältig und beſcheiden unter
anderm Unſcheinbaren wiederzufinden.
3.
Bauernpractika, oder Wetterbuͤchlein, wie man
die Witterung eines jeden Jahrs eigentlich
erlernen und erfahren mag; durch Aufmerk-
ſamkeit der Zeiten von Jahr zu Jahr waͤh-
rende. Jetzt wieder aufs neue mit etlichen
nuͤtzlichen Stuͤcken vermehrt, und mit ſchoͤ-
nen Figuren geziert, ſamt einem Bauern-
compaß, allen Ackerleuten, Boten, Schiff-
leuten, Kaufleuten, ſo zu Waſſer und Land
reiſen, nuͤtzlich zu wiſſen, durch Henericum
von Uri. Gedruckt in dieſem Jahr.
Abgedruckt aus einem älteren Buche unter glei-
chem Titel und völlig gleichen Inhalts, das zu Frank-
furt am Main 1570 erſchien, und wahrſcheinlich noch
andere Vorgänger von anderen Verfaſſern hat. Zuerſt
wie die Witterung des ganzen Jahrs in Weyhnachten
zu erkundigen ſey. Man kennt das alte aſtrologiſch
meteorologiſche Dogma, daß die Natur der zwölf
Monathe des Jahrs vorgebildet werde durch die zwölf
Nächte, die der Chriſtnacht oder eigentlich dem Win-
terſolſtitium folgen. Dies Dogma gründete ſich auf
die alte mythologiſche Anſicht, daß das Jahr gleich-
ſam mit dem Winterſolſtitium gebohren werde, und
daher in der zarten Jugend ſchon, wie am Menſchen,
die ſpätere Entwickelung ſich ſpiegeln müſſe, eine An-
nahme, die, da ſie der durchgängig cykliſchen in ſich
gleichen Natur aller Himmelsbewegungen, in deren
Wiederkehr das Jahr ſich bildet, widerſpricht, wiſſen-
ſchaftlich unſtatthaft iſt, obgleich ein eigner poetiſcher
Reiz, wie in allem Prophetiſchen, darin liegt. — Dann
von den zwölf Monathen des ganzen Jahrs mancher-
lei Bauernregeln in Verſen. Ferner Cisio Janus
für die Layen. Mehrere Hexameter, deſſen Worte
jedesmal die erſten Silben der unbeweglichen Feſte
andeuten, die auf jeden Tag des Monaths fallen,
und zwar ſo, daß die Zahl der erſten Silbe von dem
Namen des Feſtes oder des ganzen Wortes, den Mo-
natstag anzeigt, auf welchen daſſelbe fällt. Der Rame
ſelbſt iſt, wie Eſchenburg im literariſchen Anzeiger
ſchon gezeigt, verſtümmelt aus Circumcisio Ianuarii,
weil das Beſchneidungsfeſt als das Erſte, das Jahr
eröffnet; der Cisio janus aber lateiniſch, ſchon am
Anfange des vierzehnten Jahrhunderts in der römiſchen
Kirche herrſchend, und in der Folge von Melanchthon
verbeſſert, teutſch aber gedruckt ſchon um 1470 vor-
kommend. Der gegenwärtige iſt oft artig, leicht und
meiſt ſcherzhaft gewendet. Z. B. für den Novem-
ber:
All Heiligen fragen nach gutem Wein,
Willibrodus ſprach, lauffet hin,
Martin ſchenkt jetzt guten Moſt,
Und hat dabei viel guter Koſt,
Cäcilia, Clemens fragten Catharina das,
Advent hieß kommen Andreas.
Eine nützliche Laßtafel dient für mancherlei Gebre-
chen der Menſchen, ſamt einem Unterricht, wie ſich
dieſelben halten ſollen im Aderlaſſen, Schröpfen oder
Köpfeln, iſt von Jahr zu Jahr recht und wahrhaftig.
Alles ſo, wie das ganze Aderlaßmännchen auf die
ältere Medizin gegründet, die hier von dem Grundſatze
ausgieng, daß wenn allgemeine Krankheiten durch
gleich allgemeine Aderläſſe aus den größeren Gefäſſen
geheilt werden, locale Krankheiten durch gleich locales
Blutlaſſen gehoben werden müſſen. Dieſer Grundſatz
an ſich ſelbſt phyſiologiſch durchaus richtig, da in jedem
einzelnen Organ auch im Kreislauf, durchaus ein
ſelbſtſtändiges Prinzip, obgleich dem Allgemeinen un-
tergeordnet hervortritt, hat freilich in der Anwendung
zu mancherlei Täuſchungen Veranlaſſung gegeben,
die mit dem Zuſtande der älteren Medizin zu den Zei-
ten Avicennas zuſammenhiengen, die aber darum gar
nicht die Neuere rechtfertigen, daß ſie das Ganze als
grundloſen Aberglauben verwarf. Auf ähnlichem
Grunde beruht die folgende Rubrick: Regiment, wie
man ſich in einem jeglichen Monat halten ſoll, und
der ſieben Planeten Eigenſchaft, und was in eines je-
den Stand zu thun und zu laſſen ſey, auch wenn
ſich ſchön, feucht oder naß Wetter begeben. Ein
aſtrologiſches Schema, nach dem jeder, der Glauben
daran hat, ſein Leben und ſeinen Wandel reguliren
mag; eine Art von phyſiſchem, kathegoriſchen Impe-
rativ, der immerhin neben dem Moraliſchen beſtehen
mag. Wenn einmal Ordnung ſeyn ſoll im menſchli-
chen Thun und Treiben, dann mag auch wohl einmal
die Ordnung des Himmels, und der Lauf der Ge-
ſtirne als Regulativ erſcheinen, und gerade dieſes
könnte für die unteren Volksklaſſen tauglicher als je-
des Formale ſeyn, weil ohnehin ſeiner Willkühr in
allen ſeinen Verhältniſſen wenig überlaſſen bleibt, und
dieſe überhaupt in allen ihren Aeußerungen oft ſehr
unbehülflich ſich zu benehmen pflegt. Daher iſt denn
auch bei allen Nationen dieſe Naturethik jeder andern
Intellectualen voran gegangen. Folgen weiter etliche
nützliche Aufmerkungen und Regeln für die Weinhäcker,
Gärtner und Bauersleute, wie ſie nach des Mon-
des Schein und Lauf ſich richten ſollen; dann vom Baden,
Purgiren, von den Winden, welche man zu meiden
hat; von ihrem Entſtehen, ihrer Natur und Beſchaf-
fenheit, von Regen, Thau, Reif und Schnee, von
den Jahrszeiten. Endlich Sonnenuhr oder Liniencom-
paß in des Menſchen linker Hand, für Ackerleute,
Boten, Schiffleute, mit einem Holzſchnitte dabei;
der Kunſtgriff, auf die Hand eine Sonnenuhr zu zeich-
nen, die für die angegebnen Stände recht brauchbar
ſeyn mag. Das Ganze iſt daher durchaus unſchädlich,
unſchuldig, dagegen nach manchen Seiten von viel-
fachem Nutzen für die Claſſe, der es urſprünglich be-
ſtimmt iſt.
4.
E. L. M. eines alten Einſiedlers Traumbuch,
zum Nutzen derenjenigen entworfen, welche
in dem Lotto gluͤcklich zu werden gedenken.
Samt den Schluͤſſel zum Lotto, oder aller-
neuſt entdecktes Geheimniß im Lotto zu ge-
winnen. Aus einem uralten Manuſeript
eines genueſiſchen Aſtrologen. Koͤln bey
Ch. Everaͤrts, und Achen bei Dreiſſe.
Wer irgend dem Zufall etwas abgewinnen will, der ent-
ſagt der eignen freien Selbſtbeſtimmung; wohin die Winde
und die Sterne ihn führen wollen, da zieht er willig
hin. Inſofern im Schlafe der gleiche Zuſtand der
Aufhebung aller Willkühr und ſelbſtändigen Freiheit
eintritt, und im Traume ein gleiches Hingeben an
das phantaſtiſche Spielen der Conſtellationen, iſt der
Schlaf allerdings der angemeſſenſte Zuſtand, um
Glücksſpiele zu ſpielen: der ſchlafende Menſch muß
dem Glücke ein wohlgefälliger Anblick da liegen.
Daher mag es wohl gekommen ſeyn, daß man von
eher ſo viel auf die Bedeutung der Träume rechnete;
da, wo es auf Schickſalswirkung und Eintreffen
glücklicher Zufälle ankam. In dunkler Mitternacht
glaubte man, träte das Schickſal nahe an den Men-
ſchen, und flüſternd verkünde es ihm in Glück und
Unglück ſein Verhängniß. Daraus ſind denn auch
dieſe Bücher erwachſen, indem der wachende Geiſt
vermeſſen jene Träume arithmetiſch deutete, und jeder
geſehenen Geſtalt irgend eine beſondere Zahl, Edel-
geſteinen z. B. 71, Eidexen 13, Fenerwerk 61 unter-
legte. So hat das Ganze denſelben Werth und
Character wie alle Aſtrologie, nicht ganz leer im Grunde,
aber durchaus nichtig in aller Anwendung; allerdings
unnütz, und Gegenſtand der Polizei, wenn dieſe vor-
her die öffentlichen Hazardſpiele zerſtört haben wird.
So lange aber die Regierungen nichts unanſtändiges
darin finden, Bank zu halten, wird auch dieſer kleine
Kobold nicht aufhören, unter dem Volke zu rumoren.
5.
Die Wiſſenſchaft oder die Kunſt der Liebe, nebſt
verſchiednen Liebs- und anderen Briefen,
wie auch moraliſchen und ſcherzhaften Ge-
ſundheiten zu einem angenehmen und er-
laubten Zeitvertreibe. Koͤln am Rheine.
Ein Zweig von Ovids pontiſchem Gewächs auf
die teutſche Pelzweide gepfropft. Die Kunſt der Liebe
als ehrſames Gewerk getrieben, beſchrieben für die
Junggeſellen, die Meiſter werden wollen in der In-
nung, alles tugendſam, geziert, ſteif, im Volksme-
nuettenton, die Philiſterey im Sonntagsputz. Die Lie-
beserklärung, die Blüthe des Ganzen, wie folgt: Ach
6.
meine Allerliebſte! ich kann nicht länger mehr ver-
ſchweigen, mein Herz, welches faſt für Liebe zerſprin-
get, euch zu offenbaren, denn dieſe iſt ſo unausſprech-
lich groß, daß es meine Zunge nicht wohl kann aus-
ſprechen, obwohl es mir die größte Blöd- und
Schamhaftigkeit verwehrt, ſo werde ich doch durch
den Gott Cupido mit Gewalt dazu gezwungen, ja wenn
ich ſolches E. L. nicht zu erkennen geben thäte, würde
mein Herz vor Leidweſen erſterben, und mein junges
Leben bald ein Ende nehmen, dieweilen ſie mein Herz
durch ihr liebliches Geſicht, freundliche Reden, und
höfliche Geberden ganz eingenommen, darum bitte ich
meine Allerliebſte, ſie wolle mir nicht ungütig nehmen,
daß ich ſo kühn hievon rede, denn ich werde durch
das Feuer der Liebe, welches in mir entzündet iſt,
mit Gewalt hiezu angefacht. — Ein zierliches Fächer-
gemählde, wie man ſicht, hier den Honoratioren zum
beliebigen Gebrauche aufgeſtellt. In dem beigefügten
Briefwechſel iſt eine ſchöne Titulaturſtufenfolge zu
bemerken: Mademoiſelle, ſchönſtes Kind, ſchönſte Be-
herrſcherinn, ſchönſte Huldinn, meiner Augen Sonne,
allerſchönſte Seele, allerholdſeligſte Beherrſcherinn
meiner Affectionen, allerſchönſte Freud auf Erden,
alleräußerſte Hoffnung meines Lebens.
6.
Neu verbeſſerter Muͤller Ehrenkranz
Oder recht gemeſſener Urkund,
Von dem wahrhaften Cirkelsgrund,
So dem Muͤhlhandwerk zu Ehren gethan,
Ein Muͤhlknappe, Namens Georg Bohrmann.
Sein Mitconſortem damit zu beſchenken,
Auf daß ſie auch ſeiner am beſten gedenken;
Doch man wohl einander ſein Dichten und
Schreiben
Der Preſſe des Drucks thut einverleiben,
Dieweil ja wie Sirach auch ſolches beweiſet,
Ein jegliches Werk ſeinen Meiſter ſtets preiſet.
Gedruckt in dieſem Jahr.
Ohne allen Zweifel das Trefflichſte unter allen
ähnlichen Büchern, die das Gilden und Innungswe-
ſen in Teutſchland hervorgebracht hat; das Ganze mit
einer Ruhe, einer ſtillen Innigkeit, einer feſten, glei-
chen, beſonnenen Haltung, und einer treuherzigen
Ehrlichkeit abgefaßt, die als eigentliche Virtuoſität in
ihrer Art erſcheint. Es iſt dabei ein Fluß in der
Rede, eine Leichtigkeit in dem freilich einfachen Vers-
bau, eine Ungezwungenheit im Reim, und dabei eine
innere Vollendung und äußere Abglättung, die auf
ein in beſtimmtem Bewußtſeyn durch höhere Bildung
producirtes Kunſtwerk der neuern Zeit ſchließen laſſen
ſollte, wenn andere Kennzeichen nicht verriethen, daß
es einer frühern Zeit, und der Name des Verfaſſers, daß
es dem Müllergewerke ſelbſt angehöre. Der Verfaſſer, arm
und unvermögend, ſagt in einem Liede von ſich:
Bei meinem Beruf und Stande,
Will ich geduldig ſeyn,
Im ganzen Sachſenlande,
Bleibt mein Gedächtniß rein,
Von Niedercolmitz in Meißen,
Schreib ich mich noch zur Zeit,
Thu mich darbey befleißen,
Auf Ehr und Nedlichkeit,
Gott der mich hat erſchaffen,
Steh ich zu Dienſt allein,
Wer mich will Lügen ſtrafen,
Der thuts aus falſchem Schein.
Die Schrift fängt an wie ein Gedicht, über die
Natur der Dinge, mit einem Holzſchnitte, worauf
einerſeits ein Stangen-Zirkel abgebildet iſt, von
Engeln mit einer Krone überſchwebt, abwärts der heilige
Geiſt in einem Herzen, rechts Betlehem, rund umher
allerley myſtiſche Sprüche; anderwärts ein Kreis, im
Mittelpunkt die Erde mit der Axe, die in die beiden
Polarſterne im äußeren Kreis ausgeht, in der verläng-
ten Aequatorialaxe aber auf der einen Seite die Sonne
im Zeichen der Waage, auf der Andern der Mond,
der eben in den Erdſchatten treten will, rund umher
Sterne vertheilt, und die Umſchrift: Ergo der Him-
mel iſt durch’s Wort des Herren gemacht, und all
ſein Heer durch den Geiſt ſeines Mundes, Pſalm 36,
v. 6. Dann auf der folgenden Seite ein Adler ſchwe-
bend über einem Triangel mit der Einſchrift Jehova,
und der Umſchrift: im Anfang war das Wort ꝛc.
Dabey Nota Bene.
Hier mag ein jeder nehmen abe,
Was Waag und Cirkel in ſich habe,
Weil auch faſt unter der hellen Sonnen,
Kein einzig Ding mag werden gefunden,
Welch’s nicht ſollt haben des Cirkels Figur
Denn ja auch die ganze Creatur,
Iſt durch des Cirkels Bild geſchaffen
Als noch der Menſch tief lag entſchlafen,
Verborgen in dem Crdenklos,
Hier ſpürt man Gottes Allmacht groß.
Dann weiter hin für die folgende Figur:
Hier ſeht ihr lieben Brüder, ſehet,
Wie die Welt in dem † ſtehet,
Und wie die göttlich Majeſtät,
So weißlich Alles geordnet hat,
Daß ſolches auch der klügſte Mann
Vollkömmlich nicht ergründen kann,
Ja es wird ſolches hier auf Erden,
Genugſam nicht erforſchet werden.
Der Polus gleicht einem Magnet,
Weil er ſtets unbeweglich ſieht.
Der Wirbel, der das Firmament
Sich drehet gegen Decident,
Wenn Sonn, Erd, Mond, centrales ſeyn,
So hat die Erd keinen Mondenſchein,
Wenn der Mond thut in’s Mittel kommen,
Wird ihr der Sonnenſchein benommen,
Doch nur ſo weit, wie ich euch meld,
Als damals des Mondes Schatten fällt.
O Gott wie iſt deine Macht ſo groß,
Meine Zung und Feder ſind viel zu bloß,
Von deinem g’ringſten Werk zu ſchreiben
Drum will ich ſolches laſſen bleiben,
Bis ich werd kommen in jene Zeit,
Der unverrückten Ewigkeit,
Da das Stückwerk wird hören auf,
Dann folgt die Wiſſenſchaft darauf.
Weiter folgt eine Geſchichte des Müllergewerks
aus der heiligen Schrift, mit einem recht guten
Dialog zwiſchen Müller, Herrſchaft, Mühlgaſt und
Mühlknappe; eine Satyre vom ſelbſtwachſenen Müller;
dann eine poetiſche Reiſebeſchreibung durch die beſten
Mühlen in der Lauſitz, Schleſien, Mähren, Ungarn,
Böhmen, Thüringen, Franken, wo dem Reiſenden
beſonders Nürnberg wohl gefällt, von dem er ſagt:
Nun dieſer lieben ſchönen Stadt,
Die mir ſo wohl gefallen hat
Und mich, wenn ich dahin gekommen,
Ganz willig auf- und angenommen,
Wünſch ich von Gottes Gütigkeit,
Glück, Heil und Segen jederzeit.
Vor allen rühmt er die Mühle zu Arnſtadt vor dem
Thüringer Wald, mit ſechszehn Gängen, jeder nach
einem Thiere genannt, von einem Grafen zur Luſt
erbaut.
Ach wär ich nur vom Grafen-Geſchlecht
Eine ſolche Mühle wär mir nur ſchon recht,
Ach leider, leider: daß Gott erbarm,
Meine Eiſen gehen noch ſelten warm.
Weiter gehts nach Brandenburg, dann ſtellt er einen
Triangel der drei beſten Müller auf, die je gelebt,
worunter einer Hans Fromolt.
Bei welchem in der Mühle zu Plauen,
Ich mich ſelbſt brauchen ließ zum bauen.
Dann ſchließt er fromm und treu mit Gott dem
Weltbaumeiſter:
Die Erde iſt im Weltcentrum
Und ſchwebt in freier Luft herum,
Dennoch thut ſie aus ihren Schranken,
Gleich einem Magnet niemals wanken,
Denn allda ſieht man abermal,
Auch weder Säule, Stuhl noch Pfahl,
Sondern eine überſchwere Laſt
Iſt in ſubtilen Wind gefaßt,
Nicht minder findet ſie Ruhe genung
In ihrem eignen Mittelpunct.
Weiter folgen zwei Lieder und dann Schlußreden
an das löbliche Mühlhandwerk, wie alles andere gut
geründet, ruhig, bedeutſam, gar ſtill und ſinnig, ſo
daß es zu wünſchen wäre, daß das Buch nicht blos,
wie es ſcheint, auf Nordteutſchland in ſeinem Wirkungs-
kreiſe ſich beſchränkte.
7.
Etliche ſchoͤne neue gewoͤhnliche Spruͤche eines
ehrſamen Zimmerhandwerks, deſſen ſich nach
vollbrachter Auffuͤhrung eines neuen Baues,
bei Aufſteckung des Strauſes oder Kranzes,
in Gegenwart vieler Zuſchauer zu bedienen
pflegen. Ganz neu herausgegeben, und
auf dieſe Manier zum Druck befoͤrdert. Ge-
druckt in dieſem Jahr. Koͤln und Nuͤrnberg.
Myſtiſche Anſicht des Hauſes als einer ſichtbaren
Kirche, Ceremoniel beim Strausaufſtecken, dann die
Sprüche herabzuſagen vom Giebel, meiſt abgeſchmackt
und albern; manchmal aber auch nicht ohne Naivetät
und einen gewiſſen Handwerksburſchen-Witz.
7.
8.
Des ehrloͤblichen Beckenhandwerks Gewohnheiten,
wie ſich ein jeder auf der Herberg und bei
dem Handwerk zu verhalten habe. Allen
denen, ſo ſich auf die Wanderſchaft begeben
wollen, zum Beſten in Druck gebracht. Zu
finden in Nuͤrnberg.
Wie ein Burſche in allen Verhältniſſen gegen Mei-
ſter und Brüder ſich benehmen ſoll, weitſchweifig und
etwas ſteif, aber keineswegs ohne eine gewiſſe bürgerliche
häusliche Heimlichkeit. Am Ende zwei ſehr mittel-
mäſige Lieder von dem uralten löblichen Beckerhand-
werk.
9.
Des loͤblichen Handwerks der Kuͤrſchner Urſpung,
Alterthum und Ehrenlob. Dann gruͤndliche
Beſchreibung alles desjenigen, was bei dem
Aufdingen, Losſprechen und Meiſterwerden
nach ihren Artikulsbriefen von langer Zeit her,
bei ihren Zuͤnften in Acht genommen wird,
wie auch die Examinirung bei den Geſellen
machen, auf das treulichſte vorgeſtellet von
Jacob Wahrmund. Zuvor niemals alſo
gedruckt.
„Der Kürſchner und Fellenbereiter hat ſich ſonder-
bar ſeines ehrlöblichen Handwerks zu rühmen und zu
erfreuen, als eines ſolchen Standes, welcher billig
der allerälteſte, ja von Anfang der Welt her ſich zäh-
let, auch von Gott ſelbſt eingeſetzt und angefangen
iſt, dergleichen Ehre wenig andere, außer dem Schnei-
der, Metzger oder Fleiſchhacker ſonſten ſich zumeſſen
können gehabt zu haben. Dann ſobalden wir nur
die heil. Schrift eröffnen und aufſchlagen, findet ſich
gleich von Anfang das löbl. Kürſchnerwerk aus ſelbi-
ger wie ein heller Diamant hervorleuchtend, nämlich
in dem dritten Capitel des Buchs der Schöpfung, da
unſere erſte Stammeltern, Adam und Eva, durch den
leidigen Sündenfall in dem Paradieſe aus dem Stand
der Unſchuld getreten, und von Gott abgewichen waren,
da ſtehet in dem Text: und Gott der Herr machte Adam
und ſeinem Weibe Röcke von Fellen, und zog ſie ihnen
an, als zu leſen im 21ten Verſicul ged. Cap. Alſo
hat dann der unendlich Gott und Herr aller Herren
das löbliche Kürſchner-Handwerk allhier gleichſam ge-
weihet und eingeſetzt, daß er den erſten Meiſter abgabe,
und Kürſchner-Arbeit gemacht, ſo Röcke von Fellen
waren. O welch eine Ehre und ſondere Gnade Gottes
iſt doch das dieſem löblichen Handwerk, daß es ſich ſo
eines ſchönen und berühmten Mitmeiſters und älteſten
Vorgehers von ihrer Zunft, nämlich des großen und
unendlichen Gottes, ja des Schöpfers aller Welten
ſelbſten billig mit Wahrheitsgrund zu rühmen hat und
vermag.“ Von dieſem Fundamente aus wird dann das
Handwerk durch die ganze profane und heilige Geſchichte
verfolgt, und dabey angeführt, daß Conradus Pellica-
nus, Conrad Gesner, der deutſche Plinius, Theodor
Zwinger, Kürſchnersſöhne geweſen ſeyen. Nun folgen
übliche Redensarten und Cerimonien bei Zuſammen-
künften mit Lehrjungen, Geſellen und Meiſtern, beim
Aufdingen und Losſprechen: die Lade, zwei Meiſter,
Beiſitzer, die Umſchauer u. ſ. w. Der Lehrjunge muß
aus einem reinen und keuſchen Ehebett gebohren ſeyn.
Verfertigung des Meiſterſtücks, Formeln eines Lehr-
briefs. Am Schluß der Kürſchner Loblied.
So ſind ähnliche Schriften auch bei den andern
Gewerken im Umlauf, die wir hier nicht anführen
dürfen, weil in allen im Ganzen dieſelbe Form, derſelbe
Geiſt und Gedankengang herrſcht. Ein Geiſt der Zucht
und ernſten Strenge, des gemeinſchaftlichen Zuſam-
menhaltens, der ſteifen aber durchaus rechtlichen Ehr-
barkeit; dabei ein kleiner Anflug von Enthuſiasm in
dem durchaus ſpeciellen familienartigen Patrotism der
Glieder in der Gilde, iſt der von älteren Zeiten auf
dieſe Körperſchaften vererbte Geiſt, der freilich mit den
andern Geiſtern allen weggegangen iſt, um dem Geiſt-
loſen Raum zu machen.
10.
Des vortrefflich welterfahrnen auch hoch und
weitberuͤhmten Herren Doctor und englaͤndi-
ſchen Ritters Johannis de Montevilla, ku-
rieuſe Reiſebeſchreibung, wie derſelbe in
das gelobte Land Palaͤſtinam, Jeruſalem,
Egypten, Tuͤrkey, Judaͤam, Indien, Chi-
nam, Perſien und andern nah und fern an-
und abgelegene Koͤnigreiche und Provinzen
zu Waſſer und Land angekommen, und
faſt den ganzen Weltkreis durchzogen ſeye.
Von ihme ſelbſt beſchrieben. Koͤln am Rhein
und Nuͤrnberg.
Ein zweifaches Intereſſe hat dieſes Buch. Vorerſt
muß ein eigner Reiz auf einer Reiſe liegen, die vor bei-
nahe fünfhundert Jahren nach dem gelobten Lande
gieng; um eine Zeit, wo der religiöſe Enthuſiasmus
eben noch wie ein glühender Sommer über Europa
hieng, und Heerhaufen und Nationen wie Gewitter
hinübergetrieben hatte zum heiligen Grabe, um dort
auf die Unglaubigen ſich zu entladen; wo der hohe
Vatikan mit den Heiden um die heilige Sion den blu-
tigen Kampf gerungen hatte; wo alle chriſtlichen Völker
nach dem wundervollen Himmelszeichen blickten, das
im Orient aufgegangen war, und über den Gräbern
der Heiligen ſtand; wo die ganze Chriſtenheit mit in-
brünſtig frommer Andacht vor jenen geheiligten Stät-
ten lag, an denen der Himmel mit der Erde in unmittel-
bare Gemeinſchaft getreten war, und Dieſe daher den
Frommen in einem überirdiſch verklärten Lichte nach-
glänzte und ſchimmerte: — eine Stimme, die aus dieſer
wunderbar erregten Zeit zu uns herübertönt, muß eine
eigene Rührung in uns wecken. Jede Stelle war dort
von dem Göttlichen und ſeinen Verkündigern berührt;
dort erſcheinen Fußſtapfen noch dem feſten Steine
eingedrückt; dort weinen die Felſen der Martern wegen,
denen ſie Zeugen waren; dort wogt das galiläiſche
Meer noch, auf dem der Herr umwandelte; dort der
Thabor, Oreb, Sinai, Jordan, Golgatha, das Thal
Mambre, die Wüſte, dort die Geburts- und Schädel-
ſtätte. Zu allen dieſen Wunderſpuren der neuen Re-
ligion nun noch die der Aeltern; die ganze hiſtoriſch
religiöſe Schaubühne des alten Teſtamentes, das eben-
fals ganz in dieſem Lande und ſeiner Nähe ſpielt; da-
zu endlich die Naturwunder der Gegend ſelbſt, die
Wüſten, das todte Meer, der Weg durch Aegypten,
der Nil, ein Paradieſesfluß, und auf dieſer zauberrei-
chen Stelle nun die Himmelsinſel in Mitte der irdi-
ſchen Wüſte, und dabei das wilde kräftige Leben, was
in der Gegenwart und der Vergangenheit dort geglüht:
das Alles zuſammen mußte jeden ergreifen und begei-
ſtern, der irgend noch des Enthuſiasms fähig war.
Das iſt das religiöſe Intereſſe, was in dieſem Buche
liegt, aber es hat außer dem Wiſſenſchaftlichen, daß
es über den Zuſtand von Aſien in jener fernen Zeit
uns Aufſchlüſſe giebt, noch ein drittes Poetiſches, das
man zwar bisher wenig beachtete, das aber nichts
deſtoweniger, wie die Folge ergeben wird, einen groſ-
ſen Einfluß auf den Gang der romantiſchen Poeſie
gewonnen hat. Montevilla drang zwar, nicht der erſte
Reiſende der neuern Zeit, bis an die Gränze der be-
kannten Welt vor, aber vor allen ſeinen Vorgängern
hat ihm ein günſtiges Geſchick eine größere Celebrität
verſchafft, ſo, daß er darum ſeiner Zeit und der gan-
zen Folge als der Erſte galt. Im Alterthume, als
die ganze bekannte Welt nicht weit über den Kreis des
mittelländiſchen Meeres hinausreichte, da war auch in
dieſem Kreiſe das Feld der Erkenntniß und der verſtän-
digen Beobachtung beſchloſſen, gegen die Gränzen
hin, und außer den Säulen des wandernden Hercules
fieng das Reich der Poeſie, der Fabel und der Mythe
an. So lagen daher noch innerhalb deſſelben die
Wunderinſeln der Circe und Calypſo, die Abentheuer
der Scylla und Charybdis, die Bergrieſen in Sizilien
und die Sonnenrinder, jenſeits aber Eliſium, und der
Tartarus. Indem in der neuern Zeit der Kreiß des
Verſtandes und der Erkenntniß ſich immer mehr er-
weiterte, indem der Geiſt ſeine Wirkungsſphäre immer
mehr und mehr verbreitete, und doch die Poeſie ihre
Anſprüche keineswegs aufgeben wollte, mußte noth-
wendig das Wunderland weiter und weiter in die
Ferne weichen, ſchon mit den Eroberungen Alexanders
war es nach Indien übergegangen. Indem aber in
den neueren Zeiten das Chriſtenthum an die Stelle
der alten Mythe trat, mußte auch das Elyſium dem
Paradieſe weichen, und wie die alte Zeit ihrem Hados
ſeinen Standpunkt jenſeits der Säulen des Hercules
gab, ſo ſuchte die Neue ihr Paradies jenſeits den
Säulen Alexanders im Morgenlande, wo es ohnehin
ſchon die heiligen Bücher an den Urſprung der vier
Flüſſe hingewieſen, und dieſe Gegend mußte daher
nothwendig zum Mittelpunkte des ganzen romantiſchen
Fabelkreiſes werden. Und ſo iſt ſie es denn auch in den
früheſten Zeiten ſchon geworden, die Herolde dieſer
neuen Wunderwelt aber waren die Heldengedichte und
Romane über Alexander. Dieſer gewaltige Menſch,
der mit ſtarker Fauſt die große Aſia an die ſtärkere
Europa band, der mit ſeinem Heere den ganzen wei-
ten Welttheil durchkämpfte und beſiegte, der unver-
geßlich daher dem Andenken aller der vielen Völker-
ſchaften ſich einprägte, mit denen er in Berührung
gekommen war, mußte als ein würdiger Gegenſtand
der neuen Poeſie erſcheinen, und wie er die Brücke
zwiſchen den beiden Welttheilen war, ſo auch die
Brücke zwiſchen beiden Zeiten werden, und das Me-
dium, in dem der Uebergang der einen Mythe in die An-
dere geſchah. Die Fabeln, die in den älteſten Zeiten
ſchon über den Zug Alexanders nach Indien im Um-
lauf waren, gaben dabei die Baſis aller nachfolgenden
Dichtungen her. Was Strabo von den Ameiſen
8.
erzählt, die groß wie Füchſe, das Gold aus den Mi-
nen ziehen, dem Bericht des Megasthenes gemäß,
der als Geſandter des Königs Seleucus am Ganges
war; was Cteſias von dem Martichore erzählt, einem
Thiere das ein Menſchengeſicht trägt, dann von den
Cynocephalen und den Quellen, die flüſſiges Gold
ausſtrömen; was ſich bei Plinius und Solinus von
den Scyriten, den Aſtomen, die nur vom Geruche
leben, den Pigmäen u. ſ. w. findet, begründete ſchon
einen Fabelkreis, den man in der Folge nur erwei-
tern durfte, um die Poeſie der Zeit in ihn zu bannen.
Schon bey Julius Africanus, der im dritten Jahr-
hundert lebte, findet ſich die Fabel vom Nectanebo
dem ägyptiſchen König, angeblichen Vater Alexanders,
und in den frühern Zeiten ſchon rundet das Ganze ſich
zum Epos, in der Alexandriade des Arianos in vier
und zwanzig Geſängen, in der des Kayſers Hadrian
und des Soterichos aus der Oaſis in Libyen, der die
Eroberung von Theben beſang. Aber ganz eigentlich
zur Vollendung kam erſt dieſe romantiſche Heracleide,
in dem Werke des falſchen Callisthenes, deſſen Ver-
ſaſſer, wahrſcheinlich ein neugriechiſcher Mönch, wie
man glaubt gegen das zehnte Jahrhundert lebte, von
dem aber das Original, wie es ſcheint untergegangen
iſt, und nur noch in den Nachbildungen lebt. Mit
allgemeinem Beifall wurde dies Werk im Orient und
Occident aufgenommen, und La Croix in ſeinem
examen critique des historiens d’ Alexandre le
grand, zählt vierzehn verſchiedne Ausgaben im La-
teiniſchen, jede beinahe von der andern durch willkühr-
liche Erweiterungen und Interpolirungen verſchieden,
worunter die Historia Alexandri magni de prae-
liis (1489) die meiſte Celebrität erlangt zu haben
ſcheint. Ganz im neuern Mönchsgeiſt iſt das Werk
geſchrieben, in der äußern Form ungeſchickt und un-
gelenk; man mögte ſagen alle die ſchönen, reinen Um-
riſſe der antiken Bilder ſeyen mit der ſteifen Kutte
verdeckt, aber über der Verhüllung ſteht ein heiteres,
verklärtes Auge, und eine feuervolle Phantaſie brennt
aus ihm hervor. Der Dichter ſammelte die alten
Sagen, die im Orient und Occident nach und nach
über den Gegenſtand ſich gebildet hatten, und indem
er dieſe Traditionen nur zu einem Ganzen aneinan-
derreihte, entſtand das ſonderbare Werk, vielleicht das
Erſte eigentlich Romantiſche, das den Geiſt der neuen
Poeſie, den neugriechiſchen Gemählden gleich, mit
wenigen geraden, kunſtloſen aber ſcharfen, treffenden
Zügen bezeichnete, und zuerſt die ältere farbenloſe
Plaſtik in ein modernes Farbenſpiel ſublimirt. Zu-
ſprechend dem Geiſt der Zeit, nahm es dieſe auch
dankbar auf; mächtig drang in ihm der Orientalism in
die Ideenmaſſe des Occidents ein; viele Heldengedichte,
Romane und Romanzen giengen in den Hauptſprachen
aus ihm hervor, worunter der Roman d’ Alexandre
le grand et de Cliges son fils noch in das Ende des
zwölften Jahrhunderts fällt. Aber vorzüglich auch
Montevilla trug zur Verbreitung und Aufnahme die-
ſer neuen poetiſchen Weltanſchauung bei; indem er
die meiſten jener Fabeln als Geſehenes und Erlebtes
in ſeine Reiſe brachte, accreditirte er ſie auch dem
Verſtande durch die Wahrheit der unläugbaren That-
ſachen, mit denen er ſie zuſammenband, und gab ſo
dem phantaſtiſch Flüchtigen eine gewiſſe Realität für
die wirkliche Welt, ohne die es doch immer nicht leicht
zum allgemeinen Volksglauben wird. Das Paradies,
erzählt der Roman, liegt im fernen Indien auf
dem Berge von Adamanten, und reicht hinauf zum
Monde; zwölf Thore hat der Pallaſt, 2500 Staf-
feln von Saphir der Zugang, innen liegt auf
goldnem Bett ein Greis weiß von Haupte als eine
Taube; im Garten aber ſieht der Baum der Sonne
mit goldnen, der des Mondes mit ſilbernen Blättern,
und wahrſagen Alexandern, der dann an den Eingang
die beiden Marmorſäulen ſetzt; das Alles hat Monte-
villa beinahe wörtlich, aber wie in eigner Anſicht
erfahren, aufgenommen. Eben ſo das düſtre Höllen-
thal, wo der Teufel in Geſtalt eines greulich, finſter,
grauſamlichen Hauptes unter Donnern und Blitzen
ſchwebt, und in das der Reiſende ſelbſt hineingegan-
gen, trifft auch Alexander in ſeinem Zuge ſchon, das
Sandmeer, und die Bäume, die Morgens aus der
Erde kommen, zur Nacht aber wieder in die Erde
kriechen, ſind eben dorther entlehnt. Die Erzählung
von dem dunkeln Lande, aus dem beſtändig Menſchen-
ſtimmen tönen, und in das die Nachkommenſchaft ei-
nes heidniſchen Königs, der die Chriſten verfolgte,
auf ihr Gebeth vom Himmel gebannt und gefangen
wohnt; die alt perſiſche Sage, die auch der Koran
ſchon erwähnt, von den Geſchlechtern Gog und Ma-
gog, und den drei und zwanzig Königen, die alle
Alexander zwiſchen zwei Berge, die auf ſein Gebeth
einander ſich genähert, eingeſchloſſen, und mit einer
Pforte verſperrt, an der das Eiſen bricht und das Feuer
erliſcht; der goldne Baum mit den künſtlichen Vögeln,
die im Laube ſingen; der Vogel Phönix, die Greifen, die
Rieſen und die Zwerge, die Meerweiber und Meermän-
ner, die Amazonen, und alle jene Fabeln über die
ſeltſamen Menſchen, die wir oben angeführt, finden
ſich in dem Romane beynahe mit den gleichen Worten
wie in der Reiſe wieder, und Montevilla, indem er ſie
in ſein Werk verflocht, wurde bei der allgemeinen Ver-
breitung, die daſſelbe in ſeinem Zeitalter gewann, zum
unmittelbaren Organe jener neuen Mythe und zu ih-
rem Zeugen; er erſcheint daher gleichſam als der
Odyſſeus der neuern Zeit, der vom fernen Fabellande
Kunde brachte, und wahrhaften Bericht, wie er es be-
funden. Indem aber in der Folge bei dem Sinken der
Poeſie und dem abſtracteren Character, den die Religion
annahm, die Mythe ihre Bedeutung verlohr, da blieb
der Reiſe nichts als allein das geographiſch Scientifiſche
zurück, und als der Verſtand ſie nun zum Object ſeiner
Anſchauung nahm, mußten alle jene Fabeln ihm als
reine Lügen erſcheinen, und ſo kam er in der ſpätern
Zeit in den Ruf des größten Lügners und Aufſchnei-
ders unter allen Reiſenden. Dieſe Beſchuldigung iſt
indeſſen keineswegs gegründet; was er ſelbſt ſah, be-
ſchreibt er genau und treu, und ſeine Autorität iſt
durchaus gültig, und ſein Zeugniß wahrhaftig. Was
er über den Zuſtand Paläſtinas ſagt, wird Alles be-
ſtätigt durch den Bericht ſeines Zeitgenoſſen, des
Mönchs Proccardus, der auch eine Reiſe nach dem
gelobten Land geſchrieben. Bei dem was er über die
entlegneren Gegenden beigebracht, muß man Rückſicht
nehmen auf ſeine Vorgänger, die dieſelben Gegenden
wie er beſucht und beſchrieben haben. Montevilla
reiſte im Jahre 1322 von St. Alban aus, kam in Aegyp-
ten in die Dienſte des Sultans Melek Madarons; er
diente ihm in ſeinen Kriegen, und dieſer gewann ihn
lieb, und wollte ihn durch Verheyrathen an ſich feſſeln;
er ſchlug es indeſſen aus, weil er die Religion hätte
wechſeln müſſen. Bei dem großen Landverkehr, der
damal durch die Häfen des mittelländiſchen Meeres
mit Indien gerrieben wurde, kam es ihm in den Sinn,
auch dieß Land zu beſuchen, und er führte den Einfall
aus, und er und vier Andere mit ihren Knechten dienten
dem Chan von Chatay Thiaut fünfzehn Monate lang in
ſeinem Kriege gegen den König von Manthi, und das
allein, wie er ſagt, um den Reichthum, die Ordnung
und das Regiment ſeines Staates zu beſehen. Er er-
zählt, wie er durch ſeine Beobachtungen am Aſtrolab
gefunden habe, daß er auf dieſen Reiſen von der Hälfte
der Erdoberfläche von 180° nordwärts 72° geſehen habe,
und überdem 33 Grade von dem ſüdlichen Quadranten,
„und hätten wir Schiffe gefunden und Geſellſchaft um
weiter zu gehen, ich meine, ſagt er, wir hätten die
Rundheit der Erde umfahren.“ Nach vielen Jahren
kehrte er zurück, und ſchrieb nun bey eintretender
Kränklichkeit drei und dreißig Jahre nach ſeiner Ausreiſe
1355 die Reiſe. Aber über ein halbes Jahrhundert war
ihm der Venetianer Marco Polo darin zuvorgekommen.
Dieſer hatte mit ſeinem Vater ſiebenzehn Jahre lang von
1275 an am Hofe des großen Chan Cublai verweilt,
wußte ſich bei ihm in großes Anſehen zu ſetzen, ſo daß er
in den mannigfaltigen Geſchäften, zu denen er gebraucht
wurde, beinahe alle die Gegenden beſuchte, die ſpäter
auch Montevilla ſah, und kehrte im Jahr 1295 über
Indien nach Venedig zürück. Sein Aufenthalt an die-
ſem Hofe fiel eben in die Periode des höchſten Glanzes
jenes großen Tartarreiches, das der Schrecken der gan-
zen alten Welt im Mittelalter war. Nie hat die Ge-
ſchichte eine größere Herrſchaft geſehen. Während die
Gränzen nordwärts bis ans Eismeer gingen, und des
großen Chan’s Untergebne dort auf Hundeſchlitten
Zobel, Hermeline und blaue Füchſe zum Tribut für
ihren Fürſten jagten, hatte er ſüdwärts von dem größten
Theile von Indien ſich Meiſter gemacht, und die Edel-
geſteine, die Perlen und Gewürze dieſes Landes ſtrömten
gegen Rindenaſſignaten in ſeinen Schatz, und ſelbſt die
Inſeln erfuhren häufig die Stärke ſeines Arms; während
er auf gleiche Weiſe oſtwärts China eroberte, und Ar-
meen über das Meer zur gleichen Bezwingung Japans
oder Zipangri’s ausſendete, drang er weſtwärts durch das
eiſerne Thor in Vorderaſien ein, zerſtörte das Reich der
Caliphen in Bagdad, kämpfte oft und heftig mit den
Sultanen in Aegypten um Syrien und Paläſtina, und
ergoß ſich nordweſtwärts verheerend über Polen, Ungarn,
gegen das Herz von Oeſterreich hin, und alle Staaten
des weiten Aſiens binnen jenen fernen Gränzen gehorch-
ten dieſer ungeheuern, gigantesken, wilden Macht, die
an Umfang weit die römiſche Weltherrſchaft und das
alte perſiſche Reich übertraf. Marco Polo’s Be-
richt Unter andern im Novus orbis Regionum ac
Insularum veteribus incognitarum. Basileae
apud J. K. Hervagium 1532. von allem was er dort geſehen, von Sitten,
Gebräuchen, Begebenheiten und Merkwürdigkeiten iſt
treu, einfach, und wahrhaftig, und es iſt kaum zu
bezweifeln, daß Montevilla ihn bei Abfaſſung ſeiner
Reiſe vor ſich liegen hatte. Die Erzählung von dem
Alten vom Berge, der ein Paradies für Meuchelmör-
der angelegt hatte, findet ſich genau ſo, wie er ſie er-
zählt, bei M. P. Eben ſo die Erzählung vom großen
Rubin des Königs von Ceylon, Die vom Grabmahl
des heiligen Thomas, und das meiſte was die Berichte
über die Sitten der Tartaren beibringen, und über
den Hofſtaat des großen Chans iſt meiſt völlig gleich-
lautend in Beiden. Auch der Prieſter Johannes kömmt
bei Marco Polo ſchon vor, und er nennt ihn Uncha,
einen indiſchen König, dem vorher die Tartaren zinsbar
9.
waren. Vom Fabelhaften hat er dabei nur einen leich-
ten Anflug; geſchwänzte Menſchen, und Menſchen
mit Hundeköpfen erwähnt er einmal, ſo auch der Ge-
genden Gog und Magog, aber ohne von den eingeſchloſ-
ſenen Juden etwas zu erzählen; er beſchreibt den Baum
des Lebens, aber ohne weiter etwas von ihm beyzubringen,
als ſeine Blätter ſeyen oben grün und unten weiß.
Dann erzählt er am Ende noch: auf den Inſeln ſüd-
wärts von Madagascar, ſolle der wunderbare Vogel
Ruc leben, mit zwölf Schritte langen Schwungfe-
dern, der einen Elephanten durch die Luft fortführen
könne, der aber doch kein Greif ſey, ſondern zwei
Füße wie andere Vögel habe. Außer M. P. ſcheint
Montevilla auch den Haython gekannt zu haben, der
aus der Familie der Könige von Armenien, an allen
den zahlreichen Kriegen der Tartaren mit den Sulta-
nen von Aegypten Antheil nahm, am Ende Prämon-
ſtratenſer-Mönch wurde, und de Tartaris Liber ſchrieb.
Die Erzählung vom erſten Urſprung des Tartarreiches
mit Changischan, und ſeine folgenden Feldzüge und
Begebenheiten, ſind wörtlich daraus entlehnt; eben ſo
die Entthronung des Califen von Bagdad und ſein
Hungertod; endlich die ganze Geſchlechtsfolge der Sulta-
ne von Aegypten, und alles was es über ihre Geſchichte
beigebracht. Auch die Erzählung von der Provinz Hamſen
in Georgien, die drei Tagreiſen im Umkreis mit Nacht
und Dunkel bedeckt, obgleich bewohnt iſt, wie im
Alexander. Nachdem man alles das als fremdes Ei-
genthum von Montevilla’s Berichte abgezogen, bleibt
ihm immer noch ein bedeutendes unzubeſtreitendes Eigen-
thum zurück. So beſchreibt er richtig und genau die
Brutöfen in Aegypten, den Gewinn des Balſams und
die Kennzeichen des Aechten und Unächten, die Brief-
tauben; ferner den Fundort, das Anſehen, die ver-
ſchiedene Güte und die Bearbeitung der mancherley
Diamanten; eben ſo die Niederlage des venetianiſchen
Handels auf Ormus; er ſchildert ausführlich und genau
die Sitten und die Religion der indiſchen Bölkerſchaf-
ten und Inſeln, die er alle der Reihe nach durchgeht;
er beſchreibt den Wachsthum, die Sammlung und
die verſchiednen Arten des Pfeffers; er ſpricht vom
heiligen Thomas und den Thomaschriſten; von den
Gymnoſophiſten, wie ſie bei den Götterfeſten ſich unter
die Wagen werfen; wie die Weiber nach dem Tode
ihrer Männer ſich mitverbrennen; wie man ſüdwärts
des Aequators einen andern Polarſtern ſehe, weswe-
gen die Erde rund ſeyn müſſe; er giebt ausführliche
Nachricht über die Crocodile, den Hippopotamus, den
Elephanten, die Giraffe, die Klapperſchlange, die
Papageyen, das Chameleon, den Cocos und den
Baumwollenſtrauch. Er ſchildert mit großer Lebhaftig-
keit und Anſchaulichkeit den Glanz, die ungeheure
Pracht und die Sitten des Hofes von Cathay und die
Macht des Landes, was eine der intereſſanteſten Par-
thien des Buches iſt. Er kennt die Mirage, indem
er erzählt, auf der Inſel Ceylon erſcheine das Meer
wohl ſo hoch, daß es den Anſchein gewinne, als
hinge es in den Wolken; eben ſo kennt er die langen
Nägel und die kleinen Füße der Chineſen. Um aber
das alles in ihm zu finden und zu erkennen, darf
man ihn durchaus nicht in den corrupten Ueberſez-
zungen und im Volksbuche, ſondern muß ihn in einem
der älteren Manuſcripte leſen. Das, worauf das Ge-
genwärtige ſich bezieht, iſt ein Pergamentcodex vom
Jahr 1420, aus dem Lateiniſchen und Franzöſiſchen,
in dem M. ſchrieb ins Niederteutſche, ſehr correct und
ſorgfältig überſetzt. Vergleicht man damit die ältere
teutſche Ueberſetzung, die der Domherr von Metz,
Otto von Demeringen um 1483 gemacht, die dann
in die neuere teutſche Sprache übertragen im Reiß-
buch des heiligen Landes von 1609 ſich findet, aus
dem nun das Volksbuch wieder ein genauer Ab-
druck iſt, dann findet man, daß Beide kaum einander
mehr ähnlich ſehen. Nie iſt ein Schriftſteller ſo miß-
handelt worden: außer dem, daß nach der grundloſeſten
Willkühr alles verrenkt und verſchoben iſt, daß man
die ganze Ordnung des Buches umgekehrt, hat der
Ueberſetzer ſich jede Art von freventlicher Verſtümmlung
erlaubt. Beinahe kein einziger Orts- oder Perſonalna-
men iſt unverkrüppelt geblieben, und dieſe Mißhand-
lung hat häufig den höchſten Unſinn hervorgebracht.
Außer dem, daß der große Chan zum großen Hund
geworden iſt, ſteht z. B. gleich auf der erſten Seite
ſtatt Cypern, Cypion; ſtatt Bulgarien, Balgerland;
ſtatt Adrianopel, Napoli. Während es im Originale
heißt: die Dornencrone liegt gar köſtlich verziert in
einem cryſtallnen Gefäße; verſtümmelt die Ueberſetzung:
gar köſtlich verſchmiedt in einer Cryſtalle. Meleckman-
ſer ſpielte einſt Schach, und ſein Schwerdt lag bei ihm,
und der Ritter, der mit ihm ſpielte, ward zornig und
tödtete ihn damit, ſo erzählt M.; ſein Ueberſetzer aber:
als Lachim einſt ſpielte mit dem Ritter Schatzabel,
wurden ſie uneins ꝛc. Ganz zum unkenntlichen Non-
ſens iſt das hiſtoriſche Regiſter der ägyptiſchen Sultane
geworden; die fünf ägyptiſchen Provinzen, die das
Original richtig Sahit, Demesre, Reſich, Alexandria
und Damiette nennt, heißen hier Erzbisthümer
Saſte, Moſet, Reſch, Alexandria, Danuten, und ſo
iſt in der ganzen Folge nicht ein einziger Eigennahmen,
der ſich gleich geblieben wäre. Und wieder während
der Ueberſetzer ganz willkührlich was ihm gefällt, weg-
läßt, und darunter häufig das Wichtigere, ſchiebt er
bei jeder Gelegenheit die Thaten des Ogier aus den
Heldenromanen Carls des Großen bis nach Indien ein,
von dem M. nichts weiß. So iſt denn das Ganze zu
dem verworrenen Galimathias geworden, den das ge-
genwärtige Volksbuch darſtellt: gleich als hätte es ein
Nachtwandler auf ſeinen nächtlichen Wanderungen,
ungeſchickt herumtappend, und beſtändig von confu-
ſen Nückerrinnerungen aus dem Tage geirrt, geſchrie-
ben, ſo muß es jedem erſcheinen, der es in ſeiner ge-
genwärtigen Geſtalt erblickt. Immerhin würde er ver-
dienen, daß irgend jemand ſeiner ſich annähme und ihn
edirte; die Geographie des Mittelalters hat kaum ein
intereſſanteres Denkmal aufzuweiſen. Wir ſelbſt aber
haben uns hier länger bei ihm aufgehalten, theils eben jener
inneren Wichtigkeit wegen, theils um, indem wir in ihm
ſchieden, was ihm ſelbſt und was der Poeſie, was Marco
Polo, Haython, was dem Ueberſetzer angehört, an ei-
nem auffallenden Beiſpiel zu zeigen, wie ſeltſam durch-
einanderlaufend die verſchiednen Richtungen in den
Werken dieſer Zeit ſich verſchlingen und durchkreutzen,
und wie ſchwer es hält, dieſe verworrene Mannigfaltig-
keit in ihre Elemente zu decomponiren, und irgend eine
beſondere Anſicht durch das Gewirre aller der ineinan-
dergeknüpften Fäden zu verfolgen.
