Cosmopolis
AN INTERNATIONAL MONTHLY REVIEW
Edited by
F. ORTMANS
Volume III.
JULY — AUGUST — SEPTEMBER
1896
London:
T. FISHER UNWIN
New York:
INTERNATIONAL NEWS COMPANY
1896
Frauenwahlrecht
Zu den Illusionen aus der Zeit der schönen „blonden
Jugendeselei“ der Völker wie der Individuen gehört die
Auffassung, dass die „Vertretungen des Volkes,“ die Parlamente,
aus den weisesten, edelsten, klügsten Männern zusammengesetzt
seien, die in gemeinsamer Erwägung die höchsten
Ideale des Gemeinschaftslebens ihrer Verwirklichung entgegenführen
wollen; eine Auffassung, die vielleicht an einzelnen
hochragenden Gestalten einer früheren Epoche gewonnen war.
Aelter und kälter geworden, in einem Lebensabschnitt, in dem
man seine Anschauungen nicht mehr durch Generalisirung,
durch Uebertragung der eigenen Ideale auf die Aussenwelt,
gewinnt, sondern durch vorsichtige Beobachtung konkreter
Vorgänge und Persönlichkeiten, sieht man, dass die weisen
Männer hier nicht dichter gesät sind als anderswo. Vielleicht
noch weniger dicht, denn der weise Mann liebt es nicht, sich
mit Majoritäten, d. h. Durchschnittsintelligenzen, herumzuschlagen.
Und sieht man sich die Endziele an, so lehrt eine
nüchterne Beobachtung, dass ein jeder die Interessen seines
Standes, seiner Bildungssphäre, seiner Scholle vertritt und dass
die Macht der latenten Anschauungsmassen, an deren kompaktem
Bau das ganze milieu von Jugend auf gearbeitet hat, eine so
unwiderstehliche ist, dass ein gewiegter Parlamentarier mit
absoluter Sicherheit vorauszusagen vermag, wie sich dieser
oder jener, wie sich ganze Parteien einer Einzelfrage gegenüber
verhalten werden; es sei denn, dass — nach dem hochethischen
Brauch unserer Parlamente — ein Stimmkompromiss die
Berechnung verschiebt.
Diese Erkenntnis braucht einem nicht den Glauben an das
redliche Wollen des Einzelnen wie der Parteien zu rauben.
Man erfährt nur die uralte Wahrheit, dass kein Mensch über
seinen eigenen Schatten springen kann und dass jedem in
erster Linie als gut und heilsam erscheint, auch für die Gesamtheit,
was seiner Weltanschauung, seinen Interessen, die ihm
nun einmal das Weltcentrum sind, Förderung verspricht.
Diese Interessen vertritt nur er, bez. seine Partei; niemand
sonst würde sie mit gleicher Energie zur Geltung bringen. Die
Interessen der Anderen kann er seiner menschlichen Naturanlage
nach garnicht mit der gleichen Energie wie die eigenen
vertreten. „Ich suche vergebens ein Beispiel dafür, dass eine
Klasse ihre Herrschaft wirklich und ehrlich im Interesse einer
anderen Klasse oder in dem gleichmässigen Interesse aller
Klassen ausgeübt hätte.“ — (Secrétan.)
Mit dieser Wahrheit hat man sich in der Tat zu rechnen
entschlossen, als man das allgemeine Stimmrecht einführte.
Man erkannte damit formell an: jeder Stand kann nur allein
seine eigenen Interessen vertreten; sollen daher bei der
Volksvertretung die Interessen Aller zur Geltung kommen, so
müssen auch alle Stände und Berufsklassen zur Vertretung
gelangen können. Das ganze Parlament wird dann mit
derselben Sicherheit wie beim Parallelogramm der Kräfte in
seinen Beschlüssen die Auffassung der stärksten, d. h. durch
die zahlreichsten Vertreter zur Geltung gekommenen Parteien,
d. h, den Willen des Volkes darstellen. Dabei ist vieles fiktiv,
da die Wahlen unter dem Hochdruck der Regirung, der Kirche
oder andrer Machthaber stehen; das Schema aber ist richtig
gedacht.
Bis auf eine Kleinigkeit. Obwol niemand an den oben
ausgeführten Wahrheiten ernstlich zweifelt, ist eine Fiktion
doch immer aufrecht erhalten worden, die nämlich, dass die
Männer zugleich die Interessen der Frauen wahren. Musste
man auch zugeben, dass die Gesetzgebung in ihren Resultaten
die Ansicht der stärksten parlamentarischen Parteien repräsentirte,
so verschloss man sich der höchst einfachen Wahrheit,
dass alle Gesetzgebungen in ihren Gesamtresultaten die
Auffassung der Männer repräsentirten und nach dem oben
erörterten Grundsatz nie die wirklichen Interessen der Frauen
berücksichtigen, sondern nur auf Nutzen und Frommen der
Männer berechnet sein konnten.
