Die Frauen und das politische Leben .
W ir Deutsche sind ein theoretisches Volk . Auch den
drängenden Fragen des praktischen Lebens gegenüber
greifen wir gern zunächst zu begrifflichen Auseinandersetzungen
und meinen , sie um so besser lösen zu können , je klarer und
abgründiger unsere logische Beweisführung vorgeht . Und so
hätte ich auch das Thema „ die Frau und das politische Leben “
vor etwa zwei Jahrzehnten durch eine rein begriffliche Abhandlung
erledigen können . Jch hätte die beiden Worte des Titels , der
natürlich eine Forderung umhüllt , die Begriffe „ politisches Leben “
und „ Frau “ , auf ihren logischen Gehalt untersucht und ihre
Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit dargelegt , in der Art , wie
man etwa in früheren Zeiten über die Frage verhandelte , ob
die Frau eine Seele habe oder ob sie keine habe .
Ja , ich hätte das sogar tun müssen . Denn damals ,
als man sich nach Hermann Grimms Ausspruch die Frauenfrage
noch mit einem kräftigen Achselzucken vom Halse halten konnte ,
war das Thema „ die Frau und die Politik “ ausschließlich
ein ethisch-staatsrechtliches , dem man in der Tat nur mit
doktrinären Gründen und Gegengründen bekommen konnte und
das man auch , wie die ganze ältere Literatur zur Frauenfrage
zeigt , wirklich nur mit solchen theoretischen Begriffen wie den
Menschenrechten u. dgl. zu behandeln versucht hat . Jch bin
weit davon entfernt , das Gewicht und die Bedeutung dieser
rein ethisch-staatsrechtlichen Gründe zu unterschätzen . Gerade
sie , gerade die Jdee der sittlichen Gleichberechtigung der Frau ,
die auch in ihrem Verhältnis zum Staat zum Ausdruck kommen
müsse , sind mit dem Herzblut einer großen Zeit durchtränkt und
1
von dem Feuer weltbewegender sittlicher Überzeugungen durch-
leuchtet . Und sie werden noch heute bei den Menschen , die auf
dem Boden dieser Weltanschauung stehen , die in der Gedanken-
welt des deutschen Liberalismus aus der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts zu Hause sind , ihre Werbekraft entfalten .
Aber auch nur bei solchen . Allen anderen gegenüber muß
die Erörterung der Beziehungen zwischen der Frau und dem
politischen Leben heute einen ganz anderen Ausgangspunkt
nehmen , nämlich nicht von Jdeen und sittlichen Überzeugungen ,
sondern von konkreten wirtschaftlichen Tatsachen . Das
Bild , das uns die neue Berufsstatistik von der Lage der Frau
in der modernen Volkswirtschaft gibt , redet eine Sprache , die
gar nicht überhört werden kann . Neben diesen wuchtigen , durch
keine Argumentation aus der Welt zu schaffenden Tatsachen
verblaßt das Für und Wider , das sich aus noch so gewichtigen
rein begrifflichen Erörterungen ergibt . Auf diese Tatsachen
müssen wir uns heute vor allen Dingen stützen , wenn wir
von einer Neuordnung des Verhältnisses der Frau zum politischen
Leben reden .
Die Zahl der weiblichen Erwerbstätigen ist seit der letzten
Berufszählung im Jahre 1895 von etwa 6 ½ auf 9 ½ Millionen
gestiegen . 9 ½ Millionen Frauen , d. h. fast die Hälfte aller
erwachsenen Frauen überhaupt , stehen in irgendeinem Berufe .
Unter den Millionen von Kräften , die in Fabrik , Werkstatt
und Warenhaus , in Feld und Stall und Hof , in den Bureaus
und in den Laboratorien , in der Schule und am Postschalter
unsere Volkswirtschaft im Betrieb erhalten und unsere Kultur-
aufgaben bewältigen , sind ein volles Drittel Frauen . Wenn
wir die unabsehbare Reihe unserer nationalen Arbeitskräfte an
uns vorüberziehen lassen könnten , so würde jeder Dritte in
dieser Reihe eine Frau sein . Diese Zahlen nennen , heißt aus-
sprechen , daß sich die sogenannte weibliche Bestimmung , d. h.
die Summe der Aufgaben , für welche im Arbeitsleben unseres
Volkes die Frauen gebraucht werden , im letzten halben Jahr-
hundert von Grund aus und entscheidend umgewandelt hat .
Nur zur Hälfte fließen die Kräfte der Frauen noch dem Hause
zu ; ein ebenso starker Zwillingsstrom ergießt sich zu den
beruflichen Arbeitsstätten . Unser Volk braucht nur noch die
Hälfte seiner weiblichen Kräfte , um Hauswesen zu leiten und
Kinder großzuziehen ; es braucht die andere Hälfte , um
Maschinen zu bedienen , seine großen Exportindustrien , z. B.
die Konfektion , zu speisen ; es braucht sie in Handel und
Verkehr , im Post- und Eisenbahndienst , in der Schule und im
Krankenhaus . Das sind Tatsachen , an denen auch die frömmsten
Wünsche und die beweglichsten Klagen nichts ändern .
Und diese Tatsachen stellen jeden , der sie sich einmal in
ihrem vollen Gewicht klargemacht hat , vor eine Welt neuer
sozialer Probleme . Wie soll sich in Zukunft die Stellung der
Frauen innerhalb der Gesellschaft , des Staates gestalten ? Sollen
sie , die in Reih und Glied in der großen volkswirtschaftlichen
Arbeitsgemeinschaft stehen , die in dieser langen Kette jeden
dritten Posten besetzen , sollen sie in der Rechtsordnung des
sozialen Lebens noch so behandelt werden , als wenn die Mauer
des Hauses Schutz und Schranke für sie wäre ? Selbst wer
mit allen Fasern seiner Seele und allen Sympathien seines
Herzens an der alten Zeit hängt , wird zugeben müssen , daß
hier neue Lebensformen entstanden sind , für welche die alten
Rechtsnormen nicht mehr ausreichen . Und wer auch nur so
viel geschichtliches Verständnis hat , um zu begreifen , daß der
moderne Staat mit all seinen Rechten und Pflichten , von der
Selbstverwaltung der kleinen Landgemeinde bis zu den gesetz-
lichen Vertretungen der Berufsinteressen in Handelskammern ,
Gewerbegerichten und ähnlichen Jnstitutionen und schließlich
bis zum politischen Wahlrecht auf den modernen Arbeits-
verhältnissen beruht , aus ihnen hervorgegangen und durch sie
bedingt ist , wer eine Vorstellung davon hat , daß der moderne
Staat die Rechtsform für die moderne Volkswirtschaft ist , der
wird sich sagen , daß auch für die Frau mit einer Veränderung
ihrer Arbeitsleistungen und Arbeitsformen eine Neuregelung
ihres Verhältnisses zum Staat notwendig wird .
