Phyſiognomiſche
Reiſen .
Zweytes Heft .
Altenburg
in der Richteriſchen Buchhandlung .
1778 .
Erſter Ritt .
Praktiſcher Beytrag , zur Theorie des
Denkens und Empfindens .
A lſo gings fort , am Tage nach Bar-
tholomaͤi fruͤh als der Himmel graut .
Wußt keine Menſchenſeel was davon auf
dem Hof , auſſer die Frau Gertrud , die
meynt’ ich woll der Sophie nach . Jch
ließ ſie bey dem Glauben , ſtellt ihr eine
ſchriftliche Anweiſung an den Verwalter zu
und trabt mit Philipp zum Thor hinaus .
Als wir eine gute Meilweges geritten
waren , fing der Cimber an zu wiehern ,
welches er nie unterlaͤßt , wenn er einer
Herberg anſichtig wird . Jch ſchlug die
Augen auf , und ſah ſchnurgrad durchs
Thor wieder in meinen Hof hinein . Ey
A 2 Phi-
Philipp , was iſt das , ſprach ich , was
ſoll uns das Ringelrennen ? Wo haſt’ die
Augen , daß du das nicht ſaheſt und mir
Anzeige davon thaͤtſt ? Herr , antwortet’
der Schalck , ich vermein der Ritt ſey auf
eine geheim ’ Expedition abgeſehen , wußt’
nicht ob ichs traͤf , wenn ich laut wuͤrd . —
Ja wohl eine geheime Expedition ! dacht
ich , denn ich wußt eben ſo wenig davon ,
als Philipp oder der Cimber , wo die Reiß
hingehen ſollt . Weil mich der Unmuth aus
meiner Heimath fortgetrieben hatt’ , uͤber-
ließ ichs dem Zufall und dem Gaul , wo die
mich hinbraͤchten ; und weil der lezt’ dies-
mal das Direktorium hatt’ , bracht er mich
wohlbehalten wieder nach Haus .
So viel Verſtand hat ein vierfuͤßiges
Thier , dem man ſich anvertraut ; wo aber
das Roß mit den zwey kurzen vorſpringen-
den Vorderfuͤſſen und der buntgemalten
Stang , ich meyn’ das Steckenpferd , das
Direk-
Direktorium hat , und mit dem Reuter uͤber
Berg und Thal durch Buſch und Hecken
ſetzt , da kommt der ſelten ohne beſchundne
Naſe wieder heim , wovon ich auf meiner
Reiſe manch eindringlich Beyſpiel vor Au-
gen gehabt . Aus Verdruß ſpornt’ ich nun
den Cimber an , und flog bald uͤber die
Graͤnzen meines Eigenthums , wenn an-
ders ein Dutzend Bocksſpruͤng , die in ei-
nen harten Trab und aus dieſem wieder in
einen bedachtſamen Eſelsſchritt uͤbergingen ,
mit der Voͤgel Flug etwas gemein haben .
Der Gang meines Gauls machte meinen
Ribben die nemliche Empfindung , als der
regelfreye Versgang im neuen Amadis mei-
nem Ohr . Das merkt’ ich dem Cimber
bald ab , daß er nicht herſtamme von der
Race des beruͤhmten Wettrenners zu Neu-
market Potooooooos genannt , welchen un-
laͤngſt Lord Grosvenor dem Lord Abingdon
fuͤr 1500 Pfund abgehandelt hat . Doch
A 3 ein
ein ſo fluͤchtiges Roß haͤtte mir nicht ein-
mal gedient , dem haͤtt der Wallach , der
meinen Philipp trug , ſo wenig nachſchrei-
ten koͤnnen , als der Eſel Baldewein , wel-
cher im April 77 die drollige Entervuͤe mit
dem Pegaſus gehabt , dieſem auf den He-
likon nachfliegen konnt’ .
Nun will ich dir Bericht geben , lieber
Leſer , von Grund und Urſach meines ſelt-
ſamen Caruſſelrittes . Hatte ſich eine em-
pfindſame Réverie meiner Seel dergeſtalt
bemeiſtert , daß ſie , mit dieſer deſto unge-
ſtoͤrter zu kramen , ſich in das abgelegenſte
Hirnkaͤmmerlein zuruͤckgezogen , und nach-
dem ſie nur das Nervenpaar geſpannt ,
welches dienet , den Schluß im Sattel zu
halten , hatte ſie die uͤbrigen acht Paar in
Ruh geſetzt , gleich einem Schiffer , der
bey heftigem Sturm das Steuerruder feſt
bindet , die Segel einnimmt und das Schiff
treiben laͤßt , wohin Gott will . Die fuͤnf
Tho-
Thore , wodurch alle menſchliche Erkennt-
niß von auſſem her in die Seele ſchluͤpft ,
waren alſo verriegelt , und ſie ſpielte nun
mit ihrem Phantom ſo zufrieden und unge-
ſtoͤrt , als ein heranwachſendes Maͤdchen ,
das von ungefehr eine verabſchiedete Puppe
gewahr wird , des Triebes damit zu ſpie-
len ſich ſchaͤmt und ihm doch nicht wider-
ſtehen kann ; die Thuͤren verriegelt , die
Vorhaͤnge herunter laͤßt , die Puppe raſch
anputzt , von ihr Beſuch annimmt und ſie
mit einer Torte aus Kleyen oder Sand ge-
backen bewirthet .
Wird jeder bald darauf rathen , daß die
Sophie die Puppe war , mit der meine
Seel ihr Spiel trieb . Als ich hinterm
Obſtgarten unter dem Apfelbaum hinritt ,
und an den Raſenrand kam , wo ich das
liebe Geſchoͤpf mit ſolchem Wonnegefuͤhl
zum erſtenmal erblickt’ , konnt ich nicht um-
hin , hier einen Augenblick zu verweilen .
A 4 Der
Der erſte Strahl der Sonne verguͤldet ’ oben
die welkenden Grashalmen dieſes Platzes ,
und da ich umherſchaut’ , wurde ich eines
lieblichen Bluͤmleins Vergißmeinnicht ge-
wahr , das ſein anfbluͤhendes Haupt aus
dem Zaun hervorſtreckt , wie eine junge
Dirn’ , die ſich anfaͤngt zu fuͤhlen , aus
dem Fenſter ſchaut , um von den Voruͤber-
gehenden bemerkt zu werden . Das griff
mir ans Herz , ſprang aus dem Sattel ,
rupft eilends das Blumenſtaͤudlein aus mit
all ſeinen Bluͤthen , ſteckt’s ins Knopfloch
vor die Bruſt und ſprach mit wehmuͤthiger
Stimm : gute Sophie , ſollſt meinem Her-
zen unvergeſſen ſeyn , will dein Andenken
mit mir herum tragen wie eine Reliquie ,
warſt ein liebes Taͤubchen , ob du gleich
aus meinem Schlag dich verflogen haſt !
Saß darauf wieder auf , und hielt in Ge-
danken der Sophie noch gar eine ſtattliche
Parentation , ſchier ſo herzruͤhrend als die ,
wel-
welche Freund Aſmus uͤber Anſelmo gehal-
ten hat am erſten Weyhnachttage . Und
wie mirs mehrmalen zu geſchehen pflegt ,
daß ich einen Gedanken , der mir eindring-
lich iſt , feſthalt , und dran nage wie ein
Hund an einem Knochen ; ſo begegnet’ mirs
auch diesmal . Wie waͤrs , dacht’ ich ,
wenn mir die Sophie auf meiner Reiſ ’ auf-
ſtieß ? Dieſer Gedanke thaͤt mir ſo wohl ,
daß er bald in einen Wunſch umgeſchaffen
war . Drauf repraͤſentirt’ mir die Zauber-
laterne der Einbildungskraft mancherley
Schattenſpiel von der Sophie , ſtellt mir
die Dirn’ in der und jener Situation vor ,
die mein Herz ſeinen Wuͤnſchen gemaͤß ſelt-
ſam gnug zu drehen wußt ; ob wohl mit
unter die Vernunft mit ihren Einwuͤrfen
mir das Spiel verdarb , und die Ding ganz
anders ordnete als der Wille . All dieſe
Jdeen durch einander wurden erzeugt von
dem Schweben meiner Seel zwiſchen Ver-
A 5 zweif-
zweiflung und einem noch uͤberbleibenden
Strahl von Hoffnung , und dieſes Schwe-
ben verſezt’ mich in eine Extaſe , die dem
Stifter der Quackerſekt ’ Meiſter Georg Fox
weiland , wuͤrd ’ Ehre gemacht haben .