10.
Fortunatus mit ſeinem Seckel und Wuͤnſchhuͤtlein,
wie er daſſelbe bekommen, und ihm darmit
ergangen. Nuͤrnberg und Coͤln.
Schnell und wie der Gedanke flüchtig durch die Welt
zu eilen, und einen nimmer leeren Geldſeckel zu beſiz-
zen, ſind zwei kindiſche Wünſche, die jeden wohl einmal
ſchon beſchlichen haben: in den Siebenmeilenſtiefeln
hat der Erſte ſchon in früheren Zeiten gar beſcheiden ſich
ausgeſprochen; die Nürnberger Buden zeigen den an-
dern im Ducatenmännchen ausgeſchnitzt; das Huhn
mit den goldnen Eyern iſt eine zweite Variation des rei-
chen Themas, und die ganze Weltgeſchichte iſt eigentlich
ein Argonautenzug nach dieſem goldnen Vließ. Das
iſt denn auch dieſes Romanes Gegenſtand, man hat
ihn den Engelländern urſprünglich zugeſchrieben; und
man muß geſtehen, daß das Werk ihrem ganzen Weſen,
Thun und Treiben am meiſten zuſagt, und daß Fortu-
natus einigermaßen ſymboliſch dies Volk repräſentirt,
das in ſeinen Flotten auch ein Wünſchhütlein beſitzt,
durch das die ganze Welt ihm zugänglich wird, und
mit ihm dem unerſchöpflichen Seckel, aus dem es immer-
fort nur ſchöpft, und Silberſtröme gießt. Das ſchwere
Gold, — das immer in die Tiefe ſtrebt und zieht, und
in dem eine unendliche Trägheit wohnt, und durch In-
fuſion in den übergeht, der ſich ihm ergiebt, — hat die
Poeſie hier beflügelt, indem ſie dem Metallkönig den
leicht beſchwingten, hebenden Federhut aufſetzt, und
nun fliegt der neue Hermes leicht ſchwebend über Län-
der und Völker hin, und wenn er den Stab ſchüttelt,
dann umwinden die beiden Schlangen ſich grimmig
eng und feſt, und unmuthig werfen ſie die goldnen Kro-
nen ab, und indem ſie ſich jedesmal von neuem häuten,
wächſt der goldne Schmuck ihnen immer wieder zu,
unten aber fällt das Metall wie eine aſtraliſche Lehens-
tinctur hinab, und die müden, matten, ſchmachtenden
Herzen werden davon erquickt, und Luſt und Freuden
ſchießen überall in die Höhe, und die Menſchen ſtellen
ſich in das fallende Tropfen wie in den Mayregen hin,
um zu wachſen in Anſehen und Vermögen, und den
herrlichen Balſam recht durch alle Poren einzuſaugen.
Am Ende aber erwürgen ſie die Schlangen, um den
Eyerſtock zu allem dem Golde mit einemmal zu fin-
den, und die ganze Glorie und das wonnenvolle Leben
iſt zu Ende, und die Ermordeten kehren als Feuer-
ſchlangen wieder, die die Mörder an ihren empfind-
lichſten Theilen wunden. Das iſt der Gang des Buches
in dem die Fabel raſch wie ein leichter Wind von
Land zu Lande eilt; in dem die Einbildungskraft keine
Unkoſten ſcheut, und die drei Einheiten auf keine Weiſe
achtet; in dem die Erfindung glücklich, die Handlung gut
angelegt und trefflich gehalten und durchgeführt erſcheint;
in dem überhaupt ein leichter, freier Geiſt ſich kecklich
offenbahrt. Wenn auch das Gedicht eben nicht gerade
in der beſten Zeit geworden iſt, wenn die Poeſie auch oft in
das Abentheuerliche und das Gedicht in die Reiſebeſchrei-
bung ſich verliert, ſo iſt das Ganze doch höchſt ſchätz-
bar, und in ſich rund und vollendet.
Die Meynung Fortunatus ſey ein urſprünglich
engelländiſches Gedicht hat unläugbar vieles für ſich;
vor Allem, wie wir ſchon berührt, den Geiſt des ganzen
Werks, jenen unruhig ſtrebenden Gold- und Handels-
geiſt; dann daß die Hauptſcene des Romans in Engel-
land und Hibernien liegt, und zweimal dahin wieder-
kehrt, und mit Wohlgefallen bei dortigen Scenen ver-
weilt, z. B. beim Abentheuer in St. Patricius Fegfeuer
in Irland; endlich daß das Gedicht ſchon in ſehr alten
Zeiten in der engelländiſchen Literatur in dramatiſcher
Form ſich findet. Inzwiſchen iſt auch Manches was
10.
dieſen Gründen widerſpricht. Quadrio in ſeiner Storia
d’ogni Poesia erklärt ihn für einen ſpaniſchen Ro-
man, deſſen Verfaſſer man nicht kenne, der ins Fran-
zöſiſche von D’alibray Rouen 1670, und dann ins
Italiäniſche 1676 unter dem Titel Avvenimenti di
Fortunato, et de suoi figli. Napoli, überſetzt worden
ſey. Daſſelbe ſagt auch die Histoire des Aventures
heureuses et malhereuses de Fortunatus avec sa
bourse et son chapeau. Troyes chez Garnier, wo
es heißt:
Si Fortunatus doit sa gloire
À celui qui est son auteur,
Il n’en doit, à ce qu’on peut croire,
Gueres moins a son traducteur,
Car l’un est cause qu’il s’envole
Dans la region espagnole,
L’autre etc.
Das teutſche Buch von Fortunato und ſeinem Seckel
ganz kurzweilig zeleſen, gedruckt und vollendet in der
kayſerlichen Stat Augsburg durch Heinrich Steyner
1530, zeigt gleichfalls überall die Spuren eines gleichen
Urſprungs. So nennt Rupert in der Verſchneidungsge-
ſchichte das Thor an dem Aufenthaltsorte des Grafen
von Flandern, durch das Fortunatus entkommen könne,
Porta de Vacha, das iſt die Küport. Ferner die
Stadt in Cypern, die Fortunatus ſeiner Braut zur
Morgengabe kauft, ſoll Larcho nube, iſt als vil
geſprochen als ein Regenbogen, heißen; das Getränk,
das Agrippina dem Andoloſia giebt, wird Mandolles
genannt, iſt ein ſtark Getränk, ſobald man es trinkt,
entſchläft ein Menſch als ob er todt ſey ſieben oder
acht Stund, ſagt der Text; endlich Zoyelier, das ſpa-
niſche Joyelero für Juwelenhändler u. ſ. w. So iſt’s
daher außer allem Zweifel, daß Franzoſen, Italiäner
und Teutſche den Roman aus dem Spaniſchen herge-
nommen haben, daß er aber dort einheimiſch ſey, da-
gegen ſpricht durchaus der Geiſt des ganzen Werks,
indem kaum irgend eine Spur der ſpaniſchen Natur
darin zu finden iſt. In ſich gekehrt und auf ſich allein
ruhend erſcheint dieſe Natur; wenig von jenem zer-
ſtreuenden, unſtäten, zerfließenden nordiſchen Geiſte iſt
in ihr, der zerrinnen mögte in die ganze umgebende
Welt, und Alles durchdringen und erkundigen. Wollte
man allenfalls ihn aus der Zeit herleiten, wo durch
die Entdeckung von America der ſpaniſche Character
eine andere Wendung nahm, und die ganze verborgene
Heftigkeit des Nationaltemperaments ſich heißgierig
dem Gold entgegen wandte, dann ſteht damit in
zernichtendem Widerſpruch die Beſchränkung der Szene
des Romans auf die alte Welt und den Norden
von Europa, ſo daß die Abfaſſung nothwendig in eine
frühere Zeit als jene Epoche fallen muß. Die Periode,
in der die Dichtung ſelber ſpielt, iſt jene Zeit, wo Bre-
tagne noch ein unabhängiges Herzogthum war (bis
1483) wo die Mauren noch das Königreich Grenada
beſaßen (1480), wo die Türken Conſtantinopel noch
nicht eingenommen hatten (1453), wo Cypern als ein
chriſtliches Königreich beſtand, die Mameluckenſultane
Aegypten regierten, und der Wütherich Dracole Weyda
die Wallachey beherrſchte. Vorzüglich die letzte Angabe
fixirt dieſe Epoche gegen das Jahr 1440, wo dieſer
Weyda ſein Weſen unter den Wallachen und in Sie-
benbürgen trieb.
Im Ganzen deutet alles bisher Beygebrachte auf
einen nordiſchen Urſprung des Gedichts, daß es aber
eigentlich engelländiſcher Abkunft ſey, dagegen ſpricht
beſonders eine Stelle, da nämlich, wo Andoloſia ſich an
den engelländiſchen Hof begiebt: „da thett er ſo manige
ritterliche That, das er für all ander gelobett ward,
und wye wol es alſo iſt, das kain Volk auff Erdtrich
iſt, das ſtolzer und hochfertiger, nyemant keinen Ehren
gunnen noch zülegenn mag, dann ynen ſelbſt, noch
dann ſagtten ſy große Ehr von Andoloſia, von der
großen Künheit, ſo er in ſtreyten begangen het, doch
ſo ſagtten ſy, es wer ymmer ſchad, daß er nicht ein
engliſch Mann were, wann ſy vermaynen, daß kain
beſſer Volk auff Erdtrich ſey, dann ſy“. Eine Stelle,
die ohne Zweifel wohl kein Engelländer geſchrieben
haben würde, wenn ſie anderſt nicht ſpäterer Zuſatz
iſt. Alles zuſammen gegeneinander erwogen, ſcheint
es, daß die Abfaſſung des Romanes mit der Zeit,
worin er ſpielt, durchaus zuſammenfällt, und der Ort
mit der Gegend wo Fortunatus den Glückſeckel erhïelt.
Nachdem er in London nämlich beinahe gehenkt wor-
den wäre, gieng er nach Bretagne, „das iſt ein ſtarkes
Land und hat viel hoher Gebürg und groß Wald“.
In dieſem Walde verirrte er ſich, und da erſchien ihm
Fortuna und begabte ihn, und nun ritt er auf die
Hochzeit des Herzogs von Bretagne mit des Königs
Tochter von Arragonien, nachdem er vorher von dem
Waldgrafen geplündert worden war. An dieſem Hofe
lebte wahrſcheinlich der Verfaſſer, der alſo ein Breton
war, und von dort aus gieng alsdann die ganze fol-
gende Reiſe des Fortunatus und mithin der eigentliche
Roman aus, indem er da den Leopoldus fand. Man
kennt die bedeutende Rolle, die dieſe Herzoge in der
Geſchichte der Poeſie geſpielt; indem ſie von der
Normandie aus, die ſelbſt wieder urſprünglich eine
brittiſche Colonie war, Engelland eroberten und be-
herrſchten, und bei Hofe ihre Sprache eingeführt; wie
unter ihnen beinahe der ganze romantiſche Kreis der Ge-
dichte von König Artur, den Rittern der Tafelrunde,
Merlin u. ſ. w. ſich ausgebildet hat, und beinahe alle
Glieder dieſer großen Gruppe von dort ausgegangen ſind.
Was dieſe Annahme zu begünſtigen ſcheint, iſt die Vermu-
thung, daß der Dichter irgend einen verhaßten Räuber
in der Geſchichte des Waldgrafen brandmarken wollte;
weil nachdem er das Ganze weitläuftig erzählt, ein
perſönlicher Haß dadurch hervorzubrechen ſcheint, daß
er nachdem die ganze Erzählung zu Ende, noch den
Namen des Grafen beifügt: „und nam alſo die roß
und gelt Fortunato unredlichen ab, alls man yr noch
vil findet, die den leutten das Ir nemen wider alle
recht; dieſer Waldgraf was genannt Graf Artel-
hyn der Waldgraf von Nundragon.“ So
würde daher dieſer Roman der nordfranzöſiſchen Lite-
ratur angehören, und bei der Verbindung dieſes Lan-
des einerſeits mit Engelland, andrerſeits mit Spanien,
eben durch jene arragoniſche Heyrath, die alsdann als
ein hiſtoriſches Factum angenommen werden müßte,
würde ſein Uebergang nach jenen beiden Reichen
in früherer Zeit, und weiterhin das ſpätere Vergeſſen
ſeines eigentlichen Urſprungs leicht erklärlich ſeyn.
Geht man aber auf die eigentliche Quelle der Fa-
bel des Romans zurück, dann findet man dieſe in dem
Buche Gesta romanorum, die nach der Stelle die
Warton in des Theologen Glassius Philologia sacra
aufgefunden, und die Eſchenburg beibringt, gegen das
Jahr 1340 von Berchorius oder Bercheur in der Abtey
St. Eloi in Poitou geſchrieben wurden. Unter den
mannigfaltigen einheimiſchen, perſiſchen, indiſchen,
neugriechiſchen Volksſagen, die in dieſem Buche ge-
ſammelt und mit moraliſchen Nutzanwendungen verſehen
ſind, findet ſich auf dem Blatte IX und X der alten
teutſchen Ausgabe ohne Jahrzahl auch Folgende:
„Darius, ein gewaltiger König zu Rom, hatte drei
Söhne; als er ſtarb, vermachte er den erſten Beiden
Reich und Haabe, dem jüngſten, Jonathan, aber drei
Kleinot, ein Fingerlin, ein Hefftlin und ein edles Tuch,
Alles vom Zauberer Virgilius. Das Erſte machte den,
der ihn trug bei jedermänniglichen beliebt; das Hefft-
lin hatte die Tugend, wer es am Herzen trug, und
deſſen er begehrt, das geſchah. Das Tuch aber hatte
die Eigenſchaft, wer darauf ſaß, und begehrt, wo er
in der Welt wollt ſeyn, da war er zur Hand. Mit
dem Ringe zog Jonathan zuerſt von ſeiner Mutter
aus, eine Jungfrau gewann ihn lieb, lebte mit ihm,
und forſchte ihn aus, woher es doch kommen möge,
daß er ohne Gold und Silber doch ſo wohl lebe, und
jedermann ihn lieb habe. Er entdeckte ihr die Macht
des Ringes, ſie ſchwatzte ihm denſelben ab, unter
dem Vorwande, ihn zu bewahren, und als er ihn wie-
der foderte nach einiger Zeit, that ſie beſtürzt, und gab
vor, die Diebe hätten ihn geſtohlen. Er erſchrack und
weinte bitterlich, und gieng nach Hauſe, und klagte
ſein Unglück ſeiner Mutter. Sie gab ihm mit War-
nungen und guten Ermahnungen das Heftlin. Er zog
von neuem aus, und die Jungfrau begegnete ihm wie-
der, ſie lebten in Jubel und Freude miteinander, und
der Jungfrau gelang es, ſich auch des Heftlins zu be-
mächtigen, indem ſie verſprach, es diesmal beſſer zu
bewahren. Der nämliche Vorwand wie beim Fingerlin.
Jonathan gieng nun zornig zur Mutter, und die gab
ihm das Tuch mit der Erinnerung: es ſey das Letzte
von ſeinem Erbe. Er eilte hin in das Haus der
Jungfrau, die empfieng ihn ſchön; eines Tags aber
breitete er ſein Tuch auf im Hauſe, und bat die
Jungfrau, daß ſie zu ihm ſäße. Da ſie das thät, da
wünſchte er ſich ans Ende der Welt in eine Wild-
niß. Da ſie erſtaunt und verzagt ihn anſah, da fo-
derte er ihr drohend das Entwendete zurück, und ſie
verſprach alles, ſobald ſie wieder heimgekehrt wären.
Er aber entſchlief in Freuden, und ſie zog das Tuch
unter ihm weg, und fuhr nach Hauſe. Als Jonathas
erwachte, that er jämmerlich und verfluchte ſich und
das Weib, als er aber ſich aufmachte und fortgieng,
fand er einen Baum voll ſchöner Früchte, und weil er
hungrig war, aß er und ward plötzlich auſſätzig. Da
er nun klagte und weinte, da fand er einen andern
Baum, und dacht, ich will die Frucht auch eſſen, ob
ich etwann ſtürb, als er aber zur Stund aß, da wurde
er rein vom Ausſatz. Er kam als er fortzog in eine
Stadt, wo der König am Ausſatze lag, heilte ihn mit
ſeinen Feigen, und gewann viel Guts. Er gieng dann
wieder zum Ort, wo die Jungfrau wohnte, fand ſie krank,
bot ſich ihr als Arzt an, gab aber vor, daß ſie zuvör-
derſt ihre Sünden beichten müſſe. Sie beichtete den
Raub der drei Kleinote, die zu ihrem Kopfe lägen,
nun gab er ihr die Feigen, ſie wurde zur Stunde noch
kränker und ſtarb, er aber nahm die Kleinote und fuhr
freudig von dannen.“
Man ſieht, daß wenn Fortunatus nicht von dieſem
Buche urſprünglich ausgegangen iſt, Beide wenigſtens
aus einer und derſelben Quelle ſchöpften. Wir haben
ſeine eigentliche Abfaſſung in die erſte Hälfte des fünf-
zehnten Jahrhunderts verſetzt, um dieſelbe Zeit mogte
Montevillas Reiſe in allgemeinen Umlauf gekommen
ſeyn, und die Geiſter zu erwärmen beginnen. Es war
11.
daher natürlich auf den Gedanken zu fallen, die Poeſie
des Reiſens in eine Dichtung zu übertragen, und dazu
bot ſich eben die Idee von jenem Zaubermantel leicht
und glücklich dar. Die Reiſe des Fortunatus geht bei-
nahe in alle jene Gegenden, die auch Montevilla be-
ſuchte; nach Aegypten, Arabien, Indien wo der Pfef-
fer wächſt, in die Tartarey und zum Prieſter Johannes.
Ausdrücklich ſagt das teutſche Buch bei Gelegenheit
der indiſchen Reiſe: „wöllicher aber das gern wiſſen will,
der leß das Buch Johannem de Montevilla, und
andere mehr Bücher, deren die ſolliche Land alle durch-
zogen ſind.“ Es iſt zwar möglich, daß dieſe Stelle
Zuſatz des teutſchen Ueberſetzers iſt, der auch mit ächt
teutſchem Fleiße bei den europäiſchen Reiſen überall
den Meilenzeiger beigefügt hat; indeſſen verräth der
abentheuerliche Reiſegeiſt, der in dieſem Buche ſchon
erwacht, und gleichſam ſymbolich den Entdeckungsgeiſt
der nächſtfolgenden Hälfte des Jahrhunderts vorbedeu-
tet, unläugbar den Einfluß jener älteren Reiſen in die
Poeſie, den wir oben auseinandergeſetzt, und der ro-
mantiſchen Ideen, die von ihnen aus ſich in die
Literatur verbreitet haben.
12.
Eine leſenswuͤrdige Hiſtorie vom Herzog Ernſt
in Bayern und Oeſterreich, wie er durch
wunderliche Unfaͤlle ſich auf gefaͤhrliche
Reiſe begeben, jedoch endlich vom Kaiſer
Otto, der ihm nach dem Leben geſtanden,
wiederum begnadigt worden. Zuvor niemals
abgedruckt. Nuͤrnberg und Augsburg.
Herzog Ernſt entzweyt ſich mit ſeinem Vater dem
Kayſer Otto, erwählt nach Chriſti Geburt 933, wird
von Land und Leuten durch ihn verjagt, wallfahrtet
nach Jeruſalem, mit ſeinem Vetter Herzog Wezelo,
geräth zu den Agripinen, Menſchen mit Kranich-
köpfen, mit denen er ſich um eine entführte Prinzeſſin
herumſchlägt, leidet dann Schiffbruch am Magnet-
berge, läßt ſich mit ſeinen Gefährten in Ochſenhäute
eingenähet von einem Greifen zu ſeinem Neſte durch
die Luft wegführen, fährt auf einem Floße durch den
Carfunkelberg, gelangt zu den Armaspen, Leuten mit
einem Auge, bekämpft dort die Rieſen und Sciopoden,
geht nach Indien, beſiegt da für die Pygmaen die
Kraniche, dann den König von Babylon, und erreicht
endlich von dieſem geleitet Jeruſalem, von wo aus er in
der Folge wieder nach Teutſchland geht, und mit
ſeinem Vater ſich verſöhnt. Der Roman iſt von ei-
nem alten Gedichte von Heinrich von Veldeck des gleichen
Namens und Inhalts ausgegangen, das man in Proſa
aufgelößt, und das ſich in der Gothaiſchen Bibliothek
im Manuſcripte findet, und ſich wieder auf ein latei-
niſches Buch, als ſeine urſprüngliche Quelle zurück be-
zieht. Man ſieht aus dem angegebenen Inhalt, wie
nahe verwandt auch dieſes Buch mit jenen fabelhaf-
ten Sagen iſt, wie es vom Alexander und den ältern
orientaliſchen Traditionen ausgegangen, die um dieſe
Zeit durch die Ueberſetzung des Callisthenes in Weſteu-
ropa in allgemeinen Umlauf gekommen waren. Alle
jene fratzenhafte, mißgebohrne Menſchenarten finden
ſich ſchon bei Solinus und Plinius in ſeiner Beſchrei-
bung von Indien; vom Magnetberge erzählt Monte-
villa uns weitläuftig in ſeinen Reiſen, wie um ihn her
die feſtgewordenen Schiffe gleich Felſen und kleinen
Inſeln ſtehen; die Rieſen ſind aus der gleichen Quelle
geſchöpft, und die Luftfahrt findet ſich im Alexander
ſchon, der von einem Greifen ſich geharniſcht hinauf
in die Höhe viele Tagreiſen hoch tragen läßt, daß das
rothe Meer einer Schlange gleich unter ihm zu ſeinen
Füßen liegt. Das Ganze, einigermaßen ein Pendant
zu Lucians wahrer Geſchichte, die aber in ihrer Art
vollendeter iſt, erſcheint nur von mittlerm Werth,
anfangs beſonders ſchleppend, in der Folge wohl raſcher
voran ſchreitend, im Allgemeinen aber doch matt, und
wenn man das, was dem Dichter gegeben war, ab-
rechnet, leer und mit geringer Erfindung gedacht und
durchgeführt.
13.
Rieſengeſchichte, oder kurzweilige und nuͤtzliche
Hiſtorie vom Koͤnig Eginhard aus Boͤhmen,
wie er des Kayſers Otto Tochter aus dem
Kloſter bringen laſſen, und hernach viel
Ungluͤck im Koͤnigreich Boͤhmen entſtanden
iſt. Item wie die großen Rieſen daſſelbe
Koͤnigreich uͤberfallen, und was vor wun-
derſamer Streit mit ihnen vorgegangen.
Auch wie der Ritter Julius die koͤnigliche
Tochter ſich zu einem ehlichen Gemahl er-
worben, und durch ſeine ritterlichen Thaten
endlich das Koͤnigreich an ſich gebracht hat.
Alles ſehr nuͤtzlich und lehrreich beſchrieben
von Leopold Richtern, gebuͤrtig zu Lambach
in Oberoͤſterreich. Gedruckt in dieſem Jahr.
Nuͤrnberg.
Der Herausgeber ſagt, er habe dieß Buch auf einer
Reiſe in einem einſamen Schlößlein an der Nabe auf-
gefunden, und ſolches den ehrſamen Junggeſellen, ab-
ſonderlich aber dem tugendſamen Frauenzimmer zu
Lieb an den Tag bringen wollen. Der Dichtung aber
liegt eigentlich der folgende Vorgang aus der böhmi-
ſchen Chronik zu Grunde:
Gegen das Jahr 1009 machte Herzog Ulrich ſich
einmal zur Sommerszeit auf, und ritt in weiten Wald
auf die Jagd; er kam zu fern von ſeinen Dienern,
verirrte ſich, band ſein Roß an, ſtieg auf eine hohe
Fichte, und ward auf einem Berge eines Schloſſes
gewahr. Er machte ſich mit ſeinem Schwerdte Bahn
bis zu ihm hin, und fand das Schloß unbewohnt,
die Zugbrücken aufgezogen, ſtieg hinein, die Gewölbe
waren mit Wein gefüllt, und in den Zimmern fanden
ſich viel Harniſche und vermoderte Kleider. Als er
nach Drſchtka zurückkam, und ſich darnach erkundigte,
kannte niemand die Exiſtenz des Schloſſes, und da bat
ihn einer ſeiner Diener, Namens Przym, um das
Schloß, und er belehnte ihn damit, und es heißt
Pzimda bis auf den heutigen Tag. Es hatte aber, wie
die teutſchen Chronicken ſagen, dieſe Bewandtniß mit
dem gefundnen Schloß: Heinrich der Erſte regierte
920 und hatte eine ſchöne Tochter Helena, die Al-
bertus, ein Graf von Altenburg, freyte; da aber Bei-
der Stand zu ungleich war, verkaufte er ſeine Graf-
ſchaft dem Kaiſer, und ſuchte in der Wildniß einen
gelegenen Ort zur Ausführung ſeiner Pläne. Er kam
an jene Stelle, ließ den Wald ausreutten, und das
Schloß erbauen, das er dann auf viele Jahre proviantirte
mit Nahrung, Gewehren und Geſchoß. Dann berief
er alle Arbeiter und ander Geſinde in eine Stube vor
dem Schloſſe, verſperrte ſie aufs härteſte, und zündete
das Gebäude an, daß ſie Alle verbrannten, damit
niemand von der Exiſtenz des Schloſſes etwas erführe.
Er gieng dann wieder an Kaiſers Hof, und diente wie
zuvor. Bald entführte er mit ihrem Willen des Kai-
ſers Tochter, ſie ſaß hinter ihm auf ſein Roß, und
zuſammen ritten ſie in den Wäldern lange in der Irre,
bis ſie das Schloß endlich erblickten, da giengen ſie
hinein, und lebten miteinander in Freuden. Das ge-
ſchah Anno 925. Nach fünf Jahren aber hielt der
Kaiſer Hof in Regensburg, er verirrte ſich gleicherweiſe
auf der Jagd bei einem Nebel, ritt eine Weile an
einem Flüßchen aufwärts, und ſah endlich ein Schloß
auf einem Berge; er drang mit Mühe heran, und kam
endlich gegen Abend vor das Thor. Er rief und ſchrie
mit Macht, weil er in drei Tagen nichts gegeſſen, und
vom kalten Regen ſchier naß geworden war. Helena
wurde begierig wieder einen Menſchen zu ſehen, und
lief heraus, ſie beriethen ſich unter einander, und end-
lich ließen ſie den Bittenden herein, da ſie ihn nicht
kannten, weil er ſich in den fünf Jahren Haar und
Bart wachſen laſſen. Er aber kannte ſie wohl, und
gab ſich auf Befragen für einen Ritter von Hungarn
aus. Helena fragte ihn um den Kayſer, und er be-
richtete ihr, er ſey ſeit einem Jahre ſchon geſtorben;
und als ſie darüber ihre Freude bezeigte, fragte er:
und wenn ihr den Kaiſer löblicher Gedächtniß, ſowohl
in euerer Gewalt, als ihr mich habt, bekämet, wie
wolltet ihr ihn aufnehmen? Dem antwortete ſie: ich
wollt es mit meinem Liebſten dahin bringen, daß er den
Morgen nicht erleben ſollt. Der Kaiſer zog am Mor-
gen ab, nahm Ort und Gelegenheit wahr, wurde in
Regensburg mit Freuden empfangen, verſammelte viel
Volks, das er mit Holzäxten bewaffnete, ließ Wege
durch den Wald hauen, rückte vors Schloß, und als
der Graf hervorkam und nach dem Urheber des Ge-
tümmels fragte, ward ihm zur Antwort, der Kaiſer
welcher das Brod mit euch geſſen, hat befohlen, daß
wir euch und ſeiner Tochter auf Tod und Leben abſagen
ſollen. Der Graf wehrte ſich, aber weil alle Armbruſte
vermodert waren, nur mit Steinen. Helena drohte
ſich zu ermorden. Der Kaiſer ließ ſich endlich beſänfti-
gen, als ſie ihm ſelbſt zu Fuße fielen und um Gnade
baten; ſie zogen mit gegen Regensburg, nachdem ſie
das Schloß beſchloſſen, das Frauenberg heißt, und das
denn Ulrich in der Folge gefunden. Dies geſchah 930.
Böhmiſche Chronica Wenceslai Hagecii S. 131 —
133. Auch die Chronica Bohemiae von Peter Beck-
lern, Frankf. 1695. erzählt Kap. 6 etwas abweichend
die wunderliche Geſchichte Herzog Brzetislai, Udalrici
Sohn, welcher ein kaiſerlich Fräulein, Juttam, aus
dem Kloſter zu Regensburg entführt, woraus ein weit-
ausſehendes Kriegsfeuer mit dem Kaiſer entſtanden, ſo
aber bald gedämpft worden. Aus dieſer Tradition iſt
das gegenwärtige Volksbuch mit einigen Abänderungen
geworden. Die Kaiſerstochter heißt Adelheit, der Kai-
ſer ſelbſt Otto; an die Stelle des Grafen von Alten-
burg iſt König Eginhard getreten, das Schloß heißt
Schildheiß, und die Begebenheit iſt inſofern geändert,
daß der Kaiſer den König verjagt, daß er auf jenes
Schloß ſich zurück ziehen muß, wo er ſie in der Folge
findet, ohne ſie zu erkennen, während die Tochter an
12.
ſeinem Wehrgehenke den Vater erkennt, und nun mit dem
König bei Nacht ihm zu Füßen fällt. Das Abentheuer
auf dem Schloſſe, und die Rieſengeſchichten ſind ein-
gelegt. Dieſe Rieſen, die angeblich im Lande Kalmukey
und in der Tartarey wohnten, deren König Butſchko
iſt, und unter denen vorzüglich der Rieſe Scharmack
ſich auszeichnete, in deſſen Nacken alle Monathe drei
Pfund Haare wachſen, deuten ebenfalls wieder nach der
allgemeinen geographiſchen Fabelquelle hin. Das Ganze
iſt nicht ohne Geiſt, obgleich häufig mit vieler Nach-
läſſigkeit geſchrieben. Das Rieſenweſen beſonders iſt
recht gut dargeſtellt, inſofern die Kraft in ihrem Ue-
bermaße unter ſich ſelbſt erliegt, und als Plumpheit
erſcheint. Wenn das Buch von einem älteren Gedichte
ausgegangen iſt, dann würde deſſen Verluſt für die
Kunſt zu bedauern ſeyn.
14.
Wahrhafte Beſchreibung von dem großen Helden
und Herzogen Heinrich dem Loͤwen, und
ſeiner wunderbaren hoͤchſt gefaͤhrlichen Reiſe.
Auf Begehren vieler Liebhaber aufs neue
aufgelegt. Braunſchweig und Leipzig.
Zunächſt Auszüge aus der Chronik über ihn und die
folgenden Herzoge. Dann folgt ein Gedicht, von dem
der Verfaſſer ſagt, daß er es von Wort zu Wort anhero
ſetze, wie es ihm in einem alten Manuſcripte von gewiſ-
ſer Hand überreichet, und auf Begehren vieler Liebha-
ber mit eingedruckt worden. Das Gedicht, wahrſchein-
lich daſſelbe, deſſen Spangenberg gedenkt, und von dem
Koch erzählt, daß es im Verzeichniſſe der Handſchriften
auf der Wolfenbüttler Bibliothek unter der Aufſchrift:
altteutſches Gedicht von Heinrich dem Löwen scriptum
anno 1585 ſich finde, auf der Bibliothek ſelbſt aber
fehle, iſt recht brav, gefällig und leicht erzählt, und
berichtet in einer geſchmeidigen, herzlichen Sprache,
wie der Herzog auf der See in große Noth kam, daß
ſie übereinander das Loos werfen, und ſich der Reihe
nach aufeſſen mußten, bis endlich nur er und ein Knecht
allein übrig blieben, wo dann ihn das Loos endlich traf;
wie aber der Knecht ihn nicht ſchlachten wollte, ſondern
ihn in die Ochſenhaut einnähete, daß der Greif kam
und ihn wegtrug zu den Jungen, die er tödete, und
dann im Walde einen Lindwurm erlegte, den er im
Kampfe mit einem Löwen fand; wie der gerettete Löwe
ihm dann folgte auf einem Floße über die See; wie
Satan ihm dort erſchien, wie er ihn führte durch die
Lüfte hin, vermeynend er ſoll ſeyn werden, und ihn
vor Braunſchweig niederlegte, wo er dann entſchlief;
wie der Teufel dann hinfuhr, um auch den Löwen zu
holen, wie er ihn brachte, der Löwe aber nun thät
laut aufſchreien, weil der Teufel ihn allzufeſt hatte
umfangen, und wie darüber der Herzog zu ſeinem Glück
erwachte, denn ſo der Herr geſchlafen, wär er kommen
um Leib und Seel; wie er dann hineingieng zur Her-
zogin, die er als Braut wiederfund, wie es der Teufel
ihm verkündigt, und wie er durch einen Ring ſich ihr
zu erkennen gab, und endlich nachdem er noch viele
Jahre mit ihr zugebracht, ſtirbt. Das Buch in etwas
modernem Anſtrich, aber ganz im Geiſte der altſteinernen
Ritterbilder, die auf den Grabmählern mit gefaltenen
Händen knien, während oben über aufgehangene Strauß-
eneier und Greifenklauen in dem dunkel dämmernden
Gewölbe ſchweben, und von den Thaten der Geſtor-
benen im heiligen Lande als ſtumme Zeugen mimiſch
Zeugniß geben, und ein gothiſch Bogenwerk, wie ein
Gewächs aus dem wunderbaren Drachen- und Greifen-
land daſteht, und als eine Laube die Schlafenden um-
ſchattet, wo ſtarr der Tod die Zweige und die Blätter
verſteinert hält, daß ſie nicht ſchwanken und nicht ſich
regen können, wenn die Jahrhunderte wie Nachtwinde
durch das Gezweige ziehen, und der Orgel majeſtätiſch
Tönen ſie durchbrauſt, während die großen, altfrän-
kiſchen Meſſingbuchſtaben der Inſchrift von dem feuchten
Hauch getrübt, erdunkeln, und das Gedächtniß der
Thaten, die man ihnen anvertraut, ſich wirrt und er-
blaßt, und ſie nur mehr dunkel ſprechen können von
der frühen Vergangenheit, und die Wahrheit am Me-
tall in Farben erblühend wieder zur Fabel wird.
15.
Eine wunderſchoͤne Hiſtorie von dem gehoͤrnten
Siegfried, was wunderliche Ebentheuer die-
ſer theure Nitter ausgeſtanden, ſehr denk-
wuͤrdig und mit Luſt zu leſen. Aus dem
Franzoͤſiſchen ins Teutſche uͤberſetzt, und
von neuem wieder aufgelegtanfgelegt. Gedruckt in
dieſem Jahr. Coͤln und Nuͤrnberg.
Nach Süden und dem heiligen Fabellande deutete,
was wir bisher in dieſem romantiſchen Kreiſe betrachtet;
hier lenkt der Magnetſtab der Poeſie gegen das nordiſche
Eiſenland ſich hin, und wie ein Nordſchein, ſchießend,
fliegend, ſtrahlend, ergießt ſich die Kunſt von den
Schneefeldern nieder, und ein Geiſt des Heroismus
und der Energie braußt wie Windesſturm hinab, und
ſtählt und ſtärkt die ankämpfende Kraft. Die Niebe-
lungen ſind in dieſem Geiſte gebildet; ein kräftig, wil-
des Heldenwerk, jenem alten, ſtarken, unzerſtörbaren
Mauerwerke gleich, das wie eines todten Rieſen Kno-
chen zerſtreut hier und dort aus der Erde ragt, und von
dem die alte Sage erzählt, daß ein ſtärkeres Geſchlecht
ſie gegründet und gebaut. Wie ein gewaltiger Strom
ergießt ſich die Dichtung von dem Norden nieder, und
wie er niederſteigt, ſchwillt er ſtärker und immer ſtärker
an, und dunkler und dunkler färben ſich die Wellen,
und er wird zu Blute endlich, und ſtürzt ſich in einen
Ozean von Graus, und Tod, und Mord, und Ver-
derben und Untergang. Eine der Quellen aber, aus
der der ganze Strom ſeinen Urſprung zuerſt genommen,
ſcheint dieſer Roman vom gehörnten Siegfried zu ſeyn;
ſelbſt in ſeiner Zerriſſenheit, Lückenhaftigkeit und Ver-
krüppelung, in der er hier als Volksbuch erſcheint,
noch unendlich ſchätzbar. Wie Siegfried, der Held
aus den Niederlanden, ſeinen Vater Sieghard verläßt,
im Walde den Drachen tödtet, mit ſeinem Fette ſich
beſtreicht, daß von dem erſtarrenden Blute ſich ihm der
ganze Leib mit einer Horndecke überzieht, zwiſchen den
Achſeln ausgenommen; wie er dann des Königs Gilibaldus
Tochter, die ein Drache entführt, errettet, ſie zur Ehe
nimmt, und endlich vom grimmen Hagenwald an der Quelle
erſchlagen, und in der Folge durch ſeine Gattin gero-
chen wird, das iſt der Gegenſtand des Romans. Die
erſte Hälfte deſſelben iſt im Epos poſtulirt; die Be-
werbung um Chriemhilde, des Königs Tochter, abwei-
chend erzählt; der Tod Siegfrieds durch Hagene weiter
ausgeführt, und dann die Rache durch die ganze Folge
des Gedichtes, ebenfalls bedeutend abweichend durchge-
führt. Wie die Sprache im Epos iſt, ſo iſt ſie auch
im Romane, einfältig, derb und gedrungen, aber im
Romane natürlich kärglicher und minder inhaltsreich
als im größeren Gedicht; die Darſtellung erſcheint in
ihm ohne allen Schmuck, aber kräftig und gediegen; die
Erzählung treuherzig und gläubig, und dabei ohne alle
Prätenſion; der Kampf mit dem Drachen auf dem Dra-
chenſtein kräftig und Intereſſe erweckend dargeſtellt: das
Ganze aber in der anſpruchloſen, unmanierirten Form,
in der es hier erſcheint, erfreulich, und in ſeiner Unbe-
fangenheit, wie unmittelbar aus einem ſtarken, kräf-
tigen, untergegangenen Leben aufgefaßt, und daher
in ſeiner Art eines der beſſeren Volksbücher ſeiner Gat-
tung.
Für das Alter des Gedichtes zeugt die Erſcheinung,
daß nicht bloß die Tradition, auf die es ſich gegründet,
verlohren iſt, ſondern auch die Tradition ſeiner Grün-
dung ſelbſt. Die Geſchichte der Literatur weiß nichts
über ſeine Entſtehung zu erzählen; ſo viel ſcheint ſich zu
ergeben, daß es ein urſprünglich teutſches Werk iſt.
Der Zuſatz auf dem Titel: aus dem Franzöſiſchen über-
ſetzt, widerſpricht dem keineswegs, denn die franzöſiſche
Literatur kennt das angebliche Original nicht, und keine
Bibliothek, die ihren eignen Reichthum kennt, hat
bisher etwas dergleichen aufgewieſen. Und doch iſt die-
ſes gänzliche Verſiegen aller Geſchichte wunderbar,
wenn man bedenkt, wie Siegfried, der Held der neuern
Zeit, in der Liebe und der Anſchauung des ganzen
Mittelalters lebte, und gewiſſermaßen eines der großen
Organe war, in denen von Zeit zu Zeit wiederkehrend,
die Poeſie immer von neuem ſich verkörpert, und dadurch
in fortlaufender Palingeneſie ſich gegen den Tod und
den Untergang bewahrt. Wie ihn daher die Niebelun-
gen als ihren Helden feiern, ſo hat das Heldenbuch,
in Oppoſition mit dem ganzen burgundiſchen Helden-
kreiſe ihn eben auch zum kräftigen Gegenſatz ſeines
Helden, des Dieterich von Bern, gewählt, und das Ge-
dicht verwendet viele Motive, bis Dieſer ſich nur zum
Kampfe mit dem furchtbaren Gegner entſchließt, und ein
großer Zorn muß ihm ſeinen Beiſtand leihen, daß er
dem Helden nicht erliegt, daß er ſiegreich ihn beſteht.
Denn ſpricht Dieterich zu Hiltebrant:
Er erſchlug vor einem Steine
Ein Trachen ſo freyſan
Dem mochten all Fürſten gmeine
Doch nicht geſigen an
Seyfried der hürnin Könige
Hat gar viel Recken erſchlagen
Roch weiß ich auch drei Dinge
Davon will ich nicht ſagen.
Er trägt ein Schwerdt ſo herte
Daß ſchneidet alle bandt
Kein Harniſch ſich davor erwerte
Es iſt Menung genanndt
Das ander iſt ein Bringe
Da merk du mich gar recht
Die macht von Stahel ringe
Der Meiſter Eckenbrecht.
Er machet ſie nach Künſten
Und auch nach Meiſterſchaft
Er wißt daß der Held in brünſten
Gewünne große Kraft
13.
Goldes und Edelgeſteine
Daß lage gar viel daran
Es ward nie Schwerdt ſo reyne
Daß ihn gewinnen kann.
Das Dritt wendet mir mein macht
Er iſt ein hürnin Mann
Und hett er auch Fleiſch und Blut,
Ich wöllt ihn gern beſtahn
Daß ich mit ihm ſolt fechten,
Ich were ein thummer Mann
Wo ich dein Rath mehr ſpechte
Mein Huld müßt verlohren han.
Er ſchlägt endlich gar den alten Hiltebrant, weil
dieſer ihm Vorwürfe macht, uudund als er nun mit
Siegfried ficht, wird er hart bedrängt, bis endlich
Wollfhart ihm zuruft: Hiltebrandt ſey todt von dem
Schlage, da ſagt das Gedicht:
Herr Dieterich von Beren
Ergriff ſein grimmer Zorn
Er ſchlug Seyfried den Keren
Durch Harniſch und durch Horn
Daß ihm das rote Blute,
Ward fließen in das Graß
Seyfried durch die Roſen wuthe
Mit Flucht er kaum genaß
Dietrich mit verwegem Sinne
Schlug auf den Ryſen groß
Daß er der Königinne
Ward fliehen in ihr Schooß.
So war Siegfried groß in ſeiner Zeit, die Fabel
hatte ihn in ihren Gigantenkreis aufgenommen, Al-
brich mit ſeinen Zwergen war ihm befreundet, und
ſo wohnten die Rieſen und die Zwerge friedlich bei-
einander. In der Folge aber vermiſchten im Muth-
willen Beide ſich miteinander, und es entſtand ein
Mittelſchlag, der die Erde baute, und die Rieſen
wichen und die Zwerge mußten wandern, nachdem
ſie vorher jeder einen Silbergroſchen in den Opfer-
ſtock geworfen, und das iſt bis auf den Tag noch
das Kapital, mit dem wir Wucher treiben.
16.
Schoͤne Hiſtorie von den vier Heymonskindern
Adelhart, Ritsart, Writſart und Reinold,
ſamt ihrem Noß Bayart, was ſie fuͤr
ritterliche Thaten gegen die Heiden zu Zei-
ten Caroli magni Koͤnig in Frankreich,
und erſten roͤmiſchen Kayſer begangen ha-
ben. Dem iſt beigefuͤgt das Leben des hei-
ligen Reynoldi, des juͤngſten von den vier Ge-
bruͤdern, was er fuͤr Wunderzeichen und Mi-
rakeln durch Zulaſſung Gottes gethan hat.
Koͤln am Rhein und Nuͤrnberg.
Wie ein Eichbaum ſtolz und feſt ſteht dies Werk
in der Umgebung einer großen, hiſtoriſchen Vergan-
genheit unter den Rittergedichten da. Was die un-
tergegangene Heraeleide den Griechen mag geweſen
ſeyn, das dies Gedicht der neuern Zeit. Wie Hercu-
les abgebildet wird, feſt und grandios, mit gewaltigem
toroſem Muskelbau, breiter hochgewölbter Bruſt, aber klei-
nem Kopfe und niedrer Stirn, im Ausdruck einer innern
bornirten Intelligenz bei überſchwenglicher Lebens- und
Muskelkraft, dabei mit der Miene von kecker Ruhe
und Sicherheit, und der gutmüthigen, ehrlichen Herz-
haftigkeit, ſo erſcheint Reinold in dem Werke. Wie
ein Löwe ſtark und kühn, trotzig, auffahrend, feſt auf-
tretend und zermalmend wohin er trifft, dabei doch
wieder beſonnen, und in ruhig beſcheidner Haltung;
raſch und wild im Ausbruch, dann wieder barmherzig,
mitleidig und mild und gerecht; zornig, und dann wieder
fromm, zutraulich und ehrlich, ſo durchaus characte-
riſirt ſich der Held von dem Augenblicke an, wo ſein Vater
ihn entdeckt, und er nun ergrimmt zu ihm ſpricht:
„wenn ihr mein Vater nicht wäret, ich wollte euch
dermaßen ſchlagen, daß ihr müßt liegen bleiben!“ weil
er ſo freundlich an ſeine Bruſt und Wangen ihn drückt,
daß ihm die Naſe blutet, bis zu dem Momente, wo
er ihn ſelbſt gefangen auf ſein Pferd aufbindet, und
er ihn dem Carl zuführt, um ihn zu lehren, daß er
ſeine Kinder fange. Und dieſen muthigen, kecken
Heldenjüngling nun, und bei ihm ein gleiches Hel-
denpferd, das Roß Bayard, und dabei die gute Klinge
Florenberg, überdem noch drei tapfere Brüder und
den Vetter Malagis, in allen Künſten der Nigro-
mantia erfahren, dieſem Bunde, ſetzte der Dichter
voraus, müſſe die Welt nicht widerſtehen können. Und
als Repräſentant dieſer Welt mußte ihm keiner taug-
licher ſeyn, als der Herr des ganzen Occidents, Carolus
magnus, der, nachdem er die Sachſen bezwungen,
und den großen Raubſtaat der Hunnen zerſtört — bald
am Nordmeer der Normänner und Dänen wilde Kraft
bekämpfte, bald jenſeits der Alpen die italiäniſchen
Völker überwältigte, und dann wieder jenſeits der Py-
renäen mit den Sarazenen ſiegreich rang; dem daher
beinahe der ganze Weſten gehorchte; um deſſen Freund-
ſchaft der Oſten ſich bewarb; der der ſtolzen Byzanz gegen-
über eine occidentaliſche Roma gründete, und mit dem
orientaliſchen Kaiſerreich ſich in das Erbe der Römer, die
Weltherrſchaft, theilte, während beiden gegenüber das
geiſtliche Reich des Pabſtes wieder in religiöſer Einheit
ſie verband. So iſt alſo das Epos der Kampf jenes
Bundes mit dieſem Regenten, und mit der höchſten Hal-
tung und Ruhe entwickelt nun das Gedicht dieſen Kampf
durch 16 Jahre hindurch, in dem mannigfaltigſten
Wechſel der Begebenheiten, und mit dem ganzen Zauber
der Romantik ausgeſtattet. Es iſt gar nicht zu verkennen,
daß dem Dichter Homers Ilias vorgeſchwebt; außerdem
daß, wie wir gleich ſehen werden, wenn wir von dem
franzöſiſchen Romane des gleichen Namens reden,
unmittelbare Hinweiſungen auf dies Gedicht ſich finden,
ſind die einzelnen Helden mehr oder weniger, obgleich
in durchaus freien Verhältniſſen, den Helden der Iliade
nachgebildet. Während Reinold in allen ſeinen Bezieh-
ungen, ſo weit die Fabel es erlaubt, der Hector des Ge-
dichtes iſt, und der alte Heymon der Priamus, erſcheint
hingegen Carl als Agamemnon, trefflich gehalten, und
zwar im teutſchen Volksbuche, indem er Hugo von
Bourbon tödtet, zuerſt zornig und hingeriſſen von frem-
der, bewußtlos ihn treibender Gewalt; dann wieder
königlich und gerecht, indem er großmüthig Beleidigung
verzeiht, bis Reinold ſeinen Sohn Ludwig ſchlägt, wo
er nun aufgereizt zur Wuth, wild und unverſöhnlich bis
zum Eigenſinn erſcheint, und dieſe Unverſöhnlichkeit
auch da noch fort behauptet, wo die Brüder aus der
Gefangenſchaft ihn entlaſſen, und am Ende noch gegen
das Roß Bayard den tiefen Groll und Haß hinwendet, das
als Sühnopfer getödtet wird; dabei oft pedantiſch bei-
nahe und gothiſch befangen, in dem Stile wie das Bild-
nerwerk an Dagoberts Grabe gedacht, im Ornate der
Zeit, unbehülflich oft, aber ſcharf und beſtimmt gezeich-
net. So wunderlich fremd, und ſtrenge und dunkel
wie der Heerführer iſt auch ſeine Umgebung; die ganze
Genoſſenſchaft ein Granitſäulengang, ein trotziger, feſter,
kecker Heldenadel, wie er den griechiſchen Fürſten umgab;
ergeben ihrem König, aber auch wieder ſtark und kräftig auf
eignen Füßen ſtehend, und durchaus in heroiſcher Indivi-
dualität ſcharf und ſtreng gehalten. Der Geiſt dieſer Genoſ-
ſenſchaft aber concentrirt ſich im Achilleus-Roland. Die
ganze wunderbare Reizbarkeit eines ſtolzen, durch und durch
muthigen Gemüthes; dieſer Heroismus im dunkeln, tiefen
Impulſe einer verhüllten im innern Menſchen wohnenden
Macht lebend, und daher in ſeinen Ausbrüchen lyriſch
launenhaft erſcheinend; dieſer reine Sinn für Ehre und
Rechtlichkeit in Wort und That; dieſe hohe Exaltation der
Liebe und des Haſſes; dies reiche Metall im innerſten
Buſen erklingend bey jedem Schwerdtesſchlag; dieſer
herriſche, unbeugſame Character, der bis zur wilden
Ungezähmtheit früher bei Heymon gieng: Alles erſcheint
in wunderbarer Objectivität in dieſem Roland dargeſtellt,
und erinnert überall an den Helden der alten Zeit, der
hier in der allgemeinen Metempſichoſe in romantiſch
freien Formen wiederkehrt. Alle höhere Intelligenz
aber erſcheint durch das ganze Werk als Zauberey, und
wie Liſt und Verſchlagenheit im Odyſſeus ihren Reprä-
ſentanten fanden, ſo finden ſie ihn hier in dem Schwarz-
künſtler Malagys, in dem nun wunderbare romantiſche
Feueradern durch das Ganze ſchieſſen, in der Szene z.
B. auf der Brücke, wo die beiden Bettler einen goldnen
Becher mit Edelſteinen beſetzt zwiſchen ſich ſtehen haben,
in dem Malagys einen köſtlichen Zaubertrank von dem
allerköſtlichſten Wein und allerlei Kräutern und Speze-
reien bereitet, und der König nun ein Schnittlein be-
gehrt, weil der Pabſt zu Rom die Meſſe darüber geleſen,
und er Entledigung ſeiner Sünden hofft, und dann die
Knechte mit gefalteten Händen kommen, und auch
Schnittlein zu ſich nehmen. Dann wieder das ſeltſam
Humoriſtiſche in der Szene, wo Malagys dem Konige
aufwartet, und dieſer ihm ein Bißlein von einem Pfauen
in den Mund ſtecken will, und er ihn nun in den
Daumen beißt alſo hart, aus Rache, daß er vorher mit
dem Fuße ihn geſtoßen. Und ſo erſcheint das Ganze
dann wie ein großer Baſaltſäulenweg, ein Rieſendamm
über die Wogen der Zeit mit den ſcharfen Cryſtallen
hervorbrechend, aus einer großen eiſernen Geſchichte
heraus, wo das Leben ganz hinter das Metall zurück-
getreten iſt, und der Held in der Rüſtung nun wie
großes Naturwerk feſt und unerſchütterlich daſteht.