Als im Februar 1904 Graf Posadowsky im Reichstag die
denkwürdige Äußerung tat : „ von der Politik sollen die Frauen
1*
die Hand weglassen “ , fügte er , sicher mit dem vollen Bewußt-
sein , ein aufgeklärter und moderner Mann zu sein , hinzu :
„ Jch bin durchaus dafür , daß man den Frauen möglichst viel
Gelegenheit gibt , sich selbst im Leben ihr Brot zu erwerben ,
und ich bin auch der Ansicht , daß man es den Frauen nicht
erschweren solle , öffentlich ihr Recht in bezug auf die Ausübung
ihres Berufes zu vertreten “ . Ungefähr zu gleicher Zeit lehnte
die braunschweigische Regierung den Antrag des Landtages , den
Frauen die korporative Pflege ihrer Berufsinteressen zu ge-
statten , mit folgender Begründung ab : „ Der Ausschluß der
Frauen von der Politik wäre praktisch nicht durchführbar ,
wenn man ihnen das Feld der beruflichen Jnteressen öffnete ;
die Unbestimmbarkeit und Dehnbarkeit dieses Ausdrucks macht
eine bestimmte Abgrenzung unmöglich . Jn einer großen An-
zahl , vielleicht in der Mehrzahl der Fälle wird die Wahr-
nehmung beruflicher Jnteressen auf das sozialpolitische , ja
sogar auf das rein politische Gebiet übergreifen müssen ; in
allen solchen Fällen würde die Polizei vor eine bei der
Flüssigkeit der Grenzen zwischen den drei genannten Begriffen
äußerst schwierige Entscheidung gestellt werden . Jn den be-
teiligten Kreisen würde man bestrebt sein , den Worten des
Gesetzes eine möglichst weite Auslegung zu geben und den
Frauen Rechte zuzusprechen , die ihnen zu gewähren nicht die
Absicht des Gesetzgebers gewesen ist . “
Vielleicht haben viele , die den Beschluß der braun-
schweigischen Regierung engherzig fanden , den „ fortschrittlichen “
Jdeen des Grafen Posadowsky beifällig zugestimmt . Und doch
war die braunschweigische Regierung logisch und Graf Posa-
dowsky unlogisch ; in einer Weise unlogisch , die ihm nie durch-
gegangen wäre ohne die reservatio mentalis , die man immer
noch zu machen pflegt , wenn es sich um Fraueninteressen
handelt . Man stelle sich nur einmal den Sturm vor , der sich
erheben würde , wenn jemand behaupten wollte , die Landwirte
können ihre Berufsinteressen vertreten , dazu genügt ihre
Organisation im Bund der Landwirte ; politische Rechte sind
ihnen dazu nicht nötig ; von Politik sollen sie die Hand weg-
lassen . Wie haarscharf würde man dem , der diese Meinung
ausspräche , nachweisen , daß Politik Jnteressenvertretung ist und
daß die sie bestimmenden Jnteressen im wesentlichen wirtschaft-
licher Natur sind . Man brauche ja nur einen einzigen Parla-
mentsbericht zu lesen , so würde man sagen , um zu wissen , wie
unauflöslich berufliche und politische Jnteressen aneinander ge-
knüpft sind , wie unmöglich die Aussonderung unpolitischer ,
rein beruflicher Angelegenheiten aus der Welt des wirtschafts-
politischen Lebens ist .
Der 15. Mai 1908 hat die Auffassung des Grafen Posa-
dowsky in einem Punkte korrigiert . Die durch Schranken
abgesperrten Frauen bei politischen oder auch nur sozial-
politischen Verhandlungen , die das Ausland und gottlob !
schließlich auch das Jnland so erheiterten , gehören nun unter
die Kuriosa der Vergangenheit . Jn der Begründung zum
Reichsvereinsgesetz wird ausdrücklich zugestanden , „ die Frauen ,
die auf den selbständigen Erwerb ihres Lebensunterhaltes an-
gewiesen sind , haben durch ihre wirtschaftlichen auch politische
Jnteressen und müssen sich über diese auch in der Form von
Vereinen und Versammlungen verständigen können “ .
So weit hat also die Beweiskraft der Tatsachen gesiegt .
Nun ist es seltsam in der Geschichte der Frauen-
bewegung – oder vielleicht auch nicht seltsam ; denn im Grunde
hat sie diesen Zug mit jeder geistigen , sozialen oder politischen
Bewegung gemeinsam – daß schwer errungene Rechte , die
zunächst absurd und ungeheuerlich erschienen , zu Selbst-
verständlichkeiten werden , wenn sie sich verwirklichen , und noch
mehr , wenn ihr Ursprung und der Kampf , der um sie geführt
worden ist , langsam in die Vergangenheit hinabsinkt . John
Stuart Mill hat einmal gesagt , daß jede Wahrheit , ehe sie
sich verwirkliche , drei Stadien durchzumachen hätte . Jm ersten
Stadium werde sie rundweg abgelehnt ; im zweiten behaupte
man , sie widerstreite der Religion , und im dritten wolle sie
jeder schon längst anerkannt und selbstverständlich gefunden
haben . Das Wirkliche erscheint eben vernünftig . Um so hart-
näckiger aber wendet sich nun die Abwehr der Zukunft zu .