Bald war mirs als ſaͤh’ ich eine Poſt-
kaleſch ’ uͤbers Feld daher rollen , aus Neu-
gier ritt ich nahe bey , wurd’ gewahr einer
Dame in einem hechtgrauen engliſchen Reit-
rock ; neben ihr ſaß ein junger wohlgemach-
ter Mann , in einem gruͤnen Kleid mit ei-
nem runden weißen Hut . Da ſie mich er-
blickte , barg ſie ihr Geſicht hinter ein ſei-
den Tuch , als waͤr ihr der Staub laͤſtig ,
und ihr Begleiter rief , daß ichs hoͤren
konnt : Schwager fahr zu . Hurrr waren
ſie vor mir vorbey . — Ach ich erkannte
ſie ! — Die Sophie ! — Sie wars , die
Treuloſe ! — Jch ſah dem Fuhrwerk nach ,
ſo weit mein Auge trug , ließ ſie in Friede
ziehn und ritt ſchwermuͤthig meiner Straßen .
Wie-
Wiederum gab ich der Dichtung eine
andere Wendung , bildete mir vor , ich haͤtte
mich auf der Reiſe von der Landſtraß ’ ver-
irrt , und muͤßt’ in einem kleinen Dorf
Nachtquartier ſuchen , klopft ’ an , am er-
ſten beſten Bauerhaus ; eine Baͤuerin kapi-
tulirt lang mit mir eh ſie mich herbergen
will ; doch thut ſie’s , wiewol ungern , macht
mir eine reinliche Streu in die Stub’ und
tiſcht auf was ſie hat . Jndeß nehm ich
wahr einiges feines Naͤhwerk , frag ich ,
wer das mach’ . Will das Weib nicht mit
der Sprach’ heraus ; ich laß aber nicht ab
mit Forſchen , bis ſie mir in Geheim ver-
traut , es wohn eine junge Unbekannte bey
ihr im Haus , ſchoͤn und lieblich von An-
geſicht ; aber von traurigem Gemuͤth , ſie
wein’ ſich bald die Augen aus , muͤß’ ihr
ein gros Ungluͤck begegnet ſeyn . Mir wird
warm ums Herz , kann die Nacht kein Auge
zuthun . Verſuchs den Morgen drauf , die
Un-
Unbekannte nach langer Unterhandlung zu
ſprechen . ’S gelingt mir — ich finde
ſie ! — Die Sophie ! — Sie wirft
die Hand vors Geſicht , als ich in ihr Kaͤm-
merlein eintret’ , um ihre Schamroͤthe zu
verbergen . Ein Zaͤhrenſtrohm entſtuͤrzt ih-
ren Augen , und ſie ſinkt , von heftiger Ge-
muͤthsbewegung ergriffen , auf dem Stuhl
zuruͤck , unterſtuͤtzt ihr Haupt mit dem elfen-
beinern Arm , ſtoͤhnt und jammert , daß es
einen Stein erbarmen moͤcht’ . Jch ſteh
gegen ihr uͤber wie ein ſtummer Goͤtz , bis
der erſt’ empfindſame Fieberſchauer remit-
tirt und die Abſonderung der Lebensgeiſter
aus dem Blut wiederum frey von Statten
geht . Drauf kommts unter uns zu einer
Explication , die liebe Suͤnderin ergaͤnzt
mir ihre Geſchichte , wie ſie wirklich das
Opfer fuͤr ihre Familie worden ſey , ohne
dieſe dadurch retten zu koͤnnen ; weil der
Guthsherr , der in gerader Linie von dem
Bar-
Barbar Danvelt abſtammen muͤſſe , nach-
dem er den Vogel bey ihr abgeſchoſſen , den-
noch ihren Vater fortgejagt , und ſie dadurch
veranlaßt hab’ , dem Elend ihrer Familie
und ihrer Schande zu entfliehn . Der
Fremde im Gaſthauß’ am Wege , ſey ihr
Bruder geweſen , den ſie dahin beſchieden
hab’ , ſie an irgend einen verborgnen Zu-
fluchtsort zu bringen . Auf ſolche Weiſe
behielt ihre Tugend den Ruͤcken frey . Drauf
klagt ſie ſich wegen des Diebsgriffs an ;
ich ſtell’ ſie zufrieden , partagier mit ihr
mein Reiſegeld obendrein , und ſcheid weh-
muͤthig von ihr , den Kopf voller Anſchlaͤg ,
wie mein Plan , der Ritz und Spalten un-
geachtet , davon er durchloͤchert war ; ſich
dennoch vielleicht am Fuß einer wirthbaren
Alpe ins Werk richten ließ . Dieſe Dich-
tung machte mir Luft ums Herz , behagt’
mir ungleich beſſer als die erſte . Ach !
wenns doch ſo waͤr ! dacht ich , — je nun ,
wer
wer weis ! allein bald nachher widerlegte
ein Ausdruck ihres Briefes , der mir zu un-
gelegner Zeit wieder beyfiel , wo die Sophie
von einer unwiderſtehlichen Leidenſchaft
ſpricht , dadurch ſie ungluͤcklich worden ſey ,
dieſen ganzen ſchoͤnen Traum .
Mit einer dritten Fiktion wollte mirs
gar nicht gelingen : ſann hin und her , eine
Moͤglichkeit auszufinden , wie der mißlau-
tende Umſtand , den die Dirn’ zur Urſach
ihrer Flucht angegeben , der zarten Empfin-
dung fuͤr Ehr’ und Tugend unbeſchadet , von
ihr koͤnn erdichtet ſeyn , um vielleicht meine
Liebe , zu der ſie wegen Unterſchied des
Standes kein recht Vertrauen hegt’ , dadurch
auf die Probe zu ſtellen , und wenn ſie ver-
merken ſollt’ , daß dieſe unguͤnſtigen Adſpek-
ten meine Zuneigung zu ihr nicht auszuloͤ-
ſchen vermoͤchten , alsdenn den Geiſt der
Taͤuſchung wieder verſchwinden zu laſſen .
Aber da zupft’ mich die Vernunft derb beym
Ohr,
Ohr , und ich vermerkt’ bald , daß der Ro-
man hier aller Orten aus dieſer Fiktion her-
vorſah , wie der Eſel aus der Loͤwenhaut .
Dennoch ruͤckt ’ und dehnt’ ich die Decke ,
und zerarbeitet’ mich damit dergeſtalt , daß
ich die Vernunft doch wohl mit der Mum-
merey betrogen haͤtt’ , aber da fing eben
der Pegaſus an zu wiehern , und ſo hatte
das Spiel auf einmal ein End .
Nachdem ich fuͤnf Meilen vom Haus in
einem Dorf hatt ’ abfuͤttern laſſen , und
mein Magen ſelbſt befriediget war , der
gegen die Mittagsſtunde mit großem Unge-
ſtuͤm ſich zum Baſſa der Karavane auf-
warf , auch das luftige Geſindel der Jdeale ,
ſo bald er ſich zu ſeiner Befehlshaberſchaft
legitimirt hatte , gar gebiethriſch wegſchickte ,
ſo daß mir im Wirthshaus ein Schnitt
Schinken lieber war als die herrlichſte Fik-
tion ; ſchwang ich mich wieder in Sattel
und ſetzt meine Reiſe fort . Mit den Feen-
maͤhr-
maͤhrgen wars vorbey , wollt’ mir keins auf
den Nachmittag mehr gluͤcken . Dafuͤr be-
kam aber die Vernunft Audienz und leitet’
mich auf ein Paar philoſophiſche Betrach-
tungen , die mich bis ins Nachtquartier ver-
geſellſchafteten .
Die erſte entſpann ſich aus der Erinne-
rung des befriedigenden Gefuͤhls waͤhrend
meiner Viſion . Glaub’ ’s iſt allen Men-
ſchen ſo , wie mir zu Muth war , wenn
ſich eine ſehr lebhafte Jdee ihrer Seel ’ be-
maͤchtiget hat , daß ſie ein Vergnuͤgen fin-
den , dieſer nachzuhaͤngen , und ſie in tau-
ſend Geſtalten zu formen , wie ein Knab’
eine Wachskugel zwiſchen den Fingern kne-
tet , Figuren daraus bildet , wie ſie ihm die
Phantaſie eingiebt , die er im Augenblick
drauf zerſtoͤhrt , um andre zu erſchaffen .
Die Réverie , wer ſie verſteht und drauf
achtet , iſt , denk ich , das , was der Lava-
ter eine poetiſirende Seel nennt : denn
poeti-
poetiſcher Enthuſiaſmus heißt beym Franz-
mann auch Réverie , und davon ſag ich ,
daß ſie ein Geſchenk des Himmel ſey , we-
gen des Wonnegefuͤhls , womit ſie das Herz
erfuͤllt . Drum iſt der Enthuſiaſmus fuͤr
die feinen Wolluͤſtlinge unſrer Zeit , die ihre
innre Sinnlichkeit ſo gern mit Empfindſam-
keit kuͤtzeln , ein ſo gangbarer Artickel ; er-
hitzen die Empfindler ihr Blut durch aethe-
riſche Verliebtheit in jedes Ding das ihnen
vorkommt , waͤrmt ſie der Mondſchein ſo
gut wie die Feuergluth eines Toͤpferofens ,
und ihre ſuͤße Schwaͤrmerey findet im Veil-
gen auf der Wieſe ſo viel Nahrung , als
in der Sternenſaat des naͤchtlichen Himmels .