Was wir bisher von dieſem Gedichte ausgeſagt, iſt
zwar im Allgemeinen von dem teutſchen abgezogen; es
gilt aber auch vom Franzöſiſchen, obgleich dies bedeut-
end in der Handlung und der Natur der Begebenheiten
abweicht von Jenem. Auch in Frankreich iſt nämlich
das ſchöne Kunſtwerk zum allgemein geleſenen Volks-
buch geworden, und geht dort in der neueſten Ausgabe
unter dem Titel: Histoire des quatre fils Aymon,
très-nobles et très-vaillans Chevaliers. À Troyes
de l’im primerie de la Citoyenne Garnerin 135. S. 4.,
um, und ſchon gleich der Anfang iſt ganz verſchieden von
dem Teutſchen, und allerdings der Zorn Carls beſſer
und gründlicher motivirt. Der Kaiſer kehrt von einem
Feldzuge in Italien gegen die Sarazenen zurück; bei
dem Pfingſtlager beſchuldigt er vor den Pairs den
14.
Herzog Beuves d’Aigremont, und ſeine drei Brüder,
daß ſie ohne Unterſtützung ihn gelaſſen, und ſendet
ihm ſeinen Sohn Lohier nebſt hundert Reutern, mit der
Drohung, wenn er ſich nicht auf St. Johann an ſeinen
Hof verfüge, werde er Aigremont belagern, ſein Land
verheeren, ihn und ſeinen Sohn aufhenken, und ſein
Weib verbrennen. Lohier entledigt ſich ſeines Auftrags,
es kömmt aber darüber zum Streite zwiſchen ihm und
dem Herzog, und er wird getödtet mit ſeinen Begleitern
bis auf zwanzig, die der Herzog mit der Leiche an Carl
zurückſendet. Darüber entſteht ein Krieg, an dem
Aymon von Dordogne mit ſeinen vier Söhnen Regnault,
Richard, Alard, Guichard, die der Kaiſer eben erſt zu
Rittern geſchlagen, keinen Antheil nimmt, ſeiner Ver-
wandtſchaft mit dem Herzog wegen; indeſſen wird Aigre-
mont geſchlagen, und weil er vor Carl ſich demüthigt,
läßt dieſer ihm Gnade widerfahren. Auf Veranlaſſung
Ganelons wird er indeſſen, als er ſich an den Hof bege-
ben will, meuchelmörderiſch auf dem Weg ermordet.
Beym nächſten Pfingſtlager kömmt Heymon mit ſeinen
Söhnen nach Paris, und macht dem Kaiſer Borwürfe,
daß er ſein gegebenes Wort gebrochen; dieſer rechtfer-
tigt den Mörder, daß er Gleiches mit Gleichem nur
vergolten. Als aber die vier Söhne vor ihn kommon,
da ſagen ſie: „Sire! Ihr habt uns zu Euch entboten,
aber wißt, daß wir Euch nicht lieben, denn ihr habt
unſern Onkel erſchlagen“. Der König aber wird roth
vor Zorn, und ſagt zu Regnault: „Unſeliger! entferne
dich; ohne die Andern würde ich dich in ein ſo dunkles
Gefängniß werfen, daß du auf lange nicht mehr das
Licht erblicken ſollteſt“. R. geht aufgebracht weg,
und als er mit Berthelot, dem Neffen des Königs
Schach ſpielt, entſteht ein Streit unter ihnen, in dem
B. den R. verwundet, und Dieſer Jenen dafür tödtet,
worüber ein allgemeines Gefecht zwiſchen den beiden
Partheyen ſich entzündet, während deſſen die Brüder
ſich entfernen, und mit Malagys Dordogne gewinnen,
von wo aus ſie, nachdem ſie ſich mit Geld verſehen,
nach den Ardennen eilen, und dort das Schloß Mont-
fort bauen. Von allem dem erwähnt das teutſche Buch
nichts; der Tod Hugo’s von Bourbon fehlt dagegen
hier, und der Krieg mit Heymon, und wie Carl ihn
um Verzeihung bittet, und ſeine Schweſter Aya ihm
zur Gemahlin giebt; und die Szene, wie Reinold den Koch
des Königs tödtet und die Gäſte aus den Betten wirft, und
ſogar Carls Sohn Ludwig ſchlägt und umbringt; und
endlich auch die ganze Geſchichte von Heymons Ver-
hältniſſen in ſeiner Ehe, und wie er ſeine Söhne zu
Rittern ſchlägt. Dagegen iſt wieder das zunächſt Fol-
gende allein dem franzöſiſchen Werke eigen. Carl
nämlich, als er den Bau von Montfort gewahrt, be-
lagert das Schloß mit einem Heere, bei dem auch der
alte Heymon, ſeiner Lehnspflicht getreu, ſich befindet,
und es wird von beiden Seiten in den Ausfällen mit
Erbitterung gefochten, wobei aber die Brüder immer
ſiegreich ſind. Hernier erbietet ſich endlich die Feſte mit
Liſt zu gewinnen; er meldet ſich als Verfolgter und
Ueberläufer vor dem Schloſſe und wird aufgenommen;
erſieht darin die Gelegenheit, und öffnet um Mitternacht
die Thore; Alard’s Pferd wird indeſſen darüber unruhig,
die Brüder erwachen; es kömmt zum Gefechte zwiſchen
den Eingedrungenen und den Belagerten, das damit
endet, daß Jene, da es R. gelingt, die Pforte wieder
zu ſchließen, Alle vernichtet werden, bis auf Hernier
und zwölf andere, die man dem Feuer überliefert.
Indeſſen hat das angelegte Feuer alle Lebensmittel und
die Hofgebäude verzehrt; die Brüder müſſen daher das
Schloß räumen, und ziehen ab um Mitternacht. Als
Carl ihre Entfernung gewahr wird, verfolgt er ſie bis
an eines Fluſſes Ufer, wo er endlich ermüdet abſteht,
und ſeine Ritter entläßt. Die Brüder haben indeſſen
jenſeits eine ſchöne fruchtbare Gegend gewonnen, in
der ſie ausruhen; aber Heymon, als er mit ſeinen Ge-
fährten heimkehren will, ſtößt dort auf ſie, greift ſie an,
und R. muß ſich endlich mit fünfzig, die ihm von 500
allein übrig geblieben ſind, auf einen Berg flüchten;
endlich, nachdem H. fortgewüthet, ſchmilzt auch
dieſe Zahl wieder bis auf 14 ein; R. zieht ſich
damit über einen Fluß zurück; und als er die vielen
Gebliebenen überdachte, da konnte er ſeine Thränen
nicht zurückhalten, und die Geſchichte ſagt, Heymon
ſein Vater habe auch geweint. Nachdem er einen
Strom von Thränen vergoſſen, ſagt er: „Wehe meine
Kinder! wie ſchmerzt es mich, daß ich euern Untergang
verſchuldete; künftig werdet ihr flüchtig umherirren;
an Allem wirds euch fehlen, und ich werde euch nicht
unterſtützen können!“ Er zieht darauf nach Paris
zurück; als er aber Carln anſagt, was er gethan, da
erzürnt ſich Dieſer, und ſagt: „Eure Entſchuldigung
iſt übel; nie hat ein Rabe ſeine Jungen noch gefreſſen“.
Heymon erbietet ſich zum Zweikampf; „nie“, ſagt er,
„habt ihr euere treuſten Ritter geliebt; immer habt ihr
die Schmeichler vorgezogen, und immer iſt nur Uebles
davon entſtanden“. Er kehrt darauf erbittert nach
Dordogne zurück. — Die Brüder aber irren nun elend
und von Allem entblößt in den Ardennen umher, Sat-
tel und Zeug auf ihren Pferden verfaulen, und ſie ſelbſt
werden ſchwarz und unkenntlich. Endlich entſchließen
ſie ſich ihre Mutter aufzuſuchen, und wie ſie Dieſe wie-
derfinden, mag ſie ihre Söhne kaum erkennen, ſo elend
waren ſie in den ſieben Jahren geworden. Heymon
kehrt indeſſen von der Jagd zurück, und wird ſehr er-
zürnt gegen ſeine Kinder, wie er ſie erblickt, und ſagt:
„Elende! ihr ſeyd keinen Heller werth.“ „Vater“, ſagt
R., „ihr habt ſehr Unrecht gehabt, uns Böſes anzu-
thun; neulich habt ihr uns unſer ſchönes Schloß Mont-
fort genommen; dann habt ihr in den Ardennen uns
unſere 500 Ritter bis auf 14 erſchlagen: weil ihr uns
aber ſo übel wollt, ſo haut uns die Köpfe ab; ihr wer-
det Freund ſein von Carl, und Feind von Gott“!
H. fühlt wohl die Stärke von dem was R. geſagt; er
ſeufzt daher tief, und ſagt: „Denkt darauf, bald euch
von hier zu entfernen“! R. erwiedert: „Ihr ſprecht
ſehr hart; ihr habt uns ſo viel Leute erſchlagen, daß
wir nirgend anderſt hin, als in euer Land kommen
können“. Aber H. will nicht ſeine Einwilligung dazu
geben; da wird R. aufgebracht, und zürnt: „Ich er-
kenne jetzt euern böſen Willen, und ich fühle, daß ihr
nur unſern Untergang wollt. Wenn ihr denn gänzlich
entſchloſſen ſeyd, uns von hinnen zu treiben, ſo ſollt
ihr’s auch theuer bezahlen müſſen“! und damit zieht er
erbittert und bleich ſein Schwerdt halb aus der Scheide;
Alard aber läuft hinzu, um ihn zu umfaſſen, und
ſpricht; „Laß, ich bitte dich, deinen Zorn; unſer Vater
iſt unſer Herr; er kann thun, was ihm gut dünkt; wir
müſſen ehrerbietig ihm gehorchen; hüthe dich Hand an
ihn zu legen; das wäre wider Gottes Befehl“! „Bru-
der“, ſagt R., „es fehlt wenig, daß ich ihn nicht
ſchelte, wenn ich ſehe, daß der, welcher uns verthei-
digen ſollte, uns vielmehr verfolgt.“ Da fängt Hey-
mon zu weinen an: „Wie bin ich unglücklich,
daß ich des Gutes nicht genießengenießeu kann, das mir
Gott gegeben hat; wie wäre ich glücklich, wenn
meine Kinder Frieden hätten mit dem Kaiſer Carl;
nie hatte Priam muthigere Söhne“! Dann ſagt er
zu R.: „Du biſt groß wie Hector; ich verlaſſe mich
daher auf dich“; dann wendet er ſich zur Herzoginn:
„Ich will nicht mehr ſeyn mit Carl; gieb Gold und
Silber, Pferd und Waffen meinen Kindern“. — Das
Alles fehlt größtentheils im Teutſchen; nun aber fällt
die Geſchichte wieder ein. Die Brüder kommen zum
König Yon von Gascogne, verjagen die Sarazenen,
bauen das Schloß Montauban; Regnault nimmt des
Königs Schweſter Clarice zur Ehe; Roland kömmt an
Hof mit 30 Rittern, vertreibt die Sarazenen, die Cöln
belagern; Carl ſetzt, um ihm ein tüchtiges Pferd zu
verſchaffen, ſeine Krone zum Preiſe aus, den R. ge-
winnt, und belagert endlich die Brüder mit einer Ar-
mee, die Roland anführt, im Schloſſe von Montalban;
— im Ganzen wie im Teutſchen, nur Alles beſtimm-
ter und mehr ausgeführt. Roland lagert ſich auf dem
Platze von Balançon, und geht dann auf die Jagd,
während welcher R. zu ſeinem Zelte dringt, und den
goldnen Drachen ihm entführt, und ihn auf dem höchſten
Thurm aufpflanzt, daß Carls ganze Armee ihn erkennt.
— Dann der Verrath des Königs Yon, ebenfalls wie-
der beſſer motivirt: wie die Brüder wehrlos in Schar-
lachmänteln mit Hermelin verbrämt, und mit Roſen
in den Händen, auf die Ebene von Vaucouleurs auf
Maulthieren ziehen, und wie es dann zum harten Ge-
fechte kömmt, und Malagys endlich ſie vom Untergange
rettet; — Alles wieder mit vielen eingeſchobnen Epiſo-
den, die im Teutſchen fehlen. Die weitere Folge
ziemlich harmonirend, wie Yon Rolanden abgejagt,
Richard aber dagegen gefangen wird. Da ißt Mala-
gys ein Kraut, wovon er aufſchwillt wie eine Kröte;
reibt ſich darauf mit einem andern Kraute, und wird
ſchwarz wie eine Kohle, und ſo geht er zu Carls
Lager, und wird von ihm geſpeiſ’t, weil er Uebels
redet von den Heymonskindern, wobei Carl Richarden
mit einem Stocke ſchlägt, und dieſer dafür bei der
Mitte des Körpers ihn umfaßt und niederwirft: am
folgenden Tage aber befreit R. ſeinen Bruder Richard
vom Galgen, und Ripus und ſeine zwölf Geſellen
werden dafür gehenkt. Dann folgt der Zweikampf mit
Carl, und wie R. auf einen Augenblick ihn zum
Gefangenen macht, nachdem er vorher das Roß Bayard
um Verſöhnung ihm angeboten, wobei aber dieſer
unverſöhnlich bleibt. R. überfällt dann den König in
ſeinem Lager, raubt den goldnen Adler von ſeinem
Zelte; Malagys wirft die Lanze nach ihm und wird
gefangen. Carl aber ſammelt die Pairs um ſich, und
will die Krone niederlegen; dieſe aber beſänftigen ihn,
und verſprechen auf’s neue Treue, und erbieten
ſich, ihm Regnault und Malagys gefangen auszuliefern.
Malagys wird vorgeführt, Carl freut ſich darüber; der
Gefangene erlangt mit Mühe Aufſchub ſeiner Hin-
richtung bis auf den folgenden Tag gegen Bürgſchaft
der Pairs. Um ſich ſeiner zu verſichern, läßt Carl des
Nachts hundert Fackeln anzünden; er bewacht ihn ge-
feſſelt an eine Säule mit Ketten und einem eiſernen
Halsband ſammt allen Pairs. M. aber bezaubert ſie
Alle, daß ſie einſchlafen, zerreißt ſeine Ketten, nimmt
Roland ſeinen Durandal, Olivier ſein Hauteclair, und
allen andern Pairs ihre Schwerdter; reibt dann mit
einem Kraute des Königs RaſeNaſe, entzaubert ihn damit,
kündigt ihm an was er gethan, und entweicht. —
Alles wohl auch im Teutſchen, aber anderſt erzählt.
Carl ſchickt Geſandte, worinn er R. Frieden bietet,
wenn er Richarden ihm ausliefere, daß er nach ſeinem
15.
Willen mit ihm thue; die Geſandten bereden die Brüder,
mit ihnen zu Carln zu ziehen; dieſer, davon unterrichtet,
ſchickt ihnen Roland entgegen, daß er ſie fange; es
kömmt zum Zweikampf zwiſchen ihm und Regnault,
worinn auf Carls Gebet, der für Jenen fürchtet, eine
Wolke die beiden Kämpfer umhüllt, daß ſie
ſich einander aus dem Geſicht verlieren. Roland be-
gleitet endlich R. nach Montauban zurück, zum höchſten
Erſtaunen Carls, der ihnen bis zum Thore folgt, und
ruft: „Reg. was du gethan, iſt bös gethan; ſo lange
ich lebe wirſt du den Frieden nit haben.“ — Alles im
Teutſchen fehlend. Carl lagert ſich mit ſeiner Armee
vor die Thore; Malagys entführt ihn durch Bezauberung
von dort nach Montalban, entweicht dann in einen
Wald, und wird Einſiedler. Als Carl erwacht und ſich
gefangen ſieht, wird er ſo wüthend, daß Alle die zuge-
gen ſind, ihn närriſch geworden glauben, und ſchwört,
wenn er lebe, ſolle Friede nicht werden, ſo lange er
in Montauban bleibe, bis man ihm Malagys ausgeliefert
habe. Er beſteht feſt auf ſeinem Sinne, allen Vorſtel-
lungen der umgebenden Pairs zum Trotze, und ſchwört
bei’m heiligen Denys, daß er nichts von Allem thun
werde, bis er M. habe, um mit ihm nach Belieben zu
verfahren. Reg. ſteht endlich auf, und erklärt ihn,
gegen den Rath ſeiner Brüder, im Angeſicht aller
Barone frei, und Carl reitet auf dem Roß Bayard in
ſein Lager zurück. Die Belagerung aber wird noch mit
größerer Obſtination fortgeſetzt; der alte Heymon iſt
gleichfalls wieder bei der Belagerungsarmee, und muß
wie die andern Schleudermaſchinen bauen, um die
Thürme einzuwerfen; es entſteht in der Feſtung große
Noth; alle Pferde ſind verzehrt, und nun ſoll auch
Bayard geſchlachtet werden. Wie R. aber zu dem
Zwecke eintritt in den Stall, ſeufzt das Pferd tief auf;
R. davon gerührt, erklärt, daß er ſich lieber ſelber
tödten wolle; die Kinder aber weinen ſehr, des großen
Hungers wegen. R. giebt ihm etwas Heu, denn er
hatte nichts anderſt ihm zu geben, und als er zu ſeinen
Brüdern kömmt, findet er Alard, der ſeinen Sohn
Aymonet weinend hält; Richard hält Yon, Clara aber
liegt in Ohnmacht. R. reitet darauf hinaus zu ſeinem
Vater ins Lager, und dieſer läßt ſich bereden, und
giebt ihm Lebensmittel mit, Bayard trägt ſoviel
als zwei Pferde tragen mögen; und dann wirft er
ihnen noch Fleiſch und Brod mit den Wurfmaſchinen
ins Schloß. Carl aber, erzürnt darüber, gebietet ihm
die Armee zu verlaſſen. Die Noth kehrt daher bald
zurück; Bayard wird Blut abgezapft; endlich da auch
er entkräftet keines mehr geben kann, verlaſſen ſie
Montalban durch einen unterirdiſchen Weg, den ſie
entdeckt, und erreichen Dordogne. Als Carl ihre Ent-
fernung gewahr wird, folgt er ihnen, und belagert ſie
von neuem dort, und ſchwört von dannen nicht zu
weichen, bis er die vier Heymonskinder ſchimpflich ge-
henkt habe. Richard von der Normandie, einer der
zwölf Genoſſen, wird bei einem Ausfalle gefangen,
und Carl ſendet den Duc de Naimes an R. und läßt
ihm entbieten, daß wenn er den Gefangenen und R.
herausgeben wolle, er ihm Friede ſchenken werde. R.
erwiedert, daß er Richard an der großen Pforte henken
laſſen werde, und daß er mit Carln eben ſo verführe,
wenn er in ſeinen Händen wäre. Nun werden die
Pairs im Lager ſchwierig, ſie drohen ihn Alle zu verlaſ-
ſen, Carl bleibt unverſöhnlich; ſie führen, nachdem ſie
alle Vorſtellungen umſonſt verſucht, ihre Drohung wirk-
lich aus, und verlaſſen ihn mit allen ihren Leuten, ſo
daß nur die armen Edelleute zurückbleiben. Reg. hatte
eben ſeinen letzten Boten an Carl geſendet; der Galgen
iſt errichtet, und der Herzog unter ihm; Carl antwortet,
daß er nichts von Allem wolle, und daß er ſich nicht
erkühnen dürfe, dem Herzog irgend Uebels zu thun.
Aber nun hat auch des Königs Starrſinn den höchſten
Punkt erreicht, und er bricht ſich endlich, da er von
Allen ſich verlaſſen ſieht, und nicht, wie im Teutſchen,
weil ſeine Schweſter Aya bittend für ihre Enkel ihm zu
Füßen fällt. Er ſchickt den Genoſſen einen Boten zu,
daß ſie zurückkehren ſollten, er wolle nachgeben ihren
Wünſchen, und den Brüdern verzeihen; und als ſie darauf
wiederkommen, erklärt er, ſein Haß ſey ſo groß gegen
R., daß er ihn ſeines Stolzes wegen nicht ertragen
könne; wenn er Frieden mit ihm haben wolle, müſſe er
in ſchlechter Kleidung über’s Meer hinwandern, und
das Roß ausliefern; dann würde er ſeinen Brüdern ihr
Erbe wiedergeben. R. willigt ein, und wandert mit
Mal. nach Jeruſalem. Der König aber zieht ab nach
Lüttich, und als ſie auf der Maasbrücke angekommen
ſind, läßt er Bayard das gute Pferd vorführen, und
ſagt zu ihm: „Bayard, du haſt mich oft erzürnt, jetzt
aber will ich Rache an dir nehmen“. Er läßt ihm dar-
auf einen Stein an den Hals hängen, und ihn in die
Maas werfen, und Bayard geht unter. Als der König
das ſah, hatte er viele Freude, und ſagte: „Ich habe
was ich wollte; das Pferd iſt verdorben“. Bayard
aber ſchlug den Stein weg, gewann das Ufer, wieherte
laut, und dann fing er ſo ſchnell zu laufen an, daß
es ſchien, als ob der Blitz ihn vor ſich triebe, und ge-
wann den Ardennenwald. Carl wurde darüber
ſehr erzürnt, alle Barone aber waren ſehr erfreut darüber.
Viele Leute ſagen, Bayard ſey noch lebend im Ardennen-
wald, aber wenn er Menſchen ſehe, fliehe er, daß
man ſich ihm nie nähern könne. Dann folgen die
Abentheuer mit den Perſern vor Jeruſalem und in
Sicilien; weiter nach der Rückkehr R. in ſein Vaterland
ein Kampf ſeiner Kinder mit den Nachkommen Ganelons,
und endlich ſein Martyrthum und ſeine Wunderwerke,
wie ſie auch das Teutſche, aber diesmal weitläuftiger,
erzählt Das franzöſiſche Volksbuch ſcheint ausgegangen zu ſeyn
aus der Antwerper Ausgabe der Heymonskinder vom
Jahre 1561, die 118 Quartblätter ſtark, aber ohne Titel-
blatt vor mir liegt. In der Dedication à très-vertueux
personnage Gerard Hesselt, Marchant en la ville d’Anvers,
ſagt der Verleger Jean Waesberghe, der alſo auch der
Bearbeiter zu ſeyn ſcheint: Mestant tombee entre mains,
depuis quelque temps, l’histoire des quatre fils Aymon,
discours autant beau et recreatif, pour l’antiquité d’iceluy,
qu’autre qui se trouve de pareille estouffe: au reste si cor-
rompue et deprauée, partie par l’injure du temps, partie
aussi par la negligence des hommes, qu’il eut fallu un autre
Apollo à deviner le sens d’icelle. Ce que voyant, et afin
que la memoire de si hauts et heroiques faits et prouêsses,
ne se tournast en oubliance, j’ai bien voulie prendre la
peine de r’adresser et restituer en son entier l’histoire sus-
diete, au mieux qu’il m’a este possible, corrigeant plu-
sieurs grosses fautes quant aux sens, muant plusieurs voca-
bles et termes anciens preseritz et aboliz, brief faisant parler ces
anciens chevaliers nonveau langage et leur appropriant nou-
velle parure, à ce qu’étantz r’encontrez des Dames en cette
moderne guise, ils ne soyent tenuz pour etrangers, ain-
coys recueilliz et caressez dicelles, et signament de vous etc..
Man ſieht aus allem Beygebrachten, wie ein
Weſen und eine Seele innewohnt dem Gedichte in
einer und der andern Sprache; wie aber dies Weſen
in der freien Bearbeitung vielleicht dem Charakter der
beiden Nationen ſich gefügt, und daher bei den Fran-
zoſen zuſammenhängender, correcter, mehr gerundet,
und in redſeliger Begeiſterung gebohren, aber dafür in
etwas monoton, und geſchwätzig converſirend erſcheint,
während es im Teutſchen minder gelenk und gefügig
geworden iſt, derber und in der Form mehr ungeſchickt;
dafür aber was es im Allgemeinen eingebüßt, im Be-
ſondern wieder gewonnen hat, durch die geniale, kecke
Ungebundenheit, die die Kunſt mit feſtem Arm erfaßt,
und ſicher und geübt das Rechte immerfort ergreift
Beiden hat ein älteres Gedicht zum Grund gelegen, aus
dem ſie geſchöpft, und daß in ihnen ſich eben ſo in zwei
verſchiedne Richtungen entſchied, wie die beiden Na-
tionen, die in Carl verbunden waren, ſich in der
— Das Volksbuch trifft meiſt nun in allen Wendungen
der Worte mit dieſem überein, oft aber weicht es auch
willkührlich von ihm ab, und erlaubt ſich Abkürtzungen
und Zuſätze. Auf eine ähnliche Weiße ſcheint auch das
teutſche Buch von einem ſolchen alten beſonders am An-
fange ſchadhaften Manuſcripte ausgegangen zu ſeyn, und
dann durch mancherley Interpolationen und Auslaſſungen
die gegenwärtige Form erlangt zu haben.
Folge der Zeiten geſchieden haben. Man giebt gewöhn-
lich den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts als den
Zeitpunkt an, in dem die Heymonskinder gedichtet wor-
den ſeyen; indeſſen mögte ihre Entſtehung wohl in einer
noch entferntern Zeit geſucht werden müſſen. Betrachtet
man nämlich die verſchiednen romantiſchen Dichtungen,
die innerhalb dem Kreiſe der Heldengenoſſenſchaft und
um ihren Mittelpunkt, Carl den Großen, ſich bewegen,
dann ſieht man ſie durch eine beſtimmte Gränze geſchie-
den, um die ſie nach entgegengeſetzten Richtungen auch
einen entgegengeſetzten Character tragen. In der Hei-
ligſprechung Carls findet jene ſondernde Gränze ſich
gegeben. Vor dieſer Periode nämlich mußte der große
Mann mit ſeinen Zeitgenoſſen einer verwandten, rein
heroiſchen Zeit auch allein als Heros, als tapferer, kriege-
riſcher Regent erſcheinen. Sobald mehrere Jahrhunderte
über ihre Thaten ſich hergegoſſen, ſobald eine dämmernde
Ferne ſie umhüllt, da trat jene Erſcheinung ein, die
man am Meeres-Ufer bemerkt, und Mirage nennt;
wie die fernen Berge, losgeriſſen von der Erde, auf
dem Dufte ſchwebende Luftbilder hängen, ſo wurden
dieſe Thaten gleichfalls in die Höhen der Poeſie hin-
aufgeſpiegelt, und ein an ſich ſchon romantiſches Leben,
wurde vollends zum Heldenromane ausgedichtet. So
mußten daher dieſe erſten Gedichte durchaus einen
profanen Character tragen; die Geſchichte war zur
Fabel geworden, aber die Fabel galt auch als Geſchichte,
und weilte daher durchaus im Kreiſe des Individuellen
und Menſchlichen. Anderſt hingegen in der ſpätern
Zeit. Gegen das Ende des eilften Jahrhunderts war
im weſtlichen Europa die Geſchichte reif geworden; die
Religion, die tief und ſtark in dem Einzelnen wohnte,
erhob ſich auch im Ganzen, und gewann ein großes
äußeres Weltverhältniß; es erwachte ein enthuſiaſtiſch
religiöſer Geiſt in allen Völkern, und er trat auch auſ-
ſenhin kämpfend dem Heydenthum entgegen. So be-
gannen um dieſelbe Periode die Kreuzzüge. Die Kämpf-
enden wollten für ihren Enthuſiasm eine Mythe ha-
ben, die neue Zeit eine eigene Aera, die Aera einen
Anfangspunkt, und der religiöſe Heroism einen religiö-
ſen Helden, und ſie fanden ihn in Carl dem Großen,
der früher ſchon den Kampf beſtanden hatte, und den
die Kirche zu ihrem Schützer ſich gewählt. Turpin hatte
in ſeiner Historia de vita Caroli magni et Ro-
landi, von der man allgemein glaubt, daß ſie um 1095
geſchrieben worden ſey, durch die Poeſie die Apotheoſe
eingeleitet, und die Kirche beſtätigte ſie, indem ſie den
alten Vogt von Rom durch Pabſt Hadrian um das
Jahr 1166 unter die Heiligen aufnahm. Nun mußte
die Dichtung, inſofern auch in ſie Carl als chriſtlicher
16.
Heros eindrang und fortlebte, nothwendig einen andern
Character annehmen. War er vorher ein Gegenſtand,
den man mit profaner Unbefangenheit behandelte, dem
man allenfalls wohl auch die Rolle eines untergeordneten
Gegenſatzes anvertrauen konnte, ſo mußte er hingegen
jetzt als der große Held des Glaubens durchaus groß,
heilig und ehrwürdig erſcheinen; er hatte aufgehört ein
Gegenſtand der Discuſſion zu ſeyn, die Kirche hatte
ihn allem Menſchlichen entrückt, und ſeine Geſchichte
war mit ihm ins Wunderland übergegangen. Jener
erſten Periode nun gehören die Heymonskinder an, Carl
iſt hier durchaus untergeordnete Perſon; ſtark durch
ſeine Macht als Individualität aber immer gegen den
Helden in den Hintergrund geſtellt; häufig in ſeiner
Unbehülflichkeit ein Gegenſtand des Witzes; von dem
Zauberer oft genarrt; wie jeder andere unheilige Menſch
der Macht der Schwarzkunſt untergeben, und von ihr
endlich gänzlich bemeiſtert und zum Gefangenen der
Brüder gemacht. In ſeinem Verhältniß zur Umgeb-
ung aber bricht durchhin eine ariſtokratiſche Oppoſition
hervor, die ſogar gewiſſermaßen zur Rationellen in der
ganzen Anlage des Gedichtes geworden zu ſeyn ſcheint,
das gar nicht ſeinen Ruhm und ſeine Ehre zum Ziele
hat, weil er beinahe überall den Kürzern zieht, und
wie bei Virgil der Accent nicht auf den Griechen,
ſondern auf den Trojanern liegt Es iſt eine merkwürdige, wohl zu beachtende Erſcheinung
um dieſe Oppoſition. Früher ſchon haben wir einen ähn-
lichen Gegenſatz des Heldenbuchs gegen die Nibelungen,
der Ritter von Veren gegen die Ritter vom Rheine
berührt, der wahrſcheinlich mit dem Gegenſatze der Gothen
und Hunnen gegen die germaniſchen Völker auf irgend
eine Weiſe zuſammenhängt: denn bekanntlich war Diete-
rich von Vern eine Zeitlang Herr von Rom, ein Gothe,
und ſein Land lag hinter Ungarn und Panonien, während
in den Nibelungen Attila und die Hunnen durchaus die unter-
geordnete Rolle ſpielen. Unläugbar iſt auch hier eine gleiche
Reaction angelegt. Schon im Leben erfuhr Carl der Große
eine Solche von Seiten der franzöſiſchen Barone, als er den
Gedanken faßte, ein occidentaliſches Kaiſerthum zu conſti-
tuiren, in dem Frankreich als untergeordnetes Nebenland
erſcheinen ſollte, und ſo iſt es ihm denn auch in der Dicht-
ung hier geworden. Offenbar ſpielt die Handlung im
Lager der Trojaner, die eben die Franken ſchon zu
Carls Zeiten, wie die Geſchichtſchreiber der Zeit berichten,
als ihre Stammeltern erkannten; das Leben und die
Kraft und die Bewegung iſt auf Seiten der Heymonskinder,
Carl aber gleichſam nur die Schranke, die nothwendige
Bedingung um dies Leben hervorzurufen: wie ein Berg
ſteht ſein Zorn und ſein Eigenſinn vor ihnen da, und dieſen
Berg haben die Brüder abzutragen. Die Hauptmaſſe des
Lichtes liegt überall auf den kämpfenden Heldenjünglingen;
der alte Kaiſer aber erſcheint eben ſo im Schatten des Hinter-
grundes, mächtig, ſtark und groß, aber ungewandt und
wenig gelenk, einem Elephanten gleich, der ſich mit einem. Anderſt hingegen
in den Gedichten, die auf jene Apotheoſe folgen; z. B.
dem Strickäre oder dem Puech von Chunich Carl und
von Rulant gemacht, wie ſie diu Heidenſchafft übernom-
men, und in dem Fragmente über den Krieg Carls des
Großen gegen die Sarazenen, das Schilter in ſeinem
Theſaurus mitgetheilt, die aus dem dreyzehnten Jahr-
hunderte ſind, und von denen man das Letzte dem
Wolfram von Eſchilbach zugeſchrieben. Hier erſcheint
Carl durchaus als Heiliger; als von Gott geſendet, das
Löwen in Kampf einläßt. Selbſi Roland, den die folgen-
den Dichtungen zu ihrem Helden gewählt, erſcheint in
einem zweideutigen Lichte; der Himmel muß auf Carls
Gebet eine Nebelwolke ſenden, um ihn Reynolds Stärke
zu entziehen. Was aber dieſe ganze Oppoſition eigentlich
begründet habe, mögte ſchwer auszumitteln ſeyn; ob
ſchon damals ſo frühe ſchon der Gegenſatz des franzöſiſchen
Characters mit dem Teutſchen hervorgetreten iſt; ob es
drückend für den galliſchen Grundſtamm der Nation war,
von einem exotiſchen teutſchen Geiſte beherrſcht zu werden,
und er ſich nun reagirend in der ſpätern Zeit gegen dies
drückende Gefühl gewaffnet habe durch die Poeſie, oder
was ſonſt die nächſte Veranlaſſung war: auf jeden Fall
iſt die Erſcheinung nicht leicht zufällig und ohne tiefern
Grund. Uebrigens giebt der opponirende Geiſt ſich ſehr be-
ſcheiden zu erkennen, überall werden die Lehenspflichten,
ſelbſt in der Hitze des Kampfes, geehrt; der eigne
Vater ſtreitet deswegen, ſeinem Schwur gerreu, gegen
die Söhne; Carls Befehl hemmt einmal plötzlich das
Gefecht, und am Ende geht er immer gewiſſermaßen
ſiegreich aus dem Kampfe, indem zu ſeiner Genugthuung
das Roß ihm übergeben wird, und ſein Gegner das
Land verläßt.
Heidenthum auszurotten; als der Prophet der neuen
Zeit, den der Himmel dem falſchen Mahomet entgegen
geſetzt, und den er mit Wunderzeichen in ſeiner Sen-
dung unterſtützt.
Das wir ewiglich müſſen ſehen,
Wie ſante Charl ſey geſchehen.
So endet das Gedicht. Als Menſch aber tritt er
durchaus groß auf, und königlich, und in ſeinem tiefen
Schmerz um Rolands Tod noch erhaben und ehrwür-
dig. Die zwölf Genoſſen um ihn her aber ſind die
Apoſtel, die der Himmel ihm zugeſellt, eine Helden-
jüngerſchaft, die mit dem Schwerdte das Evangelium
gegen die Unglaubigen verkündigen; der falſche Gane-
lon, der in dem ältern Gedichte nur als tükiſch, bös-
artiger Menſch erſcheint, wird hier zum Verräther Ju-
das, der die Religion und ihre Vertheidiger um die
Silberlinge verkauft. Dabey iſt aller Trotz und alle
Perſönlichkeit der Kämpfer aufgegangen in die hohe
Idee, die ſie beſeelt. Alle ſind ein Wille nur, und ein
Arm und des Armes Haupt iſt denn der König, in Ih-
nen aber lebt des Himmels Kraft, und was ſie vermögen
kömmt ihnen von oben herab, und alle ihre Tha-
ten ſind Wunderwerke, und ſie wiſſen, daß Gott in
ihnen wirkt, und daß ſie ohne ihn ohnmächtig ſind und
ihre Stärke nichtig iſt Man hat auch dieſem Gedichte, wie ſo vielen Andern aus
der alten Zeit, weniger Aufmerkſamkeit zugewendet, als
es verdient. Es iſt nicht zu läugnen, daß die reine Nackt-
heit der Umriſſe auch hier häufig unter dem Ueberfluſſe
eines oft ſteifen Gewandes ſich verſteckt; daß wir ſtatt
der ſchönen Formen ſcharf gebrochne Falten ſehen: allein
es hat auch unläugbar etwas Großes in der ganzen Anlage,
und viele Schönheiten in der Ausführung. Es iſt dabei
ganz unläugbar, daß es den Nibelungen nachgebildet iſt.
Die ganze Fortſchreitung der Handlung, wie die Chriſten
mit den Sarazenen im Thale Runzefal kämpfen, wie
dieſe immer neue Haufen ſenden, Hunderttauſende nach
Hunderrtauſenden; wie die Chriſten ſie Alle niedermachen,
und Marſilie die Gebliebenen mit neuen Haufen immerfort
verſtärkt; wie daher die Chriſten nach und nach zuſam-
menſchmelzen, bis endlich nur noch ſechzig übrig ſind, die
nun, nachdem neue Heidenhaufen andrängen, endlich
Alle bis auf den Biſchoff Turpin und Roland bleiben,
und wie dann, nachdem die Heiden flohen, Roland dem
Biſchoff die Riemen entband, „und hueb ihm den Helm
abe, da gewann er großer Ungehabe, Im viel das haubt
von einander, alreſt do bevand er, das er zu tode was
erſlagen“, und wie nun endlich auch Roland aus Er-
ſchöpfung ſtirbt, — Alles das errinnert unverkennbar an
Chriemhildens Rache und das Blutbad in Etzels Pallaſt.
Die folgende Szene, wie die Todten betrauert und begraben
werden; die Ausbrüche des Schmerzes in Carl, um Ro-
lands Tod; wie er Boten an ſeine Gattinn ſendet, die
ihr aber den Tod Rolands verbergen ſollen, weil er ſie an
Kindesſtatt annehmen will, — Alles das ſteht in eben. So wird daher das eigent-
liche Heldengedicht hier durchaus mythiſch, es reißt ſich
von der Erde los, und ſchwebt einer glänzenden Him-
melserſcheinung gleich in Lüften. So würden daher
die Heymonskinder dieſer Anſicht gemäß durchaus in
jene erſte frühere Periode fallen, und dafür ſcheint
auch ihr ganzes maſſives, rauhes, ſtrenges und ſchlich-
tes Weſen zu ſprechen: das Gedicht in ſeiner modernen
ſolchen Beziehungen der Aehnlichkeit und Analogie zur
Klage. Der neuere Urſprung des Gedichtes aber, wenn
er ſonſt noch irgend zweifelhaft wäre, würde aus dem Ein-
dringen der Ideen aus dem Alexander und den orientaliſchen
Sagen in daſſelbe unmittelbar ſich erweiſen laſſen. Unter
den Heidenkönigen, die dem Marſilies zur Hülfe kommen,
iſt auch:
Der Chunich von Funde
Die mueſſen als Hunde
Die Erden alles anſehen,
In ſtat das hiren an der Bruſt.
Weiterhin:
Ein Chunich chom auch ins lant,
Der was Czernoles genannt,
Das leut in ſeinem reiche,
Die lebent ſo revuelleiche,
Das ir Gott nit enruhet,
Er hat die ſunnen da verfluhet,
Das ſi in ihr lant nie geſchein,
Noch aus ir erde nie vechelein,
Weder chorn noch weinreben,
Desn will in Got do niht geben
Holtz Erde und ſtaine,
Zerſtörung ſteht wie eine alte, verwitterte Mauer da,
von Epheu überwachſen, gerade in den ſtärckſten Par-
thien allein der Zerſtörung der Zeit entgangen. Was
aber die Sprache jenes Gedichtes betrifft, ſo wird, da
die franzöſiſche oder romantiſche Sprache vor der
Hälfte des zwölften Jahrhunderts nicht in die Poeſie
eingedrungen iſt, allein die Lateiniſche oder die Teut-
ſche übrig bleiben, in denen, vorzüglich in der erſten,
die Poeſie um dieſe Zeit am häufigſten ſich offenbarte. Man-
ches würde allerdings für das Teutſche ſprechen, ſo
z. B. daß Reinolds gutes Schwerd Flammberg im
franzöſiſchen Volksbuch heißt; ferner die Namen der
Brüder ſelbſt, die durchaus teutſchen Urſprungs ſind,
bis auf Writſart, oder Wiſchart der Schnelle, der im
Franzöſiſchen zum Guichard geworden iſt — cui prop-
ter sensus agiles, animique vigorem, cognomen
Iſt da ſwartz as gemaine,
Do iſt niht den holtz und mos,
Si eſſent niht wen di Ros,
Und lebent mit unſinne,
Da wonet der tevvel inne.
Offenbar dieſelbe Schilderung, die die ſpätern Berichte
von der nördlichen Tartarey und den Tartarn uns geben.
Einmal auch iſt Alexander ſelbſt citirt: Lebt der wunder-
leich Alexander, wolt er darninder dringen, er mecht
leicht übel gedingen.
guiscardus erat — und noch Manches ſonſt, wenn
nicht andere Namen im teutſchen Buche wieder eben
ſo auf einen lateiniſchen Urſprung deuteten, z. B.
Montalban, Malagys, und nicht eben jene früher an-
gedeutete Oppoſition auch einen franzöſiſchen
Urſprung mehr als wahrſcheinlich machte. Auf jeden
Fall iſt das urſprüngliche Werk wohl untergegangen,
und was davon bis auf uns gekommen iſt, mögte etwa
im Ganzen in demſelben Verhältniß zu ihm ſtehen,
in dem das gegenwärtige Heldenbuch zu den alten Bü-
chern ſteht, aus denen es genommen wurde. Alle
franzöſiſche Bearbeitungen des Gedichtes beziehen ſich zuletzt
auf die Histoire du noble et vaillant chevalier Reg-
nault de Montauban, ou histoire de quatre fils
Aymon presentes a Charlemagne Fol. ohne Jahrs-
zahl, dann 1508 in 4, dann Lyon 1573, 1583 4, wor-
aus denn nach und nach das gegenwärtige Volksbuch
geworden iſt. Das teutſche Volksbuch hingegen ſcheint
von der alten Ueberſetzung ausgegangen zu ſeyn, die
den Titel: Eyn ſchön luſtig Geſchicht, wie Keyſer Karle
der Große, vier Gebrüder Hertzog Aymont von Dor-
dens Sün ſechzehn jar lang bekrieget ꝛc. Sicmmern
1535 Fol. führt, wenigſtens verrathen einzelne Ueber-
reſte der alten Sprache, z. B. einmal Kopf ſtatt Be-
cher im Volksbuch, daß es aus dem altteutſchen und
17.
nicht von nenem aus dem Franzöſiſchen überſetzt wor-
den iſt. Die Fortſetzung des Gedichtes les Provesses
et Vaillances du redoute Mabrian, lequel fut roy
de jerusalem, et de l’inde la majour apres la
mort du Roy Yuon son pere, fils de Regnaut
de Montaban. Semblable les faits et gestes des
quatre fils Aymon et de leur cousin maugis.
Ensemble la mort et martyre d’iceux. a Troyes
chez N. Oudot 1625, auch Paris 1525, iſt durch-
aus neuern Urſprungs. Malagys wird Pabſt, lader
Carln nach Rom zur Salbung, und läßt vorher in
dem Zimmer, das er bewohnen ſoll, alle die Streiche
mahlen, die er früher ihm geſpielt; Carl kömmt mit
allen Pairs, und dem Verräther Ganelon, und erſtaunt
über die Bilder, beichtet dem Pabſt ſeine unverſöhn-
liche Feindſchaft gegen Malagys, der ihm nun die Abſolu-
tion verweigert, wenn er ihm nicht verzeihe; er entdeckt
ſich ihm dann; Carl, höchſt aufgebracht, bietet auf Ganelons
Anſtiften zur Verſöhnung nur auf die Bedingung die
Hand, daß er ſich in geſchmolzen Blei nackend ſtürzt.
Er legt dann das Pabſtthum nieder, zieht gegen die
Sarazenen, nimmt Neapel ein; es entſteht aber durch
Ganelon ein neuer Krieg zwiſchen Carl und den drei
Heymonskindern; Malagys und die Brüder werden end-
lich von der Uebermacht auf einen Felſen hingetrieben,
und am Ende in einer Höhle mit Rauch erſtickt. Dann
tritt der Orientalism, der im Strickäre nur leicht erſt
angedeutet war, völlig hervor; die ganze Geſchichte
Mabrians lößt ſich in Feenweſen auf; die Magnetfel-
ſen kehren wieder, an denen die Schiffe ſcheitern; eben
ſo die Greiffe, das Land des Prieſter Johannes, Groß-
und Kleinindien, die Rieſen u. ſ. w. Am Ende des
erſten Theiles ſteht: Cy fini le premier volume de
Mabrian composé par maistre Guy Bouuain
lieutnant de Chasteau Roux en Berry, ohne das
Jahr der Verfertigung, das wahrſcheinlich ins fünf-
zehnte Jahrhundert fällt. Die Heymonskinber ſelbſt
ſind übrigens auch in die ſpaniſche Sprache übertragen,
unter dem Titel: Libro primo del nobile e strenuo
cavaliero rinaldo di montalbano. In perpiniano
in casa di sanson Arbus, 1585. fol.
17.
Kayſer Octavianus, das iſt eine ſchoͤne und an-
muthige Hiſtory, wie Kayſer Octavianus
ſein Ehegemahl ſamt zwey Soͤhnen in das
Elend verſchicket hat. Und wie ſelbige
wunderbarlicher Weiß bey dem frommen
Koͤnig Dagoberto wiederum zuſammen kom-
men ſeynd. Aus der franzoͤſiſchen Sprache
in die Hochteutſche uͤberſetzt. Ganz neu
gedruckt. Nuͤrnberg.
Durch Tieks treffliche Bearbeitung iſt dies Buch nun
auch in die höheren Kreiſe eingeführt. Die feſte, etwas un-
förmliche Maſſe, die wie eine Irmenſäule auf den Märkten
ſtand, hat der Dichter rein ausgeformt und geglättet,
und der innere Geiſt des Bildes iſt nun frei geworden,
und der formloſe Rumpf der Herme hat zu Gliedmaßen
ſich gerundet, und das Leben hat ſich völlig von der
Materie losgeriſſen. Aber keineswegs hat er dem
Werke Gewalt angethan; die ganze Fabel hat er in die
Palingeneſie aufgenommen; ganze Parthien ſind ihrem
Weſen nach ungeändert geblieben; die Charactere hat
er, wie das Volksbuch ſie angedeutet, nur ausgeführt
und in ſich vollendet: die Kaiſerin, Florenz, Lion,
Marcibilla, den Sultan, — Alle erkennt man in ihren
Elementen wieder, beſonders den gutherzig-comiſchen
Clemens fand der Dichter am meiſten ausgeführt, und
er hat ihn daher auch unverändert in ſeiner alten Form
gelaſſen. Und nicht unwerth war das Buch der Sorg-
falt, mit der es in dieſer neuen Geſtalt wiedergebohren
wurde; es iſt parthienweiſe unendlich trefflich und
vollendet, und wenn man es an einzelnen Stellen zur
proſaiſchen Rüchternheit ſinken ſieht, dann muß man
ſich errinnern, wie nahe in jenen Zeiten Poeſie und
Proſa aneinander gränzten, wie den einfachen Menſchen
die Proſa ſelbſt wunderbar und als Poeſie erſchien;
wie aber dagegen auch die Poeſie ganz die Proſa des
Lebens durchdrang. Der Jugend iſt die ganze Welt
ein großer Traum; die Gegenſtände ſind mit brennenden
Regenbogen noch umgürtet, die ganze Ratur ein großer
Frühling, in dem Alles blüht, was ſonſt nicht Blüthe
trägt; ſpäter erſt ſcheiden ſich die Jahrszeiten, und die
nackten Zweige, die die Blüthen tragen, treten auch
hervor, und in den Zweigen die Gefäße und die Saft-
röhren, und der Nahrungsapparat, aus dem Alles
geworden iſt.
Der Octavianus iſt ohne Zweifel wohl franzöſiſchen Ur-
ſprungs, und das Volksbuch bezieht ſich auf eine ältere
Ausgabe zurück, die unter dem Ramen: Ein ſchöne
und kurzweilige Hiſtori, von Keyſer Octaviano, ſeinem
Weib und zweyen Sönen, wie die in das ellend ver-
ſchickt, und wunderbarlich in Frankreich bey dem
frommen Künig Dagoberto widerumb zuſammen kom-
men ſeind. Newlich aus franzöſiſcher ſprach in Teutſch
verdollmetſcht. Gedruckt zu Straßburg bey Jacob Fröh-
lich im Jahr 1548, in 4. erſchienen iſt Vaur in ſeiner Bibliotheca libr. rar. führt eine noch ältere
Ausgabe unter dem Titel: Hiſtori von dem Keyſer Octa-
viano, ſeinem Weib und zweyen Sünen; uß frantz.
Sprach in teutſch verdollmetſcht Straßburg 1535.. In der
Vorrede heißt es: „Darum hab ich Wilhelm Salzmann
mich gefliſſen diſe Hiſtori an den Tag zu bringen, wie-
wohl die vor langen zeiten von den gelerten iſt zu latein
geſchriben, darnach über lang in franzöſiſche Zungen
bracht“. Wörtlich genau ſtimmt bis auf einige moder-
niſirte Wörter das teutſche Volksbuch mit dieſer Schrift
zuſammen, die auch unter dem Namen Florent et
Lyon längſt ſchon in Troyes gedruckt, und Volksbuch
geworden iſt. Der Roman ſelbſt aber gehört dem Kreiſe
der romantiſchen Dichtungen von Carl dem Großen,
und zwar der zweiten Periode, an. Sobald nämlich
Carl zum Helden der neuern Poeſie geworden war, trat
er durch ſeine Perſon nicht allein in dieſelbe ein, ſondern
man entwarf auch rückwärts einen eignen großen
Heldenſtammbaum, durch den man ihn mit Conſtantin
durch eine ganze Reihe von Heroen in Verbindung
brachte, aus der ſich denn die Romantiker die Gegen-
ſtände ihrer Bearbeitung wählten, oder die ſie vielmehr
eben durch ihre Dichtungen begründeten. In dieſem
Regiſter, das Quadrio in ſeiner Storia d’ogni poesia
mittheilt, kömmt denn auch Folgendes vor, das wahr-
ſcheinlich mit dem Octavianus in einigem Zuſammen-
hange ſieht: Fioravante nahm Duſſolina, die Tochter
des Balunte, Königs von Scondia, zur Ehe, aus der
einerſeits Octavianus vom Löwen und Giberto wilden
Angeſichts (fier visaggio) gebohren wurden. Octa-
vianus vom Löwen folgte dem Balunte im Königreich
Scondia, vermählte ſich mit Angaria, der Tochter des
Sultans von Babylon, und erzeugte mit ihr den Boveto.
Giberto aber nahm Sibilla, Königinn von Articano, zur
Ehe, aus der Michel gebohren wurde, von dieſem
Conſtantin, dann Pipin, endlich Carolus magnus.
Wenn man die Willkühr in den Calcul bringt, mit der
alle Dichter dieſer Zeit die Fabel zu ihren Zwecken
behandelten, dann mögte man wohl im Octavianus
vom Löwen den Lyon des Gedichtes, im Giberto aber
den Florenz deſſelben finden, wobei dann Sibilla die
Marcibilla des Romanes, und Michel der Wilhelm
wäre. Daß aber das Buch in die zweyte Periode, alſo
dieſſeits des zwölften Jahrhunders, fällt, beweiſ’t ſich,
wenn man auch den Ton des Ganzen nicht als Grund
gelten laſſen wollte, durch die Erwähnung des Artus, da
wo Florens nämlich ausreitet, um den Rieſen zu be-
kämpfen, da rufen einige mit ſpöttigen Worten: „Es
iſt freylich Artus Geſellen einer, oder aus ſeiner
Ritterſchafft, wölche was ſye traffen, müßt alles zu
grund gehen“. Wenn aber die Romane von Artus, wie man
allgemein annimmt, aus der Historia Britonum des G. von
Montmouth, geſchrieben von 1128—1138, ausgegangen
ſind, dann können dergleichen Beziehungen nicht jenſeits
des zwölften Jahrhunderts vorkommen. Noch mehr
aber ſpricht für das jüngere Alter des Gedichtes die
Erwähnung des Geſchützes, indem es bey der Beſchreib-
ung, wie ſie von Paris ausgerückt zur Bekämpfung der
Sarazenen, heißt: „Die Fußknecht zum erſten, darnach
der reyſige zeug, aber kein Geſchütz, dann die Kunſt
des Schießens ware zu derſelbigen zeit noch nicht
erfunden.“
18.
Eine ſchoͤne, anmuthige und leſenswuͤrdige Hi-
ſtorie von der geduldigen Helena, Tochter
des Kaiſer Antonii, welche in aller Gedult
ſo viele Trangſalen und Widerwaͤrtigkeiten
mit hoͤchſter Leidſamkeit und Staͤrke ſowohl
bey Hofe, als in ihrer 22jaͤhrigen Wan-
derſchaft ausgeſtanden. Allen Weibsperſonen
zum Beyſpiel, denen kurioͤſen Liebhabern
aber zum Schroͤcken in Druck gegeben. Koͤln
am Rhein und Nuͤrnberg.