Nun soll endlich einmal Halt gemacht werden . Zugestanden ,
die Frauen sind durch die wirtschaftliche Entwicklung – die
tieferliegenden geistigen Faktoren entziehen sich ja mehr der
Wahrnehmung – in das Berufsleben hineingedrängt worden ;
sie haben jetzt alle dafür notwendigen Rechte bekommen ; nach
dem Erlaß des Reichsvereinsgesetzes bleibt ihnen nichts mehr
zu wünschen übrig . Nun sollen sie einmal zufrieden sein und
Ruhe geben .
Haben sie wirklich alle dafür notwendigen Rechte bekommen ?
Die Antwort auf diese Frage ist so unendlich einfach , daß
man kaum versteht , wie man überhaupt fragen kann . Es
sind da zwei Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen . Der eine
ergibt sich aus der wachsenden Ausdehnung der staatlichen
Regelung des Berufs und Wirtschaftslebens . Nach einer Periode
des laisser faire und des freien Spiels der wirtschaftlichen
Kräfte , der prinzipiellen Zurückhaltung des Staates von jedem
Eingriff in das Erwerbsleben ist jetzt eine Zeit der immer
weiter greifenden staatlichen Sozialpolitik gekommen . Die
Sphäre des privaten Beliebens in jedem einzelnen Berufs-
gebiet schränkt sich immer mehr ein . Der Staat gibt für jedes
Berufsgebiet einen immer weiter ausgeführten Grundriß von
Bestimmungen für Ausbildung und Fortbildung , Arbeitszeit
und Arbeitsweise ; er verpflichtet zu gewissen Leistungen für
Alters- und Jnvaliditätsversicherung usw. usw. Jeder Beruf
ruht heute auf der Grundlage gewisser staatlich gegebener Be-
dingungen , die seine Ausübung , seine wirtschaftlichen Chancen
in einen ganz festen Rahmen spannen . Deshalb hat jeder
Berufsangehörige heute ein ganz anderes Jnteresse daran , in
Gesetzgebung und Verwaltung mitsprechen zu dürfen . Jst er
doch in seinem Berufsleben von staatlichen Anordnungen in
ganz anderer Weise abhängig als in früherer Zeit , da der
Staat sich um das Erwerbsleben weniger kümmerte . Aus
dieser außerordentlichen Verstärkung des staatlichen Einflusses
auf die verschiedenen Berufsgebiete sind alle diese Mittel-
instanzen notwendig geworden , die man wohl als gesetzliche
Berufsvertretungen bezeichnet , wie Gewerbe- und Kaufmanns-
gerichte , die Handwerker- , Handels- und Arbeitskammern , die
Selbstverwaltungsbehörden des Versicherungswesens usw .
Bei diesen Mittelinstanzen , die ihre Rechte jedem Berufs-
angehörigen gewährten , mußte zuerst die Frage entstehen , wieweit
solche aus der Berufszugehörigkeit erwachsenden öffentlichen
Rechte auch den Frauen zugestanden werden sollten . Es ist
sehr merkwürdig , wie sich die Lösung dieser Frage von Fall zu
Fall in Deutschland vollzogen hat . Sie wurde zum ersten
Male brennend bei der Verhandlung über das Krankenkassen-
gesetz im Jahre 1883 . Damals sah der Regierungsentwurf die
Beteiligung der Frauen an der Selbstverwaltung der Kranken-
kassen durch volles aktives und passives Wahlrecht vor ; aber
es kostete einen lebhaften Kampf in der Kommission und im
Plenum , bis dieser Vorschlag eine Majorität fand . Der Haupt-
grund , den die Gegner anführten , ist für alle folgenden Ver-
handlungen über verwandte Rechte stereotyp geworden . Man
fürchtete „ den ersten Schritt zur grundsätzlichen Emanzipation
des weiblichen Geschlechtes im öffentlichen Leben “ . Als nun
die Wahlberechtigung der Frau für die Krankenkassen ein-
geführt war und als ein neues Problem das Wahlrecht für
die Gewerbegerichte auftauchte , da versuchten dieselben Leute ,
die diesen ersten Schritt zur Emanzipation der Frau im
öffentlichen Leben gefürchtet hatten , das Krankenkassenwahlrecht
als ein unpolitisches hinzustellen , um sich die unbequeme
Tatsache eines Präzedenzfalles aus der Welt zu schaffen . Wieder
heißt es , „ es würde ein verhängnisvoller Schritt sein , wenn
man hier – bei den Gewerbegerichten – zum ersten Male
weiblichen Personen ein politisches Recht erteilen wolle ; denn
daß die Wahl eines Richters ein politisches Recht sei , könne
keinem Zweifel unterliegen . Wenn man diese Forderung zu-
gestehe , so würden die Vertreter derselben alsbald dazu über-
gehen , auch weitere politische Rechte für weibliche Personen zu
verlangen , und wir würden sehr bald vor die Frage gestellt
werden , ob nicht auch für die Wahlen zu den Volks- und
Gemeindevertretungen den weiblichen Personen das aktive
Wahlrecht zuzugestehen sei . “ Diese Erwägungen haben ja
dann in der Tat zum Ausschluß der Frauen von den Gewerbe-
gerichten und im Jahre 1904 auch von den Kaufmanns-
gerichten geführt . Aber die Entwicklung ist auch über diese
Rückständigkeit schon hinausgegangen . Das Arbeitskammer-
gesetz hat von vornherein mit einem Frauenwahlrecht gerechnet ,
hat in seiner zweiten Modifikation die Frauen den Männern voll-
ständig gleichgestellt . Und der soeben erschienene Regierungs-
entwurf zur Vereinheitlichung des Versicherungswesens hat den
Frauen auch das Wahlrecht für die Berufsgenossenschaften , auf
denen die Unfallversicherung beruht , sowie für die unteren
Verwaltungsinstanzen der Jnvalidenversicherung in Aussicht
gestellt .