Zu dieser Auffassung kann sich der Durchschnittsphilister,
dessen kleinster Fehler konsequentes Denken ist, eben nicht
aufschwingen. Otto Henne am Rhyn trifft ungefähr dessen
Meinung in seinem Buche „die Frau in der Kulturgeschichte,"
mit der hübschen Phrase, der Schutz der Frau müsse zu einer
allgemeinen Pflicht des Mannes gemacht werden. Er äussert
sich nicht darüber, ob er sich die Durchführung dieser Pflicht
etwa auf Polizeiwege geregelt denkt. Er merkt auch nicht,
welch' hübsche Illustration zu dieser freundlich-naiven Anschauung
die Stelle seines Werkes bildet: „Zu allen Zeiten
sind Frauen in Menge systematisch den Lüsten der Männer
dienstbar gemacht worden.“ Was zu allen Zeiten geschehen
ist, wird vermutlich bei gleicher Machtstellung auch fernerhin
geschehen. Ein anderes Verhalten wird eben nicht als zu den
Pflichten der Männer gehörig empfunden, die sich im
Gegenteil die Theorie einer Pflicht gegen sich selbst konstruirt
haben, um solche skandalösen Zustände bestehen lassen zu
dürfen. Und Pflichten gegen sich selbst gehen ihnen
natürlich vor. Da hilft nur die Frau der Frau. Die einzige
Josefine Butler wiegt in dieser Beziehung schwerer als alle
geistig hochstehenden Männer zusammengenommen — es sei
denn, dass diesen etwa die Ueberzeugung komme, dass solche
Zustände auch für die Männer zu schweren Bedenken Anlass
geben.
Dieses Beispiel möge genügen. Dem konsequenten Denker
leuchtet auch ohne Beispiel ein, dass, so wenig ein Stand für
den andern, so wenig auch ein Geschlecht für das andere
eintreten kann, ja, dass ein solches Vikariren zwischen den
Geschlechtern noch viel unmöglicher ist, als zwischen
verschiedenen Ständen und selbst Rassen. Thomas Higginson
schreibt in seinem höchst lesenswerten „Common Sense
about Women“ (London, Swan Sonnenschein & Co., S. 230):
„Were there no such thing as sexual difference, the wrong done
to woman by disfranchisement would be far less. It is
precisely because her traits, habits, needs, and probable demands
are distinct from those of man, that she is not, never was,
never can, and never will be, justly represented by him.... The
more you emphasize the fact of sex, the more you strengthen
our argument. If the white man cannot justly represent the
negro, ... how impossible that one sex should stand in
legislation for the other sex !“ und: „All theories of chivalry
and generosity and vicarious representation fall before the fact
that women have been grossly wronged by men.“
Es wird uns danach nicht Wunder nehmen, wenn wir finden,
dass überall, wo Männer im grossen für die Fraueninteressen
eingetreten sind, ihr eigener Vorteil im Hintergrund stand.
Nie ist der Mann sich dabei zu nahe getreten. Wenn er für
verkürzte Fabrikarbeit der Ehefrauen eintrat, so war es im
Interesse des Mannes und der Familie; wenn deutsche
Pädagogen für eine Besserung der Mädchenerziehung plaidirten,
so geschah es, wie sie naiv genug drucken liessen, „damit sich
der deutsche Mann an seinem Herde nicht langweile,“ Beispiele,
die sich leicht ins Hundertfache vermehren liessen. Vergeblich
appellirt die Frau an den Mann, wenn es nur sie gilt, nur ihr
Interesse, ihre Ehre. Ihr Schutzalter setzt er im Interesse der
Befriedigung seiner Lust so niedrig an, dass halbe Kinder, die
nicht über einen Pfennig Vermögen disponiren dürfen, ihre
Person der Schande preisgeben können. Wem über diese
Tatsachen noch irgendwelche Illusionen geblieben waren, dem
konnten sie in Deutschland gründlich zerstört werden bei
Gelegenheit der Verhandlungen über den Entwurf eines
bürgerlichen Gesetzbuches. Die aufeinander folgenden
Debatten über Hasen und Familienrecht werden unvergesslich
bleiben. Die wenigen Junker und Jagdbesitzer in Deutschland,
denen die Regresspflicht für Hasenschaden unbequem sein
konnte, haben sich in Durchführung ihrer rein materiellen
Interessen mächtiger gezeigt als die grössere, aber unvertretene
Hälfte der deutschen Nation für ihre idealen. Der deutschen
Frau ist durch Mehrheitsbeschluss die Anerkennung als
Rechtspersönlichkeit ausdrücklich abgesprochen worden.
Kleine Zugeständnisse, die den Mann nicht genirten, wurden
gemacht; keines, das ihn selbst auch nur im geringsten
beeinträchtigt, seine rechtlich gewährleisteten, moralisch zum
Teil höchst verwerflichen Vorrechte beschränkt hätte.
Man kann den Männern daraus kaum einen Vorwurf machen.