Der Roman gründet ſich auf ein älteres Gedicht
unter dem Titel: Von eines Küniges Tochter von
Frankreich ein hübſches Leſen, wie der Künig ſie ſelb
zu d’ Ee wolt hon, des ſie doch got vor im behüt, und
darumb ſie vil trübſal und not erlidt. zu letſt ein
Küngin in Engellant ward. Cin großes epiſches Ge-
dicht in 72 Quartblättern. Es erzählt davon, wie ein
König von Frankreich ſeine Tochter zur Ehe nehmen
wollte, wie ſie deswegen allein in einem Schifflein ſich
flüchtete, und nach Engelland getrieben wurde, wo
der König ſie liebgewann, und ſie zu ſeiner Gemahlinn
machte. Wie ſie dann, als er zu einem Feldzug gegen die
Schotten auszog, mit einem Sohne niederkam,
und wie als der Marſchall, deſſen Hut ſie anbefohlen
war, dem Könige Nachricht davon ſandte, ſeine Mutter
den Boten aufhielt, und ihm an die Stelle von des
Marſchalls Brief einen Andern unterſchob, worin ſie ihn
erzählen ließ, die Königinn ſey mit einem Ungethüm,
halb Thier halb Menſch, niedergekommen; wie ſie
dann bey der Rückkehr des Boten die Antwort abermal
verfälſchte, und dem Marſchall im Namen des
18.
Königs befahl, die Königinn mit dem Kinde zu verbren-
nen; wie der Marſchall dann an ihrer Stelle ein großes
und ein kleines Kalb verbrannte, und ſie mit dem
Kinde in daſſelbe Schifflein ſetzte, auf dem ſie herge-
kommen war. Nach vielen ausgeſtandenen Mühſelig-
keiten gelangt die Vertriebene endlich nach Rom;
nimmt dort bei einem römiſchen Bürger Dienſte, dem
ſie das Vieh und die übrigen Hausgeſchäfte beſorgt;
wobei nach einiger Zeit der Pabſt ihren Sohn liebge-
winnt, ihn zu ſich nimmt und ihm Land und Leute
ſchenkt, und endlich als die Könige von Engelland und
Frankreich, Beide ihrer Sünden wegen, — jener weil
er ſeine Mutter verbrannt hatte, dieſer weil er ſeiner
Tochter Gewalt anthun wollen, — nach Rom gekom-
men waren, um Abſolution bei ihm zu gewinnen,
geſchieht die Wiedererkennung, und die Könige führen
in Freuden die Wiedergefundene nach Hauſe. Das
Gedicht, wohl 15000 gereimte Verſe ſtark, tfi mit vieler
Geläufigkeit und Freiheit in der Form gedichtet, und
mit aller der Naivität und Einfalt dargeſtellt, die alle
Werke jener frühern Zeit bezeichnen. Die HandluugHandlung,
die durch das Ganze geht, iſt ohne große Verwicklungen
angelegt, ſo daß ſie gegen das Ende ſogar ganz in das
Hiſtoriſche der Chronik ſich verliert. Der Character des
Königs von Engelland iſt recht brav gehalten, treu,
edel, königlich, liebend, entſchloſſen, kräftig, und doch
weich, unbiegſamen Sinnes ohne alle Härte; die
Königinn zart, demüthig, unverzagt, fromm und gut;
der Marſchall aber vor Allen trefflich: die ganze ehrliche,
biedere Treuherzigkeit der Zeit vereinigt ſich in ihm,
und ein gar fromm Gemüth, von allem Truge frei,
giebt ſich an ihm zu erkennen. Ueber dem Ganzen ruht
der altväterliche, einfältigliche Hausgeiſt, der die
früheren Jahrhunderte überſchwebt; ein wunderlich
ruhig, träumend Weſen, wo es beinahe ſcheint, als
hätte die allgemeine Weltpoeſie noch nicht in Menſchen-
formen ſich geſtaltet, ſondern irrte geiſterfrei umher,
leiſe ſingend und intonirend, und ſuchte Materie auf,
in der ſie ſich geſtalten könnte, wie der junge Bienen-
ſchwarm, der ſich eine Wohnung ſucht. Es iſt eine
unendliche Feierlichkeit und eine beinahe ſchmerzhafte
Rührung in dieſer Unbeholfenheit, in der Geiſt im
Ueberfluß vorhanden iſt, aber das Werkzeug noch nicht
gebildet. Wie ein Menſch aus der Erde hervorbrechend,
der aber mit den Gliedmaßen zur Hälfte noch von der
Haltenden, Faſſenden befangen iſt, und nun unmuthig
die Flügel ſchwingt, daß die Feſſeln ihn nicht laſſen
wollen, ſo iſt die ganze Poeſie dieſer Zeit, mehr ein
Ausathmen des Gemüthes, als ein Ausſprechen. Am
Ende des Gedichtes heißt’s:
Als man ſchreibt tuſent und vierhundert jar,
Und zwen Monat ſag ich euch fürwar,
Da kam an den Tag die geſchicht.
Weiterhin:
Der Dyß büchlin dann on turen,
Alſo hat gebracht in figuren,
Den ſchliß in deiner Felden ſchrin,
Das helff mir Junckfrow ſant Kathrin,
Getruckt und ſeliclich geendt
Durch Grüninger als man in nennt
Im tuſent und fünfhundert jar,
Uff Gburt Marie das iſt war.
Das Volksbuch hat noch viele Ueberreſte von der
ſchönen naiven Einfalt des Gedichtes behalten, obgleich
in ihm der Plan weſentlich abgeändert iſt. Der
König von Frankreich erſcheint hier als Kaiſer Antonius
von Conſtantinopel; der Pabſt wird zum Patriarchen
von Neapel, und mit der urſprünglichen Fabel ſind
nun noch mehrere Begebenheiten verflochten, die dem
einfachen Gedichte fehlen. Die Königinn gebärt zwei
Söhne, die ihr in der Folge in einer Wildniß von
einem Löwen und einem Wolfe entführt, und von
einem Eremiten wieder gerettet werden. Helena wird
vor ihrer Vertreibung die Hand abgehauen, und für
ſie verbrennt ſich freiwillig die Nichte des Herzogs von
Gloceſter, der hier die Rolle des Marſchalls übernom-
men hat. Nach vielen Abentheuern treffen endlich die
verbundenen Könige die Unglückliche mit ihren beiden
Kindern in Tours. Noch verwickelter laufen die Be-
gebenheiten in dem gleichnamigen franzöſiſchen Volks-
buche durcheinander: Histoire de la belle Heleine
de Constantinople Mère de St. Martin de Tours
en Tourraine et de St. Brice son frére. A Troyes
chez Garnerin. — Le temps vint, que la reine
accoucha d’une fille, qui eut nom Heleine. Quand
elle eut quinze ans, sa mère trepassa. Et lors-
que le roi eut été veuf quelque temps, il eut en
volonté, d’avoir sa fille en mariage, car il n’en
trouvoit point de si belle, que sa femme et sa
fille. Il lui en parla, dont elle fut ebahie, et se
jetta a genoux devant son père en pleurant, en
le priant, qu’il s’avisa et qu’il y avoit assez
d’autres femmes sans elle. Il lui dit, qu’il n’en
vouloit point d’autre. Et Heleine lui dit, qu’elle
se laisseroit plutot trancher les membres, que
de souffrir cela, quelle aimoit mieux courroucer
son père, que son createur. In dieſem Tone, in
dem noch etwas von der Naivetät der ältern Sprache
ſich aufbewahrt hat, geht es fort und fort durch’s ganze
Buch, mit überſchwenglicher, nie ermattender, kaum
Athem ſchöpfender Redſeligkeit. Abentheuer folgt auf
Abentheuer; ein heidniſcher Gott von Erz, aus dem
der Teufel ſpricht in Beyern; Sarazenen überall zu
Hunderttauſenden erſchlagen, vier Könige reiſen eigends
zu dieſem Zweck von Schlacht zu Schlacht, und von
einer Belagerung zur Andern; Jeruſalem wird einge-
nommen; König Clovis läßt ſich taufen; einer der
Könige wird von den Heiden gekreuzigt, der ſarazeniſche
Bluthund aber dafür von Gott in Staub zerſchlagen,
und die Zuſchauer werden ſchwarz wie Kohlen, an der
Stelle aber, wo das Kreutz geſtanden, ſteigt in einer
Nacht eine große Kirche mit zehn Altären, und über
dem Hauptaltar der Körper des heiligen Königs auf,
und die Glocken fangen am Morgen an von ſelbſt zu
läuten; — dann eilt die Handlung wieder weiter;
überall werden Heiden getödtet und bekehrt, Rieſen
erſchlagen, Mauern erſtiegen, dann wieder Kinder
ausgeſetzt. Von Seite 46—84 gehen dieſe athemloſen
Abentheuer ununterbrochen fort; dem teutſchen Ueber-
ſetzer, der ſonſt ziemlich an ſein Original ſich gehalten
hat, mußte g außen vor dieſer Volubilität, er hat das
Alles daher rein weggeſtrichen, wodurch freilich der
Gang der Geſchichte an vielen Orten ſichtbar verſtüm-
melt, und ohne Zuſammenhang erſcheint. In kurzen,
leichten Sätzen hüpft dabei das Buch, wie alle fran-
zöſiſchen Volksbücher ſchnellfüßig daher; Alle ſind nicht ſo
planlos wie die Teutſchen, ſondern zu einem beſtimmten
Zwecke für den nationellen Stolz geſchrieben; überall
ſind’s nos gens, die Thaten und Wunder wirken;
überall iſt die eigene Ration auf Koſten der Uebrigen
hervorgehoben, und dabei das Ganze häufig mit mora-
liſchen Reflexionen ausgeſtattet Mehr als irgend ein Anderes ſpiegelt dieſen Geiſt die Hi-
stoire de Jean de Paris, Rol de France, Troyes. Der Stoff
dieſes kleinen Romanes iſt aus einer Erzählung der Gesta
romanorum genommen, und die kleine Novelle iſt nun
ausgeſponnen mit unſäglich gutmüthiger Schwatzhaftig-
keit, und aufgeblaſen mit einer köſtlichen Windbeuteley,
einer gar naiven Nationalhoffart, und erſcheint nun in
ſeiner prahlenden Großthuerey als die reinſte Gasconade,
die irgend ein Volk beſitzt. Es war einmal ein König
in Frankreich, klug und mächtig; der hatte einen Sohn,
drei Jahr alt, der hieß Jean, und war mächtig durch ſei-
nen Adel, denn um dieſe Zeit wußte man nichts vom Krieg
in Frankreich. Eines Tags, wie der König mit ſeinem
Hofe im Pallaſt war, kömmt der König von Spanien,
und wirft ſich mit Thränen und Wehklagen zu ſeinen
Füßen; wie das der König von Frankreich ſieht, ſagt er
zu ihm: „lieber Schwager und Freund! mäßigt euern
Schmerz, bis wir ſeine Urſache wiſſen, denn wir werden
euch mit all unſerer Macht unterſtützen!“ „Sire, ſagt
der König von Spanien, ich danke euch ergebenſt für das
gnädige Anerbieten, deſſen ihr mich gewürdigt habt, weil. Es geht übrigens
von einer ältern Schrifft gleichen Titels aus, die zu
Paris in 4. mit gothiſchen Characteren gedruckt war,
ihr und euere Vorfahren immer Beſchützer der königlichen
Würde, des Adels und des Rechts geweſen ſeyd, darum
bin ich zu euch gekommen, um euch von meinem Unglück
zu unterrichten.“ So beginnt das Buch in aller Beſchei-
denheit. Der Spanier klagt dann, wie ſeine Granden ihn
vertrieben, und die Königinn in Segovia belagern; der Kö-
nig ſagt ihm Hülfe zu, zieht mit einer Armee nach Spa-
nien, und unterwirft die widerſpänſtigen Barone ihrem
König wieder. Beim Abſchied nimmt die Königinn ihre
halbjährige Tochter auf den Arm, und empfiehlt ſie für
die Zukunft dem Schutze des Königs von Frankreich mit
vielen demuthsvollen Ausdrücken; und da heißt’s: wie
der König ihre große Demuth erblickt, hat er Mitleiden
mit ihnen und ſagt: „Freunde! ich danke euch für die
große Zuneigung, die ihr für mich habt, wißt daß euere
Tochter nicht auszuſchlagen iſt, wenn Gott meinem Sohn
die Gnade giebt, daß er zu reifen Jahren kömmt, dann
verſpreche ich, daß mein Sohn keine Andere als euere
Tochter haben ſoll!“ „Sire! ſagt die Königinn, glaubt
nicht, daß wir, mein Herr Gemahl und ich ſo eingebildet
ſind, daß was wir geſagt haben, dahin zielte, daß ihr
ſie für euern Sohn nehmen ſolltet, ſondern allein für ei-
nen euerer Barone, denn es wäre zu viel Ehre, daß ihr
derſelben euern Sohn gäbet, um ſo mehr, da wirs nicht
verdient haben!“ „Einmal für allemal, ſagt der König,
es iſt geſagt, und wenn es Gott gefällt, daß wir beim
Leben bleiben, dann werden wir mehr davon ſprechen.“
Der König kehrt zurück, ſtirbt, und als die Tochter fünf-
zehn Jahr alt geworden war, hält der von Engelland
um ſie an, ſie wird ihm bewilligt, und der Graf von
Lancaſter verſpricht ſich mit ihr im Namen des Königs.
die ſich denn wieder zurückbezieht auf ein älteres Ma-
nuſcript in Verſen, das ſich in der Pariſer Bibliothek
in Folio und in 4to findet.
Nach vier Monathen ſoll die feyerliche Vermählung ſeyn
Der König von Engelland landet zu dem Zwecke mit
fünfhundert Pferden in der Normandie, und geht vorher
nach Paris, um dort Goldſtoffe einzukaufen, weil er der-
en nicht genug in ſeinem Lande findet. Die Königin von
Frankreich erinnert nun ihren Sohn an das alte Verſprech-
en der Spanier, und ſtellt ihm vor, daß es ungeziemend
wäre, wenn er von einem andern ſich den Rang ablaufen
laſſen wollte. Der Prinz geht in ihren Wunſch ein, und
entwirft einen Plan, den er dabei verfolgen will. Er
ſammelt eine Armee von 2000 der Vornehmſten des König-
reichs, und 4000 Bogenſchützen, ſammt allem Nöthigen,
Wagen und Gepäcke, und ſender ſie voraus nach Spanien,
er ſelbſt ſetzt ſich an die Spitze der vornehmſten und ſchön-
ſten Barone, und von hundert andern der ausgeſuchteſten
Leute, Alle ſeines Alters, gekleidet wie er ſelbſt, und damit
ſtreift er auf der Straße herum, auf der die Engelländer
hinziehen. Der König wird ihrer bald gewahr, und er-
kundigt ſich durch einen Herolden, wer der Herr der Trup-
pe ſey. Jean de Paris heißt’s, ein reicher Bürgersſohn,
der einen Theil ſeines Vermögens auftreiben wolle. Der
König erſtaunt über die Pracht und den Wahnſinn eines
Privatmannes, und dies Erſtaunen wächſt fortdauernd
auf der Reiſe, wo ſich Jean de Paris ihm beigeſellt, und ihn
immerfort mit neuer Pracht und neuem Ueberfluß überraſcht,
weil vorangeſchickte Boten immer alle Anſtalten zum Empfang
ihres Herrn getroffen haben, indeſſen die Engelländer nir-
gend etwas vorfinden. So kömmt der Zug nach Spa-
nien, überall widerfährt den Engelländern Unglück ihres
19.
19.
Die uͤber die Bosheit triumphirende Unſchuld
das iſt: Hirlanda eine gebohrne Herzogin
von Britanien 7 ganzer Jahre als eine
Dienſtmagd unter dem Vieh, nachmalen
wieder nach Hof berufen, doch durch Ver-
laͤumdung ihres Schwagers zum Scheiter-
hauf verdammt, von ihrem Sohn unbe-
kannter Weiße errettet. Vorgeſtellt in einer
anmuthigen Hiſtorie gezogen aus des Herren
Renatus Cericius franzoͤſiſcher Geſchichte,
aufs neue uͤberſehen, vermehrt und zum
Druck befoͤrdert von einem Liebhaber der
Hiſtorien. Coͤln.
Die Geſchichte nahe verwandt mit der Helena,
ſpielend um 1220 in Bretagne, rührend und einfach
Ungeſchickes wegen, überall hingegen bewegt ſich Jean de
Paris leicht wie ein Gott einher. In der Nähe von Burgos
bleibt er zurück, der König aber eilt zu ſeinen Schwie-
gerältern, und wird mit Freuden dort empfangen. Jean
de Paris aber ſchickt zwei Herolde an den König, und bit-
tet um Unterkunft für ſich und ſeine Leute, und als man
erzählt und gut erfunden, vorzüglich denenjenigen arm-
ſeligen Weibern, welche von ihren Männern ſo übel
ihm das bewilligt, hält er ſeinen Einzug im Angeſicht
des Hofes, der erſtaunt den ganzen langen Zug einrücken
ſieht, weil er nach des Engelländers Ausſage zweihundert
Pferde nur erwartet. Statt deſſen erſcheinen zuerſt
Herolde mit 200 Pagen und 500 Reutern, man glaubt bei
Hofe Jean de Paris ſey unter ihnen, wird aber belehrt,
das ſeyen nur die Quartiermeiſter. Dann folgen 200 Be-
waffnete zu Pferde, zwei und zwei; dann ein Zug Wag-
en, acht führen die Tapiſſerie des Herrn, erfährt
man auf Befragen; zwanzig Andere mit rothem Sammt
bedeckt das Küchengeräthe, 28 Folgende mit Carmoiſin und
goldnen Frangen die Garderobe, 25 andere mit Silber-
geſchirr machen den Schluß. Dann folgen 2000 Bogen-
ſchützen mit Gold bedeckt, immer höher ſteigt das Er-
ſtaunen. Ein ſchöner Mann in Gold gekleidet mit einem
Stabe in der HaudHand auf einem Hengſte erſcheint mit 200 Pa-
gen, die königliche Prinzeſſinn, die ihn für Jean de Paris
hält, verneigt ſich höflich gegen ihn, wird aber von einem
Pagen bedeutet: Mademoiselle ne bougez pas, car celui,
que voici, est le maitre d’hotel en office, et sont quatre fai-
sant chacun leur semaine. Dann kömmt der Schwerdt-
träger, 600 Notabeln, endlich Jean de Paris, mit einem
weißen Stabe in der Hand; die Prinzeſſinn, als ſie ihn
erblickt, erröthet, elle lui tendit un couvre chef de plai-
sance, qu’elle tenoit, en lui faisant une gracieuse reverence
und er ſelbſt verliebt ſich auf der Stelle in ſie: 500 Mann
bilden endlich den Nachzug. Der König, im höchſten
Erſtaunen über das Geſehene, ſchickt den Grafen Quanon in
ſeine Wohnung, um ihn zu bewillkommen, und nach
Hofe einzuladen, erhält aber vom Kämmerer den Be-
ſcheid: wie, iſt der König ſo krank, daß er nicht hieher
mishalten werden, als das herrlichſte Beiſpiel und das
fürtrefflichſte Muſter der Geduld vorgehalten. Der
Renatus Cericius, von dem der Titel ſpricht, iſt Rène
Ceriziers oder Cerizerius, ein franzöſiſcher Jeſuit,
gebohren zu Nantes 1603, der Innocentiae agnitae
Historiam ſchrieb, in der ſich dieſe Geſchichte findet,
die er wahrſcheinlich aus einem älteren Gedichte eines
Bretons genommen.
20.
Schoͤne anmuthige Hiſtorien von Marggraf Wal-
thern, darinnen deſſen Leben und Wandel,
und was ſich mit ihm zugetragen, dem
Leſer kuͤrzlich vor Augen geſtellt wird.
Aufs neue mit ſchoͤnen Figuren gezieret und
verbeſſert. Gedruckt in dieſem Jahr.
In dieſem Buche geht der Kreis von Romanen,
der ſich um den Octavianus hergruppirt, die man
kommen kann? ihr könnt Jean de Paris nicht ſehen.
Die Könige von Engelland und Spanien erheben ſich darauf
ſelbſt zu ihm. — So prahlt das Buch bis zum Ende hin, Jean
de Paris entdeckt wer er ſey, nimmt ohne Umſtände die Prin-
zeſſin mit, und des Engelländers wird weiter gar nicht gedacht.
Intriguen-Romane nennen mögte, in den eigentlichen
Liebesroman über, wie die zunächſt folgende Magelone
ihn ausgebildet zeigt. Es iſt die bekannte Geſchichte Wal-
thers, der eine Bäuerinn zur Ehe nahm, und um
ihre Ergebenheit zu prüfen, ihr in der Folge ihre Kinder
entführen ließ, und ſich ſogar zum Scheine von ihr
ſchied, bis endlich Alles, da ſie treu, und demüthig
und beſcheiden blieb, ſich zum Guten wendet. Gleich
beſcheiden, einfältig, arm und herzlich erzählt iſt auch
das Buch. Nur einmal, wo die Mißhandlung ſchein-
bar auf das Höchſte geſtiegen iſt, und der Marggraf ihr
ihre eigene, aber unbekannte Tochter als ſeine Braut
vorſtellt, und ſie um ihre Meinung fragt, antwortet ſie:
„Gnädiger Herr! ich glaube nicht, daß ein ſchöneres
Weibsbild zu finden ſey, als dieſe E. Gnaden Braut,
und zukünftige Gemahlinn iſt; ich hoffe auch, daß ihr
innerlich Herz und Gemüthe werde an Tugenden,
Liebe und Treue der äußerlichen Schönheit gleichen,
und demnach E. Gnaden mit ihr verhoffentlich eine
liebliche, friedſame und geſegnete Ehe führen, welches
ich euch von Grund meines Herzens und meiner Seelen
wünſche. Doch will ich E. Gnaden zum fleißigſten ge-
beten und zum treul chſten ermahnet haben, er wolle
dieſe ſchöne und tugendhafte Gemahlinn verſchonen,
und ſie nicht mit ſo harten Proben ihrer Liebe, Treue
und Gehorſams verſuchen, noch mit ſo großem Herze-
leid beſchweren und kränken, wie er ſeine vorige Ge-
mahlinn probiret und gekränket haben mögte. Denn
dieweil dieſe viel zärtlicher und herrlicher erzogen iſt,
und von Creutz und Unglück weniger wiſſen mögte:
als trag ich Sorge, ſie mögte nicht mit gleicher Geduld
und Beſtändigkeit ertragen können, was eine andere
mögte erduldet haben“. — Das Buch ſoll ſich
übrigens auf eine wahre Geſchichte gründen, und aus
einem alten Manuſcripte genommen ſeyn unter dem
Titel: Le parement des Dames de la Bibliotheque
de M. Foucault, und Griſeldis ſoll dabei gegen 1025
gelebt haben. Auch Chron kſchreiber der Zeit geben die
Geſchichte als wahr an, ſo Philippo Foresti da
Bergamo im Suplemente ſeiner Chronik, und erzählt
die Begebenheit in ſeinem Werke de plurimis claris
scelestisque mulieribus Cap. 145 weitläuftig. Das
Volksbuch ſelbſt, Abdruck eines älteren teutſchen Wer-
kes, kömmt beinahe wörtlich mit der gleichnamigen
Novelle des Boccaz überein, die Petrarca in’s Latei-
niſche überſezt, und die man ſelbſt auch in octave
rime geſchrieben, und um 1395 ſogar unter dem Titel:
Le mystère de Griseldis marquise de saluces,
auf’s Theater gebracht hat. Beigefügt iſt noch: Eine
ſchöne Hiſtoria von des Fürſten zu Salerno ſchönen
Tochter Gismunda, — gleichfalls eine Novelle des
Boccaz, die Pietro Arretino und Andere ebenfalls für
eine wahre Geſchichte ausgeben, rührend und betrübt.
Endlich noch einige kleine Hiſtorien aus der Geſchichte,
— Alles um daraus zu ſehen, was rechte Liebe kann,
auch was es oft für einen Ausgang zu gewinnen pflegt,
und daß Eltern nicht allezeit geſchwind fahren ſollen,
herzliche Liebe zu trennen. Auch im Holländiſchen iſt
dies Buch nebſt der Helena Volksbuch geworden, und
iſt unter dem Titel im Umlauf: De vrouwe peirle
ofte dry voudige historie van helena de verdul-
dige, griseldis de zagtmoedige, Florentina de
Getrouwe. Antwerpen by J. A. Heiliger 1621.
21.
Hiſtoria von der ſchoͤnen Magelona, eines Koͤ-
nigs Tochter von Neapolis, und einem Rit-
ter genannt Peter mit den ſilbern Schluͤſ-
ſelen, eines Grafen Sohn von Provincia
aus franzoͤſiſcher Sprache in das Teutſche
uͤberſetzt durch M. Vitum Warbeck ſamt
einer Vorrede Georgii Spalatini. Nuͤrn-
berg.
Zart, innig, mild, von einem linden Liebesſcheine
übergoſſen; alles Scharfe, Zackigte weggeſchmolzen in
dem lauen Hauche, ganz der Geiſt der Troubadours,
jener warme befruchtende Südweſt, der drei Jahrhun-
derte hindurch aus dieſem Punkt der Roſe fortdauernd
über Europa hinwehte, und einen ſchönen Blüthen-
frühling hervorrief in dem ganzen Occident. Wie eine
emſige Biene, die zwiſchen zwei einſam ſtehenden, fern
einander entrückten Palmen, hin und wiederfliegt, und
den Samenſtaub von Einer zur Andern trägt, und das
Ferne aneinanderknüpft, ſo tritt gleich Anfangs die
Amme zwiſchen die beiden Liebenden Peter und Mage-
lone; ſorgſam trippelt ſie ab und zu, tröſtet, räth,
beſchwichtigt, und hilft; und wie Peter die Geliebte
nun entführt, und ſie ermüdet in ſeinem Schooße ſchläft,
und er an ihrer Schöne ſich nicht erſättigen kann, und
ein Raubvogel nun den rothen Zendul mit den Ringen,
vermeinend es wäre Fleiſch, erwiſcht, und davonfliegt,
und er ihm nun nacheilend über den Meeresarm vom
Sturm verſchlagen endlich, bis zum Sultan kömmt —
das Alles iſt mit Gewandheit und leichtem fröhlichen
Sinn erzählt, und wie eine Schwalbe kreiſend hin
über des Waſſers Fläche fliegt, ſo hier das poetiſche
Schickſal über der Begebenheit. Magelones Pilgerſchaft
nach Rom und durch Italien, bis ſie zur Inſel, der
Heyden Port genannt, gelangt, und dort ein Spital
ſtifftet, und die Kranken pflegt; wie ſie zum Ruf
der Heiligkeit gelangt; ihr Verhältniß endlich mit Peters
Aeltern, — Alles iſt fromm und rührend, und die
Wiederfindungs- und Erkennungsſzene rundet dann das
Ganze trefflich zu. Die teutſche Ueberſetzung von Veit
Warbeck von 1535 giebt das Jaht 1453 für die Periode
der Verfertigung des Werkes an, das ſich auf eine
wahre Geſchichte zu gründen ſcheint, indem man noch
gegenwärtig in der Provence das Grab der Magelone
zeigt, und eine Inſel bei Marſeille ihren Namen, Mage-
lone, führt. Die älteſte Ausgabe „getruckt zu Augs-
purg durch Heinrich Steiner 1535“ (nicht 45 wie bei
Koch) iſt durch viele Auflagen Leipz. 1611, Rürnberg
1678 z. B. nach und nach ins Volksbuch ganz unverändert
übergegangen, bezieht ſich aber ſelbſt wieder auf das
franzöſiſche Original: Histoire des deux vrais et
parfaits amans Pierre de Provence et la belle
Magelone Fille du roy de Naples. 4. Paris. ohne
Jahrszahl, in gothiſchen Characteren, und Avignon
1524. 8. In der ſpaniſchen Literatur erſcheint ſie
unter dem Titel: La historia de la linda magelona
20.
hy = a del Rey de Naples y de Pierres d. P.
Seviglia 1533. 1542. 4.
22.
Die nuͤtzliche Unterweiſung der ſieben weiſen
Meiſter, wie Pontianus der Koͤnig zu Rom
ſeinen Sohn Diocletianum den ſieben weiſen
Meiſtern befiehlt, die ſieben freyen Kuͤnſte
zu lernen, und wie derſelbe hernach durch
Untreu ſeiner Stiefmutter ſiebenmal zum
Galgen gefuͤhrt, aber allezeit durch ſchoͤne
Gleichniſſe der ſieben Meiſter vom Tode
errettet, und ein gewaltiger Meiſter zu Rom
ward. Sehr luſtig und nuͤtzlich wider der
falſchen Weiber Untreu zu leſen. Ganz
von neuem aufgelegt. Ruͤrnberg.
Wir nähern uns, indem wir zu den ſieben weiſen
Meiſtern übergehen, einem Werke, das durch graues
Alterthum uns Ehrfurcht abgewinnen muß; das
urſprünglich ausgegangen von den indiſchen Gebürgen,
dort vor uralten Zeiten als ein kleines Bächlein nieder-
rann; das dann durch Aſiens weite Felder immer mehr
weſtwärts ſich ergoß, und durch manche Jahrtauſende
hindurch, und wie es immer weiter drang durch Raum
und Zeit bis hin zu uns immer mehr anſchwoll; aus
dem ganze Generationen und viele Nationen getrunken
haben, und das mit dem großen Völkerzuge nach
Europa übergieng, und nun auch in unſerer Zeit und
unſerer Generation ein ſo bedeutendes Publicum ſich
verſchaffte, daß es in Rückſicht auf Celebrität und
die Größe ſeines Wirkungskreiſes die heiligen Bücher
erreicht, und alle Claſſiſchen übertrifft. Man kennt
den Inhalt dieſes Buches. Der Kaiſer Pontianus über-
giebt ſeinen Sohn den Meiſtern, damit ſie ihn in den
freyen Künſten unterweiſen; ſie nehmen ihn mit ſich
nach Athen und beſorgen ſeine Bildung. Der Jüng-
ling wird weiſe und in Künſten erfahren; nach ſieben
Jahren ruft der Kaiſer ihn an den Hof zurück, und er
ließt in den Sternen, wie dort eine große Gefahr ſeiner
warte, die er dadurch nur abwenden möge, daß er
während ſieben Tagen unverbrüchliches Stillſchweigen
bewahre. Er kehrt nun zu ſeinem Vater zurück, begleitet
von ſeinen Meiſtern. Der Kaiſer erſtaunt Anfangs,
und wird dann höchlich entrüſtet über ſeine unerklärbare
Stummheit. Die Kaiſerinn, ſeine Stiefmutter, verliebt
ſich indeſſen in ihn, und weil er ihre Zumuthungen ab-
weißt, wird ſie erbittert, und verklagt ihn beim Kaiſer
als Ehebrecher, der ihn nun, weil er ſich nicht recht-
fertigt, zum Galgen verdammt. Siebenmal ſoll dies
Urtheil vollzogen werden, und jedesmal begegnet dem
Ausgeführten Einer der ſieben Meiſter, und wendet die
Vollſtreckung ab durch eine Erzählung, die er dem Kaiſer
macht, der dann jedesmal die Kaiſerin eine Andere
entgegenſetzt, und dadurch den Kaiſer, den die Vorige
zu Gunſten des Verurtheilten entſchieden hatte, wieder
umſtimmt zur neuen Verdammung, ſo daß der Prinz
ſieben Tage immerfort zwiſchen Tod und Leben ſchwebt,
bis er endlich am achten Tage, wo die Sterne zu reden
ihm erlaubt, ſeine Sprache wieder gewinnt, und dann
die Schande der Kaiſerinn aufdeckt, indem er eine
ihrer angeblichen Hoffräulein entkleiden läßt, die
nun als Mann befunden wird. So entſtehen daher
vierzehn verſchiedne Rovellen, durch jenen loſen Faden
nur zuſammengehalten, denen denn nun noch die Fünf-
zehnte, die der gerettete Prinz erzählt, ſich anſchließt.
Die Meiſten darunter ſind durchaus vortrefflich, Viele
in die ſpätern Rovellenſammlungen aufgenommen,
Alle gut erfunden, und anſpruchslos erzählt. Die
Reunte, wie Kaiſer Octavianus von den Römern
ſeines Geizes wegen lebendig begraben worden, herrlich;
die mit den Bildern auf dem Thurme, den Brunnen
und dem ewigen Feuer von einem wunderlich reizenden
Zauber befangen; Galenus von Hippocrates getödtet,
aſtrologiſch, ſeltſam wie ein anatomiſcher Saal mit
Geſpenſterleichen; die Dreizehnte von der Königinn im
Thurme, gediegen komiſch und vollendet; die Fünf-
zehnte phantaſtiſch, keck und gut gedacht und erzählt.
Am Ende nachdem die Geſchichte alles Intereſſe für
ihren Helden erweckt, ſchließt ſie abbrechend: „Unlängſt
hernach ſtarb der Kaiſer, und regierte ſein Sohn Dio-
cletianus nach ihm, welcher ſeine ſieben weiſen Meiſter
in großen Ehren bey ſich behielt, und wegen ſeines
hohen Verſtandes jedermanns Gunſt und Liebe erlangte.
Sonſt war er ein grauſamer Tyrann, welcher mit
Maximiniano die Chriſten zwanzig Jahre auf das
ſchrecklichſte verfolgte, hernach im 68ſten Jahre ward
er durch Gift hingerichtet. Alſo gehen die Tyrannen
und Wüteriche mit Erſchrecken zu Grund, und nehmen
ein erbärmliches Ende.“
Wie ſehr das Buch ſchon im Mittelalter in allge-
meinem Umlauf war, beweißt die beinahe wörtliche
Aufnahme deſſelben in die Gesta romanorum. In
der teutſchen Ausgabe dieſes Buches, gedruckt von H.
Schobſer in der ſtat Augsburg 1489, findet ſich gleich
Anfangs auf dem XVIten Blatte von der Römer
„abgot mit dem guldin apfel das virgilius gemacht
hat“. Dann folgt von „Dyocleciano, den ſein
vatter ertödt wolt haben nach verklagung ſeines weibes
und in ſein ſiben maiſter bey dem leben behüben, unnd
die maiſter behüben ſich auch bey dem Leben mit ir
Weißheit“, — und dann vom 36ſten Blatte an der
Volksroman beinahe wörtlich, nur daß in dem alten
Buche die Sprache gediegener und weniger ſchleppend,
geziert und ſteif erſcheint. So wird z. B. die Geſchichte,
wie die ſieben Meiſter ihren Lehrling prüften, ob er
unter ihrer Pflege an Weisheit und Verſtand zugenom-
men, ſo erzählt: „Do ſprachen ſy under einander unß
deuchte gut, wir verſuchten, wye unſer junger gelernet
hette, und wye er antwurten künde über unſer frage.
Do ſprach Tantillus (Bancillus im Volksbuche): nun
wie verſuch wir das; do antwurt im Katho, und jeg-
lichen Zipfel ſeinis pedtes legen wir ein Lorberpaumblat,
ſo werden wir innen, was er kan. De geſchahe alſo,
die weile er ſchlieff, und do er erwachet, da plickt er
faſt über ſich auf, das erſahen dye Maiſter, die fragten
in, warumb er alſo aufſähe. Do ſprach er daz iſt nicht
ein wunder. aintweder die höhe d’ Kammer hat ſich
genaigt, oder das erdtrich und mir hat ſich erhebt.
Do ſy dz horten, do ſprachen ſy, lebt das Kind lenger,
er wirt weiß Zum Beweiſe, in wie mannigfach verſchiedenen Formen
dieſelbe Sache in verſchiednen Zeiten und unter andern
Umſtänden wiederkehrt, mag die Erzählung ähnlichen
Gehaltes dienen, die M. d’Annoy in ihren Reiſen nach
Spanien Th. III. p. 64 mittheilt. Es habe ſich einſt,
erzählt ſie, ein berühmter Sterndeuter beym verſtorbnen
König (Philipp IV.) auf der Teraſſe des Schloſſes befun-
den, und der König habe gefragt, wie hoch wohl dieſer
Ort ſey? Der Sterndeuter habe zum Himmel hinaufge-
ſehen, und eine beſtimmte Höhe angegeben. Der König
habe befohlen, daß man den gepflaſterten Boden der
Teraſſe um drei bis vier Zoll erhöhen ſolle, und man
habe die ganze Nacht daran gearbeitet. Am folgenden
Morgen ließ er den Sterndeuter rufen, führte ihn auf
die Teraſſe, und ſagte zu ihm: „Ich redete geſtern Abend
von dem, was ihr mir von der Höhe dieſes Orts geſagt
habt, aber man behauptete, daß ihr Euch geirrt hättet“.
„Ihre Majeſtät“, ſagte dieſer, „ich unterſtehe mich zu
behaupten, daß ich mich nicht geirrt habe“. „Machet
euere Beobachtungen noch einmal“, ſagte der König,
„und dann wollen wir die beſchämen, welche ſich rühmen,
geſchickter zu ſeyn als ihr“. Er fieng alsbald an, ſeine
Beobachtungen zu machen. Der König ſah, daß er die
Farbe veränderte, und ſehr in Verlegenheit war. Endlich
wendete er ſich wiederum zum Könige, und ſagte: „Was
ich geſtern Ihro Majeſtät verſicherte, iſt wahr geweſen;
heute aber finde ich, daß die Teraſſe ein wenig höher,
oder der Himmel ein wenig niedriger iſt“. Der König
lächelte, und ſagte ihm, was er ihm für einen Streich
habe ſpielen laſſen.. So ſpielt die Geſchichte fort, der
Prinz kehrt zurück, wird zum Tode ausgeführt; die
erſte Novelle der Kaiſerinn von dem Baume und dem
Schößling fehlt, und nun erzählt der Meiſter Tantillus
die Erſte von dem Hunde und dem Falken. Blatt 41
folgt dann, ohne daß die Geſchichte fortgeführt wird,
das dritte Beyſpiel der Kaiſerinn im Volksbuche unter
dem Titel: „von einem Ritter, der zu großer Armut
kummen wz, den ſein aigner ſun das haubt in dem
turen abſchlug, damit er ſich ſelber friſtet vor dem
Tod“. Dann folgt Blatt 43, das fünfte Beyſpiel der
Kaiſerinn, wie Octavianus wegen ſeines Geizes von
den Römern lebendig begraben worden. Weiter Bl.
44 das fünfte Beyſpiel der Kaiſerinn von einem „Künig
der waz ein haiden, der wolte zu rom Sant Peter und
Sant Pauls Leichnamm geſtohlen haben, und wollte
die hinweg haben gefürt“. Dann bricht das Ganze
ab mit einer fremden Novelle von Hannibal. Später
Blatt 56 folgt erſt wieder von einem „Keiſer zu Rom,
der hete ſiben Maiſter, die prachten im zewegen mit
ir Zauberkunſte, das er rechtwol geſahe in dem Pallaſt,
aber auswendig gar nichts“, die vierte Novelle der
Kaiſerinn. Die fünfzehnte Novelle aber, ſo wie ſie
viele Aehnlichkeit mit dem alten teutſchen Gedichte,
„der gute Heinrich“ hat, ſo hat ſie auch insbeſondere
wieder zu einem andern Heldengedichte von Conrad
von Wirzburg den Stoff hergegeben, von dem er ſagt,
daß er ihn aus dem Lateiniſchen genommen habe,
nämlich: „Eine ſchöne Hiſtoria von Engelhart aus
Burgunt, Hertzog Dieterichen von Brabant ſeinem
Geſellen, und Engeldrut des Königs Tochter auß
Dennmark, wie es ihnen ergangen, und was jammers
und not ſie erlitten, ganz luſtig und kurzweilig zu leſen.
Francfurt am M. 1573“. Auch hier ſtreitet Einer
der beiden Freunde für den Andern, Einer feyert Bey-
lager mit der Braut des Andern, mit zwiſchengelegtem
Schwerdt, und Dieterich bekömmt die Miſſelſucht (den
Ausſatz), wo dann Engelhart ſeine beiden Kinder für
ihn ſchlachtet, die zuletzt wieder lebendig werden, aber
jedes mit einem rothen Faden um den Hals.
Aus allen dem ergiebt ſich, daß der Urſprung des
Romanes tief in die alten Zeiten fällt, und wirklich
findet man allgemein ſeinen nächſten und unmittelbaren
Urſprung in einem griechiſchen Romane Dolopathos,
den man in den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts
verſetzt. Das war der Titel eines griechiſchen Manu
ſcriptes, das Huet beſaß, in dem die Abentheuer, wie-
ſie das Volksbuch dem Diocletianus zuſchreibt, von
Syntipas, einem Sohne des Königs von Perſien,
erzählt werden, und die Verfertigung des ganzen Werk-
es einem Chriſten mit Namen Moiſes beigelegt wird.
Dieſer Roman wurde dann von einem Mönche aus der
Abtey Haute-Selve, mit Namen Don Giovanni
21.
oder Dam Jehans ins Lateiniſche unter dem Titel:
Dolopathos, oder die ſieben weiſen Roms überſetzt,
und dies Werk findet ſich noch auf einigen Bibliotheken
als Manuſcript. Ins Franzöſiſche wurde dann eben-
fals der Roman übertragen, von dem Mönch und Dichter
Hebert, der unter Ludwig VIII, dem Vater des
Heiligen, blühte, und gegen 1206 dieſe Ueberſetzung
unternahm. Unter dem Namen: Le Livre de sept
sages de rome en vers, findet ſich von dieſem
Werke eine Copie auf der Pariſer Bibliothek. Um
dieſelbe Zeit oder nicht viel ſpäter wurde er auch wieder
in franzöſiſche Proſa von einem Andern übertragen,
und auch davon findet ſich auf derſelben Bibliothek
eine Abſchrifft unter dem Titel: Histoire de sept sages
et de Marc fils de Caton. Ins Teutſche wurde er
ſpäter überſetzt, und die älteſte gedruckte Ausgabe in
dieſer Sprache, die Koch anführt, iſt von 1474. Im
Italiäniſchen aber erſchien das Werk 1542 unter dem
Titel: Avvenimenti del Principe Erasto. Venet.
und dann von neuem wahrſcheinlich unmittelbar aus
dem Dolopathos, unter dem Namen: Erasto e i suoi
compassionevoli Avvenimenti, opera dotta e
morale di greco tradotta in volgare; — eben ſo
ins Spaniſche: Historia del Principe Erasto Hijo
del emperador Diocleziano traduzida de Italiano.
Anversa 1573, und ins Engliſche: The seven wise
masters, und überall in zahllos vielen Ausgaben, ſo
daß alſo das Buch ſeit dem zwölften Jahrhundert
beynahe in den Händen aller europäiſchen Nationen in
allgemeinem Umlauf war. Fragt man aber wieder
nach der Quelle, aus der Dolopathos geſchöpft, dann
wird man abermal weiter zurückgetrieben, und verſichert,
das Werk ſey ganz aus einer Parabel des Indiers
Sandeber genommen, und zunächſt ins Hebräiſche
überſetzt, daraus ins Arabiſche, Syriſche, und dann
endlich in’s Griechiſche. Betrachtet man dieſe Angabe
genauer, dann findet man, daß hier die Rede von den
alten Fabeln des Pilpai oder Bidpai iſt, in denen
ein indiſcher König Disles einem ſeiner Philoſophen
Sendebar, der alle Anderen an Weisheit übertraf,
Fragen vorlegte, die Dieſer in Parabeln und Erzäh-
lungen beantwortete, die in dem Buche dann geſammelt
und der Nachwelt aufbehalten ſind. Das aber iſt die
Geſchichte dieſes Buches, wie der erſte perſiſche Ueberſetzer
im Lateiniſchen des Johannes de Capua ſie erzählt.
In den Tagen der Könige von Edom, war ein König
Anaſtres; dieſer hörte, in Indien ſeyen Berge, auf
denen Kräuter wüchſen, mit denen man, wenn ſie
geſammelt und zubereitet würden, Todte erwecken
könne; er ſchickte daher einen Diener und Philoſophen
Beroſias an die Könige von Indien mit vielen Geſchenk-
en, um dort die Kunſt zu lernen. Dieſer zog hin,
hielt zwölf Monate da ſich auf, ſammelte alle Bücher,
bereitete die Arzneien; als er aber nun Todte aufer-
wecken wollte, mogte es ihm nicht gelingen. Er wurde
traurig darüber, und getraute ſich nicht zurückzukehren;
da ſagten ihm die Weiſen des Landes, wie es ihnen
nicht anderſt ergangen ſey, bis ſie eine Erklärung in
einem gewiſſen Buche der Weisheit gefunden hätten,
wie nämlich alles allegoriſch zu nehmen ſey; die Berge
ſeyen die Weiſen, die Pflanzen Wiſſenſchaft und Er-
kenntniß, die Arzneyen Bücher, die zu erweckenden
Todten aber die Unwiſſenden. Da er das hörte, ſuchte
er das Buch auf, und überſetzte es aus dem Indiſchen
ins Perſiſche, und als er zurückkehrte, freute ſich der
König ſehr, und unterſtützte von nun an die Wiſſen-
ſchaften, und legte Bibliotheken an. Dieſe Schrifft,
in den neueſten Zeiten im Jahre 1804 in Calcutta
von neuem in der Originalſamſcritſprache mit indiſchen
Lettern in 4. gedruckt, unter dem Namen Hitô padesa
von dem Braminen Wiſchnu Sarma verfaßt, iſt nun
das Envvarisuhejli der Perſer; der Beroſias iſt
Buzrvieh oder Parzon, Arzt des Cosroes oder Nuſchirvan,
der ihn nach Indien ſandte; die Periode der Ueberſetzung
endlich etwa das Jahr 530. Das Buch gieng ſodann
um 760, unter dem Kalifen Almanſor, mit dem
Titel: Calilah va Dimnah ins Arabiſche über, wurde
weiterhin ins Türkiſche unter dem Namen: Humajun
name, das Eine und das Andere aus jenem alten
Perſiſchen übertragen; dann wieder in’s Syriſche un-
mittelbar aus dem indiſchen Original Abraham von Echeln in dem Catalog. Librorum Chald.
sive Syriacorum, ſezt bei der Stelle des Katalogs, wo es
heißt: „Bud Peridiotæ exstant orationes de fide, nec non
adversus Manichæos, præterea quaestiones græcas, nuncupatus
Alpha Miglun, interpretatus etiam est ex indico Idiomate
librum Calaileg et Damneg, die Gloſſe hinzu: „Liber iste
tribuitur Isamo quinto Indorum Regi, de quo sie Ismael
Sciahinsciah in historia gentium. Isamus et est ille, qui
composuit librum Calilah et Damnah. Idem affirmat caelibi
librum hunc arabici juris factum fuisse, trecentis ante Alex-
andrum Macedonem annis., weiter eben ſo
chaldaiſch, und hebraiſch durch den Rabbi Joel, und
daraus lateiniſch durch Johann von Capua um 1262,
unter dem Titel: Directorium humanae vitae,
alias Parabolae antiquorum sapientium. Früher
aber ſchon, um das Jahr 1100, hatte es der Mönch
Simon Sethus für den Kaiſer Alexius Commenus
unmittelbar aus dem Arabiſchen in das Griechiſche über-
ſetzt. Der Ueberſetzer ſchrieb dabei die erſten 9 Capitel
dem Philoſophen Secundus, einem Athenienſer, der zu
Hadrians Zeiten lebte, und durch die Schärfe ſeiner Ant-
worten aus dem Stegreife auf die Fragen des Kaiſers ſich
auszeichnete, obgleich mit Unrecht, zu. Eben ſo nur etwas
ſpäter um 1251 gieng das Werk aus derſelben arabiſchen
Ueberſetzung unmittelbar in das Spaniſche über, gleich-
falls unter dem Titel: Libro de Calila e Dimna,
und nun verbreitete es ſich durch alle dieſe Wege,
hauptſächlich auf dem des die Lateiniſchen in die Abend-
länder. Und zwar gieng das Buch in das Italiäniſche durch
das Spaniſche, ins Engliſche durch das Italiäniſche,
in’s Lateiniſche wieder aus dem Griechiſchen durch den
Jeſuiten Pouſſin, in’s Franzöſiſche aus dem Reuper-
ſiſchen, das um 1493 unter dem Namen Anvar Schaili
erſchienen war, aus dem Türkiſchen von neuem in’s
Spaniſche, endlich unmittelbar aus dem Samſkrit
durch Wilkes 1787 wieder in das Engelländiſche über,
ſo daß dies intereſſante Buch nach und nach die Reiſe
durch den größten Theil der alten Welt gemacht, von
einem Geſchlechte immerfort auf das Andere vererbt,
und von jedem hoch gehalten und werth geachtet. Auch
in der teutſchen Literatur hat es frühe ſchon ſich eine
große Celebrität verſchafft; aus dem Lateiniſchen über-
ſetzt erſchien es 1483 zuerſt, und ſpäter 1548 unter dem
Titel: Der altenn weiſenn Exempel, ſprüch und Un-
derweiſungen, wie ſich einem jeden frommen, ehrliebenden
vor der untreuwen, hinderliſtigen, geſchwinden böſen
Welt und Weltkindern zu hüten, vorzuſehen, auch
Weisheit und Vorſichtigkeit daraus zu lernen, durch
ſchöne alte Beyſpiel und weltweiſe Lehren unvergrifflich
uff hiſtorien der Gethier gewendt und fürgeſtellt“. Sieht
man auf den Inhalt des Buchs, dann findet man in
ihm auf jedem Blatte das Weſen und den Geiſt der
Zeit, in der es entſtanden iſt. Da der Verſtand noch
jung war und die Abſtraction, und kindiſch ſie ſich über
ihr kindiſch Lallen freuten; da der, welcher einen ein-
fachen Sittenſpruch oder eine moraliſche Sentenz neu
in ſich gefunden hatte, als Weiſer galt, und die Bewun-
derung ſeiner Nation auf ſich lenkte: da mußte dies
Werk als ein geniales, als ein übermenſchliches Pro-
duct erſcheinen, und die vielen Moralitäten und Weit-
ſchweifigkeiten, die uns wohl langweilig vorkommen,
mußten der einfältigen Zeit wie Götterſprüche tönen.
Aber was uns noch immer genial erſcheint, weil es
nun hinter uns liegt, und wir es in der Eile unſerer
Bildung überflügelten und verlohren, das iſt jene
ſchöne unſchuldige Raivetät in der Erfindung und der
ganzen Behandlung der meiſten Fabeln und Erzähl-
ungen; jene kindliche Unbefangenheit, in der wir doch
durchaus erwachſene und wieder ſehr männliche Men-
ſchen umwandeln ſehen, und dabei die Ehrlichkeit und
das Treuherzige Trockne in der Art wie ſie ſich ankün-
digen, was aber keineswegs wieder öftere Aufblitzungen
einer dichteriſchen Phantaſie erſtickt Was Alatius in ſeinem Buche de Simeonis scriptis von
ihm ſagt, iſt im Böſen daher zu ſcharf, im Guten hinge-
gen zu ſchwach ausgeſprochen. Legi ejusdem (Simeonis Sethi)
habeoque penes me narrationem indicam, Perzoo medico in
gratiam Chosroes regis in perside ex indica lingua in arabicam
translatam, quam postea Sethus ex arabica in græcam
convertit, cui et præfationem de Auctore Operis, illiusque,
inventionem attexuit. Dividitur in quindecim sectiones. In
duabus primis Stephanitae et Jchnilatae historiola finitur, in
reliquis aliunde, et ex aliis animalibus fabulæ confinguntur.