So hat sich hier Schritt für Schritt , ohne daß dazu eine
besonders energische Agitation notwendig gewesen wäre , einfach
aus der Folgerichtigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung heraus ,
das Einrücken der Frauen in die Sphäre des öffentlichen Rechtes
vollzogen . Vergebens hat man , die tiefere symptomatische Be-
deutung dieser scheinbar kleinen Vorstöße ahnend , sie abzuwehren
versucht . Die Logik der Tatsachen war schließlich stärker als
alle Wünsche , Traditionen und Pietätswerte und wird sich auch
in der Zukunft als stärker erweisen . Keine Frage : die Frauen-
arbeit wird ein Krystallisationspunkt , um den sich in immer
weiterer Ausstrahlung in das Staatsleben hinein öffentliche
Frauenrechte schließen . Dieser Prozeß kann gehemmt , auf-
gehalten , in seinem organischen Fortschritt durch Willkür und
Vorurteile verkümmert werden : er wird sich dennoch fortsetzen ;
denn ihn treiben die Kräfte , die unser Volksleben im tiefsten
Kern bestimmen .
Aber nicht nur innerhalb des relativ engen Bezirkes der
gesetzlichen Berufsvertretung hängen wirtschaftliche und politische
Jnteressen zusammen . Das soziale Leben unserer Zeit zeigt
sie in einer noch viel weitergreifenden und mannigfaltigeren
Verknüpfung . Die innere und äußere Politik der Gegenwart
bekommt geradezu ihr Gepräge dadurch , daß sich wirtschaftliche
Jnteressen immer fester zusammenballen und nach politischem
Einfluß und politischer Vertretung drängen . Es ist kaum noch
eine Streitfrage , daß für den modernen Staat diese Bewegung
der wirtschaftlichen Jnteressen zu korporativen Zusammenschlüssen
und nach Einfluß auf die Gesetzgebung die ausschlaggebende ,
bestimmende geschichtliche Tendenz ist . Jn diesem Prozeß
werden die politischen Rechte in immer höherem Grade Mittel
wirtschaftlicher Selbstbehauptung , und wer nach dem Worte
Bismarcks politisch tot ist , d. h. keine Stimme hat , der ist auch
in der Vertretung seiner wirtschaftlichen Jnteressen auf halbe
Kraft gesetzt .
Uns Frauen zeigt das die eigene Erfahrung auf Schritt
und Tritt . Vielleicht gibt es keine bessere Jllustration dafür ,
als die Kämpfe um die Frauenbildung und die Jnteressen des
Lehrerinnenstandes . Die organisierte Lehrerschaft unserer
Volksschule kommt als Wählerschaft stark in Betracht ; ihr fehlt
es nie an Fürsprechern in den Landtagen , ganz abgesehen
davon , daß sie auch selbst hier und da einen Abgeordneten stellt .
Man muß sich Mühe geben , sie zufrieden zu stellen , und man
wird es tun , soweit nicht andere ebenso gewichtige Mächte –
wie z. B. der Großgrundbesitz – dadurch vor den Kopf gestoßen
werden . Jn welcher Lage sind demgegenüber die Lehrerinnen !
Vor allen Dingen dann , wenn ihre Forderungen sich nicht
mit denen der Lehrerschaft decken , sondern ihnen vielleicht sogar
entgegengesetzt sind . Es ist für sie schlechterdings unmöglich ,
irgendeine reale Macht in die Wagschale zu werfen , die das
Zünglein zu ihren Gunsten sinken läßt . Der Kampf um das
Lehrerbesoldungsgesetz in der jüngsten Zeit hat das schlagend
bewiesen ; man darf vielleicht sogar sagen , daß man sich
die relative Zufriedenheit der Lehrer auf Kosten der
Lehrerinnen erkauft hat . Es waren das ja die Zugeständnisse ,
die dem Gesetzgeber am billigsten zu stehen kamen ; mit den
Frauen brauchten sie nicht zu paktieren , denn sie repräsentierten
keine Macht .
Und so wie sich hier ganz automatisch und unabänderlich die
Berücksichtigung der Frauenwünsche nach dem Maße des poli-
tischen Einflusses der Frau auf ein kaum sichtbares Minimum
einschränkt , so geschieht es auch auf anderen Gebieten . Jm
Kampfe um die höhere Mädchenbildung haben die Frauen keine
Partei für ihre Wünsche ganz zu gewinnen vermocht . Der
Liberalismus , bei dem sie als bei dem eigentlichen Träger
der großen Bildungsbewegungen in unserm Volk eine natür-
liche Bundesbrüderschaft hätten finden können , hat sich nur lau
für sie eingesetzt ; ja , er hat es nicht gewagt , für die durch-
greifende Umgestaltung der höheren Mädchenschule zu einer
höheren Lehranstalt einzutreten , weil damit der Ausschluß der
Volksschullehrer von der Oberstufe notwendig geworden wäre
und weil man auf deren Wünsche im Liberalismus Rücksicht
zu nehmen hatte . Und ein ebenso schlagendes Beispiel dafür ,
daß die Frauen nicht in der Lage sind , ihre Forderungen selbst
bei ihren Parteigenossen durchzusetzen , ist das Schicksal , das im
preußischen Landtag die Petition um die Eröffnung der höheren
Knabenschulen gehabt hat . Die gesamte deutsche Frauen-
bewegung von ihren radikalen Parteien bis hinüber zu dem
deutsch-evangelischen Frauenbund und der katholischen Frauen-
bewegung hat die Aufnahme von Mädchen in die höheren
Knabenschulen mindestens in eingeschränkter Form für
wünschenswert gehalten ; durch die vereinigte Macht von Zentrum
und Konservatismus ist entgegen den Wünschen der Frauen in
der Unterrichtskommission des Abgeordnetenhauses Übergang
zur Tagesordnung über diesen Punkt beschlossen worden .
Wahrlich für uns , die wir es gewiß schon als eine unwürdige
Situation empfunden haben , wenn wir von einer Fraktion
zur andern mit Aufklärungs- und Überredungsversuchen uns
abmühten , ein schlagender Beweis , daß die Bitte „ in einer
Frauenhand nicht mehr gewaltiger ist als Schwert und Waffe “
und daß wir um andere Mittel , unsere Wünsche zur Geltung
zu bringen , kämpfen müssen .
