Sokratiſche
Denkwuͤrdigkeiten .
Einleitung .
Der Geſchichte der Philoſophie iſt es
wie der Bildſaͤule des franzoͤſi-
ſchen Staatsminiſters ergan-
gen . Ein groſſer Kuͤnſtler zeigte ſeinen Meiſ-
ſel daran ; ein Monarch , der Name eines
ganzen Jahrhunderts , gab die Unkoſten zum
Denkmal und bewunderte das Geſchoͤpf ſei-
nes Unterthauen ; der Scythe aber , der auf
ſein Handwerk reiſete , und wie Noah oder
B der
der Galilaͤer des Projektmachers , Julians ,
ein Zimmermann wurde , um der Gott ſei-
nes Volks zu ſeyn , dieſer Scythe begieng ei-
ne Schwachheit , deren Andenken ihn allein
verewigen koͤnnte . Er lief auf den Marmor
zu , both grosmuͤthig dem Stein die Haͤlfte
ſeines weiten Reichs an , wenn er ihn lehren
wollte , die andere Haͤlfte zu regieren . Sollte
unſere Hiſtorie Mythologie werden ; ſo wird
dieſe Umarmung eines lebloſen Lehrers , der
ohne Eigennutz Wunder der Erfuͤllung ge-
than , in ein Maͤhrchen verwandelt ſeyn , das
den Reliquien von Pygmalions Leben aͤhn-
lich ſehen wird . Ein Schoͤpfer ſeines Vol-
kes in der Sprache unſers Witzes wird nach
einer undenklichen Zeit eben ſo poetiſch ver-
ſtanden werden muͤſſen , als ein Bildhauer
ſeines Weibes .
Es giebt in dem Tempel der Gelehrſam-
keit wuͤrklich einen Goͤtzen , der unter ſeinem
Bilde
Bilde die Aufſchrift der philoſophiſchen
Geſchichte traͤgt ; und dem es an Hohen-
prieſtern und Leviten nicht gefehlt . Stanley
und Brucker haben uns Koloſſen geliefert ,
die eben ſo ſonderbar und unvollendet ſind
als jenes Bild der Schoͤnheit , das ein Grie-
che aus den Reitzen aller Schoͤnen , deren
Eindruck ihm Abſicht und Zufall verſchaffen
konnte , zuſammenſetzte . Meiſterſtuͤcke , die
von gelehrten Kennern der Kuͤnſte immer
ſehr moͤchten bewundert und geſucht ; von
Klugen hingegen als abentheuerliche Gewaͤch-
ſe und Chimaͤren in der Stille belacht oder
auch fuͤr die lange Weile und in theatrali-
ſchen Zeichnungen nachgeahmt werden .
Weil Stanley ein Englaͤnder und Bru-
cker ein Schwabe iſt : ſo haben ſie beyde die
lange Weile des Publicums zu ihrem Ruhm
vertrieben ; wiewohl das Publicum auch fuͤr
die Gefaͤlligkeit , womit es die ungleichen Feh-
B 2 ler
ler dieſer Nationalſchriftſteller uͤberſehen , ge-
lobt zu werden verdient .
Deslandes , ein Autor von encyclopiſchen
Witz hat eine chineſiſche Kaminpuppe fuͤr
das Kabinet des gallicaniſchen Geſchmacks
hervorgebracht . Der Schoͤpfer der ſchoͤnen
Natur ſcheint die groͤſten Koͤpfe Frankreichs ,
wie Jupiter ehmals die Cyclopen zur Schmie-
de der Strahlen und Schwaͤrmer verdammt
zu haben , die er zum tauben Wetterleuchten
und aͤtheriſchen Feuerwerken noͤthig hat .
Aus denen Urtheilen , die ich uͤber alle die-
ſe ehrliche und feine Verſuche ein kritiſch Sy-
ſtem der philoſophiſchen Geſchichte zu ma-
chen , gefaͤllt , laͤßt ſich mehr als wahrſchein-
lich ſchluͤßen , daß ich keines davon geleſen ;
ſondern blos den Schwung und Ton des ge-
lehrten Haufens nachzuahmen , und denen-
jenigen , zu deren Beſten ich ſchreibe , durch
ihre Nachahmung zu ſchmaͤucheln ſuche . Un-
ter-
terdeſſen glaube ich zuverlaͤßiger , daß unſere
Philoſophie eine andere Geſtalt nothwendig
haben muͤſte , wenn man die Schickſale dieſes
Namens oder Wortes : Philoſophie , nach
den Schattierungen der Zeiten , Koͤpfe , Ge-
ſchlechter und Voͤlker , nicht wie ein Gelehr-
ter oder Weltweiſer ſelbſt , ſondern als ein
muͤßiger Ein Menſch ohne Geſchaͤfte heißt auf grie-
chiſch Argus . Zuſchauer ihrer olympiſchen Spie-
le ſtudiert haͤtte oder zu ſtudieren wuͤſte .
Ein Phrygier , wie Aeſop , der ſich nach
den Geſetzen ſeines Klima , wie man jetzt
redt , Zeit nehmen muſte , klug zu werden ,
und ein ſo natuͤrlicher Tropf , als ein La
Fontaine , der ſich beſſer in die Denkungs-
art der Thiere als der Menſchen zu ſchicken
und zu verwandeln wuſte , wuͤrden uns an
ſtatt gemalter Philoſophen oder ihrer zierlich
verſtuͤmmelter Bruſtbilder , ganz andere Ge-
B 3 ſchoͤpfe
ſchoͤpfe zeigen , und ihre Sitten und Spruͤ-
che , die Legenden ihrer Lehren und Thaten
mit Farben nachahmen , die dem Leben naͤ-
her kaͤmen .
Doch ſind vielleicht die philoſophiſchen
Chroniken und Bildergallerien weniger zu ta-
deln , als der ſchlechte Gebrauch , den ih-
re Liebhaber davon machen . Ein wenig
Schwaͤrmerey und Aberglauben wuͤrde hier
nicht nur Nachſicht verdienen , ſondern et-
was von dieſem Sauerteige gehoͤrt dazu , um
die Seele zu einem philoſophiſchen Herois-
mus in Gaͤhrung zu ſetzen . Ein brennen-
der Ehrgeitz nach Wahrheit und Tugend ,
und eine Eroberungswuth aller Luͤgen und
Laſter , die naͤmlich nicht dafuͤr erkannt wer-
den , noch ſeyn wollen ; hierinn beſteht der
Heldengeiſt eines Weltweiſen .
Wenn Caͤſar Traͤhnen vergießt bey der
Saͤule des macedoniſchen Juͤnglings , und
die-
dieſer bey dem Grabe Achills mit Eyferſucht
an einen Herold des Ruhms denkt , wie der
blinde Minneſaͤnger war : ſo biegt ein Eras-
mus im Spott ſein Knie fuͤr den heiligen
Sokrates , und die helleniſtiſche Muſe unſers
von Baro muß den komiſchen Schatten ei-
nes Thomas Diafoirus beunruhigen , um
uns die unterirrdiſche Wahrheit zu predigen ;
daß es goͤttliche Menſchen unter den Heyden
gab , daß wir die Wolke dieſer Zeugen nicht
verachten ſollen , daß ſie der Himmel zu ſei-
nen Boten und Dollmetſchern ſalbte , und zu
eben den Beruf unter ihrem Geſchlechte ein-
weyhte , den die Propheten unter den Juden
hatten .
Wie die Natur uns gegeben , unſere Au-
gen zu oͤfnen ; ſo die Geſchichte , unſere Oh-
ten . Einen Koͤrper und eine Begebenheit
bis auf ihre erſten Elemente zergliedern , heißt ,
Gottes unſichtbares Weſen , ſeine ewige Kraft
B 4 und
und Gottheit ertappen wollen . Wer Moſe
und den Propheten nicht glaubt , wird daher
immer ein Dichter , wieder ſein Wiſſen und
Wollen , wie Buffon uͤber die Geſchichte der
Schoͤpfung und Montesquieu uͤber die Ge-
ſchichte des Roͤmiſchen Reichs .