Dictio pedestris, humilis, hiulca, sæpe barbara, incon-
cinna, omnia e trivio, sententiæ graves, spissæ, fabellæ
non insuaves, rebus accomodatæ, vegetæ, evidentes, fre-
quens tamen earum, sicuti et sententiarum, usus narratio-
nem sæpissime obstruit, et lectorem turbat. Est nihilominus
et Syntipa persa et Erasto, dictione et sententiis cæterisque
omnibus accuratior, et brevitate Discursuum et fabularum
acutior: proemio et introductione nimis prolixa, affectataque
narrationum superaggestione molestior. Wörtlich ſo würde
ein heutiger gewöhnlicher Rezenſent etwa urtheilen, und
beym größten Rechte das höchſte Unrecht haben.. Betrachtet man
aber nun das Werk in ſeiner Beziehung auf das Volks-
buch, dann findet man, daß zwar Keines unmittelbar
in dem Andern enthalten ſey, daß aber der Plan und
die Bearbeitung der ſieben weiſen Meiſter ohne allen
Zweifel von Kelilah und Dimna hergenommen iſt.
Im zehnten Kapitel nämlich träumt ein indiſcher König
Sedras, es ſtänden zween rothe Fiſch vor ihm auf
ihren Schwänzen, und zween Waſſervögel flögen nach-
einander und fielen ihm in ſeine Händ; eine Schlange
gieng ihm durch ſeinen linken Fuß; ſein ganzer Leib
wäre naß von Blut, und er wüſche ihn mit Waſſer;
er aber ſtände auf einem weiſſen Berge, und ſähe bey
ſeinem Haupt eine feurige Säule, und dabei einen
weiſſen Vogel, der hacke ihm in ſein Haupt. Und er
fragte die Weiſen und Traumdeuter um Rath, die
waren aber alle aus einer Stadt, die er vorher bekriegt
und belagert, und worinn er 12000 erſchlagen hatte.
Dieſe berathen ſich daher, und beſchließen, dieſe Geleg-
enheit zu benutzen, um ſich zu rächen, und ihm ſein
beſtes Schwerdt und ſeinen weiſſen Elephanten abzu-
fodern, und ſein treuſtes Gemahl, Hellebat die Königin,
und ſeinen Geheimſchreiber, und Billero ſeinen Rath und
Feldherrn, und Kymeron ſeinen heiligen Freund, zum
Tode zu begehren. Als der König auf dieſe Zumuthung
niedergeſchlagen wird, forſcht ihn Billero über den
Grund ſeiner Trauer aus, und die Königin warnt ihn
vor den Weiſen, und räth ihm zu Kymeron zu gehen,
und ihn um die Deutung des Traums zu bitten. Der
König folgt dem Rath, und der weiſe Mann erklärt
ihm, wie die rothen Fiſche die Könige von Arabien
und Emlach bedeuteten, die ihm Geſchenke von Edel-
22.
ſteinen ſenden würden, und die Waſſervögel den Kaiſer
von Griechenland, der ihm zwei Pferde überſchicke;
die Schlange aber den König von Tharſis, der im
Begriffe ſey, ihm das beſte Schwerdt auf Erden zu
verehren; der blutbefleckte Körper deute auf ein roth
Purpurkleid, das der König von Seba ſchicken würde;
der weiſſe Berg einen weiſſen Elephanten des Königs
von Edom, die feurige Säule aber eine goldne Krone
des von Edar; den Vogel aber wollte er ihm nicht
deuten. Der König gieng hin, und nach ſieben Tagen
wurde Alles erfüllt, und die Geſandten kamen und
brachten die Geſchenke, die er unter ſeine Hofleute ver-
theilte. Die Königin aber wählt ſich gegen Billero’s
Rath die Krone, und der Beiſchläferin wurde das
Purpurkleid zu Theil. Nun aber hatte auf einen Abend
Hellebat dem Könige ein Eſſen bereitet von Reis in
goldner Schüſſel; und nun kam das Kebsweib im
Purpurkleid gegangen, und gefiel dem König mehr als
die Königin in ihrer Krone; und er verwieß es ihr,
daß ſie nicht lieber das Kleid gewählt habe. Dieſe aber,
erbittert aus Eiferſucht, nahm die Schüſſel mit den
Speiſen, und ſchüttete ſie dem König auf ſein Haupt,
und das war der weiſſe Vogel, den Kymeron nicht
deuten wollte. Der König erzürnt, übergab ſie
dem Billero, daß er ihr das Haupt abſchlagen ſolle;
dieſer aber beſtrich ſein Schwerdt mit dem Blute eines
Lammes, und gab bei’m König vor, er habe ſie getödtet.
Der König aber wurde bald traurig und betrübt der
böſen That wegen, und er machte Billero Vor-
würfe, daß er ſeinem Befehl gefolgt, der ihm endlich
entdeckt, daß die Königin noch lebe, die nun bei ihm
in großen Freuden blieb; die Weiſen aber wurden ver-
brannt. Man ſieht in wie naher Beziehung dieſe ganze
Erzählung zu dem Volksbuch ſteht, aber außerdem
ſind noch zwei ganze Novellen in ihm beinahe wörtlich
aus dem indiſchen Buch genommen; die Erzählung
von dem Weibe und der Krähe nämlich, und die Novelle
vom Hunde und der Schlange. Es iſt daher begreiflich,
wie man zu dem Ausſpruch gekommen, der Dolopathos
ſey aus dem Indiſchen übertragen, beſonders wenn man
außerdem noch auf die ganze Einrichtung des Buches
ſelbſt reflectirt, in dem immer der König von ſeinem
Weiſen alle die verſchiednen Novellen und Fabeln ſich
erzählen läßt. Es iſt daher wohl außer allem Zweifel,
daß der Verfaſſer des Dolopathos jenes ältere Buch
bei der Verfertigung des Seinigen vor ſich liegen hatte,
daß er in ihm die erſte Idee ſeines Werkes faßte, und
daß er einen Theil ſeines Inhaltes in daſſelbe übertrug,
und das Ganze dann mit andern fremdartigen Zuſätzen
zu der gegenwärtigen Form verband So iſt die vierzehnte Erzählung die Matrone von Epheſus,
die Xenophon im fünften Buche ſeiner Ephesiacorum
erzählt.. Wie auf
dieſe Weiſe der Dolopathos aus dem Orient herüberkam,
ſo ſcheint er auch bald wieder vom Occident rückwärts
gegen den Oſten ſich verbreitet zu haben. Die Sultanin
von Perſien, die Schech Zade, Lehrer des Kaiſers
Amurat II, der um 1481 ſtarb, geſchrieben hat, befolgt
nämlich ganz den Plan und die Form der ſieben weiſen
Meiſter. Der König Hafekin hat einen Prinzen Nus-
gehan, und heirathet in ſeinem Alter zum zweitenmale
die Prinzeſſin Kan Zade, die den Prinzen zu verführen
ſucht, und da ihr das nicht gelingen will, ihn bey’m
Könige verklagt, der ihn zum Tode verurtheilt. Vierzig
Tage aber dauert hier das gebotene Stillſchweigen des
Prinzen, vierzig Geſchichten erzählt daher Kan Zade
um ihn zum Tode zu bringen, vierzig Andere die
Vezire, denen es endlich auch gelingt, ihn zu erretten.
Sonderbar in der Geſchichte dieſes Buches, und
recht characteriſtiſch bezeichnend den Fortgang der Bil-
dung des Geſchlechtes iſt daher beſonders die Erſcheinung,
daß während es in ſeiner erſten Form und ſelbſt noch
in ſeiner ſpätern griechiſchen Erſcheinung das Buch der
Könige war, und die Fürſten es als Vademecum
brauchten und ſchätzten und liebten, es itzt zum Volks-
buch geworden, in den unterſten Ständen vor der Ver-
geſſenheit und dem Untergange ſich gerettet hat.
23.
Ergoͤtzlicher aber lehrreich und ſittſamer auch
zulaͤßiger Burgerluſt, beſtehend in ſehr luſtigen
Begebenheiten, wohl poſſierlichen Hiſtorien,
gar annehmlichen Geſpraͤchen, und Erzaͤh-
lungen: mit vielen merkwuͤrdigen Spruͤchen,
neu uͤblichen Gedichten, ſcharfſinnigen Scherz-
Fragen und Antworten. In drei Theile
abgetheilt. Dedizirt allen eines melanko-
liſchen, langweiligen und unfroͤhlichen
Gemuͤths behafften, wie dann auch den
Aderlaſſern, Podagraͤmiſchen, oder auf was
Weiſe die Patienten ihre Zeit hierdurch zu
verkuͤrzen ſuchen. Aufs neue colligirt und
beſchrieben. Gedruckt in dieſem Jahr. Nuͤrnb.
Zuerſt Anekdoten und kleine Erzählungen in der
Manier des Rollwagenbüchlein, von denen Viele wohl
auch ſchon lange Zeiten bei allen Nationen umgegangen
ſind, und niemal ſterben wollen; dann allerlei Lehrſtücke,
vollſtändige Uebungen, gar ſcharfſinnige Sprüche in
Verſen, häufig aus dem Freydank und dem Renner,
manchmal ſchlecht, oft treffend, manchmal recht brav;
z. B. gleich die Wahrheitsklag:
Der Gelehrten Wandel iſt ſehr ehrlich,
Im Werk aber iſt er ſpärlich,
Sie thäten mich fangen und binden,
Begießen mich mit ſchwarzer Dinten,
In mein ſchneeweiſſes Angeſicht,
Daß ich mich kannte ſelbſten nicht.
Sie auch mit Büchern mich ſchlagen,
Und bey den Haaren umher zagen:
Mich krazten ſehr, allzeit krallten,
Und zur Thür hinaus mich brallten.
Der Spruch:
Gut verloren, nichts verloren,
Muth verloren, was verloren,
Ehr verloren, viel verloren,
Seel verloren, alles verloren.
Endlich die Klag unſers Herren Jeſu Chriſti über der
Menſchen Unglauben und Undankbarkeit:
Gott unſer Herr ſo zu uns ſpricht,
Ich bin ewig, ihr ſucht mich nicht,
Ich bin allmächtig, ihr förcht mich nicht,
Ich bin barmherzig, ihr traut mir nicht,
Ich bin gerecht, ihr ehrt mich nicht,
Ich bin der Weg, geht mich ihr nicht,
Ich bin das Licht, ihr ſeht mich nicht,
Ich bin weis, ihr folgt mir nicht,
Ich bin das Leben, ihr begehrt mich nicht,
Ich bin ein Lehrer, ihr fragt mich nicht,
Ich bin ſchön, ihr liebt mich nicht,
Ich bin edel, ihr dient mir nicht,
Werdt ihr verdammt, verweißt mir’s nicht!
24.
Neu vermehrtes Rathbuͤchlein mit allerhand
welt- und geiſtlichen Fragen ſamt deren
Beantwortungen. Coͤln und Nuͤrnberg.
Das Rockenbuͤchlein heiß ſonſt ich
Wer langweilig iſt, der kauf mich,
Er findet in mir viel kluger Lehr,
Mit vexir, rathen und anders mehr.
Ganz neu gedruckt.
Räthſel unter Rubriken gebracht, über Gott, die
Heiligen, die Vögel, Hunde, Handwerker, Tage,
Menſchen u. ſ. w., oft unbedeutend und albern, häufig
aber auch witzig, treffend, und glücklich. Man führt
eines der Räthſel an, worin es heißt: „Ich habe mehr
Geld in meinem Seckel, als der Fugger“, zum Be-
weiſe, daß es etwa um die Hälfte des ſechszehnten
Jahrhunderts geſammelt worden ſey.
25.
Dritthalbhundert kurzweilige Fragen ſamt derer
Antwort, womit man die melankoliſchen
Muͤcken vertreiben, und die lange Zeit ſehr
kurz machen kann. Frankf. und Leipzig.
Neue Auflage mit einiger Auswahl aus den ältern
Räthſelbüchern.
26.
Der luſtige Kirmesbruder, welcher durch liſtige
Raͤnke auf den Kirmeſſen die Bauern und
andere Perſonen unterhalten und vergnuͤgt
gemacht hat. Nebſt einem Anhange von
Raͤthſeln. Gedruckt zur Kirmeszeit, da ſich
jeder freut. Nuͤrnberg.
Gemeine abgedroſchene Späſſe, pöbelhafte, zutäp-
piſche Schalkhaftigkeit, Plattheiten ſchlecht erzählt,
ohne allen Werth.
27.
Stechbuͤchlein fuͤr die Junggeſellen. Friſch,
froͤhlich und frumm, iſt aller Juͤnglingen
Reichthum, wer in der Liebe will gluͤcklich
ſeyn, muß lieben Eine nur allein. Gedruckt
in dieſem Jahr, da es gut ſtechen war.
Auf der Kehrſeite des Buches: Stechbuͤchlein fuͤr
die Jungfern. Jungfernlieb und Roſenblaͤt-
ter, verkehrt ſich wie Aprillenwetter, Unbe-
23.
ſtaͤndigkeit und Wankelmuth, thut in dem
Lieben niemal gut. Gedruckt in dieſem Jahr.
Nuͤrnberg.
Ein Witzturnier, Jungfern und Junggeſellen ren-
nen, ihre Speere ſind kleine, ſpitze Epigramme, mit
denen ſie ſich einander bügellos zu machen ringen, der
Kampfrichter aber iſt der Zufall. Das Buch enthält
ein halb hundert ſolcher Epigrammen beiderlei Geſchlechts;
die Spielenden wählen blind Welche ſich heraus, und
das Ungefähr hat dann dem Ganzen ſeine Pointe und
die allgemeine Lache zuzugeben. Der Witz in dem
Buche iſt Volkswitz, mit ganzem Leibe mögte er witzig
ſeyn, und ſo kömmt auch der ganze Leib in’s Spiel.
Der Inhalt mehr oder weniger glücklich, die Verſiſi-
cation aber meiſt leicht und gewandt, und eine frühere
Zeit verrathend.
Junggeſell.
Du thuſt ſchon tragen einen Degen,
Da du ſollteſt das Häuslein fegen,
Du thuſt dich ſtellen eben prächtig,
Biſt aber keinem Mägdlein mächtig,
Laß dir nicht graußen grober Geſell,
Daß man dich zu den Narren ſtell,
Dann ſchau nur tapfer um dich her,
Du findſt deines Gleichen noch wohl mehr.
Jungfer.
Du biſt eine loſe Schwätzerin,
Auf Knaben richteſt deinen Sinn,
Die aber deiner gar nicht wollen,
Weil dir dein Bäuchlein iſt geſchwollen,
Nicht genug ich mich verwundern kann,
Daß du dich noch darfſt ſehen kahn.
Haſt gewiß dein Tag viel Böß verricht,
Weil du keinem Menſchen traueſt nicht.
28.
Der edle Finkenritter, mit dem tapfern Cavalier,
Monſieur Hans Guck in die Welt, oder
Hiſtoria von dem weit erfahrnen Ritter,
Herrn Policarpen von Kirrlariffa, genann-
ten Finkenritter, wie der dritthalbhundert
Jahr, ehe er gebohren ward, viel Land
durchwandert, ſeltſame Dinge geſehen, und
zuletzt von ſeiner Mutter fuͤr todtliegend
gefunden, aufgehoben, und erſt von neuem
gebohren worden. Item von ſeiner Hoch-
zeit, eine ſatyriſche doch lehrreiche Sache,
wie ſich jeder in den Eheſtand ſchicken ſoll.
Ferner Monſieur Gucks wohlgemeinte und
fleißig geſammelte Scherzreden. Gedruckt
in der jetzigen Welt. Nuͤrnberg.
Eigner, origineller, ſchwebender, geſtaltloſer,
phantaſtiſcher, prahlender, verlogener Witz; zuſam-
mengeſetzt aus dem italieniſchen Burchiellesco und
dem Boschereccio; oft erinnernd an Schelmufkys
Ton, mit dem der Finkenritter gleichen Zweck und gleiche
Anlage hat. Wie ein Irrwiſch fährt der Ritter durch
die Welt, hält genaues Diarium von dem was ihm
begegnet, und kein Traum geht ſo frech mit der
Wirklichkeit um, als dieſer irrende Ritter, dem der
Teufel vorn die Straße mit Bratwürſten pflaſtern,
und hinter ihm wieder Alle auffreſſen muß; vor dem
die Lügen ſchnell wie Pilze aus der Erde ſchießen,
und nachdem ſie ihn angelächelt, und er vorbeigeſauſt,
wieder in die Erde ſich verkriechen. In der fünften
Tagreiſe heißt’s: „Wie ich mit einem Tuch, zu einem
Winterrock alſo fortzog, ſo ſehe ich einen ſchönen,
weißen, dürren, grünen, langen, gewachſenen Raſen
voll Gras, das wär meiner Mutter Kuh gut geweſen,
ich hätte es auch gern abgehauen, aber ich hatte keine
Senſe; ſo bald begegnete mir Einer, der trug Senſen
feil, ich ſagte zu ihm: Landsmann wie giebſt du mir
Eine? Er ſagte: „„Ich gebe dir eine um einen Juhey
Juho mit lauter Stimme““. Ich ſchreie den rechten
Ju, Juhey, Juho, ſo laut als ich’s erſchreien mögte,
daß Berg und Thal davon erſchall, gleich als brüllten
die Ameiſen. Ein Eſel gieng ungefähr hinter einer
Hecken zu weiden, den hatte ich nicht geſehen, der
ſprang empor über den Graben, und lief darnach,
ſchrie als Ja! Ja! Ja! vor Schrecken; ich entſetzte
mich auch vor ihm, und meinte nicht anderſt, denn
daß er aller Haſen Mutter wäre; ich nahm von dem
die Senſe, zog auf den Raſen, und hieb hinein; da
ſchlug ich mit der Senſen an einen Maulwurfhaufen,
und in dem Streich hieb ich mir ſelbſt den Kopf ab,
der Kopf der lief den Raſen hinab, als gülte es ihm
ein gut Gelag, oder zween Scheffel Bier; flugs lief ich
ihm nach, ſtieß mich aber in ſolcher Eil an einen Aſt,
daß mir die Stirn blutet; ſo bald ich ihn erwiſchte,
ſetzte ich ihn behend wieder auf, dieweil er noch warm
war, und ſetzte das Hintertheil zu vörderſt, das thät
ich deshalben, wenn ich durch den Wald gieng, daß
mich die Reiſſer nicht in die Augen ſchlugen, daß ich
auch von hinten und vorn ſehen kunte. In denen
Dingen wollt ich ganz ſchnell heimlaufen, und lief
geſchwind wie ein Pfeil auf einen Heller, da ſtund bald
ein ſtarker Wind auf, wehet mir den Kopf wieder herab,
jagte ihn weit von mir hinaus, ich ſahe wohl, wo er
lief, eilte ihm ſchier eine welſche Meil Wegs nach,
bis ich ihn erwiſchte, da ſäuberte und putzte ich ihn,
und band ihn mit rothen Neſſeln auf, wohl zuſammen-
gebunden und verwahret, alſo wuchs er mir bald wieder,
da war ich ſtolz, daß ich wieder ſehen kunte“. Das
kleine Werkchen 14 Blätter ſtark, ohne Zweifel die
Geburt weniger Augenblicke eines Geiſtes, der in dieſer
Sternſchnuppe ſich reinigte, datirt ſich wahrſcheinlich
aus den Zeiten des dreiſſigjährigen Krieges her, wo der
Hang zum Prahlen und Lügen epidemiſch in Teutſch-
land graſſirt haben mag, daß man den Witz dieſer
Influenza entgegenſetzen zu müſſen glaubte. Der
Hans Guck in die Welt iſt fremdartiger Zuſatz, eine
ſchlechte poetiſche Epiſtel, und dann 400 zeitkürzende
Scherzreden; Gaſſenhauer, aber darum nichtsdeſtowe-
niger meiſt recht witzig erfunden, ſpöttiſch und ſcharf.
29.
Das luſtige und laͤcherliche Lalenbuch, das iſt:
wunderſeltſame, abentheuerliche, unerhoͤrte,
und bisher unbeſchriebene Geſchichten und
Thaten der Lalen zu Lalenburg in Misno-
potamien hinter Utopia gelegen. Durch M.
Aleph, Beth, Gimel, der Veſtung Ypſilon-
burger Ammtmann. Letzterer Druck, ſo mit
Figuren vermehret iſt.
Genauer Abdruck einer ältern Schrift unter dem
Titel:
Die Schiltbuͤrger, wunderſeltſame u. ſ. w. itzundt
alſo friſch, manniglichen zu ehrlicher Zeitver-
kuͤrzung aus unbekannten Authoren zuſammen-
getragen, und aus utopiſcher auch Rothwelſcher
in teutſche Sprache geſetzt, Durch u. ſ. w.
Die Buchſtaben ſo zu viel ſindt
Nimb aus, wirf ſie hinweg geſchwindt
Und was dir bleibt, ſetz recht zuſammen,
So haſtu des Authors Namen.
Gedruckt in Verlegung des Authors der
Feſtung Misnopotamia 1598.
Sieben Jahre nachher erſchien:
Grillenvertreiber, das iſt: Neuwe, wunderbar-
liche Hiſtorien, ſelzame abentheuerliche Ge-
ſchichten, kauderwelſche Rathſchlaͤge und
Bedenken, ſo wohl von den witzenburgiſchen
als auch calecutſchen Commiſſarien und
Parlamentsherren unterſchiedlich vorgenom-
men, beſchloſſen und ins Werk geſetzt.
Erſtlich in zwei Buͤcher verfaßt, an Tag
geben durch Conradum Agyrtam von Belle-
mont. Francfurt am Mayn.
Das erſte Buch dieſer neuen Ausgabe iſt beinahe
ganz mit dem Vorigen und dem Volksbuche eins, nur
im Einzelnen mehr gereinigt für die feinere Geſellſchaft.
So fehlen dort die Zotenräthſel, die die Bauern vor
dem Kaiſer ſich aufgeben, an deren Stelle ſingen ſie
hier Lieder: dagegen iſt hinzugekommen der ganze Pro-
zeß der beiden Witzenbürger, die ſich geſchlagen hatten,
und einige andere Schwänke. Die Vorrede der vorigen
Ausgabe findet ferner ſich hier in ein zweites Buch
verarbeitet, worin im Ganzen der Witz nicht ſchlech-
terer Art als im Erſten iſt. Ein ſpäter hinzugekommenes
drittes Buch iſt aber ganz elend, und ohne Zweifel
nicht von dem nämlichen Verfaſſer.
Das Ganze iſt unendlich meiſterhaft und vollendet in
ſeiner Art, wie der Don Quixotte des Cervantes,
immer in gleich trefflicher Haltung fortſchwebend,
und in dieſer Haltung mit wahrer Virtuoſität durch-
geführt, was gerade bei comiſchen Werken am häufig-
ſten fehlt. Der Witz, der durch das Werk durchſchillert,
iſt köſtliche, treffende Ironie, die unmittelbar in den
Kaiſer von Utopia ſich eingeſtaltet hat, und nun das
ſeltſame, wunderliche, ungeſchickte Volk in ſeiner
ganzen Objectivität ſich entwickeln läßt. Die ſeltſame,
aberwitzige Klugheit, in der die Schildbürger characte-
riſirt erſcheinen, iſt durchaus reiner, höher, gediegener
als der Volkscharacter im Eulenſpiegel; Jener bewegt
ſich in minder engen Schranken, und zeigt daher
nicht die Monotonie wie Dieſer, ſondern entwickelt ſich in
bunter Fülle immer ſich gleich bleibend, und doch in den
mannigfaltigſten Lichtern ſpielend und wechſelnd.
Selten ſtrift er an die Zote, ob er gleich dem derben
Geiſt der Zeit entſprechend, ſie auf keine Weiße ſcheut,
öfter erhebt er beinahe ſich zum Humor. Der Schwank
mit dem Salzſäen, der ganze Imbiß des Kaiſers bey
24.
den Witzenbürgern und ſeine frühere Bewillkommnung,
die Hochzeit, die der Sauhirt ſeinem Sohne ausrichtet,
das Verſtecken der Glocken im See, das Abentheuer
mit dem Krebſe und dem Maushund in dem erſten
Buche, dann das Lochausgraben, die Reiſe der drei
Abgeſandten nach Witzenburg, ſo wie die ganze Ver-
handlung über das fehlende Rad und den Deichſel,
und des Schlottfegers Expedition, um ſie in der Stadt
zu holen, im Zweiten, gehören zum Trefflichſten, was
Witz und Ironie irgend producirten. Dabei iſt Alles
in einem und demſelben Geiſt empfangen, und daher
wie in einem Guß gegoſſen, ſelten nur verliert ſich
der reiche Fluß in allgemeine leere Weitſchweiſigkeit.
Es iſt erfreulich, daß das meiſterhafte Werk, das die
höhere Literatur unverdient der Vergeſſenheit überge-
hen, ſich darum nicht hat umbringen laſſen, ſondern fort-
dauernd unter dem Volke ſich erhalten hat, und wenn
es auch dort als Ganzes wieder zu verlieren ſich an-
fängt, doch in die Maſſe eingedrungen in der Tradition
fortlebt. Was Tiek in ſeinen Schildbürgern wieder
in die höheren Kreiſe zurückgeführt hat, iſt nur der
kleinſte Theil des Ganzen, weil er wahrſcheinlich das
vollſtändige Werk nicht kannte, überdem iſt
auch die neuere Sprache nicht ſo dem Geiſte des
Werks zuſprechend, wie die Alte, ſorgloſe, breite,
treuherzige, in der es geſchrieben iſt, und in der es
ſich daher weit beſſer lieſt. Es wäre wohlgethan,
wenn irgend jemand das ganze Werk mit wenigen
leichten Veränderungen in ſeiner urſprünglichen Form
und in der alten Sprache herausgeben wollte; es würde
gewiß den allgemeinen Beifall wieder gewinnen, den
es zugleich als einer der älteſten teutſchen komiſchen
Romane verdient. Es mögte leicht übrigens zum
Theil aus einem der früheren ſogenannten Narren-
bücher ausgegangen ſeyn.
30.
Des ſogenannten Clausnarrens weyland churf.
ſaͤchſiſchen geweſenen Hofnarren u. ſ. w.
luſtergoͤtzende Hiſtoria, darinnen ſeine Ge-
burt, Leben, Wandel und Tod auch kurz-
weilige Scherzreden beſchrieben, und in
unterſchiedliche Theile auf’s kuͤrzeſte gefaßt
ſind. Gedruckt in dieſem Jahr. Nuͤrnberg.
Der Charakter dieſes RarrenNarren iſt angenommene
Einfalt, häufig nicht eben ungeſchickte kindiſche Naivität,
freimüthige oft plumpe und unverſchämte Wahrhaf-
tigkeit, mitunter Tücke und einige äffiſche Bosheit,
beſonders wenn er gereizt war; ſonſt im Ganzen gut-
müthiges Hinſchlendern in der Narrenkappe durch die
Welt. Dieſe Phyſiognomie haben denn auch durchaus
die hier erzählten Schwänke, häufig unbedeutend,
leer und ungelenk, oft aber auch glücklich, bedeutend,
treffend und beluſtigend; das Buch daher zuſagend
dem Zwecke, für den es unter das Volk verbreitet
wurde. Eine komiſche Wirkung wird beſonders auch
dadurch hervorgebracht, daß der Herausgeber häufig
mit lateiniſchen, oft corrumpirten Anmerkungen und
Erläuterungen, beſonders bei etwas obscönen Stellen,
dazwiſchen fährt.
31.
Der viſirliche Marcolphus, beſtehend in einem
abentheuerlichen Geſpraͤch zwiſchen dem
Koͤnig Salomon und dieſem unberichtſamen
und groben Menſchen. Ganz neu gedruckt.
Abdruck eines ältern Buches:
Frag und Antwort Koͤnig Salomonis und
Marcolphi,
wahrſcheinlich um 1569 gedruckt in Nürnberg bei W.
Newber. Mit recht guten paſſenden Holzſchnitten im
Kartenblätterſtyle geziert, die dem Volksbuch, das
eine nicht völlig getreue, oft ſehr verſtümmelte Ueber-
ſetzung iſt, fehlen. Marcolph, der Vorgänger Eulen-
ſpiegels, nur in einer noch tiefern Potenz, erſcheint
als ein garſtiger, unflätiger Lumpenhund, von dem
das Original ſagt, wie folgt: „Und die Perſon Mar-
colphi was kurz, dick und grob, und hat ein groß
Haupt, und eine preite Stirn, rot gerunzelte harige
Ohren, hangende Wangen, groß fließente Augen,
der unter Lebs als ein Kalbslebs, ein ſtinkenden Bart,
als ein Bock, plochet Hend, kurz finger und dicke
füß, ein ſpitzige hogerte Naſen und groß Lebſen, ein
eſeliſch augeſicht, Har als ein Igel, groß bewriſch
Schuch, und ein Schwert um ſich gegürt, mit einer
zerriſſenen Scheiden, ſeine Kappen was mit Haar
geflochten und gezierer mit einem hirſchen Gehürn,
ſein Kleid hat eine ſchnöde Farb, und war von
ſchnödem Tuch, ſein rock ging im bis auf die Scham,
und zerriſſen Hoſen“ u. ſ. w. Er und ſeine gleich
plaſtiſch bildſchöne Frau ſtehen vor Salomons Thron,
alle drei theilen ſich einander ihr Geſchlechtsregiſter
mit, dann entſpinnt ſich ein Dialog, in dem Salomon
alle ſeine weiſen Sprüche der NeiheReihe nach auslegt,
die Marcolph danndaun aus dem Stegreife parodirt, ſo
daß der weiſſe König oben majeſtätiſch mit Kron und
Zepter in der Sonne auf und niedergeht, während
ſein Schatten ſeitwärts in die Pfütze fällt, und dort
alle ſtolze Haltung verliert. Das ganze Geſpräch
errinnert übrigens auffallend an ein Aehnliches in dem
indiſchen Calilah und Dimnah, Jenes nämlich, das
der König mit Billero da beginnt, wo er ihm den
Tod der Königin vorwirft. Da heißt’s z. B. „Der
König ſprach, du ſolteſt ſchweigen, bis mir der Zorn
vergieng. Antwort Billero: drei Ding ſchweigen, bis
Einem der Zorn vergeht: Die Schlang in der Hand
ihres Beſchwörers, und der Nachts Fiſche fahen will,
und der da hohe Ding betrachtet. Der König ſprach,
du haſt Helebat verſaumet, daß du ihr Gerechtigkeit
nit haſt an den Tag gelegt. Billero antwort: zwey
Ding ſind, der Gerechtigkeit verſaumt wird ohne
Schuld: Der ein ſeiden Kleid anthut und barfuß
geht, und der ein Jungfrau zu der Ehe nimmt, und
darnach ſie wieder von ihm thut, und über ein lange
Zeit ſie wieder zu ihm nimpt. Der König ſprach, jetzt
iſt mein Feindſchaft wider dich in meinem Herzen
gewachſen: antwort Billero Es ſeynd acht Dinge die
gegeneinander Feindſchaft tragen, der Wolf und der
Bauer, die Katz und die Maus, der Habbich und die
Taube, der Rabe und die Kröte“, und ſo fort immer
in dieſem Tone mehrere Quartſeiten hindurch, gerade
wie bei Marcolph. Tiefer im Buche iſt Marcolph in
ſeiner Wohnung; im Holzſchnitte iſt König Salomon
in ſeine Thüre eingeritten, und ſein Eſel ſieht halb
innen und halb auſſen, in dieſer Stellung legt er ihm
ſpitzfündige Räthſel vor, die der König ihm nicht löſen
kann; er kömmt dann wieder an Hof mit einem Topfe
Milch, dem König zum Geſchenk beſtimmt, den er
aber mit einem Kuhfladen bedeckt, ſtatt des Eierkuchen,
den er gegeſſen hat. Er muß dann über Racht mit
Salomon wachen, auf den Schlaf iſt ihm der Tod
geſetzt, er rettet ſich aber jedesmal mit Schwänken
wieder. Am Morgen hetzt er die Weiber zum allge-
meinen Auflauf an, eine Poſſe, die vorzüglich gut
angelegt und gehalten iſt; wird vom Hofe gejagt,
verleitet dann den König zu einer Jagd, die mit
einer Szene von derber Obſcönität ſich endigt. Er
wird darüber zum Tode verdammt, rettet ſich aber
wieder dadurch, daß er ſich die Gnade vorbehält, den
Baum auszuwählen, an den er gehangen werden ſoll,
wo er ſich dann durch ganz Canann führen läßt, ohne
daß ihm einer zu dem Geſchäfte anſtändig wäre. Das
Buch iſt eine kecke, freie, lebendige, barocke Zote,
gleichſam eine Aſcaride der Poeſie, bei der die Moral
doch eben nicht alſogleich ſich aufmachen darf, um ſie
mit Wermuth und Knoblauch abzutreiben. Der
Goldkäfer, wenn er wohl auch im Aaſe und im Miſte
ſich betreten läßt, iſt immer doch ein nettes Thier.
Auch dies Werk reicht tief in die früheren Jahrhun-
derte hinab; aus der Stelle, die Eſchenburg in
ſeinen Denkmälern teutſcher Dichtkunſt aus dem Gu-
lielmus Tyrius Historia rerum in partibus trans-
marinis gestarum und dem Freydank beigebracht,
geht hervor, daß ſein Urſprung noch hinter dem zwölf-
ten Jahrhundert liegt, und daß es damals ſchon als
Volkstradition umgegangen ſey. So ſagt nämlich der
Erzbiſchoff von Cypern von ihm: Et hic fortasse est,
quem fabulose popularium narrationes Marcolfum
vocant, de quo dicitur, quod Salomonis solvebat
aenigmata, et ei respondebat aequipollenter ite-
rum solvenda proponens. Wahrſcheinlich iſt das
Buch daher neugriechiſchen Urſprungs, und mit dem
Dolopathos etwa von gleichem Alter. Es iſt übrigens
in den früheren Zeiten in mannigfaltig verſchiednen
Ausgaben in teutſcher und lateiniſcher Sprache erſchie-
nen; die Aelteſte 1487. 4. Nürnberg und 1490. 4.
Augsburg teutſch, lateiniſch 1485 und 88. Die ältern
Ausgaben enthalten dabei außer dem zum Volksbuche
gewordnen Theil noch einen Andern, in dem Morolf
als Bruder Salomons erſcheint, und nun für ihn
mancherlei Abentheuer in den verſchiedenſten Verklei-
dungen mit dem Pharao von Aegypten, dem Könige
Cyprian, Yſolt u. ſ. w. um die entführte Salome,
Salomons Gemahlin, beſteht, und überall die Rolle
eines gewandten, liſtigen, verſchlagenen Menſchen,
aber keineswegs die des eigentlichen Marcolphs ſpielt.
Dieſer iſt übrigens unter Allen vorzüglich die Luſt und
der Liebling der Italiäner, die durch drei Generationen,
Vater, Sohn und Enkel den Schwank hindurch ge-
trieben haben.
Astuzie sottilissime di Bertoldo dove si scorge
un villano accorto e sagace, il quale dopo vary
et strani accidenti, alla fine per il suo raro ed acuto
ingegno vien fatt’ uomo di corte, e regio consi-
gliero con l’aggiunta del suo Testamento; ed altri
detti sententiosi. Opera di giulio cesare della
croce in Lucca, per S. et G. D. Marescandoli.
Dann:
Le Piacevoli e ridicolose semplicita di Ber-
toldino figliulo dell’ astuto ed accorto Bertoldo,
con le sottili ed argute risposte della Marcolfa
25.
sua madre, e moglie di esse Bertoldo, opera
piena di moralita, e di spasso di giulio cesare
Croce. In Lucca &c.
Endlich:
Novella di cacasenno figlio del simplici Ber-
toldino, divisa in diversi Ragionamenti, opera
onesta, e di spassevole rattenimento. Nuova-
mente aggiunta al Bertoldino del Croce. Dal sig.
Camillo Scaliggeri dalla Fratta.
In jenem erſten Bertoldo, als deſſen Verfaſſer
ſich 22 Akademiker ankündigen, erſcheint er zwar noch
von Perſon beinahe eben ſo unflätig, wie im Teutſchen,
aber ſonſt durchhin reiner, gewitzigter, verſchlagener,
etwa wie jener Morolf. Das ganze Buch iſt daher
durchaus feiner, höflicher; alle Zoten ſind wegpurgirt;
um religiöſes Aergerniß zu vermeiden, tritt an die
Stelle von König Salomon ein König Alboin aus
der Lombardey; der Anfangsdialog iſt beinahe ganz
weggeſchnitten und in ein honettes halbweg witziges
Wechſelgeſpräch verwandelt, und ſtatt deſſen, was
ſich keineswegs ſäuberlich geben laſſen wollte, ſind
andere oft recht witzige Späſſe eingelegt. Auch eine
unſäglich verwäſſerte Ueberſetzung iſt von dem Ber-
toldo Fraucfurt 1751 erſchienen. Die beiden letztern
Schriften aber ſind von geringerem Werth und neueres
Anhängſel.
32.
Der wiedererſtandene Eulenſpiegel, das iſt wun-
derbare doch ſeltſame Hiſtorien Tyll Eulen-
ſpiegels, eines Bauern Sohn, gebuͤrtig
aus dem Land zu Braunſchweig, aus ſaͤch-
ſiſcher Sprache auf gut hochdeutſch ver-
dollmetſcht, und jetzt wieder aufs Neue mit
etlichen Figuren vermehrt und verbeſſert,
ſehr kurzweilig zu leſen, ſamt einer luſtigen
Zugabe. Jezund abermal ganz friſch geſot-
ten und recht neu gebacken. Coͤln und
Nuͤrnberg.
Aechter, vierſchrötiger, gediegener Bauernwitz;
ein Kapital von Spaß und Scherz, das immerfort in
der Nationalbank ſtehen bleibt, aus der dann jede Ge-
neration ihre Intereſſen zieht; eine wahre Hauspoſtille
des Spaßhaften, die den Seelenjubel, und die Freude
und die laute Lache im Volke nie verſiegen läßt. Das Ganze
deutet durch ſeine rhapſodiſche Form durchgängig auf
ein ſucceſſives Entſtehen in verſchiednen Zeiten, und
ein Erzeugniß einer ganzen Claſſe, die es als Denk-
mal eines nationellen innern Uebermuthes und freudigen
Muthwillens nach und nach wie einen Scherbenberg
zuſammentrug, den nun irgend ein Einzelner vollends
ordnete. Was ihm daher die allgemeine Haltung giebt,
iſt durchaus das immer ſich gleichbleibende Gepräge der
untern Volksklaſſe, in der es urſprünglich entſtanden
war, das man in allen ſeinen charakteriſtiſchen Merk-
malen hier wieder findet, bis auf die Ader von boshaf-
ter Tücke hin, die durch den ganzen Charakter Eulen-
ſpiegels durchläuft, und die man als den teutſchen
Bauern eigen allgemein anerkennt. Daher das Maſ-
ſive, Ungeſchlachte, für die höheren Stände Unflätige
des Witzes, der nur gar zu gern in körperliche Effluvien
ſich ergießt, obgleich niemal in das eigentlich Obſcöne
ſich verliert. Allein wenn man das anſtößig finden
wollte, dann bedenke man doch, daß der Scherz des
Ariſtophanes durchgängig von nicht viel mehr ſublimirter
Art erſcheint, und daß das ganze athenienſiſche Publi-
kum keinen Anſtand nahm, von den Götterbildern zu
der Bühne hinzueilen, und dort an den bizarren Nuditäten
des Dichters ſich zu ergötzen. Gerade weil unſer eeinſeitige
Cultur uns nach und nach auf eine alberne Ziererey
hingetrieben hat, die die Ratur verläugnen will, und
ſich der Wohlthaten ſchämt, die ſie von ihr empfängt,
weil ſich alles gerade eben nicht mit eleganter Sauber-
keit abthun läßt; für dieſe iſt eben Eulenſpiegel eine
ſehr gute Gegenwucht, und eine ironirende Apoſtrophe
der Verachteten an die Hoffärtigen, die gegen ſie
fremd und vornehm thun, damit ſie ſich errinneren,
daß ſie auch aus Fleiſch und Bein gemacht ſind, und
der Erde angehören. Nicht immer aber verweilt auch
der Witz des Buches auf jener untern Stufe, er erhebt
ſich auch häufig genug in die höhere Sphäre des reinen
Scherzes, und der Schwank mit dem Bienenkorbe,
mit den zwölf Blinden, denen E. zwölf Gulden giebt,
der mit dem Schneiderconvent, mit den Schneiderge-
ſellen auf dem Laden, mit den Hünern der Bäuerin,
der er den Hahn zum Pfande läßt, der mit dem Eſel,
dem er Hafer zwiſchen die Blätter eines Buches ſtreut,
um ihn leſen zu lehren, ſind ehrbar, und von gutem
Sterlingswitz. Im ganzen Eulenſpiegel erſcheint der
landſtreichende Witz perſonificirt dargeſtellt, bei allen
Ständen und Gewerben wandelt er umher, und indem
er durchaus den Ernſt ironiſch beim Worte nimmt,
geht daraus immer ein verkehrtes Thun, und in ihm
der Spaß hervor. So treibt er ſich durch alle Claſſen
herum, ſelbſt bei den Fürſten, aber nur auf eine kurze
Weile; er will keines einzelnen Menſchen ſeyn, ſondern
er iſt allein Schalk auf ſeine eigne Fauſt, und daher
der eigentliche wahre Volksnarr, im Gegenſatz der
früher allgemein üblichen Hofnarren. Als ſolcher iſt
er daher auch auf unſere Zeit gekommen, und während
die Fürſten die Stelle längſt als überflüßig erkannt
haben, iſt das Volk keineswegs derſelben Meinung ge-
weſen, und hat ſich ſeinen plebeyiſchen Tribun in der
Schellenkappe nicht nehmen laſſen, und man würde
im höchſten Grade Unrecht thun, wenn man von
dieſer Seite irgend gewaltſam ſtörend eingreifen wollte.
Man wolle doch nicht die einzige kleine Kapelle ein-
reiſſen, die der Scherz noch in der großen Menge hat!
Der Eulenſpiegel erſchien zuerſt um 1483 im
Plattteutſchen, obgleich dieſe erſte Ausgabe ſich nicht
erhalten zu haben ſcheint. Als die älteſte bekannte
Ausgabe führt Koch die Augsburger in 4. von 1540
in der Wolfenbüttler Bibliothek auf. Der Franzis-
kaner Thomas Murner, der zur Zeit der Reformation
ſeine Rolle ſpielte, ſoll ihn zuerſt ins Hochteutſche über-
ſetzt herausgegeben haben. Die vollſtändige alte Straß-
burger Quartausgabe von 1543 ſchied ſich bald mit
Teutſchland in einen proteſtantiſchen und einen katho-
liſchen Eulenſpiegel, wovon jener, ehrbarer, die ſtärk-
ſten Zoten ſtrich, dafür aber nebſt den 92 gewöhnlichen
Schwänken noch zehn Andere über Papſt und Pfaffen-
abentheuer enthält. Er wurde, wie v. Murr angiebt,
bald in zwei verſchiednen Ueberſetzungen in lateiniſche
Jamben gebracht, und ſchon 1559 ins Franzöſiſche,
und ſpäter auch in andere Sprachen übertragen. Auch
die Holländer haben ihn in ihre Sprache aufgenommen,
und er erſchien 1613, Rotterdam bei S. v. der Hoeven,
unter dem Titel: Historie van Thyl Ulenspieghel
van syn schalcke Boeverijen, die im bedreven
heeft see ghe noech lije, met schoone Figuren.
Wer ihn aber am liebſten gewonnen hat, das ſcheinen
die Bauern der innern Schweiz zu ſeyn, jene kräftigen
mannhaften Bergbewohner, in denen das Fleiſch ſo
mächtig vorwiegt, und der Geiſt nur gerade eben noch
wie jener Witz, der in dem Buche herrſcht, über dem
ſtraffen Muskel ſteht, die daher ſelbſt gleichſam Zoten,
im guten Sinne des Wortes, ſind, die die Natur
geriſſen hat. Von Eulenſpiegel ſelbſt ſagt man, daß
er um 1350 geſtorben ſey, und zu Möllen bei Lübeck
wird ſein Grab unter der Linde gezeigt, mit der
Eule und dem Spiegel in den Stein eingehauen.
Dies Symbol, und ſein allegoriſcher Name deuten eben
auf ſeine Unperſönlichkeit, und die Eule, die er zum
Embleme führt, iſt durchaus phyſiognomiſch richtig zur
Bezeichnung ſeines Charakters, bösartig, katzenmäßig,
ſchadenfroh, fratzenhaft, glühaugig, diebskniffig ge-
wählt.
33.
Der immer in der Welt wandernde Jude, das
iſt: Bericht von einem Juden aus Jeruſa-
lem, mit Namen Ahasverus, welcher vor-
giebt, er ſey bey der Kreutzigung Chriſti
geweſen, und bisher durch die Allmacht
Gottes beym Leben erhalten worden. Wie
auch ein Bericht von den zwoͤlf juͤdiſchen
Staͤmmen, was ein jeder Stamm dem Herrn
Chriſto zur Schmach angethan, und was
ſie dafuͤr leiden muͤſſen. Coͤln am Rhein
und Nuͤrnberg.
Abdruck einer Schrift, die unter dem Titel er-
ſchienen iſt:
Gruͤndliche und wahrhaftige Relation, ſo hiebe-
vor auch franzoͤſiſch, lateiniſch und nieder-
laͤndiſch ausgegangen, von einem Juden
Namens Ahasvero von Jeruſalem, der von
der Zeit des gecreuzigten Herrn J. C. durch
ſonderbare Schickung zu einem lebendigen
Zeugniß herumgehen muß. Durch Chryso-
stomum Dudulaeum Westphalum. 1634.
Im Jahr 1547 erſchien in der Gegend von Ham-
burg ein Menſch baarfuß, in zerriſſenem Unterkleid,
einem umgürteten Leibrock, welcher ihm bisauf die Knie
gangen, und einem Mantel, der bis auf die Füße
reichte, etwa fünfzig Jahr alt ſchien, und ſich nun
für einen Zeitgenoſſen von Chriſtus ausgab; erzählte,
er ſey ein Schuhmacher von Jeruſalem geweſen, und
wie Chriſtus mit dem Kreutze an ſeinem Hauſe vor-
beigekommen, habe er dort ruhen wollen, er habe ihn
aber weggetrieben; darauf habe Chriſtus geſprochen:
„Ich will allhie ſtehen und ruhen, aber du ſollt gehen
bis an den jüngſten Tag“; — er habe ſich dann auf-
gemacht, und wandre nun bis zu dieſem Augenblick.
Er erzählte dabei aus der Geſchichte, was Alles ſich
ſeit jener Zeit begeben, und lebte übrigens frugal und
26.
eingezogen. Früher ſchon, im dreizehnten Jahrhundert,
hatte ein gleicher Wundermann ſich ſehen laſſen, von
dem M. Paris in ſeiner Geſchichte erzählt, und den er
dort Cartaphilus nennt (Koch). Um dieſelbe Zeit,
wie in Hamburg, ſollte er auch in Engelland, Spanien,
Frankreich, Italien, Ungarn, Perſien, Pohlen, Schwe-
den zum Vorſchein gekommen ſeyn, ſo daß er eine
eigne Literatur gewann, und ſogar 1693 eine Inau-
guraldiſputation über ihn geſchrieben wurde: Disser-
tatio historica de Judaeo non mortali, quam adju-
vante Deo immortali &c. certaminis publ. argum.
f. Praes. Schulz. Regiom. Pruss, respondens
Martin Schmied Slavio Pomer. a. D. 26. Jan.
Ann. 1689, der eine Spätere folgte: Diss. in qua le-
pidam fabulam de Judaeo immortali examinat
Car. Antonius, Helmist 1760. 4., in denen die ver-
ſchiedenen Zeugniſſe für und gegen das Factum geſam-
melt werden, das Widerſprechende in Jenen gezeigt,
und das Ganze dann als leere Erdichtung verworfen
wird. Was jene zuerſt angeführte Schrift enthält, wird
denn auch in dem Volksbuche zunächſt erzählt; weiterhin
folgt eine langweilige Errinnerung an den chriſtlichen
Leſer von dieſem Juden. Sonſt noch enthält das Buch
einen aberwitzigen Bericht von den zwölf jüdiſchen
Stämmen, welches ein hochberühmter Medicus, der
Anfangs ein gebohrner Jud geweſen, in Mantua ſeinen
neuen Glaubensgenoſſen aufgebunden hat. Das Koſtbarſte
aber, das gleichfalls in jener Schrift enthalten iſt, hat
der Herausgeber des Volksbuchs doch aufzunehmen ſich
geſcheut, nämlich eine glaubwürdige, vidimirte Copie
des Urtheils, was Pontius Pilatus über Chriſtus gefällt,
mit allen Motiven und Bewegungsgründen, unterzeich-
net durch Räthe und Beamten des großen Raths der
Juden, und die Notarii der öffentlichen, peinlichen
Justici, angeblich gefunden in der Stadt Aquila in
einem Felſen von Marmelſtein. Im Ganzen iſt nur die
Idee poetiſch-brauchbar und auch von A. W. Schlegel
in ſeiner Romanze trefflich benutzt, das Geſchreibe ſelbſt
aber ohne allen Werth und Zweck.
34.
Romanusbuͤchlein, vor Gott der Herr bewahre
meine Seele, meinen Aus- und Eingang,
von nun an bis in alle Ewigkeit, Amen, Hal-
leluja. Gedruckt zu Venedig.
Von allen Weltgegenden her zuſammengetrommel-
ter Unſinn in Beſchwörungen, Zauberſprüchen und
Beſprechungen ſich ergießend. Es iſt ein wunderbar-
liches Vertrauen, was die Menſchen ſo lange hin in
die Macht des Wortes über die Elemente und das
Geiſterreich geſetzt. Sie ſahen, wie ſie mimiſch in den
untern Organen ihres Leibes die Materie bemeiſtern
konnten; ſie ſchloſſen, daß ſie durch das höhere Organ
gleichfalls wohl das Höhere bändigen mögten. Aber ſie
vergaßen, daß das Geiſterreich das Reich der
Freiheit im Guten und im Böſen ſey; daß ſie die Ele-
mente durch ihre Willkühr dadurch körperlich nur be-
herrſchen, daß ſie ihre Kraft gleichſam eintreten laſſen
in die allgemeine Naturkraft, und durch ſie und in ihr
nun die Körperwelt beſtegen; daß aber das Wort un-
mächtig abprallt von jenen Regionen, in denen die
Naturkraft nicht mehr gebieten mag, und daß die Geiſter
hoͤherer Ordnung mehr noch der Beſchwörung ſpotten,
als der Menſch, und allenfalls nur das Thier ſich ihr ge-
horchend fügt. Was dumpfe, trübe, übermüthige Be-
ſchränktheit vergangener Zeiten in dieſem Felde ausge-
brütet, das hat das vorliegende kleine Buch in Eins
geſammelt, und der Unſinn iſt häufig darin ſo weit
getrieben, daß er als Ironie erſcheint, und es den An-
ſchein gewinnt, als wolle der Sammler ſich über ſein
Publikum mockiren. So in dem Spruche gegen die
Mundfäule: „Job zog über das Land, der hat den
Stab in ſeiner Hand, da begegnete ihm Gott der Herr,
und ſprach zu ihm: „„Job, warum trauerſt du ſo ſehr““?
Er ſprach: „„Ach Gott, warum ſoll ich nicht trauern?
Mein Schlund und mein Mund will mir abfaulen““.
Da ſprach Gott zu Job: „„Dort in jenem Thall, da
fließt ein Brunnen, der heilet dir N. N. deinen Schlund
und deinen Mund, im Namen Gottes des Vaters, des
Sohnes, und des heiligen Geiſtes! Amen!
Oder gegen das Feuer:
Schreibe folgende Buchſtaben auf jede Seite eines
Tellers, und wirf ihn in das Feuer, ſogleich wird es
geduldig auslöſchen:
S. A. T. O. R.
A. R. E. P. O.
T. E. N. E. T.
O. P. E. R. A.
R. O. T. A. S.
Ein andermal gewinnt das Wort in der ſeltſamen
Fügung und Ideenverbindung einen eigenen, dunkel-
ſchauerlichen, geſpenſtermäßigen, wahnſinnigen Anſtrich,
wie in einen Hexenkreis um Mitternacht hineingeſprochen,
um die Werke der Finſterniß zu vernichten. So z. B.