Und wie stark der Ausschluß von dem Bürgertum in Staat
und Gemeinde als ein Odium der Minderwertigkeit auf den
Frauen lastet , dafür konnte es kein besseres Beispiel geben , als
jener Aufruf , mit dem sich die Oberlehrer an den höheren
Mädchenschulen gegen die weibliche Leitung an Ministerium
und Abgeordnetenhaus gewandt haben . Man hält in unserem
Volke , so argumentiert er , es eines Mannes für unwürdig , sich
weiblicher Leitung zu unterstellen . Man mißachtet denjenigen ,
der sich dazu versteht . Frauen mögen für ihre Berufsarbeit noch
so qualifiziert sein , sie mögen einen Mann an persönlicher und
sachlicher Tüchtigkeit noch so sehr übertreffen , es ist dennoch eine
Herabwürdigung für einen Mann , unter ihrer Leitung zu
arbeiten . Sie gelten ein für allemal als Menschen zweiter
Klasse . Sie würden nur dann nicht dafür gelten , und ein
Mann könnte sich nur dann dazu verstehen , sich ohne Furcht
für sein Ansehen ihrer Leitung zu unterstellen – so führt der
Aufruf des Oberlehrerverbandes aus – , wenn der Staat sich
entschließt , ihnen prinzipiell in Gesetzgebung und Verwaltung
die gleichen Rechte wie den Männern zu gewähren . Solange
das nicht geschieht , ist die allgemeine bürgerliche Autorität einer
Frau nicht groß genug , als daß sie in irgendeinem Zweige des
öffentlichen Dienstes Vorgesetzte eines Mannes werden könnte .
Wenn auch der Philologenverband diese Argumentation sicherlich
der Regierung nicht in der Absicht unterbreitet hat , damit die
politische Gleichberechtigung der Frauen zu fördern , wenn er
auch vielmehr mit diesen Ausführungen der Öffentlichkeit die
Absurdität einer weiblichen Direktorin an ihren Konsequenzen
für andere Gebiete des öffentlichen Lebens recht begreiflich
machen wollte , so können doch wir Frauen aus dieser Argumen-
tation unsere Schlüsse ziehen . Sie verstärken sich aus dem Echo ,
das dieser Aufruf in gewissen Volkskreisen immer noch findet .
Hat doch jüngst eine Magistratsdeputation in einer halb länd-
lichen Gemeinde in der Nähe von Berlin statt einer warm
empfohlenen Direktorin sich einen Direktor gewählt , weil das
doch „ reputierlicher “ sei .
Alle diese Tatsachen müssen den Frauen , die Ursachen und
Folgen zu verknüpfen verstehen , die Augen darüber öffnen , daß
sie in der Tat als Berufsarbeiterinnen nicht alle Rechte haben ,
deren sie bedürfen , daß die unwägbare Macht , die für alle
Lebens- und Jnteressengebiete das politische Wahlrecht verleiht ,
auch ihnen erst die Möglichkeit einer nachdrücklichen und wirk-
samen Vertretung ihrer Berufsinteressen geben würde . Ohne
solche Macht müssen sie auch auf beruflichem Gebiet immer im
Hintertreffen bleiben und in der Folge , d. h. im Laufe einer
Entwicklung , die die einzelnen Jnteressengruppen unseres Volkes
die Ausnutzung politischer Machtmittel mehr und mehr lehren
wird , in steigendem Maße ins Hintertreffen geraten .
So stellt sich uns das Problem „ die Frauen und das
politische Leben “ vom Standpunkt der erwerbenden berufstätigen
Frau aus dar . Die ungeheuren Zahlen , die uns die Berufs-
statistik gezeigt hat , berechtigen , diese wirtschaftliche Begründung
unserer Forderungen in den Vordergrund zu rücken . Sie wirkt
unabhängig von geistig sittlichen Momenten unmittelbar auf
jeden , der nicht den unbestreitbaren Tatsachen sein tel est mon
plaisir entgegensetzt , eine Praxis , die wir ja allerdings auch bei
unsern politischen Parteien nicht selten finden und die uns
immer wieder zeigen kann , mit wie wenig Weisheit und wie
viel Vorurteil und Willkür die Welt regiert wird .
Aber die Frage „ die Frauen und das politische Leben “
muß doch noch von einer höheren Warte aus behandelt werden
als von der der rein wirtschaftlichen Jnteressenvertretung . Auf
diese höhere Warte werden mir alle folgen , denen Politik und
nationales Leben nicht aufgeht in wirtschaftlichen Machtkämpfen ,
die in der Geschichte auch die geistigen Werte für wirksame
Kräfte halten . Haben wir auf dem Gebiete des wirtschaftlichen
Lebens gesehen , wie die Politik ein immer vollkommenerer Aus-
druck des Widerstreits und der Vereinigung aller vorhandenen
Jnteressen wird , so gilt das gleiche auch für das ganze Gebiet
der eigentlichen Kulturarbeit . Auch die Kulturströmungen
drängen im modernen Volksleben immer mehr dazu , sich zu
politischen Mächten zu verdichten . Die Kämpfe um Schule und
Kirche , um Kunst und Wissenschaft , um Fragen der öffentlichen
Moral , der Familie , der Ehe , um Autorität und Selbst-
bestimmung , die sich auf dem Forum unserer Parlamente ab-
spielen , zeigen uns , wie in steigendem Maße aus der privaten ,
spontanen Kulturarbeit bewußte Kulturpolitik wird , wie man
sich auch zur Förderung aller dieser Kulturbewegungen der
Macht und des Einflusses des Staates in steigendem Maße zu
bedienen versucht . Und wir fragen , wie stellt sich das Verhältnis
der Frau zum politischen Leben unter diesem Gesichtspunkt dar ?