Wenn kein junger Sperling ohne unſern
Gott auf die Erde faͤllt ; ſo iſt kein Denkmal
alter Zeiten fuͤr uns verloren gegangen , das
wir zu beklagen haͤtten . Der Preſident von Goguet urtheilt auf eine
aͤhnliche Art in der Vorrede ſeines leſenswuͤr-
digen Werkes de l’origine des Loix , des Arts
& des Sciences & de leurs progrès chez los
anciens Peuples . Sollte ſeine Vor-
ſorge ſich nicht uͤber Schriften erſtrecken , da
Er Selbſt ein Schriftſteller geworden , und
der Geiſt Gottes ſo genau geweſen den Werth
der erſten verbotenen Buͤcher aufzuzeichnen ,
die ein frommer Eyfer unſerer Religion dem
Feuer geopfert ? Apoſtelgeſch. XIX. 19 . Wir bewundern es an
Pompejus als eine kluge und edle Handlung ,
daß
daß er die Schriften ſeines Feindes Serto-
rius aus dem Wege raͤumte ; warum nicht
an unſerm HErrn , daß er die Schriften ei-
nes Celſus untergehen laſſen ? Jch meyne
alſo nicht ohne Grund , daß Gott fuͤr alle
Buͤcher , woran uns was gelegen , wenigſtens
ſo viel Aufmerkſamkeit getragen als Caͤſar
fuͤr die beſchriebene Rolle , mit der er in die
See ſprang , oder Paulus fuͤr ſein Perga-
men zu Troada . 2 Tim. IV. 13 .
Hatte der Kuͤnſtler , welcher mit einer Lin-
ſe durch ein Nadeloͤhr traf , nicht an einen
Scheffel Linſen genung zur Uebung ſeiner er-
worbenen Geſchicklichkeit ? Dieſe Frage moͤch-
te man an alle Gelehrte thun , welche die
Werke der Alten nicht kluͤger , als jener die
Linſen , zu brauchen wißen . Wenn wir mehr
haͤtten , als uns die Zeit hat ſchenken wol-
len ; ſo wuͤrden wir ſelbſt genoͤthiget werden
unſere Ladungen uͤber Bord zu werfen , un-
B 5 ſere
ſere Bibliothecken in Brand zu ſtecken , oder
es wie die Hollaͤnder mit dem Gewuͤrz zu
machen .
Mich wundert , daß noch keiner den Ver-
ſuch uͤber die Hiſtorie gewagt , den Bacon fuͤr
die Phyſik gethan . Die Geſchichts-Wiſſenſchaft des ſcharfſinnigen
Chladenius iſt blos als ein nuͤtzlich Supple-
ment unſerer ſcholaſtiſchen oder akademiſchen
Vernunftlehre anzuſehen . Bollingbroke giebt ſei-
nem Schuͤler den Rath , die aͤltere Geſchichte
uͤberhaupt wie die heydniſche Goͤtterlehre
und als ein poetiſch Woͤrterbuch zu ſtudie-
ren . Doch vielleicht iſt die ganze Hiſtorie
mehr Mythologie , als es dieſer Philoſoph
meynt , und gleich der Natur ein verſiegelt
Buch , ein verdecktes Zeugnis , ein Raͤthſel ,
das ſich nicht aufloͤſen laͤßt , ohne mit einem
andern Kalbe , als unſerer Vernunft zu
pfluͤgen .
Meine Abſicht iſt es nicht , ein Hiſtorio-
graph des Sokrates zu ſeyn ; ich ſchreibe
blos
blos ſeine Denkwuͤrdigkeiten wie Duͤclos
dergleichen zur Geſchichte des XVIII ten
Jahrhunderts fuͤr die lange Weile des ſchoͤ-
nen Publicums herausgegeben .
Es lieſſe ſich freylich ein ſo ſinnreicher
Verſuch uͤber das Leben Sokrates ſchreiben ,
als Blackwall uͤber den Homer geliefert .
Sollte der Vater der Weltweisheit nicht die-
ſer Ehre naͤher geweſen ſeyn als der Vater
der Dichtkunſt ? Was Cooper herausgege-
ben iſt nichts als eine Schuluͤbung , die den
Eckel ſo wohl einer Lob- als Streit-Schrift
mit ſich fuͤhrt .
Sokrates beſuchte oͤfters die Werkſtaͤtte
eines Gerbers , der ſein Freund war , und ,
wie der Wirth des Apoſtel Petrus zu Joppe ,
Simon hieß . Der Handwerker hatte den
erſten Einfall die Geſpraͤche des Sokrates
aufzuſchreiben . Dieſer erkannte ſich viel-
leicht in denſelben beſſer als in Platons , bey
deren Leſung er geſtutzt und gefragt haben
ſoll : Was hat dieſer junge Menſch im
Sinn aus mir zu machen ? ‒ ‒ Wenn
ich nur ſo gut als Simon der Gerber mei-
nen Held verſtehe !
Erſter
Erſter Abſchnitt .
S okrates hatte nicht umſonſt einen
Bildhauer und eine Wehmutter zu
Eltern gehabt . Sein Unterricht iſt jederzeit
mit den Hebammenkuͤnſten verglichen wor-
den . Man vergnuͤgt ſich noch dieſen Ein-
fall zu wiederholen , ohne daß man ſelbigen
als das Saamkorn einer fruchtbaren Wahr-
heit haͤtte aufgehen laſſen . Dieſer Ausdruck
iſt nicht blos tropiſch , ſondern zugleich ein
Knaͤuel vortreflicher Begriffe , die jeder Leh-
rer zum Leitfaden in der Erziehung des Ver-
ſtandes noͤthig hat . Wie der Menſch nach
der Gleichheit Gottes erſchaffen worden , ſo
ſcheint der Leib eine Figur oder Bild der
Seelen zu ſeyn . Siehe die folgende Anmerkung . Wenn uns unſer Gebein
verholen iſt , weil wir im Verborgenen ge-
macht , weil wir gebildet werden unten in der
Erde;
Erde ; wie viel mehr werden unſere Begriffe
im Verborgenen gemacht , und koͤnnen als
Gliedmaſſen unſers Verſtandes betrachtet
werden . Daß ich ſie Gliedmaaſſen des Ver-
ſtandes nenne , hindert nicht , jeden Begrif
als eine beſondere und ganze Geburt ſelbſt
anzuſehen . Sokrates war alſo beſcheiden
genung ſeine Schulweisheit mit der Kunſt
eines alten Weibes zu vergleichen , welches
blos der Arbeit der Mutter und ihrer zeiti-
gen Frucht zu Huͤlfe kommt , und beyden
Handreichung thut .
Die Kraft der Traͤgheit und die ihr ent-
gegengeſetzt ſcheinende Kraft des Stolzes , die
man durch ſo viel Erſcheinungen und Beob-
achtungen veranlaſſet worden in unſerm Wil-
len anzunehmen , bringen die Unwiſſenheit ,
und die daraus entſpringende Jrrthuͤmer
und Vorurtheile nebſt allen ihren ſchweſter-
lichen Leidenſchaften hervor . Von dieſer
Sei-
Seite ahmte alſo Sokrates ſeinen Vater nach ,
einen Bildhauer , der , indem er wegnimmt
und hauet , was am Holze nicht ſeyn ſoll ,
eben dadurch die Form des Bildes foͤr-
dert . Worte unſers Kirchenvaters , Martin Luthers ,
bey deſſen Namen ein richtig und fein denken-
der Schwaͤrmer juͤngſt uns erinnert hat , daß
wir von dieſem groſſen Mann nicht nur in der
deutſchen Sprache , ſondern uͤberhaupt nicht
ſo viel gelernt als wir haͤtten ſollen und koͤnnen . Daher hatten die groſſen Maͤnner
ſeiner Zeit zureichenden Grund uͤber ihn zu
ſchreyen , daß er alle Eichen ihrer Waͤlder
faͤlle , alle ihre Kloͤtzer verderbe , und aus
ihrem Holze nichts als Spaͤne zu machen
verſtuͤnde .