Auch Parlamentarier brauchen nicht anders zu handeln als
menschlich. Indem man von ihnen verlangte, dass sie für die
Frauen eintreten, sich in ihre Stelle versetzen sollten, verlangte
man etwas, was gegen die Natur ist. Der einzelne, ethisch
hochstehende Mann kann, von der Idee der Gerechtigkeit
ergriffen, für die Frau eintreten wollen — in sie hineindenken
kann auch er sich nicht. Nur die Frau versteht alle Bedürfnisse
und Interessen ihres Geschlechtes ganz, und wenn auch
der Mann für die einzelne, geliebte Frau eintreten kann und
wird, so kann nur die Frau die Frau als Geschlecht schützen.
Und die einzige Form, in der das wirksam und auf die Dauer
geschehen kann, ist das Frauenstimmrecht (aus dem sich
konsequenter Weise auch das passive Wahlrecht ergibt), der
Einfluss auf die Gesetzgebung. „When the wrongs of an
oppressed class or sex are to be righted, the ballot is the only
guarantee“ (Higginson, a. a. O.) und: „Uebrigens ist es
sicher, dass nur die garantirten Rechte effective Rechte sind,
dass die politischen Rechte die einzige Garantie der bürgerlichen
darstellen, dass die Freiheit eines Geschlechts, dem
seine Stellung fix und fertig von dem andern Geschlecht angewiesen
wird, nur eine scheinbare, sein Besitz nur ein Peculium,
sein wirkliches Geschick die Hörigkeit, und seine Rechtspersönlichkeit
ein Vernunftbegriff ohne wirkliches Dasein ist.“
(Secrétan, „das Recht der Frau.“ Lausanne und Leipzig, B.
Benda. S. 18.)
Erst durch das Frauenstimmrecht wird das allgemeine
Stimmrecht zu etwas mehr als einer blossen Redensart. Den
alten Sybel hat wol niemand im Verdacht, modernen Frauenbestrebungen
hold zu sein; aber er konnte sich dem konsequenten
Gedanken nicht verschliessen: „Wer das Suffrage
universel auf sein Programm schreibt, hat keinen vernünftigen
Grund, die Frauen auszuschliessen.“
Wenn man sich der formalen Logik dieser Forderung nicht
mehr verschliessen kann, pflegt man mit dem Heer von Binsengründen
anzurücken, die, tausendmal widerlegt, immer wieder
aus dem Antiquitätenkasten hervorgekramt werden. In erster
Linie kommt dann, häufig von nicht waffenfähigen Skribenten,
der Einwurf, dass Kriegsdienst und Stimmrecht einander
bedingen; als ob nicht, wie schon hundertmal gezeigt worden
ist, die Frau dadurch, dass sie die Krieger zur Welt bringt, den
Kriegsdienst, den von tausend Männern kaum einer wirklich
leisten muss, mehr als kompensirte. Dass weit mehr Frauen
in Erfüllung ihrer Mutterpflicht sterben als Männer auf dem
Schlachtfelde, dürfte hinlänglich bekannt sein.
Auch dass die Frauen das Wahlrecht nicht wollen, ist ein
geläufiger Einwurf. Was hat das mit der Sache zu tun?
Nimmt man es etwa den Männern, die durch dauernde Nichtausübung
ihres Wahlrechts zeigen, dass sie es auch nicht
wollen? Uebrigens hat man da interessante Erfahrungen
gemacht. Im Nineteenth Century wurde vor einiger Zeit
von einer Anzahl vornehmer Damen ein Protest gegen das
Frauenstimmrecht erlassen, der in der Fortnightly Review
seine Antwort durch einen von 2000 Frauen unterzeichneten
Aufruf dafür fand. Die Antistimmrechtlerinnen waren
meistens — Nichtstuerinnen, die 2000 meistens in einem Berufe
tätig. Das möchte schwer in die Waagschale fallen.
Im Uebrigen ist die Freiheit etwas, wozu der Mensch erst
erzogen werden muss, aber auch erzogen werden sollte. Auch
Sklaven haben vielfach nicht befreit werden wollen. Und dem
mannhaften Gefangenen von Chillon erschien schliesslich sein
Gefängnis schöner als die Freiheit. Rechte gibt man nicht,
weil sie gewünscht werden, sondern weil sie nötig sind. Ob
dann Gebrauch davon gemacht wird, ist Sache jedes Einzelnen.
Und wer da fragen möchte, wie im Einzelfalle das Recht
gebraucht wird, dem diene Gladstones Ausspruch als Antwort:
„It would be a sin against first principles in enfranchising any
class, to enquire in what sense they would vote.“
Der Einwurf, Frauen verständen nichts von „Politik,“ ist
in solcher Allgemeinheit gar kein Einwurf. Was heisst
Politik? Neuerdings hat man in Deutschland, um Frauenvereine
unter diesem Vorwande schliessen zu können, alle
„öffentlichen Angelegenheiten“ darunter verstanden. Von
diesen wird eine Anzahl von Männern besser verstanden
werden, eine andere von Frauen. Das hängt einfach von dem
Grad des Interesses ab. Da naturgemäss die kulturellen
Fragen, für welche Frauen hervorragendes Interesse haben, die
Erziehungs- und Unterrichtsfragen z. B., in dem nur von
Männern geleiteten Gemeinwesen hinter militärische, handelstechnische,
industrielle, rechtliche Fragen zurücktreten (schwerlich
zu Nutzen des Gemeinwols), so hat die Behauptung,
Frauen verständen nichts von „Politik,“ den Schein für sich.