„Gottes Gnad und Barmherzigkeit, die gehe über mich
N. N., jetzo will ich ausreiten oder ausgehen, ich will
mich umgürten, ich will mich umbinden mit einem
ſicheren Ring, wills Gott der himmliſche Vater, der
wolle mich bewahren, mein Fleiſch und Blut, alle
meine Aederlein und Glieder auf dem heutigen Tag
und Nacht, wie ichs vor mir hab, und wie viel Feind
meiner waren, ſollen ſie verſtummen, und alle werden
wie ein ſchneeweißer, todter Mann, daß mich keiner
ſchießen, hauen, noch werfen kann, noch überwinden
mag, er habe gleich Büchſen oder Stahl in ſeiner
Hand, von allerlei Metall, wie alle böſe Wehr und
Waffen ſeyn genannt, meine Büchſe ſoll abgehen, wie
der Blitz vom Himmel, und mein Säbel ſoll hauen,
wie ein Scheermeſſer. Da gieng unſere liebe Frau
auf einen ſehr hohen Berg; ſie ſah hinab in ein ſehr
finſteres Thal, und ihr liebes Kind unter den Juden
ſtehen, ſo herb, ſo herb, daß er gefangen, ſo herb,
daß er gebunden ſo hart, das behüte mich der liebe
Herr Jeſus Chriſt, vor Allem was mir ſchädlich iſt,
Amen“. Dann folgt wieder einmal gegen den Huſten:
„Nimm Wachholderbeeren, Zuckerbrod und Wermuth,
koche es untereinander, und thue es warm über den Magen.
Das Buch wäre wohl, wo es häufig umgeht, allen-
falls Gegenſtand der Polizei, wenn Dieſe nicht lieber
der Zeit den Unſinn überlaſſen will, daß ſie ihn verzehre.
35.
Des durch die ganze Welt berufenen Erzſchwarz-
kuͤnſtlers und Zauberers D. J. Fauſts mit
dem Teufel aufgerichtetes Buͤndniß, aben-
theuerlicher Lebenswandel, und mit Schrek-
ken genommenes Ende. Coͤln am Rhein und
Nuͤrnberg.
Daß Satans Reich groß und mächtig auf Erden
ſey, hatte man frühe ſchon verſtanden. Was oben am
dunkeln Himmel glänzte, blinkte, ſtrahlte, das war
den Menſchen wohl befreundet und ehrwürdig, aber
nicht grauenvoll, ſchreckhaft: was aber der Erde dunkler
Schooß verbarg, was im Erdbeben ihn durchzuckte,
was aus geborſtenen Riſſen dunſtig, ſchwefelflammig,
Seuchen-verbreitend ſich ergoß, das war ihnen unheim-
lich, verdächtig, grauſenhaft; da ſchien ihnen kein
Stern herauf, finſterer und immer finſterer wurde die
Finſterniß, je tiefer ſich die Phantaſie in den Abgrund
hinabverſenkte, bis endlich die Geſchreckte ſelbſt erſtarrte,
und unten ganz unten die Nacht in ſchwarzen Klumpen
gerann; und in dem Abgrund, den nimmer des fernen
Himmels Morgenroth erreichte, da brannte der Hölle
Pfuhl, da lag der alte Lindwurm mit allen Erdenübeln
und ſchlief, ſo lange der Sonne Licht der Erde
Oberfläche beſcheint, und die Gemeinde gottſelig fromm
vor den Altären kniet; wenn aber die Nacht die Erde
nicht mehr mit Himmelslichte tränkt, wenn der Kerzen
Schein am Altar erliſcht, wenn der Hölle Reich dann
weiter wird und freier, wenn die Lebenden ſchlafen,
die Todten aber wachen und wandeln: dann ſendet
der grimme Wurm die junge Brut hinaus auf Raub
und Nahrung, und durch die Lüfte ſtreift dann das
Gezücht, und Die Werke der Finſterniß treiben, die
treten dann auf den Kreutzwegen in ihren Zauberkreiſen
mit ihnen in Verkehr, und die ungethümen Kinder der
Lüge helfen ihnen Unheil und Böſes ſchaffen. Denn
die Fürſten des Himmels, hat man geſchloſſen, die
Sterne, ſind an der Aſtrologen Kreiſe feſtgebunden; der
Menſchen Geiſt vermag ſo gleicher Weiße durch nigro-
mantiſchen Zauber die Fürſten der Finſterniß in gleiche
Kreiſe einzubannen, daß ſie ihm Rede ſtehen, daß ſie
die arge aber übermenſchliche Kraft zu ſeinem Dienſt
verwenden, daß ſie die Geheimniſſe und die Schätze
der dunkeln Nacht ihm öffnen, daß ſie die Naturkräfte
ihm dienſtbar machen, und ihn durch ihre Macht zum
Erdenfürſten erheben, dafür daß er ſich ſelbſt und den
irdiſchen Leib ihnen erb- und eigenthümlich verſchreibt.
Das iſt daher das Weſen der Magie, ein furchtbarer
Bann, der hinunter in der Erde Abgrund reicht, und
wenn des Menſchen Thun die Schranken des Irdiſchen
verläßt, wenn er in ſeinem Treiben ſich in ſich ſelber
ſcheidet, und himmelan die Flamme der frommen
Gottſeligkeit ſchlägt, und endliche Menſchen zu Heiligen
des Himmels ſich verklären, dann muß in der Scheid-
ung der Gegenſatz nothwendig ſich ebenfalls mit her-
vordrängen: während die einfältige, ſchuldloſe Gottes-
furcht in ſtiller Hingebung des Himmels Reich gewinnt,
muß der kecke, übermüthige Trotz der Hölle Pforten
ſtürmen, dort wird irdiſche Mühſeligkeit mit himmliſcher
Glorie dann vergolten, hier irdiſche Wohlfahrt mit
ewiger Höllenqual gebüßt. Daher iſt die Magie mit
ihrer ganzen Encyclopädie der Goetie, Necromantie,
Necyomantie, Anthropomantie, Leconomantie, Gaſtro-
mantie, Captromantie, Onomantie, Hydromantie,
Geomantie, Pyromantie, Capnomantie, Ichtiomantie,
Tephramantie, mit allen ihren Künſten und Zauber-
formeln und Beſchwörungen, mit ihren Kreiſen und
Sprüchen durchaus ein descendenter religiöſer Cultus;
gottlos ſchwört das Menſchenkind den Himmel ab, und
mildthätig nimmt die Hölle ihn dafür zum Heiligen
auf.
Das war der conſequente Volksglauben der Zeit,
die in religiöſer Genialität ſo viele Selige dem Himmel-
27.
reiche eingebohren hat; er hat auch dieſen Fauſt geboh-
ren, der zwar als ein Produkt der jüngeren Zeit
erſcheint, von dem aber die Propheten der vergangenen
Alter wie von einem noch kommenden geweiſſagt hatten.
Eben ſo iſt hauptſ ächlichhauptſächlich auch von ihm, als die religiöſe
Genialität in eine Poetiſche ſich verlor, jenes neue un-
endliche Object der Kunſt ausgegangen, an dem ſie in
den neueren Zeiten ſo vielfältig ſich verſucht, die
Darſtellung des Teufels nämlich. Das Zerriſſene,
Grundböſe in plaſtiſchen Umriſſen, alſo in Harmonie
darzuſtellen; das durch ſeine innere falſche Natur im-
merfort Verzerrte zur Ordnung und Einheit zuſammen-
zuzwingen; das Mißverhältniß ſelbſt in Verhältniſſe
einzuſchließen, und der abſoluten Verlogenheit doch eine
Kunſtwahrheit zu leihen: das iſt die ſchwer zu löſende
Aufgabe, gleichſam als ob man freſſendes Gift bereiten
ſollte in einem Becher, der ſeine Berührung ſcheut,
und davon in Stücke zerſpringt. Durchaus fällt daher
das Problem jenſeits der Gränzen der eigentlichen
Kunſtſchönheit hinaus, gerade der negative Gegenſatz
alles Schönen muß ſich in ihm bilden, und ein vol-
lendeter Teufel kann uns unmöglich Liebe abgewinnen,
er kann nur auf unſern Haß Anſpruch machen; teufel-
iſch müſſen wir ihn ſelbſt erblicken und teufeliſch uns
an ihm freuen, und dies Erwecken unſerer Teufelhaf-
tigkeit durch die Aeußere, kann allein die Genialität
des Werkes conſtituiren. Indem wir aber uns an ihm
ergötzen, haben wir ſelbſt gleichfalls gewiſſermaßen
ſchon einen Bund mit ihm geſchloſſen, Fauſt’s Sym-
pathie mit ihm war eine Gleiche, nur enger; er lebte
mit ihm gleichſam in einer umgekehrten Ehe, der nicht
Liebe, ſondern Feindſeligkeit zum Grunde lag, und die
daher mit der Vernichtung des Schwächeren, Gehaßten
endete.
Das Volksbuch über den D. Fauſt iſt Auszug eines
größeren Werkes unter dem Titel: Erſter Theil der
wahrhafftigen Hiſtorien von den grewlichen und ab-
ſchewlichen Sünden und Laſtern, auch von vielen
wunderbarlichen und ſelzamen Ebentheuern ſo D. Jo-
hannes Fauſtus, ein weitberuffener Schwarzkünſtler
und Erzzauberer durch ſeine Schwarzkunſt bis an ſeinen
erſchrecklichen End hat getrieben. Mit nothwendigen
Errinnerungen und ſchönen Exempeln, menniglichem
zur Lehr und Warnung außgeſtrichen und erklehret
durch G. R. Widman. Gedruckt zu Hamburg 1599.
4. Zweiter Theil Dritter Theil. Früher, wie man
glaubt, ſchon 1587. 8. Berlin herausgekommen. Daß
Fauſt gegen das Ende des Fünfzehnten und den Anfang
des ſechszehnten Jahrhunderts wirklich exiſtirt habe,
geht aus einer Menge hiſtoriſcher Zeugniſſe von Augen-
zeugen, die ihn geſehen zu haben verſichern, hervor.
Er lebte gleichzeitig mit Paracelſus, und war, wie es
ſcheint, Freund von ihm und dem gleich berüchtigten
Cornelius Agrippa. Melanchthon gedenkt ſeiner in ſei-
nen Briefen, und eben ſo Conrad Geßner als ſeines
Zeitgenoſſen. Manlius in ſeinen Collectaneis Loco-
rum communium ſagt von ihm p. 38: Novi quen-
dam nomine Faustum de Kundling, quod est
parvum oppidum patriae meae vicinum. Widman
führt in der Einleitung mehrere Aeußerungen Luthers
über ihn an, und ſagt dabei am Ende: „Dieſe und
andere mehr kurzweilige und fröhlich erzählte Geſpräch,
hab ich aus einem beſondern Schreiben, ſo mir bekannt,
wollen erzählen Vorzüglich der gleich folgende Brief des Abt Tritheim
aus den Epistolis Familiaribus, edirt von J. Spiegal,
Hagenau 1536, geſchrieben am 20ſten Auguſt 1507,
giebt über ſein ganzes Weſen, Thun und Treiben
und über ſeine vorzüglichſten Schickſale den be-
ſtimmteſten Aufſchluß. Homo ille, (ſagt er) de quo mihi
scripsisti, Georgius Sabellicus, qui se principem necromanti-
corum ausus est nominare, gyrovagus, battologus et circum-
cellio est: dignus, qui verberibus castigetur, ne temere dein-
ceps tam nefanda, et Ecclesiæ sanctæ contraria publice audeat
profiteri. Quid enim sunt aliud tituli, quos sibi assumit,
nisi stultissimæ ac vesanæ mentis indicia, qui se fatuum, non
philosophum ostendit? Sic enim titulum sihi convenientem
formavit; magister Georgius Sabellicus, Faustus junior, fons. Aus allen dieſen Zeugniſſen,
obgleich ſie ſich häufig, ſogar in Rückſicht auf ſein
eigentliches Vaterland, widerſprechen, geht ſo viel
necromanticorum, astrologus, magus secundus, chiromanticus,
agromanticus, pyromanticus, in hydra arte secundus. Vide
stultam hominis temeritatem, quanta feratur insania, ut se
fontem necromantiæ profiteri præsumat, qui vere omnium
bonarum literarum ignarus, fatuum se potius appellare de-
buisset, quam magistrum. Sed me non latet ejus nequitia.
Cum anno priore de marchia Brandenburgensi redirem, hunc
ipsum hominem apud Geilenhusen oppidum inveni: de quo
mihi plura dicebantur in hospitio frivola, non sine magna
ejus temeritate ab eo promissa. Qui mox, ut me adesse audi-
vit, fugit de hospitio, et a nullo poterat persuaderi, quod se
meis præsentaret aspectibus. Titulum stultitiæ suæ, qualem
dedit ad te, quem memoravimus, per quendam civem ad me
quoque destinavit. Referebant quidam in oppido sacerdotes,
quod in multorum præsenna dixerit, tantam se omnis sapien-
tiæ consecutum scientiam atque memoriam, ut si volumina
Platonis et Aristotelis omnia cum tota eorum philosophia in
toto periisset ab hominum memoria, ipse suo ingenio, velut
Ezras alter Hebraeus, restituere universa cum præstantiore
valeret præstantia. Postea me Neometi (Speyer) existente
Herbipolim venit, eademque vanitate actus in plurimorum
fertur dixisse præsentia, quod Christi salvatoris miracula non
sint miranda, se quoque omnia facere posse, quæ Christus
fecit, quoties et quandocunque velit. In ultima quoque hujus
anni quadragesima venit Stauronesum (Creutznach, das er
anderwarts immer ſo nennt) et simili stultitia gloriosus de
se pollicebatur ingentia, dicens se in Alchemia omnium, qui
fuerint unquam, esse perfectissimum, et scire atque posse,
quicquid homines optaverint. Vacabat interea munus docendi
scolasticum in oppido memorato, ad quod Francisci ab
Sickingen Balivi principis tui, hominis mysticarum rerum
hervor; daß er als hiſtoriſche Perſon angeſehen, als
ein pfiffiger, verſchlagener, ſeinem Jahrhundert impo-
nirender, vielleicht auch in geiſtiger Bildung und tech-
niſcher Geſchicklichkeit wirklich überlegener Menſch
erſcheint, der beſonders ſeine Wichtigkeit eben durch
ſein Zeitalter erhielt. Indem nämlich die Reformation
den erſchlafften religiöſen Sinn wieder auf’s Reue
weckte, konnte dieſer bey dem durchhin nüchternen nor-
diſchen Charakter, der ſie bezeichnete, unmöglich in
glühender Andacht ſich in religiöſe Transcendenz ver-
lieren, ſie mogte lieber polemiſch hervorbrechen,
und den Gegenſatz des Heiligen dem öffentlichen
Abſcheu hingeben, wie ſie überhaupt den ältern Cultus
percupidi, promotione fuit assumtus: qui mox nefandissimo
fornicationis genere, cum pueris videlicet, voluptari cœpit-
quo statim deducto in lucem fuga pœnam declinavit paratam.
Hæc sunt, quæ mihi certissimo constant testimonio de homine
illo, quem tanto venturum desiderio præstolaris, Cum venerit
ad te, non philosophum, sed hominem fatuum et nimia
temeritate agitatum invenies. Auch Conr. Mutianus Rufus
in dem Briefwechſel, den Tenzel von ihm herausgegeben
hat, ſchreibt von ihm am 7. Oct. 1513 Folgendes. Venit
octavo abhine die quidam chiromanticus Erphurdiam nomine
Georgius Faustus, Helmutheus Hedebergensis (Hemitheus
Wirtebergensis?) merus ostentator et fatuus. Ejus et omnium
divinaculorum vana est professio. Rudes admirantur. — Ego
audivi garientem in hospitio. Non castigavi jactantiam. Quid
aliena insania ad me.
als einen gleich negativ Gewordnen dargeſtellt, und
dem gleichen Abſcheu preiß gegeben hatte. So erſcheint
Fauſt daher in der Geſchichte gleichſam als der allge-
meine Repräſentant der ganzen ſchwarzkünſtleriſchen,
zauberiſchen Tendenzen, die durch alle Jahrhunderte durch-
gegangen waren, jetzt aber an der Gränze, wo
das einige Ganze der Religion ſchismatiſch in ſich ſelbſt
zerfiel, und Haß und Feindſchaft in den getrennten
Gegenſätzen erwuchs, endlich ihren gemeinſchaftlichen
Sammelpunkt in einem Manne fanden, der bei ſeinen
vielfältigen Reiſen in mannigfaltige Berührung mit
allen Claſſen des Volks gekommen war, und überall
ſich der Gemeinſchaft mit dem Böſen rühmte. Schon
in den früheſten Zeiten trug ſich das Volk mit ähnlichen
Erzählungen von Teufelsbannungen, wie ſie im Fauſt
ſich finden. Außerdem daß das ganze Hexenweſen unmit-
telbar damit zuſammenhing, in dem durchaus die
myſtiſche Verzuckung, aber nicht in die Seligkeiten des
Himmels, ſondern in den Abgrund der Hölle, auf den
Blocksberg oder unter das Hochgericht wiederkehrte,
hatte das Volk zu allen Zeiten Menſchen, die es im
Bunde mit dem Teufel glaubte. Zoronſter, Democrit,
Empedokles, Apollonius waren in den älteren Zeiten
dieſem Urtheil nicht entgangen, und in der neuern Zeit
mußten Raimund Lullius, Arnold von Villeneuve,
Albertus Magnus, Johann Tritheim, H. Cornelius
Agrippa, Theophraſtus Paracelſus, Hieronimus Car-
danus der Reihe nach dieſem Verdachte ſich preiß geben.
Zoroaſter, nachdem er viele Bücher von der Zauberet
geſchrieben, und ſich zum Könige durch ſeine Kunſt
emporgeſchwungen, wurde vom Teufel erſäuft. Robert
der Teufel, Herzog der Normandie, im Jahr 768,
vermogte in alle Thiergeſtalten ſich zu verwandeln; er
that drei Jahre Buße, doch nahm ihn am Ende der
Teufel, führte in die Luft, und ließ ihn herabfallen,
daß er zerſchmetterte Ueber ihn exiſtirt ein franzöſiſches Volksbuch: La terrible
et merveilleuse vie de robert le diable, lequel apres fut
homme de bien. A Troyes, das aber ſeine Geſchichte ganz
anderſt als die Tradition erzählt. Robert wird vor ſeiner
Geburt von ſeiner Mutter fluchend dem Teufel übergeben,
und die Folgen dieſer Verwünſchung werden ſchnell im
Charakter des Kindes ſichtbar. Gebohren unter Sturm
und Ungewitter, vollführt der Knabe bald alles erſinnliche
Böſe, iſt der Schrecken aller Kinder, die ihn den Teufel
nennen, erſticht ſeinen Lehrer. Im ſiebenzehnten Jahre zum
Ritter geſchlagen, tödtet er gleich auf dem Turniere Alles
was ihm vorkömmt, und ſammelt endlich, nachdem er die
Verwünſchung von aller Welt geworden, eine Räuber-
bande, mit der er in der Tiefe des Waldes ein Schloß ſich
baut, und von da aus das ganze Land in Schrecken ſetzt.
Als er aber eines Tags ſeine Mutter beſucht, und Alles,
ſelbſt die Mutter, vor ſeinem Aublick flieht, entdeckt Dieſe
ihm endlich den Grund ſeiner Bosheit; er wird erſchüttert,. Baian, Fürſt in Bulgarien,
zu Lothars Zeiten, übte auf gleiche Weiſe Zauberkünſte;
am Ende flüchtete er nach Rom, der Pabſt legte ihm
St. Peters Ketten an, allein der Teufel erwürgte ihn
nichtsdeſtoweniger. So hatte gleichermaßen der
kriegeriſche Pabſt Sylveſter der Zweite, der Mathematiker,
einen Bund mit dem Teufel, der in Geſtalt eines
ſchwarzen, zottigten Hundes ihn begleitete, und ihn
nach Verlauf ſeiner Zeit aus der Kirche nahm. So
Johann XIII, XIX, XX, XXI; ſo legte man
Gregor VII einen Zauberſpiegel bei; er hatte dem
und geht, nachdem er ſeine widerſpenſtigen Miträuber
erſchlagen, nach Rom, um vom Pabſte Abſolution ſeiner
Sünden zu erlangen. Der Pabſt verweißt ihn an einen
heiligen Eremiten, dem ein Engel im Schlafe Roberts
Buße mittheilt, daß er ſo lange ſtumm und närriſch um-
herziehen, und ſeine Nahrung den Hunden abjagen müſſe,
bis ein Zeichen ihm verkündige, daß ſeine Sünden abge-
büßt ſeyen. Er geht nach Rom, und führt das vorgeſchriebene
Leben an des Kaiſers Hof zum Erſtaunen aller Menſchen,
die ihn aber natürlich nicht kennen. Nach ſieben Jahren
hetzt des Kaiſers Seneſchall die Sarazenen gegen ſeinen
Herrn auf, daß ſie Rom belagern; der Kaiſer rückt mit
ſeinen Leuten ihnen entgegen, Roberten aber erſcheint ein
Engel im Garten, bringt ihm einen weiſſen Zelter und
gleiche Waffen, und gebietet ihm, damit gegen die Sara-
zenen zu ziehen. Er waffnet ſich, reitet in die Schlacht,
und entſcheidet dieſe zu Gunſten des Kaiſers; legt alsdann
im Garten an derſelben Stelle wieder die Waffen ab, wo
er ſie angelegt; Pferd und Gezeug verſchwinden, und
28.
Teufel den Cölibat angelobt, und er nahm ihn in Ge-
ſtalt eines ſchwarzen Mohren. Benedict IX hatte ſieben
Stück geſchworne Geiſter in einem Zuckerglaſe; Paul
II verſchrieb ſich mit Blut aus ſeinem Daumen dem
Teufel in Geſtalt eines grauen Männleins, war reich
wie kein Pabſt, führte ein greulich Leben, und als
ſeine Zeit um war, nahm ihn Satanas von der Seite
ſeiner Concubine weg. So hatte jedes Zeitalter gewiſ-
ſermaßen ſeinen Fauſt, von jedem wußten die Zeit-
genoſſen irgend etwas Uebermenſchliches beizubringen,
das nur als Emanation des Böſen ihnen begreiflich
er legt ſich wieder zu den Hunden hin. Des Kaiſers
ſtumme Tochter, die Alles bemerkt hat, erklärt den ganzen
Vorgang durch Zeichen, allein man glaubt ihr nicht.
Daſſelbe wiederhohlt ſich bei wiederhohltem Angriffe zum
zweiten und drittenmale; der Kaiſer, um zu erfahren,
wer der weiſſe Ritter ſey, legt ihm einen Hinterhalt; er
entrinnt, doch verwundet ihn Einer mit der Lanze, und
das Eiſen bleibt ihm im Beine ſtecken. Im Garten zieht
er die Lanze heraus, und verſteckt ſie zwiſchen zwei Steine.
Der Kaiſer läßt dann ausrufen, welcher Ritter in weiſſer
Rüſtung die Wunde mit der Lanze vorzeige, ſolle ſeine
Tochter und ſein halbes Kaiſerthum erhalten. Der Sene-
ſchall zieht eine ſolche Rüftung an, verwundet ſich ſelber
mit dem Eiſen, zieht an den Hof, und man ſagt ihm die
Tochter zu. Am Altare aber gewinnt dieſe ihre Sprache
wieder, erklärt wie Alles zugegangen ſey, man findet das
Eiſen wieder, der Eremit erſcheint, um Robert die Abſo-
lution zu geben, und Dieſer erhält des Kaiſers Tochter nun.
wurde; alle dieſe Einzelheiten ſammelten ſich endlich
in dem wahren und dem letzten Fauſt, der als der
Heermeiſter aller vorhergegangenen Zauberer ſich an
ihre Spitze ſtellte, und Alles vollbrachte, was Dieſe
gekonnt, und noch ein Mehreres. Fauſt iſt daher ge-
wiſſermaßen mehr Buch als Perſon, alles was von
ſeinen Zauberkünſten die Geſchichte ſeines Lebens
erzählt, iſt früher viele Jahrhunderte ſchon als Tra-
dition im Volke umgelaufen, und Fauſt’s Bildniß war
gleichſam das Siegel nur, was man auf die Sammlung
Aller gedrückt. Wirklich iſt kaum irgend ein Factum
in Fauſt’s Leben, das ſich nicht mit einer früheren
gleichlautenden Tradition belegen ließe. Wie Fauſt
den Kaiſer Maximilian, ſo bewirthete Albertus Magnus
im Jahre 1248 in dieſer Sage den Kaiſer Wilhelm zu
Cöln um Wcynachten, wo Alles von Froſte ſtarrte, in
einem grünen Garten mit belaubten Bäumen, die alle
blühten bey’m Geſang der Rachtigallen. Als ein ander-
mal ein Fürſt von ihm Auſtern verlangte, klopfte er
nur an’s Fenſter, da reichte gleich jemand eine Schüſſel
voll dar, auf welcher die franzöſiſchen Lilien geſtochen
waren. Da man deshalb nachfragte, war zur ſelbigen
Zeit eine Schüſſel mit Auſtern in des Königs Küche wegge-
nommen (Therſander). Auch dieſe Sage iſt in den
Fauſt aufgenommen. Vom Erlolfus, Abt von Fulda,
erzählte man auf gleiche Weiße, wie er Speiße nach
Belieben herbeizuſchaffen wiſſe, und Wein jeder Art
aus hölzernen Pflöcken auszuzapfen verſtände. Die
Erzählung von den vier Gauklern zu Francfurt, die
ſich enthaupten ließen, iſt gleichfalls eine ſehr alte
Sage; ſie wurde ſchon vom Simon magus erzählt,
und eben ſo vom Johannes Teutonicus, Domherr zu
Halberſtadt um 1271, der einen ſeiner beſoffenen
Cumpane auf ſeiner Stube enthauptete, den Kopf auf
der Schüſſel den Uebrigen herunterbrachte, und wie Dieſe
nun beſtürzt heraufgelaufen waren, und den Rumpf
geſehen, und die Stube voller Blut gefunden hatten,
da trafen ſie den Getödteten geſund und munter unten
wieder am Tiſche ſitzen. Daſſelbe erzählt Hondorff in
ſeinem Theat. hist. p. 188, wie Anno 1272 ein zau-
beriſcher Gaukler aus den Niederlanden gen Creutznach
gekommen ſey, der habe auf öffentlichem Markte ſeinem
Knechte den Kopf abgehauen, und nachdem der Körper
eine halbe Stunde auf der Erde gelegen, habe er ihm
denſelben wieder aufgeſetzt. Er fuhr auch mit den
Hunden in der Luft herum, und machte ein Geſchrei
dabei, als wenn er auf die Jagd gienge. Dieſe Luft-
jagd, wie auch Fauſt ſie vor dem italieniſchen Abge-
ſandten veranſtaltete, wurde eben ſo dem Scotus zu
Francfurt, dm Zoroaſter, und dem Robert von der
Normandie beigelegt. Auch die Mantelfahrt hatte man
frühe ſchon von Simon Magus und Andern erzählt.
Teutonicus hatte drei Pfründen, zu Halberſtadt, Mainz
und Cöln; er mußte in der Chriſtnacht an jedem Orte
eine Chriſtmeß ſingen, und dafür hatte er in ſeinem
Schreibſtüblein einen Roßzaum hängen, und wenn er
dem Diener ſagte, „Jung nimm den Zaum, geh in
den Hof, ſchüttle ihn“, dann kam alsbald ein Roß
hineingelaufen, der Pfaff ſetzte auf, und fuhr damit
davon. Daraus wurde die Geſchichte der Pfalzgrafen,
die gegen Heidelberg fuhren, die ſich aber nicht im
Volksbuche findet. Die Erzählung von dem Adelichen
aus Dresden, den Fauſt auf dem Mantel aus der
Türkei abholte, und zu ſeiner Frau zurückbrachte, die
ſich eben an einen Andern verheirathen wollte, iſt aus
Heinrich dem Löwen genommen. Das Roßtauſcher-
Stück iſt der alte böhmiſche Schwank von dem Becker
und den Schweinen. Der Fürſt Baian zauberte ganze
Schwadronen Kriegsvolk herbei, wie Fauſt als der
Ritter von Hard ihn verfolgte; er konnte dabei jede
beliebige Geſtalt annehmen. Roger Baco trieb, wie
Fauſt, Schiffe ſtromaufwärts. Von Paracelſus ver-
ſichern ſeine Freunde J. Oporin in Baſel und G.
Wetter, die auf ſeinen Wanderungen ihn begleiteten,
er habe oft den Teufel ſeinen Freund und Geſellen
genannt, und zuweilen, berauſcht, um Mitternacht
ganze Schwärme böſer Geiſter citirt, und mit ſeinem
Degen ſich mit ihnen herumgeſchlagen. Wie Fauſt
den Alexander vor dem Kaiſer Waximilian citirte, ſo
meldet die franzöſiſche Chronik, wie Robert von der
Rormandie Carl den Großen durch den Zauber herbei-
gerufen habe. Zu der Geſchichte, wie Fauſt ein Fuder
Heu als Salat um einen Löwenpfennig gefreſſen,
gieng ebenfalls ein Pendant ſchon in früheren Zeiten
um, wie nämlich der Abt Erlolfus einem Wirthe alle
Gerichte weggegeſſen habe, und am Ende des Wirthes
Weib ſelber mit, die jener aber hernach in der Küche
wieder unverſehrt, ſo wie die Speiſen in der obern
Kammer gefunden habe. Auch die Geſchichte mit dem
aufgefreſſenen Wirthsjungen iſt daher keineswegs allein
ihm eigen. Als Carl IV mit der baieriſchen Prinzeſ-
ſin Sophie Beilager feierte, brachte der Braut Herr
Vater einen ganzen Wagen voll Schwarzkünſtler mit
nach Prag. Da es aber am K. Hofe an ſolchen Leuten
auch nicht fehlte, ſo mußten ſie mit einander certiren,
wer die Kunſt am Beſten gelernt hatte. Hier ergriff
der böhmiſche Zauberer Zytho den Meiſter der baieriſchen,
Ramens Gonin, ſperrte das Maul auf, bis an beide
Ohren, und fraß ihn mit Haut und Haaren, bis auf
die Schuhe, welche, weil ſie ſehr kothig waren, er
wieder von ſich ſpie. Hernach ſetzte er ſich über ein
großes Gefäß mit Waſſer, und gab den Verſchlungenen
wieder von ſich. (Therſander.) So ſchlägt daher
überall im Fauſt die Tradition durch; er hat die alten
Zauberer alle um ſich her citirt, und weil er allein
noch unter den Lebendigen iſt, darum führt er für ſie
Alle auch das Wort. Es iſt nicht unwahrſcheinlich,
daß er ſelbſt ſein eigener Compilator geweſen ſey, und
ſich geſammelt habe aus den mannigfaltigen Ueberlie-
ferungen der Vergangenheit. Widmann’s Schrift grün-
det ſich, wie der Herausgeber ſelber mehrmal ſagt,
auf ein Autographum von Fauſt, das eines gelehrten
alten Doctoris in Leipzig drei Herren Söhne in ſeiner
Liberey gefunden, und Andern mitgetheilt haben, was
er dann weiter aufgeſtutzt, und mit moraliſchen An-
merkungen verſehen, wie denn die zehn ſchlechten Dis-
putationen Fauſt’s mit dem Teufel über Himmel, Hölle,
Geiſter, Welt und Teufel ganz von ihm zu ſeyn
ſcheinen. Es wäre indeſſen auch nicht unmöglich, daß
jenes Autographum von Johann Waiger oder Wagner,
Fauſt’s Schüler, ſich herſchreibe. Fauſt ſelbſt giebt
ihm das Zeugniß, wie er verſchwiegen ſey, und viel
böſer Schalkheit in ihm ſtecke, dabei mit ziemlichen
Verſtand begabt, wie er in der Schule bei Beckern,
Metzgern und andern Handwerksleuten für ſtumm
gegolten habe, im Hauſe aber fertig redete, dabei
Bankert. Er ſetzte ihn deswegen zu ſeinem Erben ein,
vermachte ihm alle ſeine Bücher, und in einer Unter-
redung vor ſeinem Tode ſagte er ihm ausdrücklich:
„Daneben bitte ich dich, daß du meine Kunſt, Thaten
und was ich getrieben habe, nicht offenbahreſt, dann
allererſt lang nach meinem Tode, alsdann wolleſt du
es fleißig aufzeichnen, es zuſammenſchreiben, und in
ein Hiſtorien bringen, darzu dir dein Geiſt und Auer-
hahn helfen wird, was dir vergeſſen iſt, das wird er
dich wieder errinneren. Dann man wird dieſe meine
Geſchichte von dir haben wollen.“ Ueber Wagner ſelbſt
erſchien ſpäter eben auch wieder eine gleiche Biographie,
wie die hier von ihm Gefoderte, unter dem Titel: Des
durch ſeine Zauberkunſt bekannten Chr. Wagner Leben
und Thaten. Weyland von Fr. Schotus Tolet in
teutſcher Sprache beſchrieben von P. S. M. Berlin
1712, ſpäteres Machwerk, nachgeſtoppelt, und ohne
allen innern Werth.
Fauſt iſt übrigens keineswegs der einzige und älteſte
Zauberroman; früher ſcheint ihm die Schrifft vorange-
gangen zu ſeyn, die Koch anführt: Lucifers mit ſeiner
Geſellſchaft val. Und wie d’ ſelben geiſt einer ſich zu
einem Ritter verdingt, und ym wol dienete. Bamberg
1493. 4. Eben ſo Theophilus, eine Romanze, wo
dieſer ſich mit Leib und Seele dem Teufel verſchreibt,
um wohl leben zu können, und die Handſchrifft in der
Hölle dann niedergelegt wird. Am Ende ſchließt er
jedoch minder tragiſch als Fauſt damit, daß er die Sünde
bereut, und Maria ihn aus des Teufels Gewalt befreit.
Aber weit älter noch, und in die früheſten Jahrhun-
derte fallend, iſt die Geſchichte des Zauberers Virgilius.
Mir iſt nur die holländiſche Ueberſetzung deſſelben zu
Geſicht gekommen: Een schone Historie van virgi-
lius, van zijn Leuen, Doot, ende van zijn won-
derlijcke werken, di hy deede by Nigromantien,
ende by dat behulpe des Duyvels. T’ amsterdam
by H. S. Muller 1552. Virgil als Jüngling geräth
hier in eine Berghöhle; ein Teufel, der darin gebannt
iſt bis zum jüngſten Tage, wenn ein Menſch ihn nicht
befreit, ruft ihn bei Namen, bittet ihn um Hülfe, und
verſpricht ihn dafür die Schwarzkunſt zu lehren. Virgil
willigt ein, läßt ſich unterrichten, und öffnet dem Teufel
dann die enge Oeffnung, in der er eingeſperrt iſt; Dieſer
ſchlüpft hervor, und Virgilius ſtellt ſich erſtaunt, daß
durch dieſes enge Loch die anſehnliche Figur hindurch
gekonnt, findet es unmöglich; der Teufel verſpricht,
um ihn zu überzeugen, den Durchgang noch einmal
vorzunehmen, er drängt ſich hinein, und Virgilius
ſchließt die Oeffnung, und verſperrt ihn von
29.
neuem Daſſelbe, ſo wie noch Mehreres aus dem Virgilius,
erzählen die Schweizer vom Paracelſus; der Teufel war
nach ihnen in einen hohlen Baum verſchloſſen und einge-
zapft, und Theophraſtus befreite ihn dafür, daß er ihn
zaubern lehrte.. So findet von dieſem Fauſt der Teufel ſich
dasmal überliſtet. Virgilius geht nun hin mit ſeiner
Kunſt, und baut ſich zunächſt ein Caſtell; ſeine Feinde
hetzen den Kaiſer gegen ihn auf, daß er ihn belagert;
er aber verzaubert die ganze Armee, daß ſie Alle nicht vor-
wärts noch rückwärts können, und da ein anderer
Nigromant den Bann löſt, ſeine Leute in Schlaf ver-
ſetzt, und die Belagerer nun ſtürmen, findet V. noch
eine ſtärkere Beſchwörung im Buche, daß Alle wie ſie
ſtehen auf Leitern, Mauern, und der Kaiſer ſelbſt,
wie erſtarrt bleiben müſſen, bis ſie ſich mit ihm aus-
föhnen, und er ſie wieder löſt. Dann baut er einen
Pallaſt, in deſſen vier Flügeln man Alles hört, was in
den vier Quartieren von Rom geſprochen wird. Weiter
gründete er salvatio Romae, einen Thurm mit Bild-
niſſen, die nach allen Gegenden die Glocken in den Händen
tragen, mit denen jedesmal diejenige läutet, nach
deren Weltgegend hin ein Volk die Stadt bedroht.
Weiter verfertigt er ein kupfernes Pferd mit einem
Reuter von derſelben Materie, das Nachts durch die
Straßen ritt, und mit einem Flegel alle Diebe tödtete;
dann eine Lampe, die immer brannte, bis ſie dreihundert
Jahre nach ſeinem Tode von einem Metallmann erſchoſſen
wurde, den er mit geſpanntem Bogen dabei geſetzt.
Dann legt er ſich einen Baumgarten an, worin täglich
Früchte reiften, Blumen blühten, unſichtbare Vögel
ſangen, Quellen rieſelten in denen Fiſche ſpielten;
Alles nur mit einer Luftwand, und doch ſo beſchloſſen,
daß niemand hineindringen mogte. Er verliebt ſich
weiterhin in des Sultans Tochter von Babylon, führt
ſie auf ihre Bitte mehrmal durch die Luft in ſeinen
Baumgarten; der Sultan, der einſt ihre nächtliche
Abweſenheit bemerkte, und ſie Morgens wieder im
Bette findet, fragt ſie um ihr Abentheuer, ſie entdeckt
ihm des Meiſters Kunſt. Der Sultan gebietet ihr,
ihm, wenn er wiederkehre, einen Schlaftrank zu geben;
ſie thut, wie er ihr geheißen, und V. wird gefangen,
und ſoll getödtet werden. Da zaubert er dem Sultan
den Euphrat auf den Richtplatz, daß er mit ſeinem
ganzen Hofe in ihm ſchwimmt und zappelt, wie die
Fiſche; er ſelbſt aber baut ſich eine Luftbrücke, entführt
ſeine Geliebte, und gründet dann Neapel mit einem
Thurme darin, auf dem ein Apfel an einer eiſernen
Kette hängt, und wenn man ihn erſchütterte, dann
mußte ein Erdbeben die ganze Stadt erſchüttern,
wenn man ihn aber wegbrach, dann ſollte die Stadt
verſinken. Er ſtiftete auch Schulen dort, und las ſelbſt
Nigromantie, und nachdem er noch viel Anderes voll-
bracht, wollte er wieder ſich verjüngen, und nahm
ſeinen getreueſten Knecht, gieng mit ihm in ſein Caſtell,
und gebot ihm, ihn in Stücken zu hauen, und alle
Gliedmaßen dann, den Kopf zu unterſt, das Herz in die
Mitte, die Füße zu oberſt in eine Tonne zu legen,
über der eine ewige Lampe brannte, und dieſe dann
jeden Tag zu erneuen, nach drei Wochen werde er
als Jüngling wieder auferſtehen. Der Diener ließ ſich
mit Mühe nur bereden, nachdem aber der Prozeß
ſieben Tage fortgedauert hatte, vermißt der Kaiſer
den Meiſter; er inquirirt auf den Diener, und dieſer
muß ihn endlich nach vielem Widerſtande in das Caſtell
einführen, das Metallrieſen mit eiſernen Dreſchflegeln
bewachen; als man aber dort die Stücke in der Tonne
findet, wird der Diener als Mörder umgebracht, und
ein nacktes Kind wurde da geſehen, und rief vermaladeit
ſey der Tag, wo ihr hergekommen, und verſchwand.
Man ſieht, wie Alles friſcher, romantiſcher, ſüdlicher,
als in dem Nordiſchen Fauſt iſt, der mehr gegen das
Comiſche oder das Schreckliche hinneigt. Es iſt, wie
mehrere Spuren andeuten, italiäniſchen Urſprungs,
und entweder unmittelbar von einem Italiäner, oder
auch wohl von einem Spanier oder Griechen in Italien
geſchrieben. Mehreres aus dem Romane, wie z. B.
die Salvatio Romae, die auch in den gestis romano-
rum und den ſieben weiſen Meiſtern vorkömmt, deutet
auf einen ſehr frühen Urſprung des Werkes, der viel-
leicht hinter dem zwölften Jahrhundert liegt.
36.
Des weltberuffenen Herzogs von Luxemburg,
geweſenen koͤnigl. General und Hofmarſchals
Pacta, oder Verbuͤndtniß mit dem Satan,
und das darauf erfolgte erſchroͤckliche Ende,
wobey auch deſſen bey ſeinem Leben veruͤbte
tyranniſche Mord- und Frevelthaten kuͤrz-
lich beſchrieben werden. Gedruckt zu Offen-
bach und Nuͤrnberg.
Aelter und beinahe gleichlautend mit dieſer Novelle
iſt die Erzählung, die der Abt von Clyniax von einem
Grafen von Mascon aus der Lyoniſchen Provinz macht.
Dieſer verſchrieb und verhieß dem Teufel, daß er
wollte ein Feind und Verfolger der Cleriſey ſeyn, und
er hielt, was er gelobt, und nahm ihnen all ihre Haabe
und ihre Güter. Zu Ende, da er wußte, daß er fort
müße, ließ er zurichten ein großes Panketh, und dazu
ſeine Freunde berufen, und da er in den beſten Freuden
ſaß, ritt ein großer Mann auf einem ſchwarzen Pferde
in des Pallaſtes Pforten hinein, zog zum Grafen hin,
und ſagte, wie er etwas mit ihm zu reden hätte. Da
merkt der Graf, wo es hinaus wollte; ſagt hierauf zu
dem Manne, er ſollt ihm vollends dieſe Zeit ſeine Freud
zulaſſen, und kommen, wenn die Nacht erſt hergehe.
Das wollte dieſer Mann nicht, da erzürnet ſich der
Graffe und ſprach Er ſitze wohl, er wolle ihm von
ſeinetwegen nicht aufſtehen. Auf das war der Graff als
durch unſichtbare Macht bezwungen, und da er geſehen,
daß er nicht dawider thun konnte, iſt er von dem Tiſch
aufgeſtanden, und hinabgegangen bis zu des Pallaſt’s
Pforten, allda hat er ein ander ſchwarz gerüſtet und
geſattelt Pferd gefunden, auf Welches er aus Befehl
gedachten unbekannten Mannes von Stundan geſeſſen.
Das hat er geſchwind genommen, und vor allen und
menniglichen daſelbſt gegenwärtig und zuſehende, den
Graffen in die Luft hinauf und hinweggeführt. Es
ward von dem großen Geſchrei und erbärmlichen Klagen,
das der Graff trieb, die ganze Stadt bewegt, und lieffen alle
Bürger zu, das Wunderzeichen zu ſehen. Er ſchrie um
Hilf, aber er fuhr je länger je mehr in der Luft hinan,
daß man ihn nicht mehr ſehen konnte, da iſt jedermann
ganz erſchrocken wieder zu Hauß gangen“. — Was hier
der Haß der beeinträchtigten Cleriſey that, das bewirkte
ſpäter bey’m Volke die Grauſamkeit und die Härte des
Herzogs, mit der er ſeine Kriege führte. Man weiß,
was die Memoiren der Zeit von ihm erzählen. Zügellos
raubten, plünderten, mordeten und ſchändeten ſeine
Soldaten; mit der fühlloſeſten Unmenſchlichkeit behan-
delte er die unglücklichen Schlachtopfer des Kriegs,
und oft hörte man ihn im Scherze ſagen, daß er ſich
dem Teufel ergeben wolle, wenn ſein König nur immer
ſiegreich durch ihn ſey. Erbittert über ſeine Mißhand-
lungen überantwortete dann das Volk nach ſeinem
Tode ſein Andenken wirklich dem Teufel.
37.
Der wunderbare Hund, oder der durch Liſt und
Bosheit eines Weibes in einen Hund ver-
wandelte Amtsſchoͤſſer, welcher mit ſeinen
Avanturen den Lauf der Welt vorſtellet.
Aus dem Polniſchen ins Teutſche uͤberſetzt
von G. P. B. Gedruckt in dieſem Jahr.
Auszug und Ueberſetzung aus der Novelle des Cer-
vantes, die beiden Hunde, hier und da mit eingelegten
Gedichten, unterhaltend und witzig wie das Original,
nicht ſchlecht überſetzt, gedruckt wahrſcheinlich zum
Troſte der von ihren Beamten gedrückten Bauern, und
dadurch hauptſächlich wohl in’s Volk eingegangen.
38.
Der wegen ſeiner kurzweiligen Poſſen merkwuͤr-
dige ſchleſiſche Ruͤbezahl, oder das ſchalkhafte
Geſpenſt. Gedruckt in dieſem Jahr.
Sammlung der verſchiednen ſchleſiſchen Volksſagen
über dieſen Berggeiſt, zum Theil aus Prätorius, ohne
weitere Auswahl zuſammengetragen, meiſtens hinaus-
laufend auf Spenden, die der reiche Geiſt aus ſeinem
verborgenen Vorrathe armen Schluckern gemacht.
39.
Eine ſchoͤne leſenswuͤrdige Hiſtorie von dem
unſchaͤtzbaren Schloß in der afrikaniſchen
Hoͤhle Xaxa, ſamt einer artigen Hiſtorie
von einem in der Hoͤlle und Vorhimmel
geweſenen verſoffenen Bauern. Coͤln.
Wie aus feſtem Kieſel ſchlug die feſte Kraft im
Norden den Funken der Poeſie hervor, von ſelbſt aber
ſtrömt ſie im Süden freiwillig ſich entladend aus. In
den tauſend Nächten der arabiſchen Mährchen hat das
Feuergewölke unter dem Strahl des Canopus geſtan-
den, und wie ein Wetterleuchten hat es die nordiſche
Finſterniß durchblitzt. In der Höhle von Xaxa ſchim-
mert ein Streiflicht dieſes großen Feuerwerkes. Der
Jude Mattetai eröffnet mit ſeinen Beſchwörungen den
Berg, die Unſchuld allein aber kann das Schloß ge-
winnen, das darin an einer Perlenſchnur an der
Marmorſäule hängt, und dem die Erdgeiſter dienſtbar
ſind. Lahmet gewinnt den Zauber, allein die Stunde
der Beſchwörung iſt vorüber, der Berg ſchließt ſich
über dem Jüngling mit Krachen wieder. Die Luftgeiſter
aber befreien ihn aus dem Gefängniß, und des Sultans
Tochter wird ihm durch die Hilfe der Erdgeiſter nun
30.
zur Gattin. Bald entreißt der arge Mattetai mit
den Feuergeiſtern den koſtbaren Schatz ihm wieder,
und entführt ihm Schloß und Gattin; aber die Luft-
geiſter helfen Lahmet, daß er das Geraubte zurückge-
winnt, und der Zauberer wird geſtraft. Das iſt der
Inhalt des Mährchens, das leicht und luſtig durch die
Elemente ſpielt, und, einer Libelle gleich, ſich oben
über der Erde und dem Leben im Sonnenſtrahle wiegt.
Ob es daher gleich nicht vom Volke ausgegangen, und
daher auch kein eigentliches Volksbuch iſt, ſo hat doch
wahrſcheinlich dieſe Leichtigkeit und dieſe Grazie des
Wunderbaren leichten Eingang ihm verſchafft, und
das Volk hat den Fremdling gerne adoptirt.
40.
Wunderbare Geſchichte von der edeln und ſchoͤnen
Meluſina, welche eine Tochter des Koͤniges
Helmus und ein Meerwunder geweſen iſt.
Nuͤrnberg.
In der Geſtalt der Feen wohnte die Fabel zum
Letzten unter den Menſchen. Die Feen waren die
Cryptogamiſten der Oberwelt. Von dem indiſchen
Gebürge Hemakuta, das zwiſchen den Meeren des
Aufgangs und Niedergangs im Glanze der Morgen-
und Abendſonne den goldnen Gürtel bildet, kamen ſie
herüber, gleich Vögeln eines fremden Himmels nach
Europa, und herrſchten durch den Aether; großer Kräfte
und vielfachen Zaubers Meiſter; irdiſche Geſtirne, die
im Lufthimmel leben; der Erde Nervengeiſter, die
durch die gewaltige Maſſe auf- und niederſchweben,
und, Regenten der Naturorgane, ſie nach höheren
Zwecken lenken und regieren; denen die Materie nicht
undurchdringlich iſt, deren Fuß die Schwere nicht
feſſeln mag, und die auf ihrer Bahn die Finſterniß nicht
irrt. Die coloſſale Phantaſie der Zeit hatte ſie wie
ein warmer Sommerhauch den Frühling hervorgelockt:
da aber wendeten die Zeiten ſich in ſich ſelber, der
Verſtand gieng auf und trieb ſie in Stein und Erd
zurück, und in den Körpern gebannt ſchlafen die Ge-
müther wieder, und kalt, aber hell und leuchtend rollt
die Materie durch den Raum, weil der Geiſt in ihr
erwacht, und der Gefühle Leben allein im Innerſten
kocht und treibt. Auf den Mai der Weltgeſchichte iſt
ein heller, kalter Wintertag gefolgt; die Waſſer liegen
in magnetiſcher Erſtarrung an den Bergen nieder; das
Leben iſt unter die Erde gegangen, dunkel glimmt es
nur noch im verborgnen Samen, der erſtarrt im Boden
liegt; die Pulſe ſtocken, es geht nur ein leiſer Athem
aus der Erde, der nicht mehr den Himmel trübt. Die
vergangene Zeit iſt zum Mährchen geworden, und der
Blumenduft niedergeſchlagen zu Eſſenzen, die ſie in
ihren Büchern als Parfüm bewahren. Aber
glorreich wandelt der Geiſt wie Eisblink in den Schnee-
fluren, und beflügelt gleitet er auf dem Eisſpiegel um
die Erde hin; er athmet frei und tief und keck, und
ihm iſt wohl, wie ihn das innere Treiben dahin ſchnellt,
und wohl in ſeinem raſchen Muthe, und durſtig nach
der Weite, und unerſättlich trinkt er die Ferne ein.
Das iſt der Wandel der Zeiten, durch allen Kreislauf
aber geht die Ewigkeit pfeilgerade dahin, wo ankommen
müſſen die eilenden Jahrhunderte.
Die Meluſine iſt, ſoviel man weiß, das erſte Feen-
gedicht, und unter Allen das am meiſten Verbreitete.
Guy Luſignan, der gegen den Anfang des eilften Jahr-
hunderts um die Zeit, wo Richard Löwenherz den
Kreutzzug nach dem heiligen Lande machte, König in
Cypern und Jeruſalem war, und an Saladin ſeine
Hauptſtadt verlohr, war der Sohn dieſer Fee. Sie
ſelbſt war Tochter Elinas Königs von Albanien und
der Fee Preſſine; Raimondin, Sohn des Grafen von
Forêt ward ihr Gatte, und ſie bauten das Schloß
Luſineem (Anagramm von Meluſine) und wurden
Gründer eines mächtigen Hauſes, und zählten Könige
und Herzoge unter ihren Söhnen. Bis auf die Zeiten
der Catharina von Medicis giengen die Sagen von
der Fee in der Gegend um; nach Brantomes Bericht
erzählte das Volk von dieſer Königin, wie man ſie oft
an der Quelle baden ſähe, in Geſtalt eines ſchönen
Weibes in Wittwenkleidern. Andere berichteten,
wie ſie Samſtags um die Veſperzeit, aber
ſelten, weil ſie ſich da nicht gern ſehen laſſe,
badend halb als ſchönes Weib, halb als Schlange
erſcheine; noch Andere, wie ſie bisweilen auf einem
hohen Thurm ſich zeige in ſchöner Geſtalt und auch oft
als Schlange. So oft ein großes Unglück dem König-
reich bevorſtehe, oder ihren Nachkommen, wollte man
ſie gleichfalls drei Tage vorher ein ſcharfes, furchtbares
Geſchrei ausſtoßen gehört haben. Alle dieſe Sagen
hatte die Familie ſeit langen Zeiten ſchon geſammelt,
und in ihren Archiven niedergelegt, und daraus hatte
Jean d’Arras das Gedicht in Verſen um 1387 gebildet,
das 1500 zuerſt in Fol. Paris gedruckt wurde, 1584
revidirt in 4, nachher in Proſa aufgelöſt und moderni-
ſirt, und von dieſer Umarbeitung von Nodot iſt dann
das Volksbuch ausgegangen.