Von allen Gefuͤhlen aber iſt fuͤr eine
reizbare Seele keins ſuͤßer als Schmerzens-
empfaͤnglichkeit . Wenn einer ganz in ſich
verſchloſſen , in einem melancholiſchen Hayn ,
bey einer ſchauervollen Grabſtaͤtt ’ , oder am
Fuß ’ einer ſchroffen Felſenwand , zerſchellte
B Hoff-
Hoffuung , getaͤuſchte Wuͤnſche , verlohrnen
Genuß , oder ſonſt einen widrigen Zufall
uͤberdenkt , oder von mehrern zugleich die
aus Herz gehen ohn’ es jedoch zu erbittern ,
das Latus zieht und uͤberrechnet ; es ſey die
Urne eines lieben Maͤdchens , oder ihr Leicht-
ſinn ; ein buhleriſch Eheweib ; ein ungluͤck-
licher Freund ; ein Wildfang von einem
Sohn ; eine mißrathene Tochter ; ein mit
Mann und Maus geſunken Schiff ; ein
aufgebrannter Speicher , verlohrne Herren-
gunſt , und was ſonſt noch in die Litaney
der Ungluͤcksfaͤlle gehoͤrt , davon die chriſt-
liche Kirche ſingt , davor behuͤt uns lieber
Herr Gott : ſo ſchmachtet die Seel’ in ſtil-
lem Gram truͤbſinniger Wolluſt hin , ſinkt
ganz in ein behagliches Gefuͤhl der Schwer-
muth herab , von dem ſie ſich ungern loß
windet . Feiſt wird einer nicht leicht dabey ;
aber ’s iſt einem doch ſo wohl ums Herz ,
und beſſer als dem , dem immer ein guͤn-
ſtiger
ſtiger Wind in die Seegel blaͤßt . Jſt die
fade Suͤßlichkeit eines ununterbrochnen
Wohlſtandes , das ewge Einerley der Gleich-
muͤthigkeit , das laͤſtigſte Ding unter der
Sonn ’ . Die bittern Kraͤuter ſind freylich
nicht fuͤr jeden Gaumen ; aber die wohlthaͤ-
tige Natur hat dennoch Annehmlichkeiten
und Heilkraͤfte damit zu verbinden gewußt .
Mag wohl mancher Jſraelit das Maul ver-
zogen haben , wenn er die bittern Salſen
nach dem Geſetz hat kaͤuen muͤſſen , uͤber
die ich mit dem Goͤttinger Murray im Streit
bin , welcher meynt , es ſeyen Ritterſporn
geweſen ; ich aber deut’ das auf einen gu-
ten Loͤffelkraut-Salaͤt .
Daß ein gewiſſer Grad der Schwermuth
die innre Sinnlichkeit gar fein kuͤtzel’ , ſetzt
die fleißige Lektuͤr ’ der Wertherleiden , und
jede milde Zaͤhre des empfindſamen Par-
terrs beym Spiel der tragiſchen Muſe auſ-
fer Zweifel . Wer weis ob die Freuden der
B 2 be-
belohnten Liebe , die angenehme Réverie
aufgewogen haͤtten , in die mich die Flucht
der Sophie am erſten Tage meiner Reiſe
verſenkte . Kurz , ich habs an mir ſelbſt er-
fahren , daß Seelenpoeterey , Réverie , Em-
pfindſamkeit , ſuͤße Schwaͤrmerey , oder wie
man ſonſt die Aeuſſerungen lebhafter Her-
zensgefuͤhle nennen mag , das herrlichſte
Ding von der Welt ſind , wenn man ſich
ſatt gegeſſen hat , oder doch eben keinen
Hunger fuͤhlt ; neben einen leeren Magen
aber koͤnnen ſie in einem Leibe ſo wenig koexi-
ſtiren , als zwey ganz heterogene Geſichter
in einem Zimmer .
Die zweyte Bemerkung , die mir gele-
gentlich aufſtieß , betraf eine Erfahrung ,
die mir nuͤtzlich und heilſam war . Jch
wurd ’ innen , daß die Harpune , die die
Reize der Sophie auf mich geſchleudert hat-
ten , mit ihren eiſernen Widerhacken tief in
Fleiſch und Blut eingegriffen hatte , und
es
es eine ſchnerzliche Operation geben moͤcht’ ,
eh ich ihrer wieder ledig wuͤrd : denn aus
der Prozeder , die meine Seel dieſen Mor-
gen vornalm , merkt ich , daß ich noch feſt
an der Leire hing , und dieſer nachſchwim-
men mußt , wohin ’s gieng . Daß mich die
Liebe ſo gaͤngeln wuͤrde , dacht ich nicht , ſo
lang mein Plan ungeſtoͤhrt blieb ; aber ſo
bald das Kartenhaus einſtuͤrzt’ , empfand
ichs zur Gnuͤge . Bin gleichwol kein Juͤng-
ling , der eben aufbraußt , hab die erſten
Hoͤrner lang verſtoßen , und ſticht ſchon
manch graues Haar aus meinem Bart her-
vor . Dacht’ nicht , daß der Trieb , der ſo
lang in mir verborgen ſchlief , nun erſt an-
fangen werd’ zu vegetiren , und daß ich ſo
ſpaͤt noch effloreſciren ſollt wie eine Aloe ,
die wohl vierzig Jahr als ein kaltes phleg-
matiſches Gewaͤchs im Treibhaus ſteht ,
und deren dicht verſchloßner Kern hernach
auf einmal platzt und einen Stengel treibt .
B 3 Ob
Ob ich gleich von mir nicht ruͤhmen kann ,
daß ich die jungfraͤulich Verſchloſſemheit , die
der große Neuton mit ins Grab nahm , auch
mit dahin nehmen werd’ : ſo war doch der
Minnetrieb nur aͤuſſeres Beduͤrfniß und
nicht Herzensgefuͤhl ; bin mein Lebtag zwar
kein Miſogyn geweſen , aber es beduͤnkt
mich , ich ſey ein Miſogam ; doch lehrt’
mich die Erfahrung ein anders , und ich
befand , daß ich ſchier eine Thorheit be-
gangen haͤtt ; denn die Sophie zu heirathen
waͤr doch ſicher eine geweſen . ’S haͤtt mich
zwar kein Menſch gerichtlich daruͤber belan-
gen moͤgen ; auch waͤr mir dadurch keine
Erbſchaft zu Waſſer worden , wie dem ehr-
lichen Dekanus Potter zu Canterbury , den
ſein Vater , der Erzbiſchoff , chriſtvaͤterlich
enterbte , weil er eine Magd zur Frau nahm ;
fuͤrcht’ auch nicht , daß die mésalliance ſo
uͤbel ſollt gerathen ſeyn , wie die zu Haber-
ſtroh , wo Herr Hermes , der Stifter ſo
man-
mancher miſrathnen Ehe , Freyersmann
war : demungeachtet , alles wohl uͤberlegt’
war ’s nicht nſilii , daß ich eine Landfah-
rerin , die ic h von der Straß aufgehaſcht
hatte , mir e h elich beylegen ließ . Mit An-
ſtand haͤtt’ ich ſie in meiner Heimath nie
als meine Hausfrau in einer Geſellſchaft
produziren koͤnnen , und mit ihr vor den
Peitſchenhieben boͤſer Zungen in die Schweiz
zu fliehen , dem Paradieß der Narren , die
mit ihrem Vaterlande uͤber’n Fuß geſpannt
ſind , das ſtund mir nie recht an , wenn ’s
gleich mit in meinem Plan war . ’S iſt
allemal ein unkluger Streich , wenn einer
durch irgend eine unſchickliche Handlung den
Zirkel von Leuten bravirt , mit welchen er
lebt und webt , daß er ausgeſtoßen wird ,
oder ſich ſelbſt Landes verweiſen muß . Drum
ſag ich , wen keine Noth treibt , der mach
ſich auch keine , ſondern bleib’ im Lande
und naͤhre ſich redlich .