Die Währungsfrage — von der übrigens viele Abgeordnete und
Millionen von Wählern auch nichts verstehen — wird den
Frauen allerdings vermutlich eben so dunkel sein, wie den
Männern die Frage der Frauenbildung; schwerlich werden
sie aber ihre Unwissenheit durch so stürmische Heiterkeit
dokumentiren wie deutsche Parlamentarier bei jedem uralten
Witz über die Bildung ihrer eigenen Töchter. Und wenn die
Frauen kein Verständnis für die Notwendigkeit der Bewilligung
neuer Federbüsche haben, so werden sie sich um so lebhafter
für den allgemeinen Weltfrieden interessiren, der den Völkern
jetzt ebenso utopisch erscheint, wie dem Raubritter des zwölften
Jahrhunderts der ewige Landfriede.
Wer sich im Uebrigen mit den zum Teil höchst ergötzlichen
Gründen gegen das Frauenstimmrecht, die sich häufig einander
aufheben, vertraut machen will, der studire die Verhandlungen
des englischen Parlaments über diesen Gegenstand. In hohem
Grade beliebt ist die Phrase von der Engelhaftigkeit und
Reinheit der Frau, die sie vom Schmutz der Politik — im Schmutz
der Strasse sucht man sie auf — fern halten müsse. Und den
höchsten Gipfel des Phrasenschwulstes erklimmt ein Redner,
der da fürchtet, die Frau möge durch das Stimmrecht die
Furcht und das Erröten verlieren, die doch die Gürtel der
Unschuld seien!
Wir haben diese sämtlichen „Gründe“ nur gestreift; Einfluss
haben sie auf den Gang dieser Untersuchung nicht, die sich
auf eines der „first principles“ stützt, auf den Grundsatz: das
Stimmrecht wird als Schild den Schwachen gegeben; sie
brauchen es, um ihre Rechte zu vertreten und sich vor
Vergewaltigung zu schützen.
Nur ein Einwurf wäre stark genug, um eine Abweichung
von diesem Grundsatz zu rechtfertigen: die Gefährdung des
öffentlichen Wols. Aus der Gewährung des Frauenstimmrechts
soll nach einer häufig vertretenen Auffassung eine solche
hervorgehen.
Verständigen wir uns zunächst über das Wort. Wie
Menschenrechte bisher nur Männerrechte bedeutete, so auch
öffentliches Wol nur Männerwol. Und wenn wir die
Prophezeiungen näher untersuchen, die im Zusammenhang
mit der Erörterung dieser Fragen gemacht werden, so laufen
sie jedesmal darauf hinaus, dass der einseitige Charakter, den
jetzt ungehindert der Mann dem öffentlichen Leben aufdrückt
und der nur seine Eigenart darstellt, eine Aenderung erfährt.
Nun, eben das erscheint uns nötig. Denn was wirklich
öffentliches Wol, d.h. das Wol der Männer und Frauen, das
Wol der Familien, bedeutet, das kann nur in gemeinsamer
Verständigung beider Geschlechter gefunden werden. Das ist
die Wahrheit, die am schwersten eingehen wird. Eine frauenfeindliche
Berliner Zeitung — leider ein sehr umfassender Gattungsbegriff
— veröffentlichte vor Kurzem ein Gutachten des
Rechtslehrers Otto Gierke über „die akademische Frau.“ Er
prophezeit der Gesamtheit das Verderben, wenn man der
„radikalen Frauenrechtsbewegung“ Boden verstatte, und
predigt das principiis obsta. „Wer dem geschichtlich
bewährten Ideal des männlichen Staates die Treue hält, würde
thöricht sein, wenn er ein Zugeständnis machte.“
Dem geschichtlich bewährten Ideal des männlichen Staates!
Difficile est satiram non scribere! Da stehen am Schluss des
Jahrhunderts die Völker bis an die Zähne bewaffnet einander
gegenüber. Der Alkoholismus steigt rapide und füllt die
Zuchthäuser, aber die Branntweinbrennereien erhalten in
Deutschland Liebesgaben. Die Zahl der jugendlichen Verbrecher
wächst von Jahr zu Jahr, aber aufsichtslos überlässt
man die proletarische Jugend dem Einfluss der Strasse;
Uebersättigung, Blasirtheit, fin-de-siècle-Stimmung, wie sie
nur je vor einem grossen Zusammenbruch herrschte, hat
Völker und Individuen ergriffen. Schopenhauer ist übertrumpft
von Stirner und Nietzsche; in der Kunst überbietet
ein Raffinement, eine Effekthascherei die andere; aus der
Litteratur der Modernen steigt ein Verwesungsgeruch empor,
der die Nerven benimmt. Denn der Männerstaat hat dafür
gesorgt, dass der Jüngling seine Studien über die Frau an der
Dirne macht und den ganzen Ekel mit ins Leben nimmt, der
damit zusammenhängt. Die monogamische Ehe ist zur Fiktion
geworden. Und was die Parlamente anbetrifft, so möchte
folgende Schilderung eines Amerikaners nicht unzutreffend
sein: „Der leidige Individualismus führt das Scepter, und der
krasse Egoismus nimmt die Stelle ein, welche der intelligenteste
Altruismus haben sollte. Daher kommt es denn, dass
auch die Politik in keinem Kulturstaat mehr in den Händen
der Gebildetsten ist, wie es fast vor 50 Jahren zu werden schien,
sondern in der Gewalt der Geldleute, Fabrikanten, der Streber
und Macher, von kirchlichem Einfluss garnicht zu reden.