41.
Zwoͤlf Sybillen Weiſſagungen, viel wunderbarer
Zukunft, vom Anfang bis zum Ende der
Welt beſagend. Auch der Koͤnigin von
Saba dem Koͤnig Salomon gethane Prophe-
zeyung. Wie auch merklicher zukuͤnftiger
Dinge, von St. Brigitten, Cyrillo, Metho-
dio, Joachimo, Bruder Reinhard, Johannes
Lichtenberger, und Bruder Jakob aus
Hiſpanien beſchrieben. Auf’s neue wieder
gedruckt. Coͤln und Nuͤrnberg.
Alle Zukunft iſt ſo nothwendig durch die Gegenwart
bedingt, wie die Natur jedes Gewächſes in der Natur
des Samens gegeben iſt, aus dem es ſich entwickelt.
Weiſſagen heißt, ſich hineindenken in die bildende
Gottheit, oder vielmehr aufgenommen werden in den
Gedanken des fortſchaffenden Naturgeiſtes, und die
Gabe daher in dieſem Sinne, da ſie keinen innern
Widerſpruch enthält, wie jede höhere Genialität keines-
wegs ein Gegenſtand der logiſchen Discuſſion. Man
hat Sterne am Himmel plötzlich hell aufglühen und
wieder erlöſchen ſehen; die Conſtellationen führten
durch ihre wechſelſeitige Verbindung eine ſolche Periode
einer erhöhten Genialität des Geſtirns herbei: auch im
Reiche der Geiſter iſt ein ſolches Aufflammen eines
einzelnen Gottbegeiſterten denkbar, daß tiefer in ihn
ſich die Oberwelt herabſenkt, heller der Gedanken in
ihm zündet, und prophetiſch ein Lichtſtrahl die fernen,
dunkeln, ungebohrnen Zeiten ſchon enthüllt, und durch
freies Hingeben der Intelligenz in ſie vorbildlich vom Welt-
geiſt hineingedacht wird, was erſt ſpäter nachbildlich
in die Wirklichkeit eingebohren wird, ſo daß alſo der
gewöhnliche Gang des Denkens ſich nun umkehrt, und
die Reflexion dem Gegenſtande voreilt, ſtatt daß ſie
ihm im gemeinen Lauf der Dinge folgt. Wenn wir
dergleichen aedenken, dann wird unſer Urtheil über
den Gegenſtand vorſichtiger und beſcheidner ſeyn.
Gerade die hiſtoriſche Weiſſagerei, die man einzig gelten
laſſen will, iſt, wenn ſie über den Kreis, der unmittel-
bar den Weiſſagenden umſchreibt, hinausgeht, ſo nichtig
wie die Meteorologie, weil beide von Millionen Fäden
nur Wenige beachten, Jene nämlich, die ſie gerade
ſelber mit hineingeſponnen haben. Allein auch ſie in
Ehren, wenn ſie ſich nicht mit Vollendung brüſtet,
und nur als ein nothwendiges Ziel aller geiſtigen Ent-
wickelung ſich geltend macht.
In dem gegenwärtigen Buch ſind zwölf Sibyllen
aufgeſtellt, wie die Geſchichtſchreiber ſie uns überliefert
haben: eine Perſica, Lybica, Delphica, Cumeria,
Tiburtina u. ſ. w., und Jeder werden eine Reihe
Sprüche meiſt aus den Propheten des alten Teſtamentes
in den Mund gelegt. An Dieſe ſchließt die Königin
von Saba ſich an, die beſonders vom jüngſten Tage
weiſſagt. Die Idee eines jüngſten Tages, gegründet
auf die Annahme einer gleichen Perfectibilität des
Böſen wie des Guten, und der daraus folgenden
Nothwendigkeit der eintretenden Ueberwucht des
Laſters über das Gute durch das Eingreiffen einer
höheren richterlichen Gewalt abzuhelfen, iſt eine der
Grundanſichten der menſchlichen Natur, die beſonders
in der Entwickelung des Chriſtenthums zu Tage getreten
iſt. Wieder war es natürlich, da man Chriſtus als
das Haupt aller Tugend und alles Guten anerkannte,
die ſich dann ihm wie die Glieder eines Leibes zur
Bildung der Kirche anfügten, daß man auch gleicher-
weiße einen Antichriſt anerkannte, deſſen Leib alle
Lügengeiſter und alle Teufelsapoſtel angehörten, und
der eben am jüngſten Tage beſiegt dem Guten erliegen
muß.
„Hierauf wird bald eine Aenderung und neu Regi-
ment, Fried und Einigkeit in der ganzen Chriſtenheit
entſtehen, ſagt die Königin von Saba, und das
römiſche Kaiſerthum, als vor das Griechiſche ein Ende
nehmen, und wird ſich alsdann der Antichriſt nahen
geboren zu werden, nämlich zu der Zeit, ſo ein fremder
Kaiſer Gewalt über Rom gewinnt, der ſich nicht einen
römiſchen Kaiſer ſchreibt, und dennoch ein Chriſt iſt.
Unter demſelbigen wird der Antichriſt zu Babylon
geboren voller Teufel, und wird ſich heimlich halten,
bis ins dreiſſigſte Jahr. Alle verborgenen Schätze werden
dem offenbahret, damit wird er die Chriſten und andere
Völker an ſich reizen. Der Geiz und die Liebe des
Geldes wird ſo groß auf Erden, daß die böſen Chriſten
Leib und Seele darum geben werden“ u. ſ. w.
Dann folgen die Prophezeyungen der heiligen
Brigitta, hiſtoriſch, verwirrt, doch mit wenig Witz
deutbar auf die Zeit. Dann von des heiligen Propheten
Predigt und Ermahnung, der Frankreich, Italien
und Hiſpanien durchgezogen iſt im Jahr 1509, leeres,
emphatiſches Mönchsgeſalbader. Endlich die Zeichen
von dem jüngſten Tage, welche die Zukunft des Herrn
verkündigen, aus der Schrift gezogen. Alles zuſammen,
wie es daſteht, durchaus unſchädlich in den Händen
des Volkes, und vielmehr von manchen Seiten mög-
licherweiße Nutzen gewährend.
Panzer führt in ſeinem Verzeichniſſe eine Schrifft
31.
an: Offenbahrung der Sibillen Weiſſagung mit viel
andern Prophetien künftiger Ding, die noch bis zu
Ende der Welt geſchehen ſollen. Oppenheim 1516,
die wie das Volksbuch zwölf Sibillen in Holzſchnitten
enthält, und bei jeder eine Weiſſagung aus einem
Propheten, Alles zuſammen 6½ Bogen. Ohne Zwei-
fel iſt daher das Letztere von dem Andern ausgegangen.
42.
Der bellende Hund, ſo die irrgehende Schaafe
aufſuchet, und zum wahren Schaafſtall
Chriſti zu bringen trachtet, in alle Welt
ausgeſchicket von F. Niviands. Coͤln am
Rhein.
Elende pfafſiſche Controverſe, Capuzinade gegen
Luther und die Reformation gerichtet, ohne Geiſt,
ohne Witz, ohne Rhetorik; leeres giftiges Geſchreibe
eines unſinnigen Zeloten, ohne wahren Beruf zur
Polemik.
43.
Lebensbeſchreibung des Heiligen Criſtophori.
Coͤln am Rheine.
Die bekannte Legende des großen Criſtophs, wie er
ausgieng um dem Stärkſten und Mächtigſten zu dienen.
Etwas verſtümmelt und nachläßig behandelt.
44.
Das bis an den juͤngſten Tag waͤhrende Elend,
wegen ſeiner Annehmlichkeit aus dem Fran-
zoͤſiſchen in’s Deutſche uͤberſetzt. Francfurt
und Leipzig.
Modern und nicht eigentliches Volksbuch, obgleich
doch wohl von einer alten Sage urſprünglich ausge-
gangen, der Schmidt von Appolda, nur in
etwas abweichender Form, ſonſt correct in Sprache
und Darſtellung.
45.
Eine ſchoͤne merkwuͤrdige Hiſtorie des heiligen
Biſchoffs Gregorii auf dem Stein genannt.
Coͤln am Rheine.
Eine der beſſern Legenden, religiös untadelhaft
und dabei poetiſch, romantiſch und in ihrer Art vollen-
det. Der Stoff derſelben ſehr alt, indem Hartmann
von Aue, der gegen das Ende des zwölften Jahrhun-
derts lebte, ſie zum Gegenſtande ſeines Gedichtes
gewählt zu haben ſcheint, das unter dem Namen
Gregorius in dem Steine auf der Strasburger Biblio-
thek ſich befand, und von Oberlin und nach ihm von
Koch aufgeführt wird.
46.
Die durch die Flucht aus dem koͤniglichen Hauſe
erhaltene Jungfrauſchaft, vorgeſtellt in
gegenwaͤrtiger kurzer Lebensbeſchreibung der
ſeligen Eufemia, genannt Gertrud von Coͤln.
Coͤln am Rhein.
Wie Eufemia, eine Tochter Eduard des Dritten
Königs von Engelland um 1328 aus frommem Abſcheu
gegen die Ehe von ihren Eltern entwich; nach Cöln
kam, dort in einem Spitale die Kranken verſorgte;
dann verläumdet von einem böſen Weibe und an den
Pranger geſtellt, erkannt wurde von den Boten, die
ihr Vater ausgeſandt, um ſie zu ſuchen; gegen Dieſe
aber ihre Perſon verläugnete, indem ſie anſpielend auf
Chriſtus und die Apoſtel erklärte, ihr Vater ſey als
Miſſethäter gehenkt worden, und ihre Brüder, deren
ſie zwölf gehabt, ſeyen keines natürlichen Todes ge-
ſtorben; wie ſie darauf nach Pforzheim in ein adeliches
Frauenkloſter kam, dort in Demuth und Frömmigkeit
gelebt habe, und endlich ſelig geſtorben ſey. Die Legende,
wahrſcheinlich aus den Bollandiſten überſetzt, iſt recht
gut geſchrieben, der Ton einfältig, die Sprache kunſt-
los: ſie kann uns Zeugniß geben von der Macht, die
die Religion in jenen Zeiten hatte, und welche unend-
liche Freiheit im Menſchen liegt, dem Erdprinzipe zu
entſagen, alle irdiſche Wohlfahrt abzuſtreifen, und
durch inneres Aufbrennen ſich der irdiſchen Schwere entge-
gen gewaltſam in höhere Regionen zu erheben.
46.
Eine ſchoͤne, anmuthige und leſenswuͤrdige
Hiſtorie von der unſchuldig betrengten heili-
gen Pfalzgraͤfinn Genoveva, wie es ihr in
Abweſenheit ihres herzlieben Ehegemals
ergangen. Coͤln und Nuͤrnberg.
Eine ſtille, einſame Kapelle in tiefer Waldesein-
ſamkeit, der Poeſie, der Treue und der Ergebung
gebaut, um die rund umher ſich eng verſchlungenes
Dickigt zieht, über der alte Eichen in heiſſem Som-
mertages Brand flüſternd ſich bewegen, durch deren
Zweige gebrochen dann das Licht durchſtreift, und ein
Schattengewölke über die Wände gießt, und ſpielend
an ihnen auf und niederzittert, während von innen
halbdunkle Kühle, erfriſchende Stille herrſcht, und
hinten in der Niſche das Bild der Heiligen dämmernd
und freundlich durch das Gitter blickt, in dem Wald-
blumen halb welkend niederhängen, und unten auf
der Steinſtufe der bekannte Alte betend kniet, während
Vogelſchlag eindringt durch die offene Thüre, und
Waldgerüche, und kühles Luftgeſäuſel und grüner
Schein und Baches Rauſchen, und Alles feyerlich und
betend rund umher, bis auf die Wolken, die einzeln
wie Pilger, hell in innerem Verlangen erglänzend,
auf blauer Himmelsbahn hinwandeln zum Lande der
Verheißung, und die Winde, die wie Stumme der
Natur nur im Hauche beten: ſo blickt das Gedicht mit
dem beſcheidnen kleinen Glockenthurme aus des Mittel-
alters dicht verwachſenem Hain vom fernen, grauen
Berg herab, und Jahrhunderte durch läutet das kleine
Glöckchen oben fort und fort, zum Troſt einladend
dem Wandrer zu, daß er zu dem Bilde komme und
ſich Stärke hohle und freudigen Lebensmuth. Unter
allen den verſchiednen Büchern dieſer Gattung iſt die
Genoveva durchaus das Geſchloſſenſte und am meiſten
Ausgerundete; ſtellenweiße ganz vollendet, und in
ſeiner anſpruchloſen Natürlichkeit unübertrefflich aus-
geführt, im Ganzen in einem rührend unſchuldigen
Ton gehalten, kindlich, ungeſchmückt, und in ſich
ſelbſt beſchattet und erdunkelnd in heiligem Gefühl.
Und ſo war es denn werth, wie es da iſt, zwei treffliche
Dichter zu begeiſtern. Tiek, daß er uns in ſeinem
Gedichte, wie ein Zauberer im Cryſtalle, die ganze
romantiſche Liebe in einem zarten Luft- und Gluth-
und Farbengewebe aus einer lichtklaren Morgenröthe
kunſtreich zur Geſtalt gebildet zeigt, und der Mahler
Müller, in ſeinem Fragmente, die Heilige als eine
Hünenjungfrau vom Rieſengebürge mahlt, die mit
dem Serpent Golo kämpft, der bald in vielfachen
Farben brennend und glühend, ſie verführeriſch umzün-
gelt, und ſie dann das Schwerd ergreift und zürnt:
Sieh her, her, hab ein Schwerd.
Ha meines Siegfrieds Schwerd!
Will tief in’s Herz mir’s drücken,
Anlachen dich.
Ich, Ich?
Lieber den Teufel als dich!
Entweich Scheuſal tödteſt mich,
Hölle ſind mir deine Blicke,
Verrätherriſcher, elender Mann,
Lächelſtu mich noch einmal an,
So ſtoß ich zu, ſo iſt’s gethan.
Dann aber, wenn er Gift und Feuer und Flam-
menſprühend, ſie und ihr Kind zu vernichten droht,
ihm entgegenflammt:
Lisber erwürgt’ ich gleich,
Dieſen mit eignen Armen,
Schläng’ dieſe Lock’ um ſein’n Hals,
Erdroſſelt’ ihn ohn Erbarmen,
Als daß ich durch Schand und Schmach,
Ihn wollt verfluchen — Erwach
Henker, — ich verlache dich.
Komm feſſel mich, komm tödte mich!
Bring alle Marter, Feuer und Schwerd,
Vertilg mich heimlich von der Erd,
Der Himmel wird’s ſehen, — hören die Welt,
Mein Siegfried lebt, es lebt mein Held.
Unendlich beſcheiden ſteht das Volksbuch hinter
dieſen Efulgurationen der poetiſchen Kraft, aber in
dem ruhigen, ſtillen, lieblichen Schein, in dem es
ſtrahlt, bricht derſelbe poetiſche Geiſt, nur leiſe
phosphoreszirend hervor, der in Tieks und Müllers
Werken in lichten Flammen aufbrennt und glüht.
Das Volksbuch iſt gearbeitet nach der Schrifft des
Pater Ceriziers: L’innocence reconnue, das in
einem pretiöſen, geſchraubten Tone die Begebenheiten
erzählt, und ſich dabei auf des Puteanus St. Geno-
vevae Iconismus, Raderi Bavaria pia und Aubert
le Mires Chronicon belgicum a Julio Caesare ad
annum 1636, als ſeine Gewährsmänner beruft. Der
teutſche Bearbeiter, indem er das Buch zum Grunde
legte, hat eine ganz verſtändige Auswahl, und zugleich
mit ihr den Ton getroffen, der einer Schrift dieſer Art
zukömmt. So erzählt der Jeſuit, wie der Wolf der
Genoveva das Schaaffell gebracht: „Die fromme Gräfinn
32.
nahme das Geſchenk wohl an; gabe aber zugleich dem
Wolfe einen Verweis, daß er das Leder geſtohlen,
und den armen Leuten gegeben. Ein andermal, als
Genoveva zufällig im Waſſer ihre Runzeln und Mager-
keit erblickt, ſey ihr die Königin der Engelen erſchienen,
und habe ſie alſo angeredt: „Alſo fein Genoveva, alſo
fein! Wohl ſchöne Urſache haſt du, dich zu beklagen
über einen Verluſt, der höchlich zu wünſchen iſt. Ach
liebe G., wüßteſt du, wie ſich mein Sohn verliebe
in dieſe deine ſchwarzbraune Farb, es würde dir leid
ſeyn, daß du einmal biſt weiß geweſen“ u. ſ. w. Sonſt ſoll
noch in früheren Zeiten ein Manuſcript über ſie von
M. Emichius, einem Carmeliten in der Carthauſe zu
Coblenz, aufbewahrt worden ſeyn. Auch im Cloſter
Laach, nahe bei dieſer Stadt und dem Schauplatz
ihrer Leiden und ihrem Grabe, bewahrte man ein glei-
ches altes Manuſcript, das indeſſen in den letzten
Zeiten verloren gieng.
47.
Unſers Herren Jeſu Chriſti Kinderbuch; oder
merkwuͤrdige, hiſtoriſche Beſchreibung von
Joachim und Anna, deren Geſchlecht, aus
welchem ſie geboren. Item von ihrer Toch-
ter der Jungfrau Maria, und von der
Geburt und Auferziehung Chriſti: wie auch
von der Flucht Chriſti, und was ſich ſowohl
auf ihrer Reiſe nach Aegypten, als auch
bei ihrem ſiebenjaͤhrigen Aufenthalt daſelbſt,
nicht weniger bey der Ruͤckreiſe und her-
nach zu Jeruſalem fuͤr große Wunderwerke
zugetragen haben. Ganz friſch aus dem
Italiaͤniſchen in’s Teutſche uͤberſetzt. Coͤln,
Altona und Nuͤrnberg.
Gar kindlich lieb, und wunderbar einfältig fromm
und zart, eine liebliche Idylle in der Religion. Ein
klarer Schein fällt vom Himmel herab unten auf die
Erde nieder, und der Schein iſt die Feuerſäule, die
der Verkündiger der Comet, gegen die Erde niederſenkt,
und die mit Himmelsäther ſie tränkt und ſättigt, daß
unten in dem Strahle ein neues Paradies erblüht, eine
glückſelige Oaſe mitten in der Wüſte: mit Himmels-
blumen, Himmelsfrüchten muß ſich die karge Erde
zieren; dichtes ſaftiges Laubwerk umzieht den Saum
der Wunderinſel, und innen glüht’s und blüht’s zart
und ſüß und licht und glanzvoll; Engel fliegen wie
bunte Paradiesvögel durch die Zweige, und unten
wandelt das göttliche Kind und ſeine Pfleger; und
wie die Wanderer voraneilen, wandelt der Schein mit
ihnen und die Zauberwelt, einer leichten bunten Glanzwolke
gleich; und Alles iſt ein ſüßes Lächeln der ernſten
Natur, die über das kalte, ſtarre Antlitz eine freudige
Bewegung kreiſen läßt, da ſie das Kind erblickt, das,
obgleich ſeiner hohen Abkunft und ſeiner großen Beſtim-
mung ſich bewußt, doch fromm und ſpielend bleibt.
Gleich den Präſepen, die um Weynachten erblühen,
wo nächtlich ſtill die heilige Landſchaft für die Feyer
wacht und betet, und der Mond ungewöhnlich klar
ſein Silber im Aether flüſſig löſt, und unten die
drei Könige fern über die Brücke ziehen, und die
Hirten ſich geſchäftig um die Krippe drängen, und
wunderbare Schimmer durch die Lüfte auf und nieder-
ſteigen, und irre Töne ſchweifen und auch den Erlöſer
ſuchen, und im Schweifen ſich begegnen, und zu
Chören ſich verbinden und miteinander ziehen, und
Alle endlich jubelnd und anbetend über dem ſtillen
Heiligenſcheine ſchweben, der ausſtrömt von des Kindes
Lager: ſo bietet dies kleine Werk ſich dem Beſchauer
dar, und dem Kinde folgt es bald, wie es dahin
wandelt nach Aegypten, und in die Wüſte auch, wo
es zum Mittleramt ſich weiht. Das Werk iſt eines
Geiſtes Kind mit allen jenen Bildern der italiäniſchen
Schule, die mit gleicher Liebe den gleichen Gegenſtand
behandeln. Ein warmes Liebeleben iſt darüber ausge-
goſſen, und ein zartes Blüthenfunkeln und Liebes-
ſtäuben. — Sie ſahen aber von ferne einen großen
Baum, und Joſeph ſprach, wir wollen dahin gehen,
und allda über Nacht bleiben, ſie konnten aber kein
Waſſer finden. Als er nun zu dem Baum kam, und
konnte kein Waſſer finden, bekümmerte er ſich gar ſehr;
aber bey dem Baum war viel Gras, daß ſeine Eſel
und der Ochs genug zu freſſen hatten. Die Jungfrau
Maria ſetzte ſich nieder, und nahm das Kind Jeſus in
ihren Schooß, und ſtach mit ihrem Finger in die
Erde, da ſprang eine Quelle auf. Sie lobten Gott
und waren froh, daß ſie Waſſer für ſich und ihr Vieh
bekommen hatten. Des andern Tages füllten ſie ihre
Flaſchen und Krüge mit Waſſer, daß ſie auf dem
Wege zu trinken hatten. Als ſie nun weiter reiſeten,
ſo wurde die Maria eines hohen Baumes gewahr, der
viele Früchte hatte, und die Früchte waren völlig reif:
ſie ſchauete auf den Baum, und wollte von den Früch-
ten haben, aber Joſeph konnte Alters halber nicht auf
den Baum ſteigen, die Mutter mit dem Kinde ſtand
unter dem Baum. Weil das Kind Gott und Menſch
war, ſo verſtand es, was ſie begehre. Hierauf ließ ſich
der Baum gegen Maria nieder, daß ſie von der Frucht
nehmen konnte, ſo viel ſie wollte. Da ſie nun nach
Belieben gegeſſen und ihre Säcke gefüllt hatten, ſo
richtete ſich der Baum wieder auf, und breitete ſeine
Zweige wieder aus, und Joſeph und Maria lobten Gott
für Alles, was ſie bekommen hatten, und das Kind
Jeſus ließ ſich Alles gefallen, und ſeine Eltern waren
auch zufrieden, beſonders darüber, daß der Ochs und
der Eſel mit dem vielen Gras ſo wohl verſorgt waren:
ſie knieten und beugten ſich vor dem Kinde Jeſu, und
erkannten ihn für ihren Herren und Schöpfer. —
Als eines Tags die Kinder mit Jeſu zum Thore
hinaus auf’s Feld gehen wollten, ſo kamen ſie auf
einen Platz, da man Leimen gegraben hatte, und Jeſus
ſetzte ſich auf denſelben Platz nieder, und nahm mit
ſeinen Händen von dem Leimen, und machte kleine
Vögel daraus, ſo wie ſie auf dem Felde fliegen; da
die andern Kinder ſahen, daß Jeſus ſolche ſchöne,
kleine Vögel gemacht hatte, ſo freueten ſie ſich darüber,
und wollten auch ſolche Vögel nachmachen. Währen-
der Zeit kam ein alter Jude, der ſahe, daß ſie mitein-
ander ſcherzten und ſpielten, und er ſtrafte ſie und
ſprach: „Ihr halt’t den Sabbath nicht heilig, ihr ſeyd
Teufelskinder, ihr entheiligt den Sabbath, ihr erzürnet
Gott“ er ſagte auch zu dem Kinde Jeſus: „Du biſt
Schuld daran, die anderen Kinder machen es dir nach,
ihr gehet Alle verloren“. Jeſus antwortete: „Gott
weiß es am Beſten, ob du oder wir den Sabbath am
beſten heiligen, du darfſt mich nicht beurtheilen“. Der
alte Jud wurde bös, und wollte ſich auf der Stelle
an dem Kind Jeſus rächen; er gieng hinzu, und wollte
auf die Vögel treten, die das Kind gemacht hatte:
alsbald klopfte Jeſus in die Hände, als wenn er die
Vögel erſchrecken wollte, da wurden ſie lebendig, und
flogen auf gen Himmel, wie andere Vögel; der alte
Jud mußte ſie auch laſſen fliegen.
Das Buch iſt eines der ſogenannten Apogryphiſchen,
und ſchon M. Polonus, der um 1266 lebte, führt es
als ein allgemein Geleſenes an, und erzählt die ganze
oben beygebrachte Begebenheit mit dem Baum, der
auf Jeſuleins Geheiß ſich auf die Erde habe niederge-
bogen, und als dem Joſeph gedürſtet, ſey aus der
dürren Erde auf dergleichen Befehl eine friſche Quelle
entſprungen. Weiter, nachdem ſie auch auf ſolcher
Reiſe in einer Höhle eingekehrt, wären zwey abſcheu-
liche Drachen hervorgekommen, auf deren Anblick die
Aeltern heftig erſchrocken, auf des Sohnes Befehl
aber wären die Drachen ehrerbietig in die Wildniß
gewichen. So wäre ihnen auch ein Löwe begegnet,
der die ganze Reiſe vollends bei ihnen geblieben und
gedient hätte. Aber aus noch weit ältern Zeiten, und
von den erſten Jahrhunderten der Kirche, kommen
dieſe Schrifften her. Die Kirchengeſchichte lehrt näm-
lich, wie Pabſt Gelaſius der Erſte in dem Concilium,
das er zu Rom im Jahre 495 hielt, ſchon die Apogry-
phen von den ächten heiligen Büchern ſchied, und
unter jene insbeſondere die folgenden Drey auf-
nahm: Liber de infantia Salvatoris. — Liber de
nativitate Salvatoris, et de S. Maria, et de obste-
trice Salvatoris Im zweyten Bande der Miscellaneen zur Geſchichte der
teutſchen Literatur, der mir eben bey’m Abdruck zu Geſichte
kömmt, führt Docen aus der Geſchichte der Jungfrau
Maria von Bruder Philipp aus dem Kartheuſerorden,
nach einem Manuſcripte des dreyzehnten Jahrhunderts,
viele Stellen an, aus denen ſich ergiebt, daß entweder das
Volksbuch jenes Gedicht nur aufgelöſt in Proſa iſt, oder
daß Beyde aus der gleichen Quelle ſchöpfend, ſich meiſt wörtlich
an ſie gebunden haben. Die durchgängige Identität beyder
Schrifften bleibt gar nicht dem mindeſten Zweifel unter-
worfen, wenn man z. B. die hier beigebrachten Stellen
vergleicht mit den p. 85 und 88 beigebrachten Fragmenten,
wo das Letzte: „Da daz Chint Jeſus vogelin macht an-
fangt: An einem Tage zeſamen giengen, Alles des Chint
anviengen, Churzwil unde chintſpiel“. Es muß durch
unmittelbare Vergleichung mit den apogryphiſchen Büchern
ausgemacht werden, ob das Eine oder das Andere der
Fall iſt..
48.
Wahrhaftige Beſchreibung des juͤngſten Gerichts
im Thal Joſaphats, wie daſſelbe von
unſerm Herren Jeſu Chriſto gehalten, auch
was an demſelben fuͤr erſchreckliche Tag
und Wunderzeichen geſchehen werden, ſolches
Alles iſt uns von den heiligen Propheten
und andern Maͤnnern Gottes geweiſſagt,
und zur treuherzigen Warnung beſchrieben,
daß wir von unſerm boͤſen, gottloſen und
ſuͤndlichen Leben abſtehen, rechtſchaffene
Reu und Buß wuͤrken, damit wir nicht an
ſolchem großen und juͤngſten Tag, vor dem
gerechten Richter Jeſu Chriſto, zu ſeiner
Linken unter die Boͤcke und Verdammten,
ſondern zur Rechten unter die Schaͤflein
und Auserwaͤhlten Gottes moͤgen geſtellet
werden. Gedruckt im Jahr Chriſti. Nuͤrnb.
Was in der Sybillen Weiſſagungen gedroht und
prophetiſch angedeutet wurde, das wird hier epiſch
vorgeführt, und in einem dichteriſchen Gemählde
33.
dargeſtellt. Das Buch iſt in gereimten Verſen geſchrie-
ben, obgleich wie Proſa gedruckt, wahrſcheinlich aus
den letzten Zeiten der Minneſänger, nicht ohne Anmuth
und Leichtigkeit gebildet, aber wie die meiſten Werke
dieſer Zeit ohne eigentliche Handlung; die Geſtalten in
großen bauſchigten Gewändern mit ſcharf gebrochenen
Falten und ſchlichtem geſcheiteltem Haare, ſind mitten
im Feuer des Gedichtes in durchhin ruhiger, unver-
rückter Haltung: was an ihnen ſich rührt und bewegt
iſt gleichſam nur das Auge und die Augenbraune,
und ohne ſich zu verziehen läßt der Mund ganz unmerk-
lich ſchöne Sprüche und Sentenzen fahren. Selbſt
der Teufel verläugnet dieſe ruhige Ehrenveſtigkeit
nicht, auch er hat rund verſchnittenes, gleichgeſtrichenes
Haar, nur etwas rußig wie ein Schmidtmeiſter. Und
ſo führt in ruhigem Hin- und Herdiscuriren ſich die
große Szene dramatiſch wie ein wahres Stillleben auf.
Die Propheten Joel, Sophonias, Salomon, Job,
Hieronymus thun zuerſt ihr Wort, das Gericht müſſe
nun beginnen, und treten, nachdem ſie es gethan,
wieder ab. Dann rufen die Engel mit dem großen
Zorne zu Gericht, ſcheiden dann die Böſen von den
Guten, und der Herr Jeſus Chriſtus ſpricht zu den
Guten; Dieſe antworten ihm wieder, Replik von
Chriſtus: dann nimmt er ſeine liebe Mutter Maria
bei der rechten Hand, und redet die Verdammten an,
— Dieſe bitten um Barmherzigkeit, aber mit Nichten;
wiederholte Bitte, abermal verſagt; neue Bitte,
Replik, Duplik, gänzlich abgeſchlagen, die Verurtheil-
ten dem Teufel übergeben. Lucifer äußert ſeine honette
Freude, Maria bittet für die Verdammten, wird aber
abgewieſen, die Hölle wird geſchloſſen, und dann
ſpricht Chriſtus alſo:
Die Höll hab ich beſchloſſen
Und den Teufel mit allen Genoſſen.
Den Schlüſſel mag mir niemand ſtehlen,
Ich will ihn auch keinem Engel befehlen,
Die Höll wird nimmermehr aufgethan,
Zu meinen lieben Heiligen will ich gahn:
Ich hab heut zorniglichen vollbracht
Was ich vor langer Zeit gedacht,
Den Sünder hab ich gefangen,
Iſt mir Keiner nicht entgangen,
Die Höll iſt wohl beſchloſſen,
Ich will jetzt laſſen den Zornen mein,
Und euch ergötzen aller Pein,
Ihr ſollet jetzt fröhlig mit mir gon,
In das ewig Himmelreich ſchon,
Daſſelbig will ich euch geben,
Darinnen ſollt ihr immer und ewiglich leben.
Dann ſtehen die heiligen zwölf Apoſtel der Reihe
nach von ihren Stühlen auf, und ſagen unſerm
lieben Herrn Lob und Dank um ſeine Gnad und
Barmherzigkeit, endlich ſchließt unſer Herr, indem er
ſpricht:
Maria du liebe Mutter mein,
Du ſolt nehmen die Mägde dem,
Die Engel und heiligen zwölf Boten,
Groß Ehre haben ſie mir erbotten,
Nimm hin die Heiligen und Seelen all,
Und führ ſie hin mit fröhlichem Schall,
Du ſolt ſie führen maniglich,
Wohl in das ſchöne Himmelrich,
Da ſollen ſie mit mir und dir gon,
Mein Vater wird ſie empfangen ſchon,
Ich will euch manche Trachten bringen,
Der heilige Geiſt woll euch vorſingen.
Die heiligen Engel führen ihr Saitenſpiel,
Euer Freud iſt aus der Maaßen viel
Mehr denn alle Augen mögen ſehen,
Oder alle Mund und Ohren verjähen
Oder aller Menſchen Herzen mögen denken,
Das Alles will Euch mein Vater ſchenken,
Und das Alles hat bereit,
Die hochheilige Dreyfaltigkeit.
Panzer führt in ſeinem Verzeichniſſe ein Gedicht
an unter dem Titel: Von Sibilla Weiſſagung und
von König Salomonis Weißheit, was Wunders ge-
ſchehen iſt, und noch geſchehen ſoll vor dem jüngſten
Tag. Nürnberg 1518. 8. zwei Bogen ſtark, das
wohl einerlei mit dieſem Volksbuch iſt. Docen im
erſten Bande ſeiner Miscellaneen erzählt, wie er es
in einer Handſchrifft vom Jahre 1428, ſchon gefun-
den; und das wird, wenn ſonſt die Identität mit
dem Volksbuch bewieſen iſt, beſtätigen, was. wir
vorher über den wahrſcheinlichen Urſprung deſſelben
permuthet haben.
Werfen wir einen Blick auf die ganze Maſſe der
Erſcheinungen zurück, die wir an uns vorübergehen
ſahen, dann drängt ein eignes wunderbares Gefühl
ſich in uns hervor. In unabſehbar langer Reihe geordnet
ſtehen die Jahrhunderte, die Nächſten mit uns genau
befreundet, in Haltung und Geſtalt wie wir beſchaffen,
unſere eigene Sprache uns verſtändlich ſprechend; die
Fernern immer ſeltſamer, immer wunderbarer, immer
unverſtändlicher und geheimnißvoller; in die Weite ein-
geſchleiert, wollen ihre Züge ſich nicht erfaſſen laſſen,
und die fremden Laute, die von ihnen herübertönen,
verklingen und verſchweben in die Weite: bei den
Fernſten aber iſt alle Form in das Wunder aufgelöſt,
und ſie ſprechen in dunkeln Hieroglyphen von der Ewig-
keit, wie die Elemente ſprechen, ſinnvoll und bedeutend,
aber nicht mit Menſchenzungen, nicht mit artikulirten
Tönen. Wie Windes Wehen, wie Kindes Lallen iſt ihr
Reden, das Ohr horcht den wunderſamen Klängen,
aber dem innern Sinne iſt ihr Verſtändniß nur gegeben.
So kreiſen ſie jenſeits, die Geſtalten der Vergangenheit,
dieſſeits aber treiben wir ſelbſt in der Gegenwart uns
um, und dazwiſchen iſt der bunte Teppich des Lebens
ausgeſpannt, und eilt vorwärts von der Zeit getrieben-
wie der Farbenbogen auf der Regenwolke, und kaum
daß wir aufgeblickt, ſind wir auch jenſeits unter den
ſchwebenden Geſtalten, und ein anderes Geſchlecht
ſpielt außen im Sonnenſcheine. Aber es geht ein
raſcher wunder- und zaubervoller Othem durch die
Zeiten durch, gleich den unterirdiſchen Windeszügen,
die kühl und friſch und immer wach aus dunkeln
Höhlen brechen; vor ſich treibt er ſeines Hauches
Spiel, geheimnißvolle Blätter her, denen die vergang-
enen Geſchlechter ihre Weisheit, und des Herzens
Gefühle, und der Andacht ſtille Begeiſterung anver-
traut, und des Lebens ernſte Regel, und wie die Ge-
ſchlechter vorüberziehen, und in Erde ſich verhüllen,
grünt immer von neuem die Palme mit den Blättern
wieder, und wenn die neue Gegenwart dann aus der
Erde ſteigt, ſind die Hieroglyphen reif geworden; das
dunkelkühle Saußen löſt ſie von den Zweigen ab,
und treibt ſie ſtill vor ſich an der Erde hin; das ganze
Geſchlecht aber ſammelt die Zauberſchriften, und
erkennt geliebte Züge wieder; in innerer Bruſt werden
dann Geiſterſtimmen wach, und in leiſem Geflüſter
ſprechen ſie mit der Vergangenheit, die vernehmlich
antwortet in den Zügen, und aus der Erde hinauf in
die Erde hinab wechſeln die Generationen bedeutend
ſtumme Worte, und das Fernſte iſt nun nicht mehr
zerfloſſen, und nebelnd und in den Schatten erdunkelt;
wie die Zeit unſterblich, ſo ſind es die Zeiten auch
geworden. Wie wäre die Welt ſo arm, wenn jedes
Seyn am Kommenden rein geſtorben wäre; wenn der
Engel des Lebens mit dem Tode nicht zugleich umwan-
delte, und das Köſtlichſte ewig jung erhielte! Es iſt
eine herrliche Gabe, daß, während’ das Leben unauf-
haltſam forteilt, und in wirbelndem Schwunge den
Staub immer neu geſtaltet, ihm vergönnt wurde, immer
das Beſte des Erſtrebten mit hinüberzunehmen in den
neuen Zuſtand, und mit dem Erworbenen zu
wuchern in der Zukunft. Wie die Seelen wandern
von Form zu Form, von Geſtalt zu Geſtalt in fort-
laufender Entwicklung, wenn ſie anderſt dieſe Ent-
wicklung in eigner Selbſtſtändigkeit in ſich wecken und
erhalten, ſo wandert auf die gleiche Weiſe auch ihr
eigenſter Beſitz mit ihnen; jede neue Generation findet,
wenn ſie aus der Chryſalide bricht, auch ſchon die
Blüthe blühend und die Nahrung von der Vorherge-
gangenen aufgehäuft, in der ſie in fortlaufender Meta-
morphoſe gedeihen ſoll, und kein Beſitz geht unter,
wie der eigne Beſitz nicht untergegangen iſt. So leben
die Alten und die Uralten noch unter uns, ſie die über
den großen Waſſerfällen wohnen, wo jung und eng
und klein der Zeitenſtrom, noch eben aus Himmelswaſſer
in dunkler Quelle erſt geronnen, über die grauen, ver-
witterten, alten Felſen ſtürzt, und raſch dann durch
die wilden Länder eilt: wir aber, die wir unten in der
Ebene unſere Heymath haben, wo er in tief gewühltem
Bette zum breiten Strom geworden iſt, und in viel-
fache Canäle getheilt dem Verkehre dient, wir werden
die Erbe vermehrt, wenn wir gekonnt, den Geiſtern
des Ozeans überliefern, der ihn und uns in ihm auf-
ſaugen wird. Was in Indiens Tempelhöhlen Köſtliches,
Wundervolles in den grauen Zeiten aus hoher Begeiſt-
erung in dem großen Erdenſabbath erwuchs, wo noch
die Steine ſich in frohem Wachsthum drängten,
und die Diamanten Mann und Weib ſich gatteten,
und die geniale Erde nur noch Hymnen und Mythen in
die Berge dichtete; was der Sonnentempel in Babylon
geborgen, und der Perſer unterirdiſch im Carfunkel-
ſchein und Goldesglanz dunkelglühend Gnomenreich
Wunderſeltſames gebohren; was die Zauberſchlange
34.
der Nil, aus dem Paradieſe hervorgeſchoſſen, die
Aegyptier gelehrt, und dieſe auf ſteinernen Tafeln, ein
Wunder und ein Räthſel der Zukunft, den Sphinxen
zu bewahren übergeben; die ganze Saat von göttlichen
Gewächſen, die auf Griechenlands Marmorfeldern
geblüht, die der Erdgeiſt, den der Menſchengeiſt in ſich
aufgenommen hat, hervorgetrieben, und die wie Naphta
brennend, glühend, leuchtend die Begeiſterung des Genius
in allen Adern durchrinnt; was die Römer gewaltſam
von der Natur ertrotzt, ſie die mit dem Stoffe und der
todten Materie gleich wie mit dem Leben ernſt gerungen,
und während ſie die Völker in Feſſel legten, Jene zu
brechen ſich bemühten, in die ſie ſelbſt die Natur
geſchlagen: Alles iſt nicht verloren für die Späteſten,
es iſt ein Vermächtniß, das die Zeiten einander über-
liefern. Jede junge Zeit, wenn ſie gebohren wird, findet
ihre Wiege mit den Gaben umſtellt, die die Weiſſen aus
dem Morgen und dem Mittag und dem Abendlande ihr
gebracht; der Lebensgeiſt der nur im Beſten kräftig wohnt,
bewahrt auch eben das Beſte nur vor dem Verderben, wie
nur geiſtreicher Wein den Wechſel der Jahre überdauert;
und ſo gewinnt die Kunſt und jedes menſchliche Be-
mühen feſten Beſitz, und die Erde gewinnt ein Leben
und in ihm eine Geſchichte und ein Gedächtniß der Ver-
gangenheit. So muß das Schlechte, nachdem es
abermal und unzähligemal wiedergekehrt, doch endlich
ſterben; denn der Teufel iſt nicht unſterblich, wohl
aber Gott in uns, und wie unſer beſtes innerſtes Weſen
unvergänglich iſt, ſo iſt auch, was der Genius in dieſem
Heiligthum gebildet, unverwüſtlich, und auch nicht die
Gedanken ſterben, wenn einmal ächtes geſundes Leben
in ihnen lebte. Viele Zeiten ſind vor uns geweſen,
um zwei Zeichen hat die Geſchichte den Thierkreis
zurückweichen ſehen in langſam zögernder Bewegung,
und auf die vierte Morgenſtunde deutet der Zeiger an
der großen Sternenuhr, der in einem Menſchenalter
nur um zwey Minuten rückt. Wie der Thau fallend ſich
in die Berge zieht, und dort zum Strom zuſammen-
rinnt; und wie die Ströme dann wieder als Thau
auf in Lüfte ſteigen, ſo ſind die Generationen vor uns
in’s Grab hinabgeſtiegen, und verjüngt wieder aus den
Gräbern auferſtanden: aber ehe ſie der Verwandlung
ſich hingegeben, ehe ſie die Grabeslampe gezündet,
haben ſie dem Erze, dem Steine und dem Buchſtaben
anvertraut, was ſie gelebt, gebildet, errungen und
erfahren; wie die Etrusker haben ſie ihre Ruheſtätte
mit ihrem beſten Beſitze, Vaſen und Geräthe, angefüllt,
und wie die Thränengefäße die Symbole deſſen, was
ſie gelitten ſammeln, ſo haben ſie ihre Liebe und ihre
Hoffnungen und ihr Wertheſtes in bedeutenden, ſinnvollen
Zügen den Wänden ihrer Sarcophage eingegraben,
und die kommenden Geſchlechter ſind zu den Gräbern
hingeeilt, und haben die verborgenen Schätze dort
gehoben, und ſie mit dem Ihrigen vermehrt wieder mit
hinabgenommen, wenn auch ihre Zeit gekommen war.
Und ſo ſtehen auch wir vor dieſen Sarcophagen und
ihren geheimnißvollen Bildern; längſt ſchon iſt die
Hand vergangen, die ſie geſtaltet, und in uns hat
ein Auge ſie zu betrachten ſich geformt, das noch nicht
war, als ſie geworden; eine dunkle Ahndung ergreift
uns mit wunderbarer Gewalt, wenn wir den geheimen
Sinn zu entziffern uns beſtreben: es iſt als ob unſere
Errinnerung ihre Mutter gefunden hätte; es iſt als ob
die Sterne wieder uns erſchienen, die in der Dunkel-
heit geleuchtet, als unſere Kindheit aus der Nacht
hervorgegangen war; wir haben den Geiſt in uns
geſogen, ſo will es im innerſten Gemüth uns dünken,
der jene Züge formte, wir ſelber haben ſie uns ſelber
zum Andenken in den Stein gegründet; es iſt unſere
eigene dunkele, verſchleierte Vergangenheit, die uns
begrüßt; die Aurora des jungen Tages ſieht die Abend-
röthe des Vergangenen noch am weſtlichen Himmel
ſtehen. Das iſt der wunderſame Zauber, den das
Alte übt, tiefer noch als das Andenken unſerer Kind-
heit regt es uns; wie die ferne Zukunft im Schooße
des Weibes dunkel ſich und ſchweigend regt, ſo liegt
auch die Ahndung der Vergangenheit wie ein verbor-
gener Keim in uns, den die Geſchlechte erſt befruchten
muß, und das alte Leben durchbricht in ihr des Grabes
Schranken und erſcheint wie ein abgeſchiedner Geiſt
dem neuen Leben, und das alte Leben iſt ein Schatten
nur, der unten im Hados wohnt, die Seele aber wohnt
oben in der Gegenwart, und kämpft raſch und thätig
fort. Alle aber drängt die innere bildende Kraft ſie
weiter, oben in der Blüthe wohnt ewig neu die Jugend,
unten aber an der Wurzel arbeiten ſtumm und ſtill die
unterirdiſchen Naturen, und das Alter ziehen ſie zu
ſich nieder, und zerreiben zu neuem Lebensſafte, was
ſich ſelber nicht mehr erhalten mag. Darin liegt der
Grund der religiöſen Gefühle, die das Altexthum in uns
erweckt; auf dem Grabeshügel der Vergangenheit
werden wir geboren; wie eine Feuerflamme iſt das
Leben durch die Erde durchgeſchlagen, aber die Tiefe
nur giebt der Flamme Nahrung, und unten wohnt in
dunkler Höhle die Sybille, und hütet die Mumien,
die zur Nuhe gegangen ſind, und ſendet die Andern
hinauf, die auf’s neue in des Lebens Kreiſe treten,
und läutet die Todtenglocke, die dumpf aus der Tiefe
den Geſchlechtern ruft, die niederſteigen ſollen in das
nächtlich dunkle Reich.
Das ſind Betrachtungen, die alle Geſchichte in uns
weckt, die beſcheidene Geſchichte deren Bilderſaal wir in
dieſen Blättern durchwandelt, konnte ſie uns beſonders
nahe legen. Nicht das Leben und das Wircken welthiſtori-
ſcher Momente, Eroberer, großer Perſönlichkeiten iſt uns
aufgeſtoßen, aber wohl das Thun und Treiben der
großen Menge, der Gemeinde, hat ſich unſerer Betrach-
tung dargeboten: welche Weltanſchauung Dieſe ſich
nach und nach gebildet; wie viel ſie aus dem Strome
des Wiſſens und der Erfahrung, der durch die Zeiten
geht, ſich angeeignet; welchen Stock auch ſie allmählig
ſich angelegt, und wie auch bei ihr jede Zukunft mit
dem Erwerbe der Vergangenheit gewuchert, das hat
ſich unſerer Anſchauung hingegeben. Nicht eng geſchloſ-
ſen war der Kreis der Zeiten, in den dieſe Bildungen
uns eingeführt; wir ſahen ſie hin bis nach Indien
reichen, und wie mit dem Verlaufe der Geſchichte die
Cultur ſich mehr nach Weſten zog, ziehen ſich auch die
Kreiſe enger um unſere Zeit zuſammen: vorzüglich
aber das Mittelalter iſt die Periode, wo die Geſtalten
ſich am dichteſten aneinander drängen, wo hauptſächlich
die Stiftung gegründet wurde, von der die gegenwärtige
Generation noch die Zinſen zieht. Welch eine wunder-
ſeltſame Zeit iſt nicht dies Mittelalter, wie glühte nicht
in ihm die Erde liebeswarm und lebenstrunken auf;
wie waren die Völker nicht kräftige junge Stämme
noch, nichts Welkes, nichts Kränkelndes, alles
ſaftig, friſch und voll, alle Pulſe rege ſchlagend, alle
Quellen raſch aufſprudelnd, Alles bis in die Extreme hin
lebendig! Der Norden hatte früher ſeine kalten Stürme
ausgeſendet, wie Schneegeſtöber hatten die mitternächt-
lichen Nationen über den Süden ſich hingegoſſen, dunkel
zog ſich’s um die bleiche Sonne her, da gieng der
Erdgeiſt zur tiefen Behauſung nieder, da wo in gewölb-
ter Halle das Centralfeuer brennt, und legte ſich,
während außen die Orkane heulten, zum Schlafe
nieder; die Erde aber erſtarrte, als wäre ſie zum
Magnetberge geworden, und es wollten nicht mehr die
Lebensquellen in den Adern rinnen, und der Blumen-
flor des Alterthums verwelkte, und die Zugvögel ſuch-
ten an den Wendekreiſen eine wärmere Sonne auf.
Aber die Fluthen hatten ſich verlaufen, die Stürme
hatten ausgetobt, der Schnee war weggeſchmolzen,
wie die lauen Winde wiederkehrten, und war befruch-
tend in die Erde eingedrungen; der Archeus war
gewekt von dem harmoniſchen Zuſammenklange der
Geſtirne, wieder hervorgegangen, und hatte das Leben
mit hinaufgebracht in unendlich vielen jungen Knospen
und Keimen; und es brauſte in allem Geäder wieder,
und die Todtenkälte war gewichen, und der Winter-
ſchauer, und des Froſtes ſtarre Herbigkeit, und es war
ein ahndend Sehnen in dem Gemüthe aller Dinge
und ein freudig ſinnend Verlangen in allem Irdiſchen,
als das Mittelalter begann. Ein großer Erdenfrühling
war über den Welttheil ausgebreitet; der ſchöne Garten
in Griechenland, das zweite Paradies, war wohl zer-
ſtört, und bald trat ein Cherub mit dem Flammen-
ſchwerd von Mahomed ausgeſendet vor den Eingang
hin; die Palläſte der Römerſiadt waren wohl geſchleift
und der große Thurm umgeworfen, der aller Völker
Sprachen verbinden ſollte: aber der ganze weite Welt-
theil, der wüſt gelegen hatte und verwildert, während
jene Kunſtgärten blühten, war nun auch wegſam und
zugänglich und angepflanzt geworden, und eine Blüth-
enwolke hieng berauſchend über der weiten Welt, und
die Mooſe ſandten oben ihre Düfte dem ſchwebenden
Frühling zu, wie unten die Orangen zu ihm aufduf-
teten; in dem Meere von Wohlgeruch aber ſchwebte
die Poeſie wie über dem Chaos Eros, und bildete
Kunſtgeſtalten aus der Aroma und dem Farbenglanz.
Und die alten Götter waren geſtorben, wie das Laub
gefallen war, und wie Grabeshügel lagen die Schutt-
haufen ihrer Tempel weit umher, und über Tod und
Grab erhaben und über Endlichkeit und Zeitlichkeit,
war ſiegreich ein anderer Gott hervorgegangen; er
hatte den letzten Athem der Sterbenden aufgeathmet,
und alle irdiſchen Lichter waren in ſeinem Glanz
zerronnen, und das Leben war zu ſeiner erſten Quelle
zurückgegangen; wie es aber durchbrach durch des
Grabes Nacht, und glorreich gegen Himmel fuhr, da
brachte es die neue Zeit aus der Tiefe mit herauf,
Elyſium und die Unterwelt entwichen von der Erde,
die keinen Raum mehr für ſie hatte, und die ſchöne
freudige, alte Sinnlichkeit war nun gebrochen, und
die Freundſchaft des Menſchen mit den Elementen
aufgehoben, es war Feindſchaft zwiſchen ihm und der
Natur geworden, und er ſollte der Schlange den
Kopf zertreten. Denn es waren andere Geiſter in
ihm aufgeſtanden, die ein Anderes wollten als die
Sinnenfreuden; es waren Flammen in ihm aufgelodert,
die das Irdiſche verzehren wollten, um Höheres zu
erlangen, und hohl von innen aufgerieben ſchwand
die ſinnliche Natur in ſich zuſammen; die plaſtiſche
Fülle magerte mißgeſtaltet ab, aber auf den Ruinen
der irdiſchen Herrlichkeit wandelten die freudigen
Geiſter, die das Werk der eignen Hinopferung voll-
bracht, die ſich ſelbſt, ihr Leibliches und alle Luſt der
Welt dem Ewigen zur Sühne hingeſchlachtet, und
triumphirend nun über den Gluthen des Schetterhaufens
ſchwebten, auf den ſie ſelbſt freiwillig ſich hingelegt.
35.