B 4 Weil
Weil ſichs nun eben ſo gefuͤgt hatte , daß
ich der Sophie quitt und ledig worden war ,
nahm ich mir feſt vor , des Maͤdchens Bild
aus meinem Herzen zu verdraͤngen , nicht
mehr von ihr zu reden , noch an ſie zu den-
ken , und wenn meine Seel dieſer Pupp’ im
Vorbeygehen anſichtig wuͤrd , ſie ins Maͤn-
telgen faſſen und herumtragen wollt’ , ihr
das Spiel ernſtlich zu unterſagen . Aber
da durchkreuzte ſich Theorie und Praxis ,
Verſtand und Will wieder dergeſtalt , daß
ich wahr und richtig befand , was ich ſchon
mehrmalen bey mir gedacht hate , daß ,
wenn der Verſtand im Kopf Regent iſt , er
wahrlich ! nicht ſo deſpotiſch regiert als der
Grosſultan , ſondern als ein Doge von Ve-
nedig , der die Dekrete unterſchreiben muß ,
die ihm der Senat vorlegt ; denn wenn
der Wille mit ſeinem Niposwolam her-
vortritt , der von dem Hans Hagel
der Leidenſchaften aufgewiegelt wird , ſo
muß
muß der Verſtand ja ſagen ohne Wider-
rede .
Jm erſten Nachtquartier hatt’ ich wun-
derbare Traͤum , die ſich , wenn ſie gleich
ganz von weitem her angeſponnen ſchienen ,
doch alle auf die zerſcheiterte Liebſchaft re-
duzirten ; daher kam ich Tages drauf un-
terweges auf den Einfall , obs nicht Sache
waͤr , da bey den wichtigſten Welthaͤndeln in
unſern Tagen , Gott ſey Dank , vorerſt der
Weg der Negotiation eingeſchlagen wird ,
eh man zu Speer und Schwerdt greift , mit
den ſtreitenden Partheyen in meinem Kopf
auch Unterhandlung zu pflegen ? Worauf
es nach mancherley Debatten endlich zu ei-
ner Punktation kam , davon jeder Theil
verſprach zu halten ſo viel er wollte . Die
Forderungen des ſchlichten Menſchenver-
ſtandes wurden bewilliget , die Heiraths-
idee gaͤnzlich kaßiret , der Schwachheit des
Herzens jedoch nachgelaſſen , unter dem
B 5 Na-
Namen freundſchaftlicher Geſinnungen das
Andenken der Sophie aufbewahren zu duͤr-
fen . Ferner beſchloſſen , der Fluͤchtigen ,
wenn das Ungefehr mich etwan auf die
Spur ihres Weges bringen ſollte , nicht
nachzureiſen ; dennoch vergoͤnnt , verlohr-
nerweiſ’ in Gaſthaͤuſern und Herbergen
Nachfrag nach ihr zu halten . Ueber die
Geſichtszeichnungen und Profile der gewe-
ſenen Amaſia gabs noch einen harten Kampf .
Die Vernunft beſtand auf ihrer Vernich-
tung , weil Abſchattungen von bekannten
Perſonen auf die Jmagination mehr Wir-
kung thun ſollen , als das redendſte Ge-
maͤhlde , und daher neuer Unfug zu beſor-
gen waͤr ; der Will machte dagegen ſo hef-
tige Motionen , daß endlich ihre Beybe-
haltung unter der Rubrik , fuͤrs phyſiogno-
miſche Studium , zugeſtanden wurde .
Alles
Alles das erwog ich nochmalen reiflich ,
den dritten und vierten Tag meiner Reiſe ,
und weil keine der Partheyen was erheb-
liches dagegen einzuwenden hatte , wurde
dieſer Vertrag des Geiſtes und Herzens
foͤrmlich abgeſchloſſen , unter freyem Him-
mel , zwey Stunden vor Sonnenuntergang
und eine Stunde vor Leipzig , worauf ich
ganz wohlgemuth , ohne daß mir ein Aben-
theuer aufgeſtoßen waͤr , vor dem Peters-
thor anlangte .
Erſtes
Erſtes Stillager .
Wird aufgefuͤhrt eine Farce ,
betittelt :
Der Schein betruͤgt .
W underbar ! Muß ſich grade ſo treffen ,
daß meine erſte phyſiognomiſche Ausflucht
zufaͤlliger Weiſe mich nach Leipzig bringt .
Ein ſchlimmes Omen , dacht ich , daß mirs
nur nicht ſo geht , wie dem empfindſamen
Geſellen , der vor einigen Jahren ſich ver-
maß , er woll ganz Deutſchland durchkreu-
zen ; meinten die Leut’ , er werd von der
Oſtſee bis nach Sanct Veit am Flaum wall-
faͤhrten , und wie’s um und um kam , war
der Geck ein Paar Meilen von Leipzig da-
heim ; reißt in ſeine Marktſtadt , empfin-
delt’ und pinſelt’ da ſo lang herum , bis er
ſei-
ſeine Reiſe gar daruͤber verſchwatzt ’ ; denn
das Maul ging den Quaſihumoriſten wie
eine Muͤhle .
Als ich zum Leipziger Thor hinein ritt ,
trug ich Sorge , das moͤchte mir auch be-
gegnen ; denn eh’ man ſich durch ſo eine
Stadt durchphyſiognomiſirt , giebt’s leicht
eben ſo viel Aufenthalt , als wenn man ſich
durchempfindelt . Freut’ mich ſchon im
Geiſt der herrlichen phyſiognomiſchen Acqui-
ſitionen , die ich von da mit wegnehmen
wuͤrde . Meiner Meynung nach mußt’ hier
alles Phyſiognom ſeyn , vom Magniſikus
an bis auf den Meßhelfer . Daher ſondirt’
ich in aller Fruͤh meinen Barbier uͤber
dieſes Kapitel , der doch auch ein Glied
in dieſer ausgeſpannten Kette war ; aber
den befand ich bald als einen großen Jdio-
ten , der phyſiognomiſche Kunſt mit phyſi-
kaliſchen Kuͤnſten verwechſelt . Denn er
ruͤhmt mir den Juden Philadelphia als ei-
nen
nen großen Meiſter , und fing an mit dum-
mer Geſchwaͤtzigkeit , ohne mich zum Wort
kommen zu laſſen , mir alle Taſchenſpieler-
Stuͤck’ des Juden , wovon vor kurzem maͤch-
tig viel gewindbeutelt wurde , zu beſchrei-
ben ; machte dazu ſo viel Geſtickulationen ,
und flankirt’ mir mit dem Scheermeſſer vor
dem Geſicht herum , daß mir fuͤr meine
Gurgel ſo bang ward , als weiland dem
Koͤnig Georg Bodiebrad fuͤr die ſeine , da
ihn der Bartſcheerer frug , in wes Haͤnden
jetzt das Koͤnigreich Boͤhmen ſey ? Aus
Menſchenliebe wollt’ ich den Dummkopf zu-
recht weiſen ; aber er blieb hartnaͤckig auf
ſeinen Sinn , und behauptet , beyde Kuͤnſte
waͤren im Grund’ eins , denn ihr Weſen be-
ſteh in Taͤuſchung der Sinnen , ob ſie wohl
in der Form von einander abweichen moͤch-
ten , das hab ihm ein großer Gelehrter ,
der ſein Bartkunde ſey , erſt vor ein paar
Tagen demonſtrirt . Jch zahlt ihm die
Ge-
Gebuͤhr , wollt mich mit dem Narren nicht
einlaſſen und ſagt ihm kurz , er moͤcht’ ſich
ſtreichen .
Drauf begann ich die litterariſche Runde
zu gehen , erſt bey den Facultiſten . Hatte
mich feſt in Sattel geſetzt und den ganzen
phyſiognomiſchen Curſus durchlaufen , als
wenn ich promoviren wollt , und den Tag
blank ſtehen muͤßt’ im Eramen . Jch
waͤhnt’ die Herren wuͤrden meine phyſio-
gnomiſche Erkenntniß pruͤfen , da wollt’ ich
nun nicht gern kahl beſtehen , ſondern
wuͤnſcht , jedem ehrlichen Beſcheid zu ge-
ben auf ſeine gelehrte Frag ; aber das war
vergebne Arbeit , ’s kam viel anders als ich
dacht . Nur bey wenigen traf ich den guͤn-
ſtigen Augenblick , daß ich von Angeſicht zu
Angeſicht mit ihnen reden konnt ; einige
waren auf dem Lande , andere verbaten
meinen Beſuch Geſchaͤft ’ halber , wieder an-
dere ſchuͤtzten Unpaͤßlichkeit vor , und bey
denen,
denen , die mich annahmen , mußt ich mich
durch ein Geſchwader Umſtaͤndlichkeiten
durchhauen , eh ich ſie auf den rechten Trich-
ter bracht , daß die Zeit unnuͤtz druͤber verlief .
Jch lauert’ auf ein Wort aus der Fuͤlle des
Herzens , auf einen Blick , der Herzen zu
Herzen reißt , auf ein warmes ſympatheti-
ſches Gefuͤhl — Vergebens ! war alles
eiskalt und tod um mich her . Jch griff
mehr als einmal in meinen Buſen , wollt’
fuͤhlen , ob ſich da was rege ; doch hier ſtund
die Fahn ’ auch aus Norden her , deutet’ auf
kalte ſchauerhafte Witterung .