Sehen Sie sich die Zusammensetzung der Repräsentanten-
häuser aller sogenannten Kulturstaaten an und würdigen Sie
mit mir die Tatsache, dass der geistige und sittliche Stand-
punkt der modernen Parlamente der Durchschnittsbildung
des Volkes nicht mehr entspricht. Vielleicht wäre es ganz gut,
durch massenhafte Ausbildung der Weiber, einerlei in was, das
Durchschnittsniveau der Volksbildung zu erhöhen, um unser
aller Zukunft erspriesslicher zu machen.“ (Deutsche medicinische
Wochenschrift, No. 25, 18. Juni.)
Es ist der Gedanke Camille Sées: „Von den Frauen hängt
die Grösse und der Verfall der Nationen ab,“ und in der Tat ist
hier das erlösende Wort gesprochen. Denn der rein männliche
Staat in seiner starren Einseitigkeit hat sich eben nicht bewährt.
In dieser Ueberzeugung kann uns Frauen keine „Belehrung“
erschüttern, und sei sie noch so sehr von oben herab, im
deutschen Professorenton gehalten. Wir stehen an einem
geschichtlichen Abschnitt. Dem Gemeinschaftsleben strömen
neue, bisher anderweitig nötige, durch den gewaltigen
Umschwung innerhalb unseres Jahrhunderts aber frei gewordene
Kräfte zu: Die Frau will ihren Anteil an der Kulturarbeit
leisten. Und der Weg muss ihr geebnet werden eben um des
Wols der Gesamtheit willen.
Nicht als ob die Frauen den Himmel auf Erden schaffen
werden. Sie sind, als Gesamtheit genommen, nicht vollkommener
als die Männer. Sie sind nur anders; sie ergänzen
den Mann. Sie haben den Instinkt der Mutterschaft und die
unmittelbarere Fühlung mit der Natur, und das ist es, was die
Welt im Augenblick braucht. Und der Unterschied zwischen
einem Gemeinschaftsleben auf das nur Männer einwirken und
einem solchen, in dem Männer und Frauen — vielleicht in einer
später zu vereinbarenden Art von Arbeitsteilung — zusammenwirken,
ist derselbe, wie der zwischen einem Hause, in dem
nur ein redlich wollender Vater, und einem, in dem neben ihm
eine redlich wollende Mutter waltet. Denn das Wort, das
einst Lady Henry Somerset als Motto über ihr Frauenstimmrechtsblatt
setzte, ist wahr: „The women's movement is
organised mother love.“ Diese Mutterliebe, deren die verarmte
Welt so dringend bedarf, kann nur die Frau ihr geben, — es ist
müssig, im einzelnen ausführen zu wollen, in welcher Weise —
Gefängnisse und Waisenhäuser, Schulen und Hospitäler harren
ihrer, und der Unrat, der unser Leben befleckt und den
Menschen an der Wende des 20. Jahrhunderts oft unter das Tier
stellt, wird nur ihrer Hand weichen. Denn unzweifelhaft finden
die rein sinnlichen Instinkte in ihr die natürliche Gegnerin.
Diese Ueberzeugungen stützen sich nicht nur auf psychologische
Gründe, sondern auf die grossartige freie Vereinstätigkeit,
die Frauen aller Orten heute entwickeln, und auf die
Erfahrungen, die man in den wenigen Staaten mit Frauenstimmrecht
gemacht hat. In den amerikanischen und australischen
Staaten, in denen es eingeführt ist, haben sich gerade
in sittlicher Beziehung die günstigsten Erfolge gezeigt. Der
Staat Wyoming blickt auf eine 25-jährige Erfahrung mit dem
Frauenstimmrecht zurück, und sein Parlament konnte bei
Gelegenheit des Jubiläums der Gleichberechtigung eine
Resolution erlassen, in der es auf den Segen dieser Maassregel
hinwiess: friedliche und ordentliche Wahlen, eine gute Regirung,
ein bemerkenswerter Grad von Civilisation und öffentlicher
Ordnung wird darauf zurückgeführt: „Wir weisen mit Stolz
auf die Tatsache hin, dass nach nahezu 25 Jahren, dass die
Frauen das Stimmrecht besitzen, kein Distrikt in Wyoming
ein Armenhaus besitzt, dass unsere Gefängnisse so gut wie leer
und Verbrechen so gut wie unbekannt sind.“ Und bei der
ersten Wahl in Neu-Seeland, an der Frauen sich beteiligten, war
es in hohem Grade bemerkenswert, dass sie in erster Linie die
sittliche Qualifikation der Kandidaten in Betracht zogen.