Sokrates wurde vermuthlich ein Bild-
hauer , weil ſein Vater einer war . Daß er
in dieſer Kunſt nicht mittelmaͤſſig geblieben ,
hat man daraus geſchloſſen , weil zu Athen
ſeine drey Bildſaͤulen der Gratien aufgeho-
ben worden . Man war ehmals gewohnt
gewe-
geweſen dieſe Goͤttinnen zu kleiden ; den alt-
vaͤteriſchen Gebrauch hatte Sokrates nach-
geahmt , und ſeine Gratien wiederſprachen
der Cuſtome des damaligen Goͤtterſyſtems
und der ſich darauf gruͤndenden ſchoͤnen Kuͤn-
ſte . Wie Sokrates auf dieſe Neuerung ge-
kommen ; ob es eine Eingebung ſeines Ge-
nius , oder eine Eitelkeit ſeine Arbeiten zu un-
terſcheiden , oder die Einfalt einer natuͤrli-
chen Schaamhaftigkeit geweſen , die einem
andaͤchtigen Athenienſer wunderlich vorkom-
men muſte ; weiß ich nicht . Es iſt aber
nur gar zu wahrſcheinlich , daß dieſe neuge-
kleideten Gratien ſo wenig ohne Anfechtung
werden geblieben ſeyn als die neugekleideten
Gratien unſerer heutigen Dichtkunſt .
Hier iſt der Ort die Ueberſichtigkeit einiger
gegen das menſchliche Geſchlecht und deſſen
Aufkommen gar zu witzig geſinnter Patrioten
zu ahnden , die ſich die Verdienſte des Bild-
hauers
hauers im Sokrates ſo groß vorſtellen , daß
ſie den Weiſen daruͤber verkennen , die den
Bildhauer vergoͤttern um deſto fuͤglicher uͤber
des Zimmermanns Sohn ſpotten zu koͤn-
nen . Wenn ſie in Ernſt an Sokrates glau-
ben ; ſo ſind ſeine Spruͤche Zeugniſſe wieder
ſie . Dieſe neuen Athenienſer ſind Nachkom-
men Progeniem vitioſiorem nennt ſie Horaz Ode 6.
Buch 3. ſeiner Anklaͤger und Giftmiſcher , ab-
geſchmacktere Verlaͤumder und grauſamere
Moͤrder dann ihre Vaͤter .
Bey der Kunſt , in welcher Sokrates er-
zogen worden , war ſein Auge an der Schoͤn-
heit und ihren Verhaͤltniſſen ſo gewohnt
und geuͤbt , daß ſein Geſchmack an wohlge-
bildeten Juͤnglingen uns nicht befremden
darf . Wenn man die Zeiten des Heyden-
thums Roͤm. I. kennt , in denen er lebte ; ſo iſt
es eine thoͤrichte Muͤhe ihn von einem Laſter
weiß
weiß zu brennen , das unſere Chriſtenheit
an Sokrates uͤberſehen ſollte , wie die artige
Welt an einem Toußaint die kleinen Roma-
ne ſeiner Leidenſchaften , als Schoͤnfleck-
chen ſeiner Sitten . Sokrates ſcheint ein
aufrichtiger Mann geweſen zu ſeyn , deſſen
Handlungen von dem Grund ſeines Herzens ,
und nicht von dem Eindruck , den andere da-
von haben , beſtimmt worden . Er leugnete
nicht , daß ſeine verborgene Neigungen mit
den Entdeckungen des Geſichtdeuters ein-
traͤfen ; er geſtand , daß deſſen Brille recht
geſehen haͤtte . Ein Menſch , der uͤberzeugt
iſt , daß er nichts weiß , kann , ohne ſich ſelbſt
Luͤgen zu ſtrafen , kein Kenner ſeines guten
Herzens ſeyn . Daß er das ihm beſchuldig-
te Laſter gehaßt , wiſſen wir aus ſeinem Ey-
fer gegen daſſelbe , und in ſeiner Geſchichte
ſind Merkmale ſeiner Unſchuld , die ihn bey
nahe loßſprechen . Man kann keine lebhafte
C Freund-
Freundſchaft ohne Sinnlichkeit fuͤhlen , und
eine metaphyſiſche Liebe ſuͤndigt vielleicht
groͤber am Nervenſaft , als eine thieriſche an
Fleiſch und Blut . Sokrates hat alſo ohne
Zweifel fuͤr ſeine Luſt an einer Harmonie der
aͤuſſerlichen und innerlichen Schoͤnheit , in
ſich ſelbſt leiden und ſtreiten muͤſſen . Ueber-
dem wurden Schoͤnheit , Staͤrke des Leibes
und Geiſtes nebſt dem Reichthum an Kin-
dern und Guͤtern in dem jugendlichen Alter
der Welt fuͤr Sinnbilder goͤttlicher Eigen-
ſchaften und Fußſtapfen goͤttlicher Gegen-
wart erklaͤrt . Wir denken ietzt zu abſtrakt
und maͤnnlich die menſchliche Natur nach
dergleichen Zufaͤlligkeiten zu beurtheilen .
Selbſt die Religion lehrt uns einen Gott ,
der kein Anſehen der Perſon hat ; ohngeach-
tet der Misverſtand des Geſetzes die Juden
an gleiche Vorurtheile hierinn mit den Hey-
den gebunden hielt . Jhre geſunde Vernunft ,
wor-
woran es den Juden und Griechen ſo wenig
fehlte als unſern Chriſten und Muſelmaͤn-
nern , ſtieß ſich daran , daß der Schoͤnſte
unter den Menſchenkindern ihnen zum
Erloͤſer verſprochen war , und daß ein Mann
der Schmerzen , voller Wunden und Strie-
men , der Held ihrer Erwartung ſeyn ſollte .
Die Heyden waren durch die klugen Fabeln
ihrer Dichter an dergleichen Wiederſpruͤchen
gewohnt ; bis ihre Sophiſten , wie unſere ,
ſolche als einen Vatermord verdammten , den
man an den erſten Grundſaͤtzen der menſch-
lichen Erkenntnis begeht .
Von ſolchem Wiederſpruch finden wir ein
Beyſpiel an dem Delphiſchen Orakel , das
denjenigen fuͤr den weiſeſten erkannte , der
gleichwol von ſich geſtand , daß er nichts
wiſſe . Strafte Sokrates das Orakel Luͤgen ,
oder das Orakel ihn ? Die ſtaͤrkſten Geiſter
unſerer Zeit haben fuͤr diesmal die Prieſte-
C 2 rinn
rinn fuͤr eine Wahrſagerinn gehalten , und
ſich innerlich uͤber ihre Aehnlichkeit mit dem
Vater Sokrates gefreut , der es fuͤr gleich
anſtaͤndig hielt einen Jdeoten zu ſpielen oder
Goͤttern zu glauben . Jſt uͤbrigens der Ver-
dacht gegruͤndet , daß ſich Apoll nach den
Menſchen richte , weil dieſe zu dumm ſind
ſich nach ihn zu richten : ſo handelt er als
ein Gott , dem es leichter faͤllt zu philippiſi-
ren oder zu ſokratiſiren , als uns Apollos zu
ſeyn .
Die Ueberlieferung eines Goͤtterſpruches
will aber ſo wenig als ein Komet ſagen fuͤr
einen Philoſophen von heutigem Geſchmack .