Wenn ’s practice nicht geht , dacht ich ,
ſo geht’s vielleicht theoretice , ein Weg muß
doch ins Holz fuͤhren . Drauf hub ich mei-
nen Spruch von Phyſiognomik an , redet
vorerſt von ihrem Weſen , Form und Ge-
ſtalt , hernach von ihrer Frucht und Nutzen ,
und beſchloß mit einem treuherzigen Be-
kenntniß meines Glaubens daran . Nun
meynt
meynt ich , laͤgen die Wuͤrfel auf dem Tiſch ;
wuͤrde das Spiel ſchon anheben . Wenn
die Herren Antiphyſiognoſtiker waͤren , wuͤr-
den ſie ihre Gegenargumente auf mich
loßdonnern , und da wuͤrde ſich bald zeigen ,
wer den andern niederdiſputirt , ich nahms
mit jedem auf . Auch dieſe Bravade war
ohne Wirkung , ließ ſich keiner aus ſeinem
Hinterhalt ins freye Feld locken . Einer
nahm einmal ums andre eine Priſe , um
mir gelegentlich ſeine goldne Doſe zu zeigen ,
ein Andrer ſah an die Uhr und ruͤckte maͤch-
tig auf dem Stuhl herum als wenn er mit
Feigwarzen geplagt waͤr , und ſo gings
uͤberall , daß mir keiner zur Red ſtehen
wollt . Das war mir gar nicht zu Sinn ,
kam daher ganz unluſtig wieder in meine
Herberg . ’S ging mir bald ſo wie dem
ehrlichen Tyroler , der vor etlichen Jahren
mit kurzer Waar auf meinem Hof kam ,
mocht’ auch wohl des Hauſirers erſte Aus-
C flucht
flucht ſeyn . Den fragt’ ich , weil die Pa-
ſtoren , die mit mir aßen , mit einer theo-
logiſchen Diſpuͤte mir eben den Kopf warm
gemacht hatten , wes Glaubens er ſey ?
Sah mir der Kerl ſtarr unter die Augen ,
und antwortet mit vollem trotzigen Ton ,
der eine Ausforderung galt : er ſey ein roͤ-
miſchkatholiſcher Chriſt , ſcheue ſich nicht ,
dies Bekenntniß vor jedermann abzulegen
und mit ſeinem Blut zu beſiegeln . Ver-
meint der Tropf , die Ketzer wuͤrden als-
bald uͤber ihn herfallen und ihn proſelitiren
wollen , und freut’ ſich ſchon , das Ver-
dienſt des Maͤrtyrerthums wenigſtens mit
einer Tracht Schlaͤge zu erkaufen . Doch
darinn irrt’ er ſich gewaltig ; ich ſprach ,
das ſey wohl geredet , bey dem Glauben
ſoll’ er bleiben , reicht’ ihm ein Glas Wein
und ließ ihn in Frieden von mir ziehn .
Alldieweil nun die gelehrten Jnnungs-
verwandten meiner Erwartung nicht entſpra-
chen,
chen , ſetzt ich meinen Stab weiter zu den
unzuͤnftigen Gelehrten , den Freykuͤnſtlern ,
Genies , Dichtern und Schoͤndenkern . Ließ
mich nicht verdrießen , manche hohe Treppe
hinauf zu ſteigen , um in die aͤtheriſche
Region ihrer leichtern Atmoſphaͤre zu gelan-
gen ; denn das geiſtige Voͤlklein niſtet , wie
bekannt , in Leipzig gern den Taubenſchlaͤ-
gen parallel . War mir gar ein erfreuli-
cher Anblick , daß ich gleich beym erſten ,
dem ich zuſprach , einiger Abſchattungen ,
mit einer in Kupfer geſtochnen Einfaſſung
an die Wand genagelt , anſichtig wurd’ ,
uͤbrigens lag alles in lyriſcher Unordnung
durcheinander , daß ich nach der Phyſiogno-
mie des Zimmers , wenn ich mich auch nur
von ungefehr darein verirrt haͤtt’ , den Jn-
haber deſſelben fuͤr einen großen Dichter
wuͤrd ’ angeſprochen haben . Pflegt die
Stubenphyſiognomik ſelten zu truͤgen ; ſind
auch die Charaktere derſelben viel ſchaͤrfer
C 2 und
und expreßiver gezeichnet , und wirren nicht
ſo gegen einander wie die Geſichtslinea-
menten . Hab auf meiner Reiſ ’ nie unter-
laſſen , mich dieſer Beyhuͤlf zu bedienen und
meinen Wirth oder Wirthin darnach zu ju-
diciren , wiewol ich befunden hab , daß ly-
riſche Unordnung in der Kuͤch’ und in weib-
lichen Gemaͤchern , fuͤr die Frau vom
Hauſ ’ nicht leicht von vortheilhafter Be-
deutung iſt .
So viel mir wiſſend iſt , ſtund der Dich-
ter , den ich zuerſt beſuchte , innerhalb Leip-
zig in guten Credit ; jenſeit des Schlag-
baums aber wußte kein Menſch von ſeiner
Dichtereriſtenz ein Wort , obſchon ſein Name
ſonſt nicht ganz unbekannt iſt in der gelehr-
ten Welt , wenn ihn gleich Meuſel in ſeiner
Schmetterlingsſammlung noch nicht beſitzt .
Wird ihn wohl noch fahen und mit ſeinen
unverweßlichen Terpentinoͤl beſtreichen , um
ihn der Nachwelt zu conſerviren . — Heißt
mit
mit Namen Saſto . — Jch bracht’ ihn
auf mein Lieblingsfach , er entrirt’ bald
darauf , machte viel Redens davon , und
gab ſeinem Ausdruck einen gewiſſen Schwung
und Tonfall , daß mir der Ausgang des
Herameters darinn gar oft vernehmlich war .
Was aber die phyſiognomiſche Kunſt be-
traf , darauf verſtand er ſich nicht beſſer als
auf die Oden von Klopſtock ; mußte be-
ſtaͤndig einen Scholiaſten an der Seite ha-
ben , einen Tellow , der ihm alles vorkaͤuet ’ .
Das ſagt ich ihm auch unverholen , drauf
verſetzt’ er : der Fehler ſey nicht an ihm ,
die Deutſamkeit des menſchliches Antlitzes
ſey in ein heiliges Dunkel eingehuͤllt , wie
die Deutſamkeit der genannten Oden oder
der Schriften des Jakob Boͤhms . Eins
ſey ſo unerklaͤrbar als das andre , hab zu
dieſem geheimen Archiv keiner den rechten
Schluͤffel als der Kunſtmeiſter ſelbſt , was
der ſprech ’ muͤſſe gelten , und dieſes ἀυτος
C 3 ἐφα
ἐφα ſey das non plus ultra des Studiums ,
das die ſinnreichſten Koͤpf ’ hierauf verwen-
deten . Dieſer ehrwuͤrdigen Decke haͤtten
die Lavateriſche Geſichtsgnomik , die Klop-
ſtockiſche Oden-Kryptik und Meiſter Ja-
kobs Sinnes-Myſtik den groͤßten Theil ih-
res Rufes zu danken . Denn das ſey der
Menſchen Art und Natur , daß , je weni-
ger ſie von einer Sache ſaͤhen , oder ver-
ſtuͤnden , deſto lauter ſtießen ſie in die Tuba
der Bewunderung . Dies Problem ſey ei-
nem Denker nicht ſchwer zu loͤſen , ließ ſich
ſolches aus der Eitelkeit des menſchlichen
Herzens erklaͤren , das ſtreichle ſich gern
mit der Meynung einer tiefen Kenntniß und
Einſicht in verborgne Ding’ , und um dieſe
Meynung von ſich auch bey andern zu er-
wecken , machten die Anſtauner und Lob-
poſauner ſo groß Geſchrey , und redeten
mit Entzuͤcken von Dingen , davon ſie in
der That ſo wenig begriffen als andre Leut’ ,
da-
dadurch kaͤmen denn dieſe Ding’ endlich
ſelbſt in Aufnahme , weil jeder daͤcht , wun-
der was dahinter verborgen ſey . Daß
hiernaͤchſt ſein Freund Tellow mit Zurecht-
weiſen ſich gegen ihn ſo breit mach’ , be-
weiſe gar nicht , daß dieſer ein groͤßerer
Schlaukopf ſey als er ſelbſt ; denn das
edirte Fragment ſprech’ ihm den Kopf rund
ab , ſondern beweiſe nur , daß er zu den
Fuͤßen Gamaliels geſeſſen , der ihm ſeine
Logogryphen mit dem Kapitalſchluͤſſel auf-
geſchloſſen hab’ . So zog der Leipziger gar
ſaͤuberlich den Kopf aus der Schling’ . Auf
dieſe Red ’ fand ich nichts einzuwenden ;
denn weil ich ſah , daß er kein Sohn der
Kunſt ſey , und ich nicht bey ihm fand , was
ich ſuchte , nocht’ ich ihm nicht Widerpart
halten , ſondern ſchied in allem Guten von ihm .