Wir sind nun zwar gewohnt, auf diese Länder mit junger
Kultur herabzublicken mit dem ganzen Stolz eines Nachkommen
von 16 Ahnen; vermutlich würden sie diese Ahnen
garnicht wollen, wenn sie, wie wir, auch ihre 16 Zöpfe mit in
den Kauf nehmen müssten. Es ist doch eine bemerkenswerte
Geistesfreiheit, aus der der erste Artikel der Konstitution von
Wyoming hervorgeht, dessen 3. Absatz lautet: „Da Gleichheit
im Genusse natürlicher und sozialer Rechte durch politische
Gleichheit bedingt wird, so gewähren die Gesetze dieses Staates
allen Bürgern, ohne Unterschied der Rasse und Farbe und des
Geschlechtes gleiche politische Rechte.“
Welche Chancen sind nun für die Durchführung des
Frauenstimmrechtes gegeben? Es wäre nach den vorangegangenen
Ausführungen offenbar abgeschmackt, auf einen
plötzlichen Gerechtigkeitstaumel unserer Parlamente rechnen
zu wollen, in denen man nach einem geflügelten Wort der
Neuzeit nur abstimmt, nicht überzeugt wird. Wenn wir aus
unsern Vordersätzen die richtige conclusio zu ziehen verstehen,
so werden wir einzig und allein mit der Interessenpolitik
rechnen dürfen. Die Männer werden den Frauen nicht eher
das Stimmrecht gewähren, als bis ihr eigenes Interesse es
gebietet.
Das eigene Interesse der Parlamente und Regirungen gebietet
es aber dann, wenn der Hochdruck der öffentlichen Meinung
darauf wirkt. Diese wieder wird durch die Macht „zeitgemässer“
Ideen bestimmt; zeitgemäss ist aber wiederum nur,
was die Interessensphäre der entscheidenden Kreise berührt.
Wenn daher die Erkenntnis — nicht von der abstrakten
Gerechtigkeit ihrer Sache, sondern von der Bedeutung der
Frau für das Gemeinwol in den Kreisen der Männer genügend
Wurzel gefasst hat, dann, aber auch erst dann, wird der Augenblick
gekommen sein, in dem die gesetzgebenden Faktoren, von
der öffentlichen Meinung gedrängt, für das Frauenstimmrecht
eintreten werden. Damit ist zugleich gesagt, dass dieser Zeitpunkt
in den verschiedenen Ländern ein sehr verschiedener
sein wird.
Daraus erklärt sich auch, dass die Länder mit junger Kultur,
in denen der civilisatorische Wert der Frauen den vielen
Auswüchsen spezifisch männlicher Roheit gegenüber doppelt
hervortrat, in dieser Sache vorangegangen sind; dass unter den
europäischen Ländern England, wo die Frauen im Gemeinde-
dienst längst ihre kulturelle Bedeutung erwiesen haben, der
Verwirklichung dieser grossen Idee am nächsten steht — man
darf wol sagen, dass Gladstone allein, auf dessen Autorität die
kleine Majorität von 23 Stimmen zurückzuführen ist, die 1892
die Annahme des Frauenstimmrechts hinderte, die Ursache der
Verzögerung ist, trotz seiner „first principles,“ — dass endlich
Deutschland mit seiner lastenden Büreaukratie, seinem Schematismus
und Militarismus in dieser Frage am allerweitesten
zurück ist.
Es würde zu weit führen, die historischen Gründe für diese
Erscheinung hier zu untersuchen. Die mehrmalige völlige
oder teilweise Zerstörung der deutschen Kultur durch grosse
Kriege, in denen nur der Mann galt, möchte für die geringe
Schätzung der Fähigkeiten der Frau — abgesehen von der
traditionellen Hochhaltung der „Hausfrau,“ worunter man
vielfach nur die gute Köchin versteht — garnicht hoch genug
angeschlagen werden können. Ueberdies ist in Deutschland
der geistige Abstand der Geschlechter — durch den guten
Unterricht der Knaben und Jünglinge, den völlig ungenügenden
der Mädchen — grösser als anderswo. Als Motto wenigstens
für das Empfinden der älteren Generation dürfte das Wort
gelten: „Darfst mich niedre Magd nicht kennen, hoher
Stern der Herrlichkeit.“ Mit der älteren Generation ist daher
auch nicht zu rechnen; sie muss in dieser Frage zu den Toten
geworfen werden. Ihre Männer sind noch mit zu viel
Paschagefühl aufgewachsen, die Frauen in zu spezifisch
deutscher „Weiblichkeit,“ die die Augen schloss vor der
Schmach der Frau.