Wir muͤſſen nach ſeiner Meynung in dem
Buche , welches das thoͤrichſte Volk auf uns
gebracht , und in den Ueberbleibſeln der Grie-
chen und Roͤmer , ſo bald es auf Orakel , Er-
ſcheinungen , Traͤume und dergleichen Me-
teoren ankommt , dieſe Maͤhrchen unſerer
Kin-
Kinder und Ammen ( denn Kinder und Am-
men ſind alle verfloßne Jahrhunderte gegen
unſer lebendes in der Kunſt zu erfahren
und zu denken ) Das heiſt , Eßays und Penſees der Loiſirs
zu ſchreiben . abſondern , oder ſelbige
als die Schnoͤrkel unſerer Alpendichter be-
wundern . Geſetzt , dieſes wuͤrde alles ſo
reichlich eingeraͤumt ; als man unverſchaͤmt
ſeyn koͤnte es zu fordern : ſo wird Bayle ,
einer ihrer Propheten , zu deſſen Fuͤſſen
dieſe Kretenſer mit ſo viel Anſtand zu gaͤh-
nen gewohnt ſind , weil ihr Gamaliel Bayle eyferte fuͤr die Reli-
gionsduldung wie dieſer Phariſaͤer Act. V .
gaͤhnt , dieſen Zweiflern antworten ; daß ,
wenn alle dieſe Begebenheiten mit dem Ein-
fluß der Geſtirne in gleichem Grade der
Falſchheit ſtehen , wenn alles gleichartig er-
logen und erdacht iſt , dennoch der Wahn , die
Einbildung und der Glaube daran zu ihrer
Zeit und an ihrem Ort wuͤrklich groͤſſere
C 3 Wun-
Wunder veranlaßt habe und veranlaſſen
koͤnne , als man den Kometen , Orakelſpruͤ-
chen und Traͤumen ſelbſt jemals zugeſchrieben
hat noch zuſchreiben wird . Jn dieſem Ver-
ſtande ſollten aber die Zweifler mehr Recht
als unſere Empyriker behalten , weil es
menſchlicher und Gott anſtaͤndiger ausſieht ,
und durch unſere eigene Grillen und Hirnge-
ſpinſte , als durch eine ſo entfernte und koſt-
bare Maſchinerey , wie das Firmament
und die Geiſterwelt unſere bloͤden Augen vor-
kommt , zu ſeinen Abſichten zu regieren .
Zwey-
Zweyter Abſchnitt .
E in Mann , der Geld zu verlieren hatte ,
und vermuthlich auch Geld zu verlie-
ren verſtand , dem die Geſchichte Kriton
nennt , ſoll die Unkoſten getragen haben un-
ſern Bildhauer in einen Sophiſten zu ver-
wandeln . Wer der etymologiſchen Mine
ſeines Namens traut , wird dieſen Anſchlag
einem weitſehenden Urtheilsgeiſt , ein leicht-
glaͤubiger Schuͤler der taͤglichen Erfahrung
hingegen einem blinden Geſchmack an So-
krates zu ſchreiben .
Die Reyhe der Lehrmeiſter und Lehrmei-
ſterinnen , die man dem Sokrates giebt , und
die Kriton ohne Zweifel beſolden muſte , iſt
anſehnlich genung ; und doch blieb Sokrates
unwiſſend . Das freche Geſtaͤndniß darin
war gewiſſermaſſen eine Beleidigung , die man
C 4 aber
aber dem aufrichtigen Klienten und Kandi-
daten ſcheint vergeben zu haben , weil ſie auf
ihn ſelbſt am ſchwerſten zuruͤck fiel . Das
Loos der Unwiſſenheit und die Bloͤße derſel-
ben macht eben ſo unverſoͤhnliche Feinde als
die Ueberlegenheit an Verdienſten und die
Schau davon . War Sokrates wirklich un-
wiſſend , ſo muſte ihm auch die Schande un-
wiſſend ſeyn , die vernuͤnftige Leute ſich er-
gruͤbeln , unwiſſend zu ſcheinen .
Ein Menſch , der nichts weiß und der nichts
hat , ſind Zwillinge eines Schickſals . Der
Fuͤrwitzige und Argwoͤhniſche zeichnen und
foltern den erſten als einen Betruͤger ; wie der
Glaͤubiger und Raͤuber dem letzten , unter-
deſſen der Bauerſtolz des reichen Mann und
Polyhiſtors beyde verachtet . Eben daher
bleibt die philoſophiſche Goͤttin des Gluͤcks
eine bewaͤhrte Freundinn des Dummen , und
durch ihre Vorſorge entgehen die Einfaͤlle des
Ar-
Armen den Motten laͤnger als blanke Klei-
der und rauſchende Schlafroͤcke , als die Hy-
potheſen und Formeln der Kalender-Syſtem-
und Projektmacher ſamt den Akten der Stern-
und Staatsſeher .
Sokrates ſcheint von ſeiner Unwiſſenheit
ſo viel geredt zu haben als ein Hypochon-
driaker von ſeiner eingebildeten Krankheit .
Wie man dies Uebel ſelbſt kennen muß um
einen Milzſuͤchtigen zu verſtehen und aus ihm
klug zu werden ; ſo gehoͤrt vielleicht eine Sym-
pathie der Unwiſſenheit dazu , von der ſokra-
tiſchen ein Begrif zu haben .
Erkenne dich Selbſt ! ſagte die Thuͤr
jenes beruͤhmten Tempels allen denen , die
hereingiengen dem Gott der Weisheit zu
opfern und ihn uͤber ihre kleinen Haͤndel um
Rath zu fragen . Alle laſen , bewunderten
und wuſten auswendig dieſen Spruch . Man
trug ihn wie der Stein , in den er gegraben
C 5 war,
war , vor der Stirn , ohne den Sinn davon
zu begreifen . Der Gott lachte ohne Zweifel
unter ſeinen guͤldenen Bart , als ihm die
kuͤzliche Aufgabe zu Sokrates Zeiten vorge-
legt wurde : Wer der weiſeſte unter allen da-
mals lebenden Menſchen waͤre ? Sopho-
kles und Euripides wuͤrden nicht ſo groſ-
ſe Muſter fuͤr die Schaubuͤhne , ohne Zerglie-
derungskunſt des menſchlichen Herzens , ge-
worden ſeyn . Sokrates uͤbertraf ſie aber
beyde an Weisheit , weil er in der Selbſter-
kenntnis weiter als jene gekommen war , und
wuſte , daß er nichts wuſte . Apoll antwor-
tete jedem ſchon vor der Schwelle ; wer wei-
ſe waͤre und wie man es werden koͤnne ? jetzt
war die Frage uͤbrig : Wer Sich Selbſt er-
kenne ? und woran man ſich in dieſer Pruͤ-
fung zu halten haͤtte ? Geh , Chaͤrephon ,
lern es von Deinem Freunde . Kein Sterb-
licher kann die Achtſamkeit und Entaͤuſſerung
eines
eines Lehrmeiſters ſittſamer treiben , als wo-
mit Apoll ſeine Anbeter zum Verſtande ſei-
ner Geheimniße gaͤngelte . Alle dieſe Winke
und Bruchſtuͤcke der aͤlteſten Geſchichte und
Tradition beſtaͤtigen die Beobachtung , wel-
che Paulus und Barnabas den Lykaoniern
vorhielten , daß Gott auch unter ihnen ſich
ſelbſt nicht unbezeuget gelaſſen , auch ihnen
vom Himmel Regen und fruchtbare Zei-
ten gegeben . Apoſtelgeſch. XIV . Mit wie viel Wahrheit ſing-
te alſo nicht unſere Kirche :
Wohl uns des feinen HErren !