Die uͤbrigen Schoͤndenker und Dichter ,
deren Name wohl heißen moͤcht’ Legio , da-
von ich beylaͤufig ein Dutzend oder ein Man-
C 4 del
del angetreten hab , thaten mir ſo wenig
Gnuͤge , daß ich ſie flugs gegen ein Man-
del Lerchen wuͤrd vertauſcht haben , wenn
ich freye Macht und Gewalt uͤber ſie ge-
habt haͤtt’ , wie uͤber mein Hausvieh . Hatte
ſich jeder ſeine eigne Kapp ’ zugeſchnitten ,
wie ſie ihm ſeiner Meynung nach am beſten
zu Geſicht ſtund . Der eine als Baͤnkelſaͤn-
ger , ließ Balladen , Romanzen und Kriegs-
lieder von der Drehſcheibe laufen ; ein an-
drer ſchrieb Satyren bey ſchlimmen Wet-
ter , oder lag fuͤrs Contingent zur Mode-
lektuͤr auf Werbung ; wieder einer war ein
Volksliedler oder kompilirte aus alten Ka-
lendern Vademekumsgeſchichtgen , oder
ſchnitt ein neues Bund Fidibus zurechte .
Bey einem braußt ’ Dithyramben und Oden
Bombaſt mit Sturm und Drang von oben
heraus , ein andrer ließ ſeinen poetiſchen
Mißwachs gemaͤchlich unter ſich gehen .
Der meynte , die Thalia buhle mit ihm
und
und ſchob alle dramatiſche Fuͤndlinge ſeiner
Einbildungskraft der keuſchen Dirn , als mit
ihr in allen Ehren erzeugte Leibesfruͤcht ’
unter ; jener haͤnſelte den ehrwuͤrdigen Ba-
ſedow , rief ihm uͤberlaut eine gute Nacht
zu , als der Mann ſchon ſchlief , oder hieß
ihm in Gruͤnen willkommen und reicht ihm
hoͤchſt witzig einen duͤrren Beſen hin .
Summa Summarum , ein jeder dieſer
witzigen Koͤpf bruͤtet ’ uͤber einer Geiſtes-
frucht , die in der nechſten Meß ; oder
auf den naͤchſten Monat in einer perio-
diſchen Schrift reifen ſollt ; der eine
zwangs mit Fieberhitze , der andre durch
Ofengluth , der dritte durch ein Marienbad ,
oder wie er ’s ſonſt anzugreifen wußt . Aber
vom Studium zu Befoͤrderung der Men-
ſchenkunde und Menſchenliebe war bey allen
altum ſilentium . Jch fand gleichwol in
den meiſten dieſer gelehrten Werkſtaͤtte mehr
oder weniger Silhouetten angeklebt , eitel
C 5 weib-
weibliche Figuren , ſahen mir meiſt gar luf-
tig aus , und erfuhr , daß das all die herr-
lichen himmliſchen Maͤdchen nebſt ihren
Subretten waͤren , die die zeitigen Dichter
und Schoͤndenker innerhalb der Stadt Weich-
bild , ſtatt der veralteten Muſen inſpirirten .
Die gaften ſie nun des Tages wohl mehr-
malen an ; jedoch nicht mit phyſiognomi-
ſchen Sinn , ſondern mit fleiſchlichen Be-
gierden , wie ich leider wohl auch das Pro-
fil der Sophie betrachtet hab .
Alſo hatt’ ich mit aller meiner Muͤh in
zwey ganzen Tagen fuͤr Geiſt und Herz
nicht ſo viel gewonnen , als der Haber werth
war , den der Wirth fuͤr meine Gaͤul an-
ſchrieb . Fand unter keinem Becher das
Kuͤglein , das ich ſuchte , und war in dem
naͤmlichen Fall meines Reutknechtes Adam ,
der auf dem Jahrmarkt einem Becherſpieler
und Riemenſtecher in die Haͤnde fiel , groſ-
ſen Gewinſt hofte , immer den leeren Be-
cher
cher oder das unrechte Ende traf , und ſei-
nen Jahrlohn druͤber verſpielte . Dennoch
unterließ ich nicht , meine Spekulationen
uͤber die witzigen Koͤpf’ zu machen , die ich
vor Augen gehabt hatte , forſchte fleißig
nach dem Genieausdruck in ihren Lineamen-
ten , wiewol vergebens . Stirn , Augen ,
Naſe , Mund , ja Haar und Bart war bey
allen wie es bey gemeinen Menſchen zu ſeyn
pflegt . Auſſerdem fand ich einige ſo uͤbel
gebildet wie die Schuſter . Konnts meiner
Jmagination nicht wehren , etlichen dieſer
Herren den Pechdrath in die Hand zu ge-
ben , und ſie mit dem Schurzfell vor dem Leib ,
einen ledernen Kaͤpplein auf den Haupt , und
mit aufgeſtreiften Armen auf den dreybeinig-
ten Schemel zu verpflanzen , wo ſie ſich ſchier
beſſer ausnahmen als hinterm Schreibpult .
Dieſe Jdee haͤtte mich bald wieder irr
gemacht ; wenn mit der geringſten veraͤn-
derten Aeuſſerlichkeit des Aufputzes , ſprach
ich,
ich , ein Kopf , worinn Genie wohnt ,
ausſieht wie ein mißgeſtalteter Schuſter-
kopf , wie kann ich einem nach phyſio-
gnomiſchen Regeln abmerken , ob er ſei-
nem aͤuſſern Beruf nach ein Genie oder ein
Schuſter ſey ? Aber da wehet ’ mich , weil
ich eben in Leipzig war , vermuthlich von
dem Grabhuͤgel meines ehemaligen Lehrers
des ſelgen Cruſius , ein philoſophiſches Luͤft-
lein an , das mir wohl zu Statten kam ; fiel
mir bey das principium indiſcernibilium ,
an das ich in Wahrheit ſeit zwanzig und
mehr Jahren nicht gedacht hatte . Dadurch
wurd ich belehrt , daß bey der anſcheinen-
den Aehnlichkeit zweyer Ding’ , ſo groß ſie
auch ſey , dennoch Merkmaale gnug uͤbrig
bleiben , dadurch ſie ſich von einander un-
terſcheiden , nur muß der Beobachter kein
Dreyſchrittſeher ſeyn , ſondern Auge gnug
haben , den Unterſchied zu bemerken , folg-
lich wird ein geuͤbter Phyſiognomiſt den ſim-
peln
peln Schuſter und das Genie mit den Aeuſ-
ſerlichkeiten eines Schuſters gar leicht von
einander trennen koͤnnen . Zum andern
fuͤhlt ich , daß ich bey dem ſchnellen Lauf
meiner Schluͤſſe , mit dem Kopf gegen ei-
nen logikaliſchen Balken angerennt ſey ;
denn wo ſtehet geſchrieben , daß Schuh- und
Genieweſen nicht unter einem Huth herber-
gen koͤnne ? Da doch die Reiſenden ver-
ſichern , daß zu Dublin im Koͤnigreich Jr-
land ein Silberſchmidt und ein Buchhaͤnd-
ler in einem Laden , und wiederum ein Satt-
ler und eine Putzhaͤndlerin in dem andern
zuſammen feil zu haben pflegen , ohne daß
eins das andere in ſeinem Gewerbe ſtoͤhrt .
Und beweißt nicht Hans Sachs , der Maͤr-
tyrer aller Abwechſelungen unſers deutſchen
Dichtergeſchmacks , der noch bey Menſchen-
gedenken zur lauten Lache verurtheilt war ,
und nun vermoͤge in offenem Druck ausge-
gangenen Patentbriefs , aus einem verbli-
chenen
chenen Meiſterſaͤnger zum großen Dichter-
genie iſt umgeſtempelt worden ; beweißt
nicht der alte Meiſter Schuſter , der den
Nuͤrnberger Witz zuerſt in ſolche Aufnahme
gebracht hat , daß er dem Straßburger Ge-
ſchuͤtz und Augſpurger Geld iſt gleich ge-
ſchaͤtzt worden , und ſeiner poetiſchen Ver-
dienſte halber , neuerdings Bewunderer ,
Nachahmer , Beſchuͤtzer , Verleger und
Subſcribenten gefunden hat : daß ein Schu-
ſter , ungeachtet ſeiner Mißgeſtalt , ’n Ge-
nie ſeyn koͤnne ? Die Genielinie iſt ja nicht
die Schwunglinie der Schoͤnheit , jene kann
krumm und hoͤckerich ſeyn ; aber das kann
dieſe nicht . Daher meyn’ ich , der herzgute
Lavater habe die ehrſame Schuſtergewerk-
ſchaft in Zuͤrch leichter zufrieden ſtellen , und
mit geringern Speſen abkommen koͤnnen ,
wenn er ſie fuͤr die den Zunftgenoſſen attri-
buirte Mißgeſtalt , durch Genieblick entſchaͤ-
diget haͤtte , welches er mit gutem Gewiſſen
haͤtte
haͤtte thun koͤnnen ; denn es wird nicht leicht
eine Art Leute zu finden ſeyn , die mehrere
Genies unter ſich aufzuweiſen haͤtte , als eben
die Schuſter . Das waͤr meinem Beduͤnken
nach eine ſchicklichere Reparation d’honneur
geweſen , als daß er ſich die perſoͤnliche
Servitud der Gevatterſchaft rings herum
bey der ſo zahlreichen Gewerkſchaft aufge-
buͤrdet hat .