Es ist ein Satz , der gerade von den Gegnern der Frauen-
bewegung immer wieder in den Vordergrund gestellt und gegen
die Frauenbewegung ausgespielt wird , daß Männer und Frauen
fundamental verschieden seien und daß die fortschreitende Ent-
wicklung , Verfeinerung und Durchbildung ihres Wesens diese
Verschiedenheit immer stärker zum Ausdruck bringen müsse .
Wir akzeptieren diesen Satz ; ja , wir haben es kaum nötig ,
ihn ausdrücklich zu akzeptieren , denn die große Mehrzahl , die
eigentlichen Führerinnen der deutschen Frauenbewegung sind
nie von einer anderen psychologischen Voraussetzung ausgegangen .
Wir geben zu , daß in ihrer Stellung zur Kultur , in den An-
schauungen über das , was wertvoll ist , in der Abschätzung
zwischen den Rechten des einzelnen und der Ordnung für die
Gesamtheit , in der Beurteilung von Fragen des Familienlebens ,
der Schule usw. , in der Bewertung des Gefühlslebens auf der
einen , der Verstandesleistungen auf der andern Seite , daß in
all diesen Dingen feine , aber fundamentale Unterschiede zwischen
Mann und Frau bestehen , Verschiedenheiten der Auffassung ,
die summiert so etwas wie eine männliche Kultur auf der einen ,
eine weibliche Kultur auf der andern Seite ergeben . Wir geben
ferner zu , daß diese Verschiedenheit der Anlagen und Wesensart
sich verstärkt und entfaltet durch die besonderen Eindrücke , Er-
fahrungen und Anforderungen , die der Frau in ihrem spezifischen
Lebenskreis entgegentreten . Aber wir schließen aus dieser Tat-
sache gerade das Gegenteil wie unsere Gegner . Wir behaupten ,
daß die Jnteressen der Frauen nicht von Männern vertreten
werden können , so wenig , wie umgekehrt die Jnteressen der
Männer von Frauen vertreten werden können . „ Wenn es
keine Geschlechtsverschiedenheiten gäbe “ , sagt Thomas Higginson
in seinem Buche ‚ Common Sense about Women ‘ , „ so würde
das Unrecht , das den Frauen durch ihre politische Rechtlosigkeit
geschieht , weit geringer sein . Gerade weil ihr Wesen , ihre
Gewohnheiten und Bedürfnisse von denen des Mannes ver-
schieden sind , wird sie nicht gerecht durch ihn vertreten , wurde
es nie und kann es und wird es nie werden . Je mehr Nach-
druck man auf die Tatsache der Geschlechtsverschiedenheit legt ,
um so stärker wird unser Argument . Wenn der Weiße den
Neger nicht gerecht vertreten kann , wie unmöglich ist es dann ,
daß ein Geschlecht für das andere in der Gesetzgebung eintritt .
Alle Theorien über Ritterlichkeit , Großmut und Stellvertretung
brechen vor der Tatsache zusammen , daß die Frauen von den
Männern auf das gröbste geschädigt worden sind . “ Diese Argumentation , die ja für alle Staatsformen Geltung hat ;
habe ich schon in dem 1896 in der „ Kosmopolis “ erschienenen Aufsatz
„Frauenwahlrecht “ herangezogen ( als Separatdruck in der Broschüre :
„Jntellektuelle Grenzlinien zwischen Mann und Frau . Frauen-
wahlrecht “ , bei W. Moeser , Berlin , 2. Aufl. 1899 , erschienen ) . Wenn
Higginson diesen scharfen Ausdruck gebraucht , so will er damit
auf die direkten Benachteiligungen der Frau hinweisen , die sich
z. B. in den früheren Stadien der Ehegesetzgebung , in der
Regelung der Prostitution und auf manchen anderen Gebieten
finden . Aber wer will die Summe der feineren Schädigungen
bestimmen , die dadurch entstehen , daß der Mann Art und Maß
der Frauenbildung bestimmt , daß er in vielen anderen Lebens-
und Kulturfragen für sie , und mit unvollkommener Berück-
sichtigung ihres wahren Jnteresses , das er nicht kennt und nicht
nachempfinden kann , entscheidet .
Daß das von Männern übersehen wird , wäre weiter
nicht verwunderlich . Merkwürdig berührt es aber , wenn
Frauen – wie das in dem Programm der vielbesprochenen
englischen Antistimmrechtlerinnen geschieht – sich über diese
Tatsachen täuschen ; doppelt seltsam in einem Staat mit so ein-
gebürgertem und intensivem parlamentarischen Leben wie
England . Zwar hatte sich früher schon einmal eine Anzahl
von Frauen zu einem Protest gegen das Frauenstimmrecht
zusammengetan ; die Prüfung der Unterschriften zeigte , daß
sie meistens Schichten angehörten , qui se sont donné la peine
de naître . Diesmal handelt es sich um eine Organisation , die
den günstigen Moment benutzte , wo die Suffragettes die Geduld
der englischen Nation so ziemlich erschöpft hatten , und die
unter der Führung von Mrs. Humphrey Ward mit der Parole
„ Men are men and women are women “ oder zum Unterschied
„Women are not men and men are not women “ den Kampf
gegen das Frauenstimmrecht aufgenommen hat . Jn einem
klassisch knappen Artikel der Monatsschrift The English Woman
schlägt die Führerin der englischen Frauenstimmrechtsbewegung ,
Mrs. Garrett Fawcett , den Gegnerinnen die Waffe aus der
Hand und wendet sie gegen sie selbst . „ Die weiseren Frauen “ ,
so läßt sie ihre Gegnerinnen argumentieren , „ realisieren diese
gewichtige Tatsache “ – nämlich , daß Frauen keine Männer
und Männer keine Frauen sind – „ aber die irregeführten und
anarchistischen Frauen , die da verlangen , daß das Ziel der
Volksvertretung die Vertretung der ganzen und nicht der
halben Nation sein sollte , vergessen sie und stemmen sich gegen
eine der einfachsten Tatsachen des täglichen Lebens . Diese