Ein ſorgfaͤltiger Ausleger muß die Natur-
forſcher nachahmen . Wie dieſe einen Koͤrper
in allerhand willkuͤhrliche Verbindungen mit
andern Koͤrpern verſetzen und kuͤnſtliche Er-
fahrungen erfinden , ſeine Eigenſchaften aus-
zuholen ; ſo macht es jener mit ſeinem Tex-
te . Jch habe des Sokrates Spruͤchwort
mit
mit der Delphiſchen Ueberſchrift zuſammen
gehalten ; jetzt will ich einige andere Verſuche
thun , die Energie deſſelben ſinnlicher zu ma-
chen .
Die Woͤrter haben ihren Werth , wie die
Zahlen von der Stelle , wo ſie ſtehen , und
ihre Begriffe ſind in ihren Beſtimmungen
und Verhaͤltniſſen , gleich den Muͤnzen , nach
Ort und Zeit wandelbar . Wenn die Schlan-
ge der Eva beweiſet : Jhr werdet ſeyn wie
Gott , und Jehova weiſſagt : Siehe ! Adam
iſt worden als Unſer einer ; wenn Salo-
mo ausruft : Alles iſt eitel ! und ein alter
Geck es ihm nachpfeift : ſo ſieht man , daß
einerley Wahrheiten mit einem ſehr entgegen
geſetzten Geiſt ausgeſprochen werden koͤnnen .
Ueberdem leidet jeder Satz , wenn er auch
aus einem Munde und Herzen quillt , unend-
lich viel Nebenbegriffe , welche ihm die geben ,
ſo ihn annehmen , auf eben die Art als die
Licht-
Lichtſtrahlen dieſe oder jene Farbe werden
nach der Flaͤche , von der ſie in unſer Auge
zuruͤck fallen . Wenn Sokrates dem Kriton
durch ſein : Nichts weiß ich ! Rechenſchaft
ablegte , mit eben dieſem Worte die gelehrten
und neugierigen Athenienſer abwieß , und
ſeinen ſchoͤnen Juͤnglingen die Verleugnung
ihrer Eitelkeit zu erleichtern , und ihr Ver-
trauen durch ſeine Gleichheit mit ihnen zu
gewinnen ſuchte : ſo wuͤrden die Umſchrei-
bungen , die man nach dieſem dreyfachen Ge-
ſichtspunkte von ſeinem Wahlſpruche ma-
chen muͤſte , ſo ungleich einander ausſehen ,
als bisweilen drey Bruͤder , die Soͤhne eines
leiblichen Vaters ſind .
Wir wollen annehmen , daß wir einem Un-
bekannten ein Kartenſpiel anboͤthen . Wenn
dieſer uns antwortete : Jch ſpiele nicht ; ſo
wuͤrden wir dies entweder auslegen muͤſſen ,
daß er das Spiel nicht verſtuͤnde , oder eine
Abnei-
Abneigung dagegen haͤtte , die in oekonomi-
ſchen , ſittlichen oder andern Gruͤnden liegen
mag . Geſetzt aber ein ehrlicher Mann , von
dem man wuͤſte , daß er alle moͤgliche Staͤrke
im Spiel beſaͤſſe und in den Regeln ſo wohl
als verbotenen Kuͤnſten deſſelben bewandert
waͤre , der ein Spiel aber niemals anders
als auf den Fuß eines unſchuldigen Zeitver-
treibes lieben und treiben koͤnnte , wuͤrde in
einer Geſelſchaft von ſeinen Betruͤgern , die
fuͤr gute Spieler gelten , und denen er von
beyden Seiten gewachſen waͤre , zu einer Par-
they mit ihnen aufgefordert . Wenn dieſer
ſagte : Jch ſpiele nicht , ſo wuͤrden wir mit
ihm den Leuten ins Geſicht ſehen muͤſſen , mit
denen er redet , und ſeine Worte alſo ergaͤn-
zen koͤnnen : Jch ſpiele nicht , naͤmlich , mit
„ ſolchen als ihr ſeyd , welche die Geſetze des
„Spiels brechen und das Gluͤck deſſelben
„ſtehlen . Wenn ihr ein Spiel anbiethet ; ſo
„iſt
„iſt unſer gegenſeitiger Vergleich den Eigen-
„ſinn des Zufalls fuͤr unſern Meiſter zu er-
„kennen , und ihr nennt die Wiſſenſchaft eu-
„rer geſchwinden Finger Zufall , und ich muß
„ihn dafuͤr annehmen , wenn ich will , oder
„die Gefahr wagen euch zu beleidigen , oder
„die Schande waͤhlen euch nachzuahmen .
„Haͤttet ihr mir den Antrag gethan mit ein-
„ander zu verſuchen , wer der beſte Taſchen-
„ſpieler von uns in Karten waͤre ; ſo haͤtte
„ich anders antworten , und vielleicht mit-
„ſpielen wollen , um euch zu zeigen , daß ihr
„ſo ſchlecht gelernt habt Karten machen , als
„ihr verſteht die euch gegeben werden , nach der
„Kunſt zu brauchen „ . Jn dieſe rauhe Toͤne
laͤßt ſich die Meynung des Sokrates aufloͤ-
ſen , wenn er den Sophiſten , den Gelehrten
ſeiner Zeit , ſagte : Jch weiß nichts . Da-
her kam es , daß dies Wort ein Dorn in ih-
ren Augen und eine Geiſſel auf ihren Ruͤ-
cken
cken war . Alle Einfaͤlle des Sokrates , die
nichts als Auswuͤrfe und Abſonderungen
ſeiner Unwiſſenheit waren , ſchienen ihnen ſo
fuͤrchterlich als die Haare an dem Haupte
Meduſens , dem Nabel der Egide .
Die Unwiſſenheit des Sokrates war Em-
pfindung . Zwiſchen Empfindung aber und
einen Lehrſatz iſt ein groͤſſerer Unterſcheid als
zwiſchen einem lebenden Thier und anatomi-
ſchen Gerippe deſſelben . Die alten und
neuen Skeptiker moͤgen ſich noch ſo ſehr in
die Loͤwenhaut der ſokratiſchen Unwiſſenheit
einwickeln ; ſo verrathen ſie ſich durch ihre
Stimme und Ohren . Wiſſen ſie nichts ;
was braucht die Welt einen gelehrten Be-
weis davon ? Jhr Heucheltrug iſt laͤcher-
lich und unverſchaͤmt . Wer aber ſo viel
Scharfſinn und Beredſamkeit noͤthig hat
ſich ſelbſt von ſeiner Unwiſſenheit zu uͤber-
fuͤhren , muß in ſeinem Herzen einen maͤch-
tigen
tigen Wiederwillen gegen die Wahrheit der-
ſelben hegen .
Unſer eigen Daſeyn und die Exiſtentz aller
Dinge auſſer uns muß geglaubt und kann
auf keine andere Art ausgemacht werden .
Was iſt gewiſſer als des Menſchen Ende ,
und von welcher Wahrheit gibt es eine all-
gemeinere und bewaͤhrtere Erkenntnis ? Nie-
mand iſt gleichwol ſo klug ſolche zu glauben ,
als der , wie Moſes zuverſtehen giebt , von
Gott ſelbſt gelehrt wird zu bedenken , daß er
ſterben muͤſſe . Was man glaubt , hat daher
nicht noͤthig bewieſen zu werden , und ein
Satz kann noch ſo unumſtoͤßlich bewieſen
ſeyn , ohne deswegen geglaubt zu werden .
Es giebt Beweiſe von Wahrheiten , die ſo
wenig taugen als die Anwendung , die man von
den Wahrheiten ſelbſt machen kann ; Ein Philoſoph laß uͤber die Unſterblichkeit der
Seelen ſo uͤberzeugend , daß ſeine Zuhoͤrer vor
Freuden Selbſtmoͤrder wurden , wie uns Lactanz
erzaͤhlt .