Es ist in hohem Grade charakteristisch, dass nur die
sozialdemokratische Partei das Frauenstimmrecht auf ihr
Programm gesetzt hat. Die Frau des Arbeiters hat in
gewisser Weise ihre Gleichberechtigung mit dem Manne in
höherem Maasse bewiesen als die der sogenannten höheren
Stände. Sie ringt wie er um das Leben; sie interessirt sich wie
er für allgemeine Fragen — ob ihre Anschauungen richtig oder
falsch sind, darauf kommt es hier nicht an. Keine der anderen
Parteien hat die Frau jemals ernst genug genommen, um auch
nur den Gedanken an eine Gleichberechtigung zu fassen; auch
die sogenannten liberalen Parteien sind für die Fraueninteressen
fast nur mit billigen Phrasen eingetreten. Die
Erklärung dafür liegt auf der Hand: die Frauen ihrer Kreise
haben ihnen die Ueberzeugung nicht einzuflössen verstanden,
dass in ihnen eigenartige, für das Gemeinwol hochwichtige
Kräfte steckten. Nicht als ob es nicht viele tüchtige Frauen
unter ihnen gäbe; aber das herrschende Element ist nicht
die Frau, sondern die Dame.
Damit ist der wunde Punkt in unserem Frauenleben getroffen.
Durch die Rolle, die der Mann der Frau angewiesen hat, ist
jene Gesellschaftspuppe entstanden, die heute an Stelle der
tüchtigen, durchgebildeten, für das Gemeinwol sich interessirenden
Frau die erste Rolle spielt. Diese Dame, nicht der
Mann ist der ärgste Feind der Frau. Dieser „europäischen
Dame mit ihrer Prätension und Arroganz“ galten die brutalen
Ausführungen Schopenhauers, und unter diesem Gesichtspunkt
kann man ihm kaum Unrecht geben. Diese Dame — ja nicht
etwa mit dem Begriff zu verwechseln, der in dem englischen
„lady“ steckt — gehört allerdings nicht in das öffentliche Leben.
Sie hat durch ihre illegitime, hinter den Kulissen geübte
Beeinflussung des öffentlichen Lebens schon Unheil genug
angerichtet. Diese Dame, innerlich vielfach so hohl wie die
Halbdame, hat die Welt nicht nur nicht gefördert, sondern in
ihrer Entwicklung gehemmt. Ihre Herrschaft muss die Frau
brechen. Bis jetzt sind die Aussichten noch gering. Wenn
die Dame Hüte dekretirt, bei denen man meinen muss, die
hängenden Gärten von Babylon wandeln zu sehen, so fügt
sich die Frau. So kommt es, dass in der Frauenwelt der Tand
des Lebens eine wichtigere Rolle spielt, als die echten Lebensgüter.
So kommt es, dass für die Verpflichtung gegen die
Gesellschaft die Frau kein Gefühl hat, weil sie — Gesellschaften
geben muss. Und — leider! ist in der deutschen Frau das
soziale Interesse wenigstens unter den germanischen Völkern
am Geringsten.
Es ist zuzugeben, dass die ihr gebotene Gelegenheit zur
Betätigung solcher Interessen auch die geringste ist. Aber
diese Dinge gehen Hand in Hand. Dass die Engländerin
jetzt in allen wichtigen Angelegenheiten ihres Landes, mit
einziger Ausnahme der politischen, mitzusprechen hat, hat
seinen Grund nur in dem eifrigen Interesse, das sie diesen
Sachen zuwandte. Auch sie hat kämpfen müssen, ehe sie die
Stellung erlangte, in der sie ihre Leistungsfähigkeit zeigen und
damit das Interesse der Männer, sie zu weiterer Mitarbeit am
Gemeinwol heranzuziehen, erhöhen konnte.
Ein anderer Weg steht auch der deutschen Frau nicht offen.
An einen plötzlichen Umschwung zu Gunsten des Frauenstimmrechts
ist nicht zu denken, und alle Reden würden nach
dieser Richtung hin nichts bewirken, so lange sich im
Volksgeist nicht die Ueberzeugung durchgerungen hat: hier
sind wertvolle Kulturelemente, die müssen wir dem Gemeinwol
dienstbar machen. Nicht das Schreien, sondern das Leisten
tut's. Die sehr ernst gemeinte und mit grosser Selbstaufopferung
durchgeführte Propaganda der Gräfin Guillaume-Schack
musste völlig resultatlos verlaufen, weil die Leistungen
der Frauen fehlten, die den Männern den Nutzen des Frauenstimmrechts
klar gemacht hätten. Die Anschauung suggerirt
eben mächtiger als hundert Reden.
Und so ist uns unser Weg gewiesen. Es gilt zunächst und
diese Arbeit haben wir schon mit Energie in Angriff genommen
die Hindernisse zu beseitigen, die uns am Leisten hindern.