seltsam perverse Auffassung der Antistimmrechtlerinnen “ , fährt
Mrs . Fawcett fort , „ zeigt , daß sie ihren Verstand nicht genügend
gebraucht haben , um auch nur die Grundzüge des Systems
der politischen Vertretung zu erfassen . Sie wiederholen ihr
Schlagwort , daß Männer Männer und Frauen Frauen sind ,
womit sie sagen wollen , daß die Gesichtspunkte , die Lebens-
erfahrungen , die Tätigkeitssphäre der Frauen in vielen wichtigen
Beziehungen von denen der Männer abweichen ; sie sehen dabei
nicht , daß diese Tatsachen selbst zu den stärksten und unwider-
leglichsten Gründen für die Behauptung gehören , daß kein
Repräsentativsystem vollständig oder wirklich national ist , das
die Vertretung der Frauen ganz ausläßt . Die Frauen , sagen
sie in einer ihrer Veröffentlichungen , haben andersartige Fähig-
keiten ; die der Frau liegt in der Sphäre des Heims , der
Gesellschaft , der Erziehung , der Wohlfahrtspflege . Man sollte
meinen , der in die Augen fallende Schluß daraus müßte sein ,
daß , wenn das Parlament mit gesetzgeberischen Fragen zu tun
hat , die das Heim , die Gesellschaft , die Erziehung oder die Wohl-
fahrtspflege betreffen , es gut wäre , wenn es ein konstitutionelles
Mittel gäbe , den Einfluß und die Erfahrung der Durchschnitts-
frau der Nation zur Geltung zu bringen . “
Jn der Tat muß diese Betonung der Differenz der Ge-
schlechter heute ganz an die Stelle der Naturrechtstheorieen
treten , mit denen man im ersten Stadium der Bewegung das
Recht der Frau auf volle Vertretung im Staat stützte . Bei
uns wenigstens zieht sein Pathos nicht mehr . Die Déclaration
des droits de la femme , die amerikanische Declaration of
sentiments , die auf diesem „ Menschenrecht “ der Frau fußen
und den bewußten bösen Willen des Mannes für die Unter-
drückung der Frau verantwortlich machen , haben nicht mehr
mitzusprechen in einem Staatsleben , das man als einen
Organismus anzusehen gelernt hat . Aber eben aus dieser
Anschauung erwächst der Frau jene neue , weit wirksamere Be-
gründung ihres Rechts : ihre Ausschließung vom öffentlichen
Leben schaltet Gesichtspunkte und Fähigkeiten aus , die schlechter-
dings von niemand anders zu ersetzen sind .
Und die nicht entbehrt werden können , wenn unser politisches
Jdeal ein Staatswesen ist , in dem jedes Kulturinteresse mit-
bestimmend werden soll . Jn der Kölnischen Zeitung hat vor
einigen Jahren einmal der Historiker Lamprecht ausgeführt , die
Aufgabe unserer Zeit sei nicht eine weitere Demokratisierung
des Wahlrechts , sondern eine innere Politisierung der Gesell-
schaft durch Erziehung der überpersönlichen , auf die Gemeinschaft
gerichteten Jnteressen . Er würde wohl aus diesem Grunde
den Gedanken an das Frauenwahlrecht in irgendeiner Form
weit von sich weisen , aber damit einverstanden sein , daß auch
die Frauen dazu erzogen werden , Gemeinschaftsinteressen zu
pflegen und Gemeinschaftsaufgaben in Angriff zu nehmen ,
damit sie ihrerseits als Mütter und Erzieherinnen , aber auch
als soziale Arbeiterinnen an der Verstärkung des nationalen
Pflichtbewußtseins – jener lebendigen Seele , die den Volks-
körper erfüllen muß , wenn er nicht faulen soll – mitarbeiten .
Wir Frauen aber behaupten , daß das eine ohne das andere
nicht möglich ist . Wenn das Jnteresse der Frauen in der Tat
sich heute nicht mehr in der Familie und den Angelegen-
heiten des persönlichen Lebens erschöpfen , wenn es die Volks-
gemeinschaft bewußter , tatkräftiger , unmittelbarer als früher
umfassen soll , so muß den Frauen auch ein Stück der gemein-
samen Verantwortungen übertragen werden . Man wächst nur
mit solchen Lebensgebieten wirklich fest und dauernd zusammen ,
auf denen man mit Verantwortung tätig ist . Heißt die Parole
heute , durch Steigerung des bürgerlichen Pflichtbewußtseins den
nationalen Zusammenhalt festigen , jeden einzelnen aus dem
Salas y Gomez seines Privatlebens für die Gemeinschaft zu
gewinnen , so ist das nicht durch patriotische Gesinnungspflege ,
sondern nur dadurch zu erreichen , daß alle individuellen Kräfte
dem Ganzen mitschaffend und mitbestimmend angehören dürfen .
Es heißt also , die Frauen in allmählicher Erweiterung
ihrer Lebenssphäre , stets aber so , daß sich Pflichten
und Rechte die Wagschale halten , in das volle
Bürgertum einzuführen .
Die Frau als Bürgerin – warum klingt das nur der
Mehrheit unseres Volkes immer noch so fremd ?
Der äußere Grund liegt zweifellos in der Unfähigkeit so
vieler Menschen , das formale Recht vom materialen Jnhalt zu
trennen . Jedes Recht ist formal ; es gibt nichts weiter als einen
Raum zur Betätigung . Das Wie der Betätigung ist eine
Sache für sich . Weil nun aber gewisse Rechte bisher nur von
Männern ausgeübt sind , so sind sie für viele zu männlichen
Rechten geworden , die der Frau nicht anstehen – wie im
Orient z. B. das Recht der freien Bewegung in den Straßen –
und man denkt nicht daran , daß sie ja doch im weiblichen Sinne ,
in der Vertretung weiblichster Jnteressen , Erfahrungen und
Sachkenntnisse ausgeübt werden können . So ist denn auch bei
uns der Ruf „ men are men and women are women “ oft genug
erklungen , als die Frauen langsam die Marterstationen der
Bildungs- und Berufsfreiheit hinanstiegen , deren Höhe sie ja
immer noch nicht erreicht haben .