D ja
man kann den Beweiß eines Satzes glauben
ohne dem Satz ſelbſt Beyfall zu geben . Die
Gruͤnde eines Hume moͤgen noch ſo triftig
ſeyn , und ihre Wiederlegungen immerhin
C lau-
lauter Lehnſaͤtze und Zweifel : ſo gewinnt
und verliert der Glaube gleich viel bey dem
geſchickteſten Rabuliſten und ehrlichſten Sach-
walter . Der Glaube iſt kein Werk der Ver-
nunft und kann daher auch keinem Angrif
derſelben unterliegen ; weil Glauben ſo we-
nig durch Gruͤnde geſchieht als Schmecken
und Sehen .
Die Beziehung und Uebereinſtimmung der
Begriffe iſt eben daſſelbe in einer Demonſtra-
tion , was Verhaͤltnis und Symmetrie der
Linien , Schallwuͤrbel und Farben in der
muſikaliſchen Compoſition und Malerey iſt .
Der Philoſoph iſt dem Geſetz der Nachah-
mung ſo gut unterworfen als der Poet . Fuͤr
dieſen iſt ſeine Muſe und ihr Hieroglyphi-
ſches Schattenſpiel ſo wahr als die Vernunft
und das Lehrgebaͤude derſelben fuͤr jenen .
Das Schickſal ſetze den groͤſten Weltweiſen
und Dichter in Umſtaͤnde , wo ſie ſich beyde
ſelbſt fuͤhlen ; ſo verleugnet der eine ſeine Ver-
nunft und entdeckt uns , daß er keine beſte Welt
glaubt , ſo gut er ſie auch beweiſen kann , und
der andere ſieht ſich ſeiner Muſe und Schutz-
engel beraubt , bey dem Tode ſeiner Meta .
Die
Die Einbildungskraft , waͤre ſie ein Sonnen-
pferd und haͤtte Fluͤgel der Morgenroͤthe ,
kann alſo keine Schoͤpferinn des Glaubens
ſeyn .
Jch weiß fuͤr des Sokrates Zeugnis von
ſeiner Unwiſſenheit kein ehrwuͤrdiger Siegel
und zugleich keinen beſſern Schluͤſſel als den
Orakelſpruch des groſſen Lehrers der Hey-
den :
Ει δε τις δοκει ειδεναι τι ουδεπω νυδεν
εγνωκε καϑως δει γνωναι . Ει δε τις αγαπα
τον ΘΕΟΝ ουτος εγνωται υπ αυτον .
So jemand ſich duͤnken laͤßt , er
wiſſe etwas , der weiß noch nichts , wie
er wiſſen ſoll . So aber jemand Gott
liebt , der wird von ihm erkannt . 1 Kor. VIII .
— — wie Sokrates vom Apoll fuͤr ei-
nen Weiſen . Wie aber das Korn aller un-
ſerer natuͤrlichen Weisheit verweſen , in Un-
wiſſenheit vergehen muß , und wie aus die-
ſem Tode , aus dieſem Nichts das Leben
und Weſen einer hoͤheren Erkenntniß her-
vorkeimen und neugeſchaffen werde ; ſo weit
reicht die Naſe eines Sophiſten nicht . Kein
D 2 Maul-
Maulwurfshuͤgel , ſondern ein Thurn Li-
banons muß es ſeyn , der nach Dameſek
gaft . Hohelied Salom . VII.
Was erſetzt bey einen Homer die Unwiſ-
ſenheit der Kunſtregeln , die ein Ariſtoteles
nach ihm erdacht , und was einem Schakes-
ſpear die Unwiſſenheit oder Uebertretung je-
ner kritiſchen Geſetze ? Das Genie iſt die
einmuͤthige Antwort . Sokrates hatte alſo
freylich gut unwiſſend ſeyn ; er hatte einen
Genius , auf deſſen Wiſſenſchaft er ſich ver-
laſſen konnte , den er liebte und fuͤrchtete als
ſeinen Gott , an deſſen Frieden ihm mehr
gelegen war , als an aller Vernunft der E-
gypter und Griechen , deſſen Stimme er glaub-
te , und durch deſſen Wind , wie der erfahr-
ne Doctor Hill uns bewieſen , der leere Ver-
ſtand eines Sokrates ſo gut als der Schoos
einer reinen Jungfrau , fruchtbar werden kann .
Ob dieſer Daͤmon des Sokrates nichts
als eine herrſchende Leidenſchaft geweſen und
bey welchem Namen ſie von unſern Sitten-
lehrern geruffen wird , oder ob er einen Fund
ſeiner Staatsliſt ; ob er ein Engel oder Ko-
bold
bold , eine hervorragende Jdea ſeiner Einbil-
dungskraft , oder ein erſchlichner und will-
kuͤhrlich angenommener Begrif einer mathe-
matiſchen Unwiſſenheit ; ob dieſer Daͤmon
nicht vielleicht eine Queckſilberroͤhre oder den
Maſchinen aͤhnlicher geweſen , welchen die
Leuwenhoeks ihre Offenbarungen zu verdan-
ken haben ; ob man ihn mit dem wahrſagen-
dem Gefuͤhl eines nuͤchternen Blinden oder
mit der Gabe aus Leichdornen und Narben
uͤbelgeheilter Wunden die Revolutionen des
Wolkenhimmels vorher zu wiſſen , am be-
quemſten vergleichen kann : hieruͤber iſt von
ſo vielen Sophiſten mit ſo viel Buͤndigkeit
geſchrieben worden , daß man erſtaunen muß ,
wie Sokrates bey der gelobten Erkenntniß
ſeiner Selbſt , auch hierinn ſo unwiſſend ge-
weſen , daß er einem Sinnas darauf die Ant-
wort hat ſchuldig bleiben wollen . Keinem
Leſer von Geſchmack fehlt es in unſern Tagen
an Freunden von Genie , die mich der Muͤhe
uͤberheben weitlaͤuftiger uͤber den Genius des
Sokrates zu ſeyn .
Aus dieſer ſokratiſchen Unwiſſenheit fluͤſſen
als leichte Folgen die Sonderbarkeiten ſeiner
D 3 Lehr-
Lehr- und Denkart . Was iſt natuͤrlicher ,
als daß er ſich genoͤthigt ſahe immer zu fra-
gen um kluͤger zu werden ; daß er leichtglaͤu-
big that , jedes Meynung fuͤr wahr annahm ,
und lieber die Probe der Spoͤtterey und gu-
ten Laune als eine ernſthafte Unterſuchung
anſtellte ; daß er alle ſeine Schluͤſſe ſinnlich
und nach der Aehnlichkeit machte ; Einfaͤlle
ſagte , weil er keine Dialectick verſtand ; gleich-
guͤltig gegen das , was man Wahrheit hieß ,
auch keine Leidenſchaften , beſonders diejeni-
gen nicht kannte , womit ſich die Edelſten un-
ter den Athenienſern am meiſten wuſten ; daß
er , wie alle Jdeoten , oft ſo zuverſichtlich und
entſcheidend ſprach , als wenn er , unter al-
len Nachteulen ſeines Vaterlandes , die ein-
zige waͤre , welche der Minerva auf ihrem
Helm ſaͤße — — Es hat den Sokraten un-
ſers Alters , den kanoniſchen Lehrern des
Publicums und verdienſtreichen Patronen
des menſchlichen Geſchlechts noch nicht gluͤ-
cken wollen , ihr Muſter in allen ſuͤſſen Feh-
lern zu erreichen . Weil ſie von der Urkunde
ſeiner Unwiſſenheit unendlich abweichen ; ſo
muß man alle ſinnreichen Leſearten und Gloſ-
ſen
ſen ihres antiſokratiſchen Daͤmons uͤber ihres
Meiſters Lehren und Tugenden als Schoͤn-
heiten freyer Ueberſetzungen bewundern ; und
es iſt eben ſo mislich ihnen zu trauen als
nachzufolgen .