So hatte der Funken, den der alte Prometheus vom
Himmel in der Ferula hinweggenommen, des Stengels
Mark verzehrt, und wollte nun, leiſe um die Aſche
flatternd, ſich wieder von der Feſſel reißen, in die ihn
der Titan gelegt, und wiederkehren zu der Heymath,
der ihn die übermüthige Kraft entführt. Das war der
Genius, den die neue Religion in die Welt gebohren,
und er traf nicht auf ein ermattetes Geſchlecht; leben-
dige Sinne hatten dieſe Menſchen um das Sinnliche
zu genießen, und es galt ſchweren Kampf zwiſchen
den beiden Welten, bis die Höhere ſiegte. Und das
eben macht die Zeiten ſo unendlich intereſſant und
rührend, dieſe ſtarken Naturen demüthig, fromm und
hingegeben dem Heiligen zu ſehen: denn es iſt kein
erfreulicher Anblick, wenn die Ohnmacht und die
Schwäche gebeugt in kraftloſer Andacht verſchwimmen;
aber wenn die Stärke ſich ſelber zwingt, wenn das
Coloſſale den Nacken von Erz und die geharniſchten
Knie beugt; wenn die Gewalten, die berufen ſind,
aufrecht und ſtolz wie Götter über die Erde hin zu
gehen, freiwillig dem Unſichtbaren ohne Heuchelei ſich
neigen, dann iſt’s ein freudiger Triumph der Idealität
im Menſchen, und ein ſchöner Sieg des Göttlichen.
So war ſtarker, raſcher Heldenſinn in dieſer Zeit, mitten
in dem Feudalſyſtem, das ſie itzt ſo erbittert ſchmähen,
während ſie es doch nur in höherer Ordnung in ihren In-
ſtitutionen wiederhohlen, hatte der Geiſt der antiken
Freiheit ſich noch erhalten, und die Freyen in einem
Ritterthume ſich fortgepflanzt, und die ganze Kernhaf-
tigkeit der alten Zeit ruhte auf dieſen Rittern, die
ganze wilde Kraft der Leidenſchaft trieb die rohen in
ſich ungezügelten Gemüther, und ausgleichend und
beſchwichtigend und glühend ſchwebte dann die Religion
über dem Toben, und beſchwor den Sturm, und
führte Ebenmaß zurück und Ruhe in die brauſende
Gährung. Es war ein metallenes Geſchlecht, und das
Metall im Menſchen wurde in ihm durch Feuers
Macht zum reinen Silberblick geläutert, und die
Schlacken zogen ſich in die Knochenaſche des gemeinen
und des Irdiſchen nieder. Und was das Alterthum in
dem Grade nie gekannt, auch in der Weiblichkeit trat
ein Prieſterthum hervor, das die Prophetinen der alten
nordiſchen Zeit weiſſagend vorverkündigt; auch die Schön-
heit hatte ſich von den Schranken des Sinnlichen losge-
wunden, auch ſie war triumphirend und verklärt zum
Himmel aufgeſtiegen, und wohnte nun bey Gott; die
Geſchlechtsverhältniſſe aber, die im Alterthume in ſich
ſelbſt ihre Bedeutung trugen, waren zu Symbolen
nun geworden, emblematiſch ſollten ſie das Höhere
deuten, und im Fleiſche den inneren lebendigen Geiſt
ausdrücken. Und es gieng noch ein anderer Cultus und
eine andere Andacht in den Heldengemüthern hervor:
auch das Schöne hatte ſeine Kirche, vor dem zarten,
anmuthsvollen Bilde beugte die Gemeinde auch die
Knie, und der Weyhrauch dampfte, und die Blumen-
kränze dufteten, und die Lauten tönten, und die ewige
Lampe brannte fort und fort. Die alte, ſtrenge, klare,
lichte, plaſtiſche Weiblichkeit war im Liebesfeuer zerron-
nen, und ein Heiligenſchein war hervorgequollen und
umfieng nun das Wunderbild, und die Züge wichen in
ein myſtiſch glimmend Licht zurück, und wie mildes
Oel floß von ihm die Anmuth aus, und ſänftigte die
Stürme der Zeit. So giengen Andacht, Liebe, Hel-
denſinn in einen großen Strom zuſammen, und der
Strom gieng durch alle Gemüther durch, und befruchtete
die reiche Sinnlichkeit, und es erblühte der neue Gar-
ten der Poeſie, das Eden der Romantik. Es war
unterdeſſen aber auch tief im Süden ein anderer Geiſt
und ein ander Geſetz gereift; wie ein ſengend, wirbelnd,
glühend Feuer, wie ein heißer Samiel war der wilde
Mahomed aus Arabiens Wüſten hervorgebrochen;
ſiedend Löwenblut trug dies Geſchlecht in ſeinen Adern;
entflammt von der ſcheitelrechten Sonne, entflammt
von innerer Gluth und Enthuſiasm kochte das Volk
über die Ufer des weiten Welttheils in die Andern
hinüber; Afrika war ſchon überſchwemmt, und wie
griechiſch Feuer brannte die Maſſe noch auf dem Meere
fort, und hatte bald Europa ſogar ergriffen. Früher
aber ſchon hatte ſie die heiligen Oerter überfluthet,
die Geburtsſtätte der neuen Zeit, wo ſie jung geweſen
war, und ein Kind umwandelte unter den Greiſen des
Alterthums; hier wo wundervoll das große Himmels-
zeichen ſtand, an dem alle Völker vom fernen Norden
herab aufblickten, und das ſie wie eine Oriflamme zu
einem Volk vereinigte; hier herrſchte ein falſcher
Prophet, und brütete Gift im innerſten Herzen ſelbſt
der Chriſtenheit, das dann von dort durch alle Adern
ſich verbreitend ſie zerſtören ſollte. Das mußte wie
Aezſtoff wund die ſtolzen, raſchen, nordiſchen Helden
nagen; es war unvergleichlich mehr wie Troja und wie
goldnes Vließ, nicht die Schönheit war nur gefährdet,
die Religion höher und werther ihnen als alles Irdiſche
flehte um Hilfe und um Rettung ihrer Heiligthümer.
Plötzlich fuhren Alle, wie von einem Strahl getroffen
auf, es galt das Höchſte was den Menſchen in enthu-
ſiaſtiſche Bewegung ſetzen mag, und was irgend nur
der Begeiſterung fähig war, nahm Theil an dem
großen Zuge um den Glauben und um Rache an ſeinen
Verfolgern; und es wälzten ſich Heere zahllos und
muthig, alle Lanzen im electriſchen Lichte des Enthuſiasmus
flammend, nach dem heiligen Lande hin. Und es
begann der ungeheuere Kampf des eiſernen nordiſchen
Ritterthums mit den Löwenſchaaren, die Aſien und
Afrika ihm entgegen geſendet hatte: es faßten ſich die
Kämpfenden mit Kraft, es galt ob Erzes Macht, ob
Feuers Gewalt das Stärkere ſey; die ganze alte Welt
war des Kampfes Zeuge, und viele aufeinanderfolgende
Generationen ſahen ſein Ende nicht. So kehrten die
alten mythiſchen Götterkriege unter den Menſchen um
die Götter zurück; ſo war die Geſchichte zu einem
großen religiöſen Epos geworden, zu dem jede Nation
ihren Geſang geliefert; der ganze Weſten aber hatte zu
einem großen Dome ſich gewölbt, und nach Oſten hin
am Hochaltare da brannte umgeben von ernſter Stille
und verſchwiegner Dunkelheit in myſtiſch wunderbarem
Lichte das heilige Grab, und geöffnet war über der
wundervollen Stätte die hohe Kuppel, und ein Strahl der
göttlichen Glorie fiel auf den geweihten Stein herab,
und aus ihm hervor quoll dann der Segen der Gnade
über die frommen Pilger nieder, die um das Heilig-
thum ſich drängten, und wer den heiligen Gral erblickt,
der veraltete nimmermehr, und kein Bedürfniß mogt
ihn drängen, und des Todes Stachel ſtumpfte ab an
ihm: im Chore aber erhob ſich der Vatikan, und da
ſaß auf hohem Sitz der Oberprieſter und lenkte den
Dienſt, und herrſchte über die Andacht der Gemeinde;
und die Ritter kamen und legten ihre Trophäen zu den
Füßen des Altares nieder. So war’s ein Jauchzen,
und ein Jubel und ein freudig Singen dieſe Zeit; die
Pilger zogen in allen Ländern um, und ſangen in Chören
von den Thaten der Kreutzfahrer, und von der Wildheit
der Unglaubigen, und von den Wundern des Landes,
und Alles horchte den Geſängen, und den begeiſterten
Reden der Prediger, und fühlte ſich auch erhoben, und
wollte auch ſchauen das Wunderland und die gebene-
deyte Erde: das andere Geſchlecht aber, was nicht
mitwallen konnte auf die weite Fahrt, faßte die Reden und
die Lieder um ſo tiefer im verſchloßnen Buſen auf, und ſie
wurden der innerſte ſchlagende Punct des Lebens, und
erblühten in dem warmen Reviere ſchöner noch, wie jene
Doppelblumen, die aus Blumenkelchen in die Höhe
ſteigen, denn es war die Liebe, die ſie trieb und pflegte.
So trieben und drängten ſich alle Kräfte zur Ent-
wicklung vor, an der Liebe hatte die Andacht ſich ge-
zündet, an Dieſer loderte Jene wieder höher auf;
rückwärts wie eine Vergangenheit ſtand den Kämpfen-
den die Liebe im fernen Vaterlande, und ein inbrünſtig
Sehnen rief ſie dahin zurück, vorwärts aber ſchwebte
mit Zukunft und Ewigkeit, die Religion und die Palme
winkte und die Myrthe, und die Liebe winkte der
Palme zu, und es riß fort mit Zaubers Gewalt.
Und die Quellen der Poeſie, die im Orient ſprangen, und
jene die im Occident und im Norden entquollen waren,
hatten ſich gemiſcht, und der Orientalism war tief
eingedrungen in die nordiſche Cultur; der Blüthenſtaub
der ſüdlichen Poeſie ward hinüber geweht in die weſtliche
Welt, und es ſprangen ſeltſame Miſchlinge hervor,
und es wanderten die Blumen von Süden hinauf, wie
früher die Völker von Norden hinuntergewandert waren.
Ein üppig Quellen und ein raſches Streben riß
daher Alles in dem frohen Rauſche hin, das ganze
Gemüth war aufgeregt und glühte und ſchimmerte,
und die Kunſt war ins Herz des Lebens aufgenommen;
und wenn die Sänger von Liebe und von Thaten
langen, und wenn die Ritter von innerer Herzens-
unruh und Thatendrang getrieben auf Abentheuer
zogen, und wenn die Prachtdramen, die Tourniere,
ſie zum gemeinſamen Wetteifer verſammelten, überall
war’s die innere Begeiſterung, die übertrat und die
Lebensgluth, die aus allen Pulſen ſich ergoß. Ein
ſchöner langer May war über Europa angebrochen,
die Auen grünten jung und ſaftig, der bunte Farben-
teppich war darüber hingelegt, und die Nachtigallen
ſchlugen, und die Wohlgerüche zogen mit den Tönen,
und in allen Gemüthern war ein tiefes Sehnen nach
fremdem Land erwacht und ein kräftig Streben hatten
ſie aus blauem Aether eingeſogen, und geſtählt in der
Gluth federten die Kräfte, und es trieb der freudige
Jugendmuth. Alle europäiſchen Nationen aber nahmen
Theil an dieſem Lebensfeſte, Alle vereinigte ein einig
Band, der gleiche Trieb begeiſterte ein jeglich Volk,
und es war nur eine Erde und zwei Geſchlechter auf
dieſer Erde. Frankreich, im Herzen Europa’s liegend,
hatte frühe ſchon auch des Herzens Dienſt verſehen,
es hatte zum Chorführer in dem Feiertanz der neuern
Zeiten ſich erhoben. Geſchieden noch in eine Reihe
ſelbſtſtändiger Provinzen, deren jede ihrem eignen
Genius folgte, und nicht geſchmiedet war an gleiches
Maaß und Gewicht einer herrſchenden Verfaſſung,
hatte es mit allen Völkern dadurch Berührungspunkte;
der rege Trieb, der von ihm ausgieng, verbreitete
ſich daher über die Andern hin, und es faßte ſchnell
wieder die Impulſe auf, die von außen ihm geboten
wurden. Die lateiniſche Sprache, in den früheren
Zeiten als allgemeine Sprache herrſchend, beförderte
dabei unendlich dieſen wechſelſeitigen Verkehr, und an
ihr criſtalliſirten ſich dann ſpäterhin die einzelnen
Idiome, jedes in dem Geiſte des bildenden Volkes an,
die daher Alle von ihrer Gründung her in dieſem
Medium zuſammenhiengen. So geſtaltete ſich zunächſt
36.
in jenem ſchönen Südlande, das im älteſten Alterthume,
wo Griechenland im vollen Sonnenſcheine der Poeſie
und aller Künſte ſtand, an der Dämmerungs-
gränze lag, und ſchon an einem Reflexe des Lichtes
ſich erquickte, als noch der ganze Norden in tiefem
Dunkel begraben war, die romantiſche provençaliſche
Sprache, und gegen das Ende des zehnten Jahrhun-
derts, da eben das barbariſche Heldenzeitalter für dieſe
Ritter, die zum Theil aus griechiſchem Blute entſproſſen
waren, zu Ende gieng, ſangen die Troubadours, jene
wunderbar begeiſterte Generation, der die Natur ſelbſt,
wie den Singvögeln, die Gabe des Geſangs verliehen,
und die himmelan ſich ſchwingend in den geklärten
Aether, zuerſt die kommende neue Zeit mit ihrem Mor-
geſang begrüſten. Wilhelm Graf von Poitou führte
den Reigen, nachdem eine Menge minder berühmter
Künſtler vorangegangen, und es folgte nun ein Drän-
gen und ein feierlicher Zug aus allen Ständen; Prieſter,
Layen, Könige, Herzoge, Ritter, Frauen, alles
ſtimmte in den Dythirambus ein: als hätte ein Zauber-
ſtab das ganze Geſchlecht berührt, Alle fuhren in ſchöner
Begeiſterung auf, und die Chöre zogen jubelnd, den
Thyrſus ſchwingend zwei Jahrhunderte lang durch die
Wälder, Burgen, Städte, und alle Echo’s waren
wach geworden, und alle Stummen der Erde hatten
ihre Sprache gefunden, und es es war ein Wogen und
ein Rauſchen und ein Schlagen der Geſanges Wellen,
als hätte ein harmoniſcher Tonſturm die Zeit ergriffen.
Es brach das Zarte durch die Rohheit, und die Liebe
durch den Sinnestrieb, und die Religion durch die
Weltlichkeit und des Lebens Ueberfülle; in freier Unge-
bundenheit ſpielte der Witz ſein frivoles Spiel, und
alle biedie Richtungen ſchoſſen durcheinander, wie bei’m
Teppichwürken das Weberſchiff durch die aufgezognen
Fäden fährt; die bunten Bilder aber, die ſich würkten,
fielen auf die Erde, und wurzelten in ihr, und wurden
neue, phantaſtiſch ſeltſam zuſammengeſetzte Blumen.
Was ſo im Uebermuthe der Begeiſterung, und im
freudigen Lebensrauſche ſich gebildet, das faßten die
Herolde der Dichtkunſt auf, und die Conteurs zogen
im Lande um, und declamirten die Gedichte, und die
Jongleurs ſtellten ſie mimiſch und dramatiſch dar, die
Menetriers aber ſtatteten ſie mit dem Zauber der
Tonkunſt aus. In der Poeſie aber hatte ſich aller
Unterſchied der Stände ausgeglichen; die Liebe ſchlug
wie Himmelsblitz aus der Höhe in die Tiefe nieder,
und zog ſich wie ein Erdenblitz aus den Tiefen funkelnd,
ſprühend, ſchimmernd an den erhabnen Gegenſtänden
hinauf, und die Schönheit im Geſchlechte fühlte ſich
eng mit der Schönheit in der Kunſt befreundet, und
ein Kranz der Freude und der Fröhligkeit ſchlang ſich
um den Sänger und ſeines Herzens Liebe her. Auch
die Poeſie daher war wieder dankbar und ergeben dem
Geſchlechte; gern mogte ſie der Schönheit, als der höchſten
Inſtanz in Geſchmack und Angelegenheiten der Liebe hul-
digen, und ſo traten denn die Minnegerichte in der
Zeit hervor; und es waren nicht Pedanten, die in
critiſchen Blättern die Kunſtgebilde mit plumper Fauſt
zerpflückten, zarten Händen war die Pflege anvertraut,
und was aus warmem innerm Leben hervorgequollen
war, fand auch wieder warmes Leben außen vor, von
dem es freudig aufgenommen und geborgen wurde.
So hatte die Sirene der neuen Zeit in dieſem Land
begonnen, und ob den Tönen erwachten nun auch die
Sirenen, die rund umher in den andern Gebürgen
ſchliefen; ſie fielen in die Accorde ein, und ſchwellend
erhoben ſich die Geſänge, und flutheten, immer weitere
Kreiſe ſchlagend, über den ganzen Welttheil hin.
Jenſeits der Pyrenäen hatten die Spanier, ein ſchwer,
gediegen, gemüthvoll, tonreich Volk ſich geſammelt;
da trugen die Mauren afrikaniſche Sonnengluth hin-
über in die Zaubernacht, und blutroth begann die
Nacht zu flammen, und in dem Brande kämpfte ſich
der Kampf um den Himmel und den Propheten, und
es tönte Schwerdtesſchlag heraus und Waffenklirren,
Cid’s Schlachtruf dem Kriegsgeſchrei voran, und
wieder tiefe Stille uudund durch die Ruhe Lautenton und
der Romanze wunderbarer, gedämpfter Schall, gleich
unterirdiſcher Waſſer Rauſchen; dann wieder Glocken-
ruf und Hymnenfeyer, orientaliſch Liebesſchmachten
und Gegirre unter Brunnenrieſeln, und wieder Lanzen-
ſauſen, Todtenklage, Siegsgeſchrei. So war das
Leben dieſem Volke eine große Schule, es hatte ein
herrlich, göttlich Heldenthum im Kampfe mit den Hei-
den ſich errungen, damit trat es in ſich vollendet in
den Völkerkreis, und es klangen die Geſänge mit den
Geſängen der Provençalen in eins zuſammen; es
waren verſunken für die Kunſt die Pyrenäen, und die
Caſtilianer, und Catalonen und die Arragonier, Alle
bildeten ſie mit jenen ſüdfranzöſiſchen Dichtern nur
einen Chor; und es war ein Leben nur in ihnen und
eine Harmonie und ein Wetteifer; und das Reich der
Poeſie war wie der Kirche Reich nicht an die politiſchen
Gränzen gebunden, ſondern reichte hoch oben durch
die Lüfte und das Firmament über alle Völker her.
Auch im Norden hatte derſelbe Geiſt gezündet, jenſeits
der Loire in der Rormandie und Bretagne war ein
eigner Dichterſtamm, die Trouveurs, hervorgegangen;
und es klangen in ihnen die Töne der ſüdlichen Sänger
weiter, aber durch die Töne rauſchten hörbar andere
Accorde durch, die nordiſcher Geiſt ihnen eingegeben
hatte: während die Provençalen der Lyrik ſich zuwan-
den, trat hier mehr herrſchend das Epiſche hervor.
Denn wie die Provençalen die Spanier in ihren Bund
aufgenommen hatten, ſo kamen dieſe Dichter unmittel-
bar von der Hälfte des eilften Jahrhunderts an, nach
der Eroberung von England, mit dem Volke dieſes Landes
in Verkehr, gaben Impulſe und empfiengen welche,
und dort, wo früher ſchon die caledoniſchen Bar-
den geſungen hatten, wo die Poeſie vielleicht nie ganz
ausgeſtorben war, blühte ſie nun von neuem in den
Mynstrels auf, und es war ein neuer Grundton zu
dem großen Chorgeſang hinzugekommen. Und es dran-
gen die Provençalen auch über die Alpen vor, und
trafen in Italien auf einländiſche, eigenthümliche,
genuine Kunſt und Poeſie, und vermiſchten ſich mit
ihr, und wie ſpäter die Normannen in Sizilien ſich
feſtſetzten, drangen auch die nordiſchen Radiationen
von Süden wieder reflectirt nach Norden hinauf, und
über den Trümmern der alten Zeit durchkreuzten ſich alle
die mannigfaltigen Beſtrebungen, und ſogen vom Geiſte
des Alterthumes ein, der noch aus den Ruinen erquik-
kend und belebend dampfte, und es erklang abermal
ein neuer Grundaccord, und ſchmiegte ſich den andern
bei, und lauter rauſchte der Geſang einher. Auch
Griechenland war nicht geſtorben; die alte Brücke, die
Xerxes zwiſchen Aſia und Europa geſchlagen, ſtand
noch in dieſem Reiche: da wanderten die fantaſtiſchen
Feuergeburten des Orients in den andern Welttheil
hinüber; Suſa, Ecbatana, Perſepolis, Babylon,
Chaldäa und Aſſyrien, Kleinaſien, alle die verſunknen
Gewalten der untergegangenen Welt gehorchten dem
Geiſterbann und ſchritten durch die Kreiſe, noch einmal
hob die uralte Zeit müde ihr eisgraues Haupt aus dem
Grab heraus, und ſah ſtaunend in die Gegenwart
hinein, und die Gegenwart ſah ſtaunend die verblichene
Geſtalt über den Gräbern wankend ſtehen, wie ſeltſame
Viſionen ſie umkreiſten, und verwitterte Schatten in
den Gewölken um ſie lagen, und da das alte Haupt
zur Ruhe ſich hingelegt, und die Schatten verſunken
waren und die nebelnden Geſtalten: da erzähten die
Neugriechen in exaltirter nachglühender Phantaſie was
ſie geſehen, wie der Welttheil zur Todtenhalle ſich
gewölbt, und wie die großen Verſtorbnen dort wandel-
ten, und wie ihre Schatten noch umgiengen oben in
des Tages Licht als Sagen, und die Völker hörten
freudig erſtaunt ſie reden, und von Munde zu Munde
pflanzten ſich die Traditionen fort, von den Pilgern
und den Kreuzfahrern umgetragen, und auch ſie ſangen
in die Poeſie der Zeit hinein. Tief im Norden aber,
wo der Himmelsdrache den Scheitel eng umkreiſt, war
der dunkle Bogen aufgeſtiegen, und es ſchoſſen da und
dort Blitzlichter heraus, und die Dunkelheit ſog ſie
wieder ein, und ſandte neue ſtärkere hervor; und die
Lichtſäulen ſtiegen an den Sternen auf; und eng
durchwebte mit den Strahlenſchüſſen ſich der Himmel,
und die fahrenden Lichter ziſchten, und Geiſter ſauſten,
und ein unerklärbar Getöne zog durch die Lüfte, wie
Pfeilgepraſſel und Helmgeklirr, und es öffnete ſich der
mitternächtlich dunkle Bogen, und es ſtand im lichten
Glanz ein neuer Götterhimmel. Die Feuerbrücke und
an ihr die Himmelsburg, Thor’s vielgewölbte Halle
die Elfenwelt, Asgard, wo in goldnen und ſilbernen
Palläſten die ewigen Götter und die Göttinnen woh-
nen, und Walhalla von Gold gebaut, unabſehbar
groß, mit fünfhundert vierzig Thoren, mit Lanzen-
ſchaften getäfelt, mit goldnen Schilden gedeckt, wo
Odin mit den gefallenen Helden ſchmauſt; Ymer aus
deſſen Fleiſch die Erde geſchaffen, aus dem Gehirne der
Himmel, aus den Knochen die Felſen, und die Eisrieſen
von Schnee und Reif zuſammengeronnen in der Ferne
kämpfend; die Nornen, die das Schickſal regeln aus
dem Wunderborne ſteigend. Und die Wolen zogen
weiſſagend um, und die Walkyren webten in dem
Hügel das Gewebe der Schlacht mit Gedärmen der
der Menſchen, von Männerſchädeln die Fäden gezogen,
blutige Lanzen die Tritte, Pfeile die Schiffchen, mit
Schwerdtern wird das Todesgewebe geſchlagen und
ſchnell fliegen ſie dann auf eilenden Roſſen hinweg.
Oben am Pole aber zuckt an dem Hamen des gewaltigen
Donnerers die giftige midgardiſche Schlange, und dazwi-
ſchen tönen Skaldengeſänge und Todtengeſänge und feiern-
der Hymnen Schall. So hatten denn die Wechſelchöre
von allen Seiten her Teutſchland umzogen; es konnte
nicht ſtumm bleiben in dem lauten ſangvollen Leben:
von allen Gebürgen riefen ſie in Strophen und Gegen-
ſtrophen antwortend einander zu; was klangbar nur in
ihm war, mußte wohl ſich regen, es mußte reſoniren
bei ſo vielfältiger Berührung. Der alte inländiſche
Bardengeſang war mit dem Eindringen des Chriſten-
thums verhallt; es erwachte bald ein anderer Dichter-
kreis; am Rheine und in Schwaben, der Provence von
Teutſchland, wurden die erſten Stimmen laut, es
zündete Stimme ſich an Stimme an, durch Franken,
Thüringen, Sachſen bis nach Oeſterreich rauſchte bald
der Geſang dahin. Die Minneſänger waren aufge-
ſtanden, und es war die weiſſe Roſe, die in ihnen
blühte, während die Purpurroſe ſich in den Troubadours
entfaltete. Schuldlos, einfach, herzlich, zart und
innig war die Liebe, die ſie ſangen; würdig, ernſt
37.
und brav und edel der Ton, in dem ſie Thaten prießen
und Männerſtreben; der Geiſt des Volkes redete aus
ihnen. Es hatte die Nation, nachdem ſie eifrig für
ihre alten Götter und ihren alten Glauben gekämpft,
die neue Religion in ihre gothiſchen Tempel aufge-
nommen, und der geheimnißvolle Geiſt, der unter den
hochgewölbten Hallen webte, hatte ſich herabgelaſſen
auf die Betenden, und war eingedrungen in die ſtillen
ruhigen Gemüther, und ſie waren auch Tempel ihm
geworden, und in die Dämmerung goß er ſeine
Strahlen aus. Es war die Gemeinde fromm im Glau-
ben, aber keck und frei im Leben, weil Sinn und
Lebensmuth ſie trieb. Eine ſonderbare Verfaſſung
hatte ſie ſich zugebildet, verſchränkter, durcheinander-
gewundner Arabeskengeiſt; ein ſeltſam, ſproſſend,
rankend Geſchlinge vielfach verſchiedner Formen, jede
fleiſſig bis in’s Einzelne ausgeſchnitzt, nirgend Mono-
tonie und herrſchende Uebermacht, das Ganze in freier
Willkühr erfunden und kunſtreich zuſammengeſetzt.
Unabhängiger Sinn war herrſchendes Prinzip in der
ganzen Conſtruction; während die Ritter daher auf
ihren Burgen hauſten, und Ritterwerk und Kriegsſpiel
übten, hatte in den Reichsſtädten auch ein Ritterthum
der Bürgerlichkeit ſich gebildet, und es war ein ſchönes
raſches Leben in dieſen nordiſchen Republiken, ähnlich
dem wie es früher in den Griechiſchen beſtanden hatte,
und gleichzeitig in den italiäniſchen Freiſtädten beſtand.
Muthiger Sinn für Recht und Ehre trieb dieſe Helden-
bürger, wie Inſeln waren ihre Städte reich und
blühend über das ſtürmiſche Meer der Zeit hervorge-
treten, und ſie hatten ein Vaterland in ihnen zu
bewahren; Jede hatte daher eine Geſchichte und ein
Ahnenreich gewonnen; kühn kämpften ſie jeder Ueber-
macht entgegen, römiſcher Geiſt der beſſern Zeit trat
in Kriegesläuften, nichts Seltenes, hervor, und in
ruhiger Zeit pflegten ſie gleich ſorgſam alle Friedens-
künſte, und wie die Hanſeſtädte mit ächter, vielleicht
ausgeſtorbner, Genialität den Handel trieben, und
einen mächtigen Bundesſtaat bildeten, ſo waren die
Binnenſtädte die unmittelbaren Organe des innern
Verkehrs, des Kreislaufs und der Aſſimilation. Selbſt
der Bauernſtand hatte ſpäter etwas in der Schweiz
Ritterehre ſich erkämpft; eine Hirtenrepublik hatte auf
ihren Gebürgen ſich gebildet, und wenn auch vielleicht
ihr Streben für die Poeſie unmittelbar verloren war,
ſo war es das doch keineswegs für die Poeſie des Lebens.
Und auch die Fürſten blieben bei dem allgemeinen
Wetteifer nicht zurück; man weiß, wie die Kunſtge-
chichte teutſche Kaiſer und Fürſten jeder Art unter
den Sängern dieſer Zeit aufführt. Und ſo mußte denn
in dieſen Tagen, wo die Nation noch nicht unter
fortdauernden Kriegesplünderungen und Friedensdruck
verarmt, mit dem Wohlſtand auch eine eigene ſelbſt-
ſtändige Poeſie erblühen: es war die Begeiſterung der
Natur in dem Lande noch nicht erloſchen, ſie konnte die
teutſchen Weine treiben; in der Begeiſterung, die
erwärmend die Kunſt anregt, mogte nichts Schlechteres
reifen. Während daher die Minneſänger in lyriſchem
Enthuſiasm die Liebe ſangen und des Gemüthes
Sehnen, und leicht wie den Federball das leichte Wort
handhabten, und in zierlich ſchönen Bogen und reizend
gefälligen Formen hin und zurück, ſinkend und ſteigend
durch die Lüfte trieben, ſangen der Aventüre Meiſter
in größeren Geſängen die epiſche Kraft, die wie eine
Gottheit verborgen in tiefer Menſchenbruſt wohnt, und
That mit That, wie die Natur Welt mit Welt verkettet,
bis um den Menſchen her ſich das Leben wie eine
romantiſche Wildniß zugezogen hat. Und ſie boten
dem allgemeinen Verein zuerſt, was unmittelbar auf
ihrem Boden ſich erzeugt, das Nibelungen Lied, jenes
große Gedicht, wahrſcheinlich in naher Berührung
mit der nordiſchen Heldenmythe hervorgegangen, die
der Rormänner Züge bis nach Italien hinunter frühe
ſchon verbreitet hatten, und die gerade um dieſe Zeit,
im 12ten und 13ten Jahrhundert, Saemund und
Snorre in der Voluspa, der Heimskringla, Edda,
Rymbegla und ſo vielen andern Dämoſagen ſammelten.
Ein großes Denkmal hat ſich die große Zeit in dieſem
Werk gebaut, nicht in Marmor rein und in allen
Umriſſen plaſtiſch vollendet, wie die Ilias, iſt das Ge-
dicht gedichtet, ſondern eine Rune in feſten Granit
gedacht, als ob ein ganzes Gebürge, der Athos, zur
Bildſäule gebildet wäre, und zum Male einer mächtigen
rieſenhaften Vergangenheit aufgerichtet, durch den
ganzen Welttheil herrſchte und durch die ewige uner-
gründlich tiefe Zeit. Und es war das Heldenbuch her-
vorgegangen, die Gigantomachie der gothiſchen, vielleicht
longobardiſchen Periode; es hatte in ihm die Poeſie
den Seidenfaden um ihren Zaubergarten hergezogen,
und es freute ſich die Nation der rüſtigen Kämpfer,
die kamen um ihr die Kränze abzugewinnen. Und viel
waren deren, die um die Kränze rangen, was die
Zeit nur von poetiſchem Stoffe aus den Tiefen des
Gemüths heraufgeworfen hatte, das faßten Dieſe auf,
und eigneten es dem Geiſte ihres Volkes an, und
ſangen es in teutſcher Zunge wieder. Die Engelländer
boten ihren Artus mit der Tafelrunde, ſie und die
Franzoſen hatten in ihm einen Dichterkreis geöffnet,
und die Teutſchen ſchloſſen in ihren Gebilden ihn wieder.
So war der herrliche Titurell unter Albrechts von
Halberſtadt Pflege hervorgegangen; ſo der wunderſam
verſchlungene, abentheuerreiche, thumbe Parcifal des
Wolfram von Eſchenbach; ſo der Thaten- und zauber-
volle Löwenritter des Hartmann von der Aue, Lancelot
vom See von Ulrich von Zezinchoven, der Wigolais des
Wirich von Grauenberg, Daniel von Blumenthal und ſo
manche Andere, die untergegangen ſind. Die Fran-
zoſen und die Italiäner aber hatten den Kreis von
Carl dem Großen und ſeinen Genoſſen gegründet,
und die Teutſchen nahmen davon Rolands Thaten in
ihrem Stricker, und Reinold und Malagis, und
Ogier von Dänemark auf. Und während von andern
Helden Rudolf von Montfort, und Ulrich von Thür-
heim, und Conrad von Würzburg und Vtele außer
ihnen in kräftiger, derber, mannhafter Sprache ſangen,
dichtete Gottfried von Straßburg nach britunſchen
Mähren den galanten, zierlichen Triſtan, und es
geſtaltete ſich die heroiſch kindliche Idylle Flore und
Blantſchiflor, und Lothar und Maller, das ſchöne
Bild treuer Ritterfreundſchaft, und im Freydank und
im Renner, und dem welſchen Gaſte, und dem Winds-
beck und der Windsbeckin und vielen Andern hatte die
Nation ihre Gnomen und didactiſche Poeſie niederge-
legt. So war mit kräftiger, nahrhafter Lebensproſa
geiſtreiche und begeiſtigende Poeſie verbunden, und
wie Wetterleuchten ſchlug dann durch das Alles der
muthwillige, kecke Scherz hindurch. Zünftig war der
Witz in den Hofnarren geworden, die Zeit hatte den
Fürſten den erhaben geſchliffnen Spiegel zugegeben,
aus dem ihr verkleinertes und verſchobenes Bild ſpöt-
tiſch ſie anlachte, und was unter der Schellenkappe
der freie Geiſt geſtaltete, war als ein bewußtloſes
Naturproduct anerkannt. Und dramatiſch hatte dieſer
Geiſt in den vielen ſeltſamen, barocken Feſten, den
Narren- und Eſelsfeyern ſich offenbart, und es hatte
darin die Zeit, die nichts was natürlich und menſchlich
zu unterdrücken wußte, auch dem Harlekin im Men-
ſchen freien Lauf gelaſſen, und er ſprang mit raſchen
Sätzen vor, und trieb ſein loſes Spiel mit, Allem was
auf Ehrwürden Anſpruch machen wollte. Er brachte
zum Dank dafür die zahlloſen Schwänke und komiſchen
Erzählungen und in einer Anwandlung von Bitterkeit
und Ernſt auch ſelbſt Reinecke Fuchs, jenes große
Weltpanorama, mit, und Alle ſind als ein Vermächtniß
dieſer Jahrhunderte bis auf uns gekommen. Keine Men-
ſchenkraft war auf dieſe Weiße ſtumm geblieben, Alle ſpra-
chen, Alle rangen im gemeinſamen Wetteifer, wie die Sän-
ger auf der Wartburg, im Angeſichte der Nationen; und es
war ein großer kunſtreich verſchlungener Tanz, in dem ſich
die ganze Generation bewegte, und in eine ſchöne wunder-
ſame Arabeske war das Geſchlecht verwachſen unten
mit dem Blumenreich und oben mit dem Himmelreich,
und es ſangen alle Vögel in den Zweigen, und die
Kinder ſpielten in den Blumen, und es rührten ſchöne
Frauen die Laute in den Schirmen, und es haſteten
geharniſchte Ritter durch das Dickigt, und kämpften
mit Serpenten, und Eremiten knieten betend,
und auf bunten Libellen trieben die Scherze ſich umher,
es giengen Löwen ſtolz und freudig an der Minne
Zügel, und das ganze Gewächs tränkte Himmelsthau
und der Erde Mark, in dem ſich auch die Rebe nährt.
Und wo iſt all dies freudige Leben hingekommen,
hat es in der Erde Klüfte ſich gezogen, um zum neuen
Springquell ſich zu ſammeln, ſind die Zeiten alt gewor-
den und ſenken ſie kraftlos das graue Haupt der Erde
zu? Nachdem jene hochpoetiſche Zeit vorüber war, da
begann noch einmal jener glühende Feuer- und Farben-
regen, in den die wiederauflebende Mahlerei in Italien
und in Teutſchland und den Niederlanden ſich aufge-
löſt; es waren die fallenden Sterne vor dem jüngſten
Tag der Kunſt, und nachdem die großen Genien der
neuern aufgeſtanden und wieder hingegangen waren,
nachdem Shakespeare das offne Himmelsthor geſchloſſen
hatte, da erfolgte Todesſtille und Verkehrtheit auf lange
hin: der Antichriſt war nun gebohren. Denn ewig beherrſcht
der Kreis alles Menſchenthun, es iſt eine Achſe in
die Mitte der Natur eingeſchlagen, und der Stolzeſte
hat ſein Band dort feſtgeknüpft, an dem ihn das Ver-
hängniß in ſeiner Bahn umtreibt; nur höhere Geiſter ſind
freier auch gelaſſen, und mögen auf des Lichtes Flügeln
frei durch die Räume eilen. Mit dem Kreislauf aber
iſt ewiger Wandel auch und ewige Wiederkehr gegeben;
unaufhaltſam dreht ſichdas Rad der Dinge jetzt durch den
Winter durch und dann wieder durch des Frühlings Blüth-
en; keine Macht kann ſeinen Schwung aufhalten, keine
Kraft es in ſeinem Umlauf feſſeln, daß ewig der Tag
am Himmel ſtehe, und nimmer die Sonne ſinkt. Es
war der junge Frühling alt geworden, ſeine Blüthen
mußten fällen. Es hatte die Erde ſich an den Himmel
angelegt, wie der Säugling an die Mutterbruſt, und
ſich freud- und leben voll geſogen; ſie war erſtarkt und ſollte
ſich entwöhnen; die Reformation ſtrebte auf eigene
Füße ſie zu ſtellen. Um die gleiche Zeit war die ent-
laſſene Erde auch zum vollen Selbſtbewußtſeyn erſt
gekommen; ſie hatte ſich in ihrer Kugelform erkannt,
es hatte der ſpähende Verſtand eine neue Welt entdeckt,
und in ihr das Brod der irdiſchen Natur, das Gold,
Nahrung für das Geſchlecht und Erſatz für jene Schätze,
denen es entſagt. So wandte der Erdgeiſt ſich vom
Aether ab, er kehrte in ſich ſelbſt zurück, und ſuchte in
38.
der Tiefe andere Gaben, als jene die der Himmel
ſpendet; es mußte die Poeſie entfliehen, Alles mußte
gegen die Induſtrie ſich wenden; von dem was
früher geblüht, ſuchte man die Früchte itzt am Boden
auf. So iſt denn unſere Zeit, nachdem es Abend vielmal
und Morgen geworden, auch geworden, und Gott ſah,
daß ſie gut war in ihrer Schlechtigkeit. Kraftlos nicht,
aber unendlich betriebſam und verſtändig hat in ihr
der Erdgeiſt zwiſchen Gold und Eiſen ſich getheilt;
mit dem Stahle wühlt ſie in den eignen Eingeweiden
nach dem Bezoar, der ſie heilen ſoll; denn Leichen-
bläſſe liegt auf ihrem Angeſicht, und Krämpfe durch-
zucken ihr Gebein; wie ſollte ſie Geſang und Saiten-
ſpiel da mögen! Und es iſt rührend, wie immer noch
nicht die Sänger weichen wollen; alles Laub iſt gelb
geworden, jeder Windhauch löſt mehr und mehr der
dürren, verſpäteten Blätter ab, und ſie falleu langſam
traurig zu den andern Leichen nieder; immer aber ſitzen
Jene noch auf den kahlen Zweigen, und ſingen unver-
droſſen fort, und hoffen, harren, klagen, und immer
tiefer ſinkt die Sonne, länger weilt nach jedem Tag
die Nacht, und die kalten dunkeln Mächte greifen
immer tiefer in das Leben ein. Fliegt nach ihren
Städten, laßt euch haſchen, ſingt im Käſig, ſie ſtreuen
euch dafür euer Winterfutter. Nachdem wir viel Hof-
farth und Uebermuth getrieben, nachdem wir in Opium
unſeres Lebens innern Stoff verſoffen, iſt die Zeit der elegi-
ſchen Stimmung nun gekommen, und wir werden viel thun
in der Gattung, ohne daß es irgend beſſer würde. Aber
das werden wir gewonnen haben, daß wir in der
Zerknirſchung wieder achten lernen die Zeiten und die
Geiſter, die vor uns geweſen, die auch geſtritten und
getrachtet und gekämpft, und die uns unter andern
auch die Ehre zum Erbtheil hinterlaſſen haben, die
uns verkommen iſt. Wir ſtanden ſo hoch und warm in
unſerer Höhe von Wonneſeligkeit ſo trunken; es war eine
geſegnete Zeit, an der alle vorhergegangenen Jahrhun-
derte keuchend trugen, wie Atlas an der Himmelskugel;
es war ſo dunkel, ach ſo fürchterlich dunkel hinter uns
in dieſem Mittelalter, und um uns her ſo licht und
unausſprechlich klar; es war ein ſo ſtolzes Gefühl mit
den Ueberbleibſeln dieſer barbariſchen Zeit unſer eigen
Werk zu vergleichen, und das kindiſche Lallen der
rohen ungeſchliffenen Naturmenſchen anzuhören, und
wie ſie ſchwer und mit gebundenen Füßen nach der
Schönheit giengen, die unſere Journale in kinderleichtem
Spiel wegpflücken; wir wußten Alles und aus allen
Zeiten beſſer und dauerhafter in unſerm eigenen Vater-
lande zu vollenden, und konnten unſern poetiſchen
Staat zum geſchloſſenen Staate machen: da kam der
Widerſager und verſuchte uns, das war ein greuelvoller
Anblick, der uns verſinken machte, und wir ſchielen
nun nach dem Himmel hin, ob der ſich nicht erbarmen
mögte. So iſt die Hoffart zu Fall gekommen, und ſo
wird’s ewig ſeyn, bläht euch, treibt euch hohl von
innen auf, ihr gewinnt an Breite wohl, aber alle
Gediegenheit iſt hin, und ein Spott der Winde ſchwankt
ihr ängſtlich da: reißt gewaltſam aus dem Leben euch
heraus, es wird euch verlaſſen, wenn es am nöthigſten
euch thäte, und wenn ihr eben gerüſtet ſieht zum Kampfe
um Alles und um euere Exiſtenz, dann wird der fatale
Schwindel kommen, und ihr ſeyd impotent und lahm.
So wäre es daher verſtändig wohl, nicht ferner
mehr ſo ſehr zu pochen auf das was wir geleiſtet, und
bey unſern Vätern anzufragen, daß ſie in unſerm
Miſere uns ihren Geiſt nicht vorenthalten, und uns
erquicken in unſerer Noth, mit dem was Gutes und
Schönes ſie gebildet: ſie ſind immer die Nächſten uns,
und werden es uns nicht entgelten laſſen, was wir in
den Tagen unſeres Stolzes gegen ſie verbrochen haben.
Auch das wird uns fernerhin wenig zieren, ſie herabzuſetzen
ſo ganz und gar gegen die alte claſſiſche Zeit in Griech-
enland; die Griechen mögten ſonſt, wenn wir ſo
gar knechtiſch von unſerm und unſerer Väter Naturelle
denken, uns wohl für Heloten nehmen, die ſich mit
ihrer Herren Sitte und ihrer Art nach gemeiner Sclaven
Weiſe blähen wollten, und das würde uns wieder ſehr
empfindlich fallen. Es war wohl allerdings eine herr-
liche Zeit, dieſe Griechiſche, gerade deswegen weil
ſie Alles hatte, was uns nach und nach hingeſchwunden
iſt: Lebensmark, und Trotz und freie Beſonnenheit im
raſchen Thun und Treiben; ſie mußte Treffliches wohl
bilden, und das Trefflichſte im engſten Kreiſe concen-
trirt mußte claſſiſch werden. Dieſe Concentrirung war
nicht in der neuen Zeit, dagegen trat das Unendliche
ein in ſie, und mit dem Uebergang in’s Geiſterreich
konnte nun phyſiſche Geſchloſſenheit nicht mehr beſtehen;
im Ueberſinnlichen ſind nicht begränzte ſcharf, geſchnittne
Cryſtalle, aber es iſt unendliche Cryſtalliſirbarkeit, ein
ſchwebend Formenreich, das nur mehr Magnet bedarf, um
anzuſchießen in die einzelne beſondere Geſtalt. So
war die Aufgabe der neuen Zeit eine Unendliche,
ihr könnt von einem endlichen Zeitraum nicht fodern,
daß er das ganze Problem nett und rein auf einmal
euch löſe. Das Mittelalter hat kein rein claſſiſches
Werk hervorgebracht, aber es hat die Schulſchranken
der alten ſinnlichen Claſſicität durchbrochen, und eine
Andere, Höhere begründet, an der alle Zeiten zu bauen
haben, weil in keiner einzeln die Quadratur des Zirkels
gefunden werden kann. Den herrlichen Torſo der
Kunſt hat die alte griechiſche Zeit gebildet; aber blind
war wie die alte Plaſtik die treffliche Geſtalt, das
tiefe, ſchwärmeriſch verſunkene Auge hat erſt die Ro-
mantik ihm gegeben, und die nordiſche Schaam hat
freilich dafür den ſchönen Körper in die Drapperie des
Gewands verhüllt, das ſymboliſch nur die Formen der
Gliedmaßen anzudeuten hat. Laſſen wir ſo jeder Zeit
ihr Recht, die Zukunft wird uns auch das Unſrige
laſſen; jede ſchnöde Herabwürdigung, jede einſeitige
Aufgeblaſenheit iſt verwerflich in ſich ſelbſt, und muß
endlich am eignen Selbſtmord ſterben. Es würde kläglich
ſeyn, wenn je die Achtung und die Liebe für griechiſchen
Sinn und griechiſche Kunſt unter uns ausſterben ſollte,
beſonders itzt, wo beide Nationen ſich wenigſtens im
Unglück gleich geworden ſind: aber wenn wir ſelbſt
unſere Eigenthümlichkeit nicht geltend zu machen ver-
ſtehen, dann laßt uns vor allem doch nicht ſo leichtſin-
nig das Andenken an Die hingeben, die recht gut die
Ihrige zu vertheidigen wußten. Wenn es uns gelingt,
einen Theil des Geiſtes, der in ihren Werken lebt, in
uns einzuſaugen; wenn wir unſere Frivolität umtauſchen
gegen den gediegenen Sinn, in dem ſie handelten;
wenn wir verſuchen, da wir nun ſo vernünftig ſind, auch
verſtändig endlich einmal zu werden, um nicht ſo gar plumb
und ungeſchickt durch’s Leben durchzuſtolpern: wenn wir
endlich einen Theil unſerer übermäßigen Fügſamkeit
ablegen und unſeres taubenſinnigen Langmuths, der
Alles wohl ſich gefallen läßt, und dann plötzlich und
ſpröde ohne Uebergang und Beſonnenheit reißt und
bricht: dann mag Alles ſich wohl noch zum Beſten wenden.
Nur wer es werth iſt, daß die Geiſter ihm erſcheinen,
dem mögen ſie ſich helfend nahen!
Es führt ein leichter Uebergang zu dem Gegenſtand
zurück, dem uns jener Anflug von Begeiſterung ent-
führt: aus dem Zeitalter, das wir prießen,
ſind die Volksbücher meiſt hervorgegangen, mit
deren Anſchauung wir uns beſchäftigt haben; was
wir über ſein Weſen ausgeſprochen, gilt auch von
ihnen, die ſie Kinder ſind von dieſer Zeit und noch
ſtehende Ruinen. Es war die ganze Maſſe der Nation
ſo bis in’s Innerſte erregt, das bis zu den unterſten
Claſſen die Begeiſterung drang, und wenn die große
Menge einmal ſchwankend ſich bewegt, dann legen ſich
ſobald nicht die Wellenſchläge wieder: bis heute ſind
jene Geſangeswellen dem Volke nicht zergangen,
während zu ihrer Schande, Jene die ſich die Gelehrten
nennen, rein das Andenken verloren hatten an die
ganze Zauberwelt, in der ihre Vorfahren gewandelt
waren. Und ſo reich war dieſe Welt, daß nicht die
Vornehmen blos reiche, zierliche Kleider zu ihrem An-
theil bekommen hatten, und ſchöne, goldgeſtickte Wat, in
dem ſie prangen mogten; auch der gemeinſte im Volke
erhielt ein weiſſes reines Gewand zum Feierkleid, und
man muß dem Volke Zeugniß geben, daß es die Gabe
wohl bewahrt, ſorgfältig ſie in ſeine Schränke einge-
ſchloſſen, und noch jetzt ihrer an ſeltnen Tagen ſich
erfreut; während die höheren Stände alle ihre Pracht
ſündlich verſäumt und hingegeben haben, weil ſie
immer nur der Mode fröhnend, kein Herz für den alten
Plunder haben konnten. So hat die alte Zeit verbannt
bei’m Volke ſich verbergen müſſen, und das Volk iſt
rein auch allein vom Schimpfe der böſen Zeiten ge-
blieben, die ſie verdrängten. Wollt ihr ſie ſuchen die
Verwieſenen, ihr müßt ſie bei’m Volke ſuchen, wo
ſie noch im Leben gehen, und im Staube der Biblio-
theken, wo ſie ſchon viele Jahrhunderte den Winterſchlaf
gehalten haben! Wecken wir ſie denn aus dem langen
Schlummer auf, ſie werden Wunder ſtaunen, in
welchem Zuſtand ſie die Enkel finden; die kleine
Schaamröthe mögen wir immerhin über uns ergehen
laſſen. Und wenn ſie denn nun wachen, und wenn
ſie unſerer ſich angenommen haben: dann um’s Himmels
Willen! laßt uns das alte Affenſpiel nicht wieder auch
mit ihnen treiben, und wie Knaben hinter ihnen ziehen,
und grimaſſirend, voll Affectation und hohlem, taubem
Enthuſiasm, ihre Haltung und ihr Geberdenſpiel und
Alles ihnen nachſtümpern, daß es ein kläglicher Anblick
für Götter und Menſchen iſt. Ernſt und würdig ſind
die Geſtalten, zu edel für eine ſolche Mummerey; wenn
wir ſie dafür mißbrauchen wollen, dann laſſen wir ſie
lieber unten ſchlafen. Nimmer läßt ſich, was eigen-
thümlich einer Zeit und einer Bildungsſtufe iſt, in
einer Andern unmittelbar objectiv erreichen. Es kann
wohl das Genie das Vergangene eben auch zum Objecte
ſeiner bildenden Thätigkeit erwählen, es wird alsdann
das Weſen des Alten in die Form des Neuen umgebil-
det, oder auch hinwiederum das Weſen des Neuen in
die alte Form übertragen, und es entſteht eine halb-
ſchlägtige Natur, die aber immer ihre innerſte Wurzel
in der Gegenwart hat. Das aber iſt’s nicht, was vor
der Hand uns noth thut, nicht daß wir das Alte um-
bilden nach uns ſelbſt, wird an uns gefordert, ſondern
daß wir uns in etwas nach dem Alten bildeten; daß
wir an ihm aus der Zerfloſſenheit uns ſammelten, in
der wir zerronnen ſind; daß wir einen Kern in uns
ſelbſt geſtalten und einen feſten Widerhalt, damit in uns
nicht das eigene Selbſt fernerhin verloren bleibt, das
wird uns angemuthet. Ernſt ſollen wir und Würde
von dieſen ernſten Geſtalten lernen, die uns Beide ſo
unendlich im Leben fehlen; im Vertrauen auf uns
39.
ſelbſt ſollen wir unſere Eigenthümlichkeit ausarbeiten,
wie ſie die Ihrige ausgearbeitet haben, aber wir ſelbſt
aus unſerm eignen innern Lebensgrund hervor, nicht
wie dummes Blei uns abermal in ihre Formen umgieſ-
ſen laſſen; in unſer Inneres ſollen wir einkehren, und
dort wo’s bei’m Anſchlagen ſo hohl und hölzern klingt,
wieder Natur und Innigkeit und gediegne Feſtigkeit
zurückrufen; jenes unmäßigen Affengenie’s ſollen wir
in ihrem Angeſicht uns ſchämen und unſerer leeren
Ziererei, unſeres prahleriſchen Renommirens: dann
werden auch die Götter gnädig ſeyn, und beſſere Zeiten
ſenden.