Sah wohl , daß Spleen und uͤble Laune
mich in den obigen Wirbel von Trugſchluͤſ-
ſen hinein gezogen hatten und ſchaͤmte mich
derſelben . Dieſer Unmuth war jedoch ſehr
verzeihbar , weil ich mich in meiner Erwar-
tung ganz getaͤuſcht ſah und weder Phy-
ſiognomen noch Genies fand . Soll in Leip-
zig , wie ich nachher erfuhr , die lezte Gat-
tung dennoch aͤcht und unverfaͤlſcht zu ha-
ben ſeyn , der Fehler lag nur darinn , daß
ich ohne Kundſchaft gereißt war , nun auf
Geradewol in den Gluͤckstopf griff und eitel
Nie-
Nieten zog . Denn mein Cicerone , der
mich herum fuͤhrte , war der Hausknecht ,
der konnte freylich nicht zween Herren , dem
Gaſtgeber und dem Apollo , zugleich dienen .
Die Geſellſchaft der Funfzehner , bey de-
nen ich muͤde Bein und uͤbeln Humor gehabt
hatte , waren meinem Beduͤnken nach ins-
geſamt Seidenſchwaͤnze , mit den Blumiſten
zu reden , mit denen es noch nicht zum
Durchbruch kommen war , muß die Zeit
lehren , ob einer oder der andre von ihnen
einmal hohe Farben ſpielen , und unter die
Numer kommen werd’ , oder ob ſie ihr Leb-
tag im Rummel bleiben .
Meine verlohrne Muͤh und Wege wur-
den mir indeſſen doch auf gewiſſe Art , durch
eine lehrreiche Bekanntſchaft verguͤtet . Traf
ſich , daß ich auf ein Koffeehaus kam , wo
alles von Leuten lebt ’ und webt’ , die
ihre Grillen verſcheuchen , oder durch Ge-
ſpraͤch und Spiel das Gemuͤth aufheitern
woll-
wollten . Jch ſezt mich , meiner Gewohn-
heit nach , in einen Winkel , den Hut tief
ins Geſicht gedruckt , mit ineinander ge-
ſchlungenen Armen , und gloſtert ganz in
mich gekehrt , wie’s der rechten Phyſiogno-
miſten Art iſt , unter der Krempe hervor ,
daß ein Kunſtgenoß , wenn er gegenwaͤrtig
geweſen waͤr , an mir den Geſtalten ſtill in
ſich trinkenden Seher wuͤrde bemerkt haben .
Denn ich bin der feſten Meynung , daß ein
Phyſiognomiſt den andern auf den erſten
Anblick eben ſo gewiß und unfehlbar zu ent-
decken vermoͤgend ſey , als ein Bruder Mau-
rer den andern . Bald vermuth ich gar ,
daß phyſiognomiſche Kunſt eins von den
Ordensgeheimniſſen ſey ; wie waͤrs ſonſt
moͤglich , daß ein Maurer , wenn ’s ihm
nicht der Gefuͤhlsblick ſagt’ , einen unbe-
kannten Bruder , den er nie mit Augen ge-
ſehen , ausſpaͤhen koͤnnt , ohne daß ein Drit-
ter jemals errathen hat , wie das zugeh ?
D Jch
Jch denk wohl , ich ſey nah dabey , das zu
loͤſen : glaub ’ , daß der ehrwuͤrdige Maurer-
Orden das Kunſtgeheimniß lang beſeſſen
hat und noch Gebrauch davon macht , ob
ſichs gleich die Glieder oͤffentlich nicht aus-
thun . Der ehrliche Lavater iſt ihnen her-
nach auf die Spur gekommen , und wie der
nichts auf dem Herzen behalten kann , was
er dem gemeinen Nutzen vortraͤglich haͤlt ,
hat er , weil er ’s durft’ , das laut geſagt ,
was andre in Geheim ſchon vor ihm wuß-
ten . Sind mehr Ding zwey und mehrmal
erfunden worden , wie das Kunſtwerk der
Luftpumpe , das zu gleicher Zeit im deut-
ſchen Vaterland und in England zum Vor-
ſchein kam , das Geheimniß , Porzellan zu
machen , und unzaͤhlich viel chymiſche Ding .
Mit der Auslegung der mancherley Ge-
ſichtsformen , die aufm Koffeehaus vor mir
herum gaukelten , macht ich bald reine Ar-
beit . War auſſer einer einzigen keine frap-
pante
pante drunter ; aber die eine zog all mein’
Aufmerkſamkeit auf ſich . Stund ein etwas
kurzer ſtaͤmmiger Mann beym Ofen , deſſen
Geſicht der ganzen phyſiognomiſchen Kunſt
Hohn ſprach , daß ich ihm keinen feſten be-
deutſamen Zug abgewinnen konnt , ob ich
gleich einigemal hart an ihn ſezt . Fand ,
daß Saſto gar recht geſagt hatte , je weni-
ger einer von einer Sach begreift , deſto
mehr macht er ſich damit zu ſchaffen ; ich
ſann und ſann , meine Spaͤhkraft fruchtet’
nichts , und der phyſiognomiſche Magnetiſ-
mus blieb unwirkſam , nicht anders als
wenn der Mann einen verborgnen Talis-
mann an ſich truͤg . Weil ich nichts poſi-
tives heraus bringen konnt’ , wie’s zuwei-
len begegnet , mußt ich Lehrlingsarbeit thun
und mich an die negative Deutung halten .
Jn dieſem Geſicht , ſprach ich heimlich zu
mir , find ich keine ſcharf und feſtgezeichne-
ten noch tiefliegende Augen , auch keine Aug-
D 2 brau-
braunen von ſtarken gedraͤngten Haaren ;
nicht Augbraunen , die nah auf den Augen
liegen , keine ſcharf verbiſſenen Lippen ;
keine braune , lederartige , trockne , ſchwer-
bewegliche , gleichgeſpannte Haut ; keinen
oben flachen Schaͤdel , auch kein perpendi-
kulaͤres Hinterhaupt , wenn anders der Um-
fang der Peruck , den ich hier auf Treu und
Glauben annahm , nicht eine erdichtete Ge-
ſtalt vorlog , und ausgepolſtert war , wie
die Duͤnnbewadeten ihre magern Stelzen
auspolſtern und hinter Wadenkommiſſarien
zu verſtecken pflegen . Aber die wellenar-
tige Oberflaͤche des ganzen Geſichts floß
dergeſtalt in einander , wie die Oberflaͤch ’
eines ſtehenden Sees , welche der Wind man-
nichfaltig kraͤuſelt , daß es das Auge wahr-
nehmen , der Beobachter aber die kleinen
Wellen nicht zaͤhlen , oder ſie genau von
einander unterſcheiden kann .
Nach
Nach dieſer vollendeten Operation erin-
nert’ mich mein Gedaͤchtniß an zweyerley .