Der tiefere Grund aber , der den Mann vielfach einen
so leidenschaftlichen Widerstand gegen die bürgerliche Befreiung
der Frau leisten läßt , der ihn andrerseits immer noch an der
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Fiktion festhalten läßt , daß die Vertretung der Frau ihm
zukomme und von ihm auch durchgeführt werden könne , dieser
tiefere Grund liegt doch in der Jahrtausende alten Gewöhnung
an das Mundium , in der Gewöhnung daran , die Welt als seine
Welt zu betrachten , deren Ausgestaltung einzig von seinem Wunsch
und Willen abhängt und in die die Frau sich hineinzufinden habe .
Diese Auffassung hat ja am naivsten ein heute ganz Vergessener
vertreten , der einstmals so viel genannte Hofrat Albert in
seinem 1895 erschienenen Buch „ Die Frauen und das Studium
der Medizin “ . Wenn er darin die Welt , wie sie heute steht , mit
all ihren intellektuellen und technischen Errungenschaften als
Männerwerk bezeichnet , so ist ihm das Recht dazu nicht ab-
zusprechen , sobald man nur die äußere Gestaltung ins Auge faßt
und die tief in die Erde greifenden Wurzeln außer acht läßt .
Aber wenn er dann mit dem „ Es ist alles recht gut “ des
Schöpfers auf diese Welt hinweist , so dürfte sich doch der Wider-
spruch auch in den eigenen Reihen regen . Alkoholismus ,
Prostitution , sittliches und soziales Elend in mannigfachster
Form sind die großen dunklen Flecke auf diesem Bilde , die
jedem in die Augen fallen müssen . Aber auch abgesehen von
diesen großen Schäden – es ist doch auffallend , wie einmütig
gerade die führenden Geister in unserm Volke in der Über-
zeugung sind , daß wir trotz alles materiellen Aufstiegs noch
keine eigentliche Kultur haben . Jn den Osternummern
der Frankfurter Zeitung haben sich eine Reihe von Kultur-
kämpfern , Politiker , Künstler , Dichter und Philosophen zu der
Frage nach der Zukunft unserer Kultur geäußert und ziemlich
einstimmig ausgesprochen , daß wir um eine Kultur , die wir
noch nicht besitzen , kämpfen müssen . Vielleicht ist auch anderen
Frauen , die diese Reihe interessanter und bedeutsamer Äußerungen
lasen , dabei der Gedanke gekommen , daß so manches , was da
vermißt , so manches , was als kulturpolitische Aufgabe der
Zukunft bezeichnet wird , vielleicht doch durch eine bessere Aus-
nutzung des weiblichen Faktors geschaffen werden könnte .
Eine Ausnutzung , die darin bestehen würde , daß man den
Frauen an der Kulturpolitik einen selbständigeren , bewußteren ,
verantwortlicheren Anteil gibt . Wenn da beklagt wird , wie die
kulturpolitische Tätigkeit des Staates in einen geisttötenden
Schematismus ausarte , wie wir uns gewöhnt haben , die Ver-
vollkommnung der Dinge an Stelle der Durchbildung der
Persönlichkeit zu setzen , – wenn soziale Humanität , eine
regere Vermittlung geistiger Güter an die unteren Volksschichten ,
die Verstärkung der intuitiven an Stelle der analytischen ,
verstandesmäßigen Kräfte in unserer Kultur gefordert wird ,
so wird in mancher Frau bei diesem Appell die Ahnung
schlummernder Kräfte sich regen , die gerade diese Aufgaben
ergreifen könnten .
Und damit komme ich zum Schluß meiner Ausführungen ,
zu der Frage : was nützt dem Staat die bürgerliche Be-
freiung , d. h. eine selbständigere , verantwortlichere Mitarbeit
der Frau an seinen Aufgaben ?
Die große Führerin der amerikanischen Frauenstimmrechts-
bewegung , Susan B. Anthony , hat ihr unzählige Male aus-
gesprochenes Glaubensbekenntnis , das Leitmotiv ihres ganzen
Lebens , in den Worten niedergelegt : „ Jch glaube fest und ganz
an die Offenbarung , daß das Menschengeschlecht durch die Frau
erlöst werden wird , und auf Grund dieses Glaubens fordere ich
die unbedingte und sofortige Befreiung der Frau von jeder
politischen , industriellen , sozialen und religiösen Hörigkeit “ .
Wer sie je gesehen hat , versteht vollkommen die tiefe religiöse
Hingebung dieser Worte und den Grund , auf dem ihr diese
Überzeugung erwuchs : aus einem selbstlosen , reinen Herzen ,
erfüllt von dem instinktiven Drang zu helfen , den man als
Hauptinhalt des Wortes „ weiblich “ zu denken gewöhnt ist .
Selbstverständlich ist von keinem Mann zu verlangen , daß
er an dieses Wort glaube . Ja , wir selbst , wir Frauen eines
Volkes mit größerer historischer Bildung , wir Menschen einer
Zeit mit nüchternerem Blick für politische Realitäten , wir ver-
mögen uns vom Frauenstimmrecht ebensowenig den Himmel
auf Erden zu versprechen , als von irgendeiner andern poli-
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tischen oder sozialen Reform . Trotzdem glauben wir an das
Frauenstimmrecht . Wir glauben daran , daß die Frau imstande
ist , Mitträger der gemeinschaftlichen Verantwortungen zu sein ,
wir glauben , daß es hieße , einen Schatz ungenützter Kräfte
heben , wenn man sie dazu riefe , wir glauben , daß auf allen
Gebieten des öffentlichen Lebens , in der Gemeinde wie im
Staat , eine Ergänzung der männlichen Kulturideen und
Leistungen durch weibliche Art denkbar und notwendig ist und
daß diese Ergänzung nur durch die in Gemeinde und Staat
gleichberechtigte Bürgerin geschaffen werden kann . Wir glauben ,
daß unsre Politik dadurch – wenn auch nicht auf irgendwelche
idealen Höhen geführt , so doch zu einem vollkommeneren
Ausdruck des Kulturwillens , der Kulturkräfte unseres Volkes
werden kann .