Es gilt einzudringen in die Arbeit der Gemeinden, in die
Schulverwaltungen, die Universitäten, die verschiedenen
Berufszweige, und überall zu zeigen: das kann die Frau. Es
gilt, der Dame entgegenzutreten, die durch das parfümirte
Taschentuch den „Armeleutegeruch“ fernhalten möchte; es gilt
das Laster in seinen Schlupfwinkeln aufzusuchen, die Kindlein
zu uns kommen zu lassen, den Verwaisten und Verlassenen
Pflegerinnen zu sein und unerschrocken die Wahrheit zu
sagen über alles, was da faul ist auf sozialem Gebiet, mag uns
noch so oft das allmählich doch etwas in Misskredit geratende
„Unweiblich“ entgegengeschleudert werden. Der Weg ist
weit; aber er ist kein Umweg. Denn wir nehmen viel mit
unterwegs, all das Rüstzeug, das wir für eine spätere Zeit
brauchen. Und überdies: wir haben keine Wahl. Auch
wer grundsätzlich nicht mit mir einverstanden ist, wer von
einer Vorbereitung im Prinzip nichts wissen will, wird mir
zugestehen: „Du hast recht, vorzüglich weil ich muss.“
So handeln wir wie der weise Mann, der ein sicheres, aber
in der Ferne erst winkendes Erbe in Aussicht hat und sich
einstweilen auf seine zweckmässige Verwaltung vorbereitet.
Hoffnungslos ist unsere Angelegenheit nicht; wer aufmerksam
hört und liest, wird viele auch unter den Männern finden, die
auf unsrem Boden stehen. Die jüngere deutsche Männergeneration
beginnt in der Frau, die sich vor ihren Augen, nur
mit unendlich viel mehr Schwierigkeiten als sie eine gleichartige
Bildung erringt, die ihr eigenes Leben gestaltet, die Mitstrebende,
Mitkämpfende zu sehen. Und die Notwendigkeit kultureller
Leistungen und das Interesse daran wächst von Tag zu Tage.
Schon begehrt man die Hilfe der Frauen bei der Armen-
und Waisenpflege, schon fängt man an, sie in die Gefängnisse
zu lassen: das ist der kleine Finger, an dem die ganze Hand
hängt.
Diese Ansicht auszusprechen und unsere Taktik damit
preiszugeben, trage ich nicht das geringste Bedenken. Die
geschichtlichen Mächte, die vorwärts treiben, sind gewaltiger
als der Wille der Einzelnen, die etwa den ersten Schritt hindern
möchten, weil ihnen die Konsequenzen gezeigt sind. Die
Frauen können es sich heute gestatten, ein „grand ouvert“
anzusagen, wenn sie zugleich dafür sorgen, die höchsten
Trümpfe in ihre Hand zu bringen: Leistungen.
Eine grosse Propaganda für das Frauenstimmrecht — das
ergibt sich aus dem Vorhergehenden — ist augenblicklich in
Deutschland noch nicht am Platze. In England, Amerika,
und einigen nordischen Reichen sind die Leistungen schon
vorhanden, und es gilt jetzt nur, das tote Gewicht ins Rollen
zu bringen, und „the average man, the average woman“
dazu zu bringen, die Konsequenz zu ziehen. Da vermag die
Rede viel. In Deutschland liegt der Schwerpunkt vorläufig
auf den Leistungen. Unter den Führerinnen der deutschen
Frauenbewegung möchte überdies kaum eine so schwächlich
denken, das Frauenstimmrecht nicht zu wollen oder den Ruin
der Kinderstube — als ob der bei der Dame nicht viel unvermeidlicher
wäre! — in seinem Gefolge zu sehen. Für die
Durchschnittsfrau ist aber einstweilen die Gewöhnung an
Leistungen für das öffentliche Wol weit wichtiger als
Erörterungen über das Frauenstimmrecht, die aus den
angegebenen Gründen zu einem Resultat vorläufig nicht führen
könnten. Was jetzt geschehen muss, was nach Kräften auch
durch Wort und Tat gefördert werden muss, das ist die
Zulassung zu der Arbeit, den Rechten und Aemtern innerhalb
der Gemeinden und die Eröffnung aller Berufe. Hier wird
die Frau die Schulung für grössere Ziele gewinnen, hier im
Laufe der Zeit Leistungen aufzuweisen haben, die dem
Manne allein als hinreichende Garantie für die Gewährung
weiterer Rechte erscheinen werden. Ueber die Wirkung
teile ich Secrétans Ansicht: „Aller Wahrscheinlichkeit nach
würde die Anerkennung der Frauenrechte nur eine sehr
wenig zahlreiche Elite von Frauen ins Parlament, in die
Gerichtshöfe u.s.w. bringen. Das Gros der Geschäfte würde
nach wie vor in den Händen der Männer verbleiben; allein
der leitende Geist würde eine Veränderung erfahren: Das
Recht würde die Oberhand gewinnen, weil endlich einmal die
Macht durch die Selbstbegrenzung sich als wirkliche Macht
erwiesen hätte. Der Geist des Friedens hätte den ihn fördernden
Platz im öffentlichen Leben, und dann könnte man
ernsthaft an die Erhaltung des Friedens zwischen den Völkern
denken.“
Bis dahin — wie mancher Protest wird noch mit hohem
Pathos im Namen der „sittlichen und natürlichen Bestimmung
der Frau“ erschallen gegen ihre schönste und höchste
Aufgabe: zu helfen, dass Friede sei auf Erden und den
Menschen ein Wolgefallen.
HELENE LANGE.