Erſtlich an die Fragmente , wo die Abwe-
ſenheit der erzaͤhlten Charaktere zu einem
Vermuthungsgrunde des Daſeyns eines
Dichters gemacht wird . Denn was mir
auch mein logikaliſcher Gnomon von den
puris negativis dagegen einwand’ , fand
ich doch keinen Beruf , jezt ſein Schulge-
ſchwaͤtz zu hoͤren . Hernach fiel mir ein ,
daß es ſchon einen Beobachter , der die
Phyſiognomie eines Dichters belauſchen
wollt’ , eben ſo ergangen ſey , wie mir mit
dem quaͤſtionirten Unbekannten . Hat der-
ſelb’ , nach ſeiner eignen Ausſag’ , Lavaters
ganze Phyſiognomik vergeblich durchblaͤt-
tert , um Wort’ und Ausdruͤck ’ zuſammen
zu ſtoppeln , ſein vorhabendes Dichteran-
tlitz zu beſchreiben . Warum das nicht ge-
lungen ſey und auch nicht hab gelingen koͤn-
nen , davon vermeyn ich im Stand zu ſeyn ,
D 3 guten
guten Bericht zu geben . Denn wenn ſichs
ſo in der That verhaͤlt , wie eben dieſer
Skribent berichtet , daß der Dichter in ſei-
ner Kraft das wunderbarſte Geſchoͤpf auf
Gottes Erdboden iſt , daß ſeine Seele ſcheint
eine Menſchenſeel zu ſeyn und es doch nicht
iſt , daß er von der Flamme des Himmels
durchgluͤhet , ſcheint auf Erden zu leben ,
und lebt im Aether , — obgleich einige Na-
turkuͤndiger den Aether fuͤr ein Unding hal-
ten : — ſo iſt leicht zu erachten , daß eine
Seel , die eigeutlich keine Meuſchenſeel iſt , und
die nicht einmal auf Erden lebt , ſondern oben
an der blauen Decke des Aethers wie eine
Schmeißfliege am Plofond des Speiſege-
machs herumſumſet , nicht einen wahren ,
ſondern nur einen ſcheinbaren menſchlichen
Koͤrper auszuſpinnen vermoͤgend ſey .
Daher die Schwuͤrigkeit Dichterphyſio-
gnomien zu analyſiren , zu beſchreiben , oder
auch nur zu zeichnen . Wo hat je ein Dich-
ter
ter ſeine Abkonterfeyung fuͤr ſein Geſicht
erkannt ? Behaupten ſie nicht alle , der
Grabſtichel oder der Pinſel des Kuͤnſtlers
hab ihre Zuͤg verfehlt ? Hat Bauſe ſelbſt
bekannt , bey einer Suite von Dichterkoͤpfen
muͤſſen ſich Mengs , Meil und Er um ihre
Kuͤnſtlerreputation arbeiten , da halt’ kein
Zug einen Augenblick ſtill , drum waͤren auch
alle Dichterkoͤpf in der Phyſiognomik ver-
pfuſcht , oder nach Lavaters Ausdruck ver-
nuͤrnberget . Dahingegen einen Neuton ,
Leibnitz , Locke , Wolf , oder irgend einen
der abgelebten oder noch lebenden Philoſo-
phen mit ſprechender Aehnlichkeit in Erz zu
graben , nur Spielwerk und Feyerabends-
arbeit ſey ; da ſteh jeder Zug ſtet und feſt ,
und halte ſtill wie ein Lamm . Auch mache
Voltaͤr hier keine Ausnahme , denn alle ihm
gleichenden Abbildungen ſeyen nur des Phi-
loſophen , keine des Saͤngers der Henriade
oder der Pucelle . Daraus legt ſich , denk
D 4 ich,
ich , klar zu Tage , wie ſchwer es ſey , einen
Dichter phyſiognomiſch zu analyſiren . No-
tabene verſteht ſich , daß der Dichter nichts
ſeyn muß als Dichter , denn wenn er zum
Exempel ein Schuſter dabey waͤr , ſo iſts
was anders , da ſcheint die irdene Form der
Schuſterphyſiognomie durch , und verſchlingt
die wellenartige Zuͤge des Dichters fuͤr ein
gemeines Auge ganz , welche vielleicht La-
vaters Adlerauge auf dieſer Welt ganz al-
lein noch aufzuſpuͤren vermag . Wenn ſich
nun ein Geſicht durchaus nicht phyſiogno-
miſch verarbeiten laͤßt , hab ich mir aus
dieſen erzaͤhlten Betrachtungen die Regel
gemacht , daß ich den Kopf , dems zuge-
hoͤrt , ſo lang fuͤr einen Dichter anſprech’ ,
bis mir Freund L. die Linien von Koͤpfen
hinzeichnet , die Dichter ſeyn muͤſſen , und
von Koͤpfen , die nicht Dichter ſeyn koͤnnen .
Wenn wir erſt dieſes Eyermaas haben , als-
denn iſt ’s keine Kunſt mehr , die flachen ,
ſcha-
ſchalen , duͤnnen , und Spitzkoͤpf , die durch-
ſchluͤpfen , und an denen man jezt zur Zeit
ſo leicht irr wird , auszuſchießen und beyſeit
zu thun .
Solchergeſtalt philoſophirt’ ich mir aus
dem Mann vor’m Ofen ein Dichtergenie
’raus , daß ich gleich ein juramentum cre-
dulitatis drauf haͤtt’ ſchwoͤren wollen , daß
er eins ſey . Nur war die Frag , wie er
mit Namen heiße , damit ich wiſſen moͤcht’ ,
in welche poetiſche Atmoſphaͤre der Zufall
mich heut gewaͤlzt haͤtt . Jch beſah meinen
Mann von Kopf zum Fuß , bemerkt , daß
er einen rothen Pluͤſchſammtnen Rock trug ;
obs gleich ſo ſchwuͤl Wetter war , daß eine
Ananas unter freyem Himmel haͤtt reifen
moͤgen , dabey hatt’ er eine lederfarbene
Weſt ’ und Unterkleider . Jn dieſer Tracht
waͤr er nun wohl an keinem Hof in Deutſch-
land Aſſambleefaͤhig geweſen , wenns auch
gleich mit der Ahnentafel ſeine gute Rich-
D 5 tig-
tigkeit gehabt haͤtt . Doch eben das be-
ſtaͤrkte mich in der Jdee von ſeinem Genie-
weſen ; denn weil die Genies koͤnnen was
ſie wollen , ſo thun ſie gemeiniglich was ſie
wollen , und binden ſich nicht ſo genau an
die Sitte des Landes . Hiernaͤchſt blickt’
aus ſeinen Bewegungen und Minen ein ge-
wiſſes Gefuͤhl des Uebergewichts uͤber den
Haufen der anweſenden Crethi und Plethi
hervor , obs willkuͤhrlich oder unwillkuͤhrlich
war , konnt ich nicht unterſcheiden . Son-
derbar war die Art , wie er die Tobacks-
pfeife in die Hoͤhe hielt , daß der Marqueur ,
der den Weg drunter weg Amtshalber gar
oft gehen mußt , dieſes ganz gemaͤchlich ver-
richten konnt . Bließ auch nicht minder von
Zeit zu Zeit Dampfwolken , mit einem An-
ſchein von Superioritaͤt auf zehn rheinlaͤn-
diſche Schuh weit von ſich , wie ehedem der
Goͤtze Buͤſterich Feuerſtrahlen aus ſeinem
Munde .
Ur-
Urploͤtzlich baute ſich von allen dieſen
Materialien , durch eine ganz natuͤrliche Aſ-
ſociation , meine Phantaſie ein koloſſaliſches
Dichterbild zuſammen , daß ich nicht anders
meynt’ , ich ſaͤhe den Barden vor mir , der
uns das Bardiet verliehen hat . ’S lief
mir eiskalt uͤber die Haut ; denn die uͤber-
raſchende Entzuͤckung drang mir einen hei-
ligen Schauer ab , und ich war eben im
Begriff , die Knie meines Herzens vor ihm
zu beugen , als mir der Zweifel beyging , wo
der große Mann eben jezt hierher kommen
ſollt’ , nach Leipzig auf ein Koffeehaus , und
zwar ſo einſylbig , ohne das Gefolge der Le-
gionarien und Trabanten von Anſtaunern
und Bewunderern um ſich her . Das kann
wohl nicht ſeyn , dacht ich , ’s waͤr’ denn
Sach , daß er in republikaniſchen Kongreß-
angelegenheiten eine Reiſe durch die Pro-
vinzen macht ’ in ſtrengem incognito , wie
die anonymen Schriftſteller herum wandern ,
und
und in keinem Thor ihren rechten Na-
men ſagen .
Jndem ich ſo ſpekulirt , hatte der Unbe-
kannte ausgeſchmaucht , klopfte bedachtſam
die Pfeife aus , ſucht einen ledigen Stuhl
und pflanzt ſich ganz gravitaͤtiſch gegen mir
uͤber an meinen Tiſch , recht wie ichs wuͤnſchte .
Jch ſaͤumt nicht lange , mit ihm eine Un-
terredung anzuſpinnen , und wir katechiſir-
ten einander drauf folgendermaßen .
Mit Erlaubniß mein Herr , daß ich fra-
gen mag , ſind Sie ein Dichter ?
„ Ja und nein mein Herr , wie Sie
wollen . „
Wie iſt das gemeint ?
„ Ehedem wie die Gelegenheitsgedichte
noch Abnehmer fanden , verlieh ich meine
Muſe wie ein Miethpferd . Alle Kunden ,
die der ſelge Gellert von ſich wieß , pflegt’
ich zu bedienen , und nutzte dies Gewerbe
als