Jetzt fehlt es mir an dem Geheimniſſe der
Palingeneſie , das unſere Geſchichtſchreiber
in ihrer Gewalt haben , aus der Aſche jedes
gegebenen Menſchen und gemeinen Weſens
eine geiſtige Geſtalt heraus zu ziehen , die
man einen Charakter oder ein hiſtoriſch Ge-
maͤlde nennt . Ein ſolches Gemaͤlde des
Jahrhunderts und der Republik , worinn So-
krates lebte , wuͤrde uns zeigen , wie kuͤnſt-
lich ſeine Unwiſſenheit fuͤr den Zuſtand ſeines
Volkes und ſeiner Zeit , und zu dem Ge-
ſchaͤfte ſeines Lebens ausgerechnet war . Parrhaſius verfertigte , wie es ſcheint , ein ho-
garthſches Gemaͤlde , welches das Publicum
zu Athen vorſtellen ſollte , und worin uns fol-
gender Kupferſtich oder Schattenriß in Plinius
uͤbrig geblieben ? Pinxit & δημον Athenien-
ſium , argumento quoque ingenioſo . Volebar
namque varium , iracundum , iniuſtum , inconſtan-
tem : eundem exorabilem , clementem , miſericor-
dem , excelſum , glorioſum , humilem , fcrocem , fuga-
cemque & omnia pariter oſtendere . Hiſt. Nat.
Lib. XXXV. Cap. X . Jch
D 4 kann
kann nichts mehr thun als der Arm eines
Wegweiſers und bin zu hoͤlzern meinen Le-
ſern in dem Laufe ihrer Betrachtungen Ge-
ſellſchaft zu leiſten .
Die Athenienſer waren neugierig . Ein
Unwiſſender iſt der beſte Arzt fuͤr dieſe Luſt-
ſeuche . Sie waren , wie alle neugierige , ge-
neigt mitzutheilen es muſte ihnen alſo ge-
fallen , gefragt zu werden . Sie beſaſſen aber
mehr die Gabe zu erfinden und vorzutragen ,
als zu behalten und zu urtheilen ; daher hat-
te Sokrates immer Gelegenheit ihr Gedaͤcht-
nis und ihre Urtheilskraft zu vertreten , und
ſie fuͤr Leichtſinn und Eitelkeit zu warnen .
Kurz , Sokrates lockte ſeine Mitbuͤrger aus
den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophiſten zu
einer Wahrheit , die im Verborgenen liegt ,
zu einer heimlichen Weisheit , und von den
Goͤtzenaltaͤren ihrer andaͤchtigen und ſtaats-
klugen Prieſter zum Dienſt eines unbekan-
ten Gottes . Plato ſagte es den Athenien-
ſern ins Geſichte , daß Sokrates ihren Arm
den Goͤttern gegeben waͤre ſie von ihren Thor-
heiten zu uͤberzeugen und zu ſeiner Nachfolge
in der Tugend aufzumuntern . Wer den So-
krates unter den Propheten nicht leiden will ,
den muß man fragen : Wer der Propheten
Vater ſey ? und ob ſich unſer Gott nicht ei-
nen Gott der Heyden genannt und erwie-
ſen ?
Drit-
Dritter Abſchnitt .
S okrates ſoll drey Feldzuͤge mitgemacht
haben . Jn dem erſten hatte ihm ſein
Alcidiades die Erhaltung des Lebens
und der Waffen zu danken , dem er auch den
Preis der Tapferkeit , welcher ihm ſelbſt zu-
kam , uͤberließ . Jn dem zweyten wich er wie
ein Parther , fiel ſeine Verfolger mitten im
Weichen an , theilte mehr Furcht aus , als
ihm eingejagt wurde und trug ſeinen Freund
Xenophon , der vom Pferde gefallen war ,
auf den Schultern aus der Gefahr des
Schlachtfeldes . Er entgieng der groſſen Nie-
derlage des dritten Feldzuges eben ſo gluͤck-
lich wie der Peſt , die zu ſeiner Zeit Athen
zweymal heimſuchte .
Die Ehrfurcht gegen das Wort in ſeinem
Herzen , auf deſſen Laut er immer aufmerk-
ſam war , entſchuldigte ihn Staatsverſamm-
lungen beyzuwohnen . Als er lange genung
glaubte gelebt zu haben , bot er ſich ſelbſt zu
einer Stelle im Rath an , worinn er als Mit-
glied , Aeltermann Prytan . und Oberhaupt Proſtata . ge-
ſeſſen , und wo er ſich mit ſeiner Unſchicklich-
keit in Sammlung der Stimmen und andern
Gebraͤuchen laͤcherlich , auch mit ſeinem Ei-
D 5 gen-
genſinn , den er dem unrechten Verfahren ei-
ner Sache entgegen ſetzen muſte , als ein Auf-
ruͤhrer verdaͤchtig gemacht haben ſoll .
Sokrates wurde aber kein Autor , und
hierinn handelte er uͤbereinſtimmig mit ſich
ſelbſt . Wie der Held vor der Schlacht bey
Marathon keine Kinder noͤthig hatte ; ſo
wenig brauchte Sokrates Schriften zu ſei-
nem Gedaͤchtniſſe . Seine Philoſophie ſchick-
te ſich fuͤr jeden Ort und zu jedem Fall . Der
Markt , das Feld , ein Gaſtmal , das Ge-
faͤngnis waren ſeine Schulen ; und das er-
ſte das beſte Quodlibet des menſchlichen Le-
bens und geſellſchaftlichen Umganges diente
ihm den Saamen der Wahrheit auszuſtreuen .
So wenig Schulfuͤchſerey er in ſeiner Lebens-
art beſchuldigt wird , und ſo gut er auch die
Kunſt verſtand die beſten Geſellſchaften ſelbſt
von jungen rohen Leuten zu unterhalten , er-
zaͤhlt man gleichwol von ihm , daß er ganze
Tage und Naͤchte unbeweglich geſtanden , und
einer ſeiner Bildſaͤulen aͤhnlicher als ſich ſelbſt
geweſen . Seine Buͤcher wuͤrden alſo viel-
leicht wie dieſe ſeine Soliloquien und Selbſt-
Geſpraͤche ausgeſehen haben . Er lobte ei-
nen Spatziergang als eine Suppe zu ſeinem
Abendbrodt ; er ſuchte aber nicht wie ein
Peripatetiker die Wahrheit im Herumlaufen
und hin- und hergehen .
Daß
Daß Sokrates nicht das Talent eines
Scribenten gehabt , lieſſe ſich auch aus dem
Verſuche argwohnen , den er in ſeinem Ge-
faͤngniſſe auf Angabe eines Traums in der
lyriſchen Dichtkunſt machte . Bey dieſer Ge-
legenheit entdeckte er in ſich eine Trockenheit
zu erfinden , den er mit den Fabeln des Aeſops
abzuhelfen wuſte . Gleichwol gerieth ihm
ein Geſang auf den Apoll und die Diana .
Vielleicht fehlte es ihm auch in ſeinem Hau-
ſe an der Ruhe , Stille und Heiterkeit , die ein
Philoſoph zum Schreiben noͤthig hat , der ſich
und andere dadurch lehren und ergoͤtzen will .
Das Vorurtheil gegen Xantippe , das durch
den erſten Claßiſchen Autor unſerer Schulen
auſteckend und tief eingewurzelt worden , hat
durch die Acta Philoſophorum nicht ausge-
rottet werden koͤnnen , wie es zum Behuf der
Wahrheit und Sittlichkeit zu wuͤnſchen waͤ-
re . Unterdeſſen muͤſſen wir faſt ein Haus-
ereutz von dem Schlage annehmen , um einen
ſolchen Weiſen als Sokrates zu bilden . Die
Reitzbarkeit ſeiner Einfaͤlle konnte vielleicht
aus Mangel und Eckel daran von Xantippen
nicht behaͤnder erſtickt werden als durch Grob-
heiten , Beleidigungen und ihren Nachtſpiegel :
Einer Frau , welche die Haushaltung eines
Philoſophen fuͤhren , und einem Mann , der
die Regierungsgeſchaͤfte unvermoͤgender
Groß-
Großviziern verwalten ſoll , iſt freylich die Zeit
zu edel , Wortſpiele zu erſinnen und verbluͤmt
zu reden . Mit eben ſo wenig Grunde hat
man auch als einer Verlaͤumdung einer aͤhn-
lichen Erzaͤhlung von Sokrates Heftigkeit
ſelbſt wiederſprochen , mit der er ſich auf dem
Markte bisweilen die Haare aus dem Hau-
pte gerauft und wie auſſer ſich ſelbſt geweſen
ſeyn ſoll . Gab es nicht Sophiſten und Prie-
ſter zu Athen , mit denen Sokrates in einer
ſolchen Vorſtellung ſeiner ſelbſt reden muſte ?
Wuͤrde nicht der ſanftmuͤthigſte und herzlich
demuͤthige Menſchen Lehrer gedrungen
ein Wehe uͤber das andere gegen die Gelehr-
ten und frommen Leute ſeines Volkes aus-
zuſtoſſen ?
Jn Vergleichung eines Xenophons und
Platons wuͤrde vielleicht der Styl des So-
krates nach den Meiſſel eines Bildhauers aus-
geſehen haben und ſeine Schreibart mehr pla-
ſtiſch als maleriſch geweſen ſeyn . Die Kunſt-
richter waren mit ſeinen Anſpielungen nicht
zufrieden , und tadelten die Gleichniſſe ſeines
muͤndlichen Vortrages bald als zu weit her-
geholt , bald als poͤbelhaft . Alcibiades aber
verglich ſeinen Parabel gewiſſen heiligen Bil-
dern der Goͤtter und Goͤttinnen , die man
nach damaliger Mode in einem kleinen
Gehaͤuſe trug , auf denen nichts als die
Ge-
Geſtalt eines ziegenfuͤßigen Satyrs zu ſe-
hen war .
Hier iſt ein Beyſpiel davon . Sokrates
verglich ſich mit einem Arzte , der in einem ge-
meinen Weſen von Kindern die Kuchen- und
Zuckernaͤſchereyen verbiethen wollte . Wenn
dieſe Kunſtverwandten , ſagte er , den Arzt
vor einem Gerichte verklagen moͤchten , das
aus lauter Kindern beſtuͤnde : ſo waͤre ſein
Schickſal entſchieden . Man machte zu Athen
ſo viel Anſchlaͤge an dem Gluͤck der Goͤtter
Theil zu nehmen , und gleich ihnen weiſe und
gluͤcklich zu werden , als man heut zu Tage
macht nach Brodt- und Ehren-Stellen . Je-
der neue Goͤtzendienſt war eine Finanzgrube
der Prieſter , welche das oͤffentliche Wohl
vermehren ſollte ; jede neue Secte der So-
phiſten verſprach eine Encyclopedie der geſun-
den Vernunft und Erfahrung . Dieſe Pro-
jecte waren die Naͤſchereyen , welche Sokra-
tes ſeinen Mitbuͤrgern zu vereckeln ſuchte .
Athen , das den Homer als einen Raſen-
den zu einer Geldbuſſe verdammt haben ſoll ,
verurtheilte den Sokrates als einen Miſſe-
thaͤter zum Tode .
Sein erſtes Verbrechen war , daß er die
Goͤtter nicht geehrt und neue haͤtte einfuͤhren
wollen . Plato laͤßt ihn gleichwol in ſeinen
Geſpraͤchen oͤfterer bey den Goͤttern ſchwoͤren
als
als ein verliebter Stutzer bey ſeiner Seele
oder ein irrender Ritter bey den Furien ſei-
ner Ahnen luͤgt . Jn den letzten Augenblicken
ſeines Lebens , da Sokrates ſchon die Kraͤfte
des Geſundbrunnens in ſeinen Gliedern fuͤhl-
te , erſuchte er noch aufs inſtaͤndigſte ſeinen
Kriton einen Hahn fuͤr ihn zu bezahlen und
in ſeinen Namen dem Aeſkulap zu opfern .
Sein zweytes Verbrechen war ein Verfuͤhrer
der Tugend geweſen zu ſeyn , durch ſeine freye
und anſtoͤſſige Lehren .
Sokrates antwortete auf dieſe Beſchuldi-
gungen , mit einem Ernſt und Muth , mit ei-
nem Stolz und Kaltſinn , daß man ihn nach
ſeinem Geſichte eher fuͤr einen Befehlshaber
ſeiner Richter , wie ein Alter bemerkt , als
fuͤr einen Beklagten haͤtte anſehen ſollen .
Sokrates verlor , ſagt man , einen giftigen
Einfall , Er dictirte ſich im Scherz ſelbſt die Strafe auf
Unkoſten des Staats zu Tode gefuͤttert zu werden . und die gewiſſenhaften Areopagu-
ten die Gedult . Man wurde alſo hierauf
bald uͤber die Strafe einig , der er wuͤrdig
waͤre , ſo wenig man ſich vorher daruͤber hat-
te vergleichen koͤnnen .
Ein Feſt zu Athen , an dem es nicht erlaubt
war ein Todesurtheil zu vollziehen , legte den
Sokrates die ſchwere Vorbereitung eines dreyſ-
ſigtaͤgigen Gefaͤngniſſes zu ſeinem Tode auf .
Nach
Nach ſeinem Tode ſoll er noch einem Chier ,
Namens Kyrſas erſchienen ſeyn , der ſich un-
weit ſeines Grabes niedergeſetzt hatte und
daruͤber eingeſchlafen war . Die Abſicht ſei-
ner Reiſe nach Athen beſtand , Sokrates zu
ſehen , der damals nicht mehr lebte ; nach die-
ſer Unterredung alſo mit deſſelben Geſpenſte ,
kehrte er in ſein Vaterland zuruͤck , das bey
den Alten wegen ſeines herrlichen Weins be-
kannt iſt .
Plato macht die freywillige Armuth des
Sokrates zu einem Zeichen ſeiner goͤttlichen
Sendung . Ein groͤſſeres iſt ſeine Gemein-
ſchaft an dem letzten Schickſale der Prophe-
ten und Gerechten . Matth. XXIII. 29 . Ein Bildſaͤule von
Lyſippus war das Denkmal , das die Athe-
nienſer ſeiner Unſchuld und dem Frevel ihres
eigenen Blutgerichts ſetzen lieſſen .
Schlußrede .
W er nicht von Broſamen und Allmoſen ,
noch vom Raube zu leben , und fuͤr ein
Schwert alles zu entbehren weiß , iſt nicht
geſchickt zum Dienſt der Wahrheit ; Der wer-
de fruͤhe ! ein vernuͤnftiger , brauchbarer , ar-
tiger
tiger Mann in der Welt , oder lerne Buͤcklin-
ge machen und Teller lecken : ſo iſt er fuͤr
Hunger und Durſt , fuͤr Galgen und Rad
ſein Lebenlang ſicher .
Jſt es wahr , daß GOtt Selbſt , wie es in
dem guten Bekenntniſſe lautet , das er vor
Pilatus ablegte ; iſt es wahr , ſage ich , daß
Gott Selbſt , dazu ein Menſch wurde und
dazu in die Welt kam , daß er die Wahr-
heit zeugen moͤchte : ſo brauchte es keine
Allwiſſenheit vorher zu ſehen , daß er nicht
ſo gut wie ein Sokrates von der Welt kom-
men , ſondern eines ſchmaͤhlichern und grau-
ſameren Todes ſterben wuͤrde , als der Va-
termoͤrder des allerchriſtlichſten Koͤniges ,
Ludwich’ des Vielgeliebten , der ein Ur-
enkel Ludwich des Groſſen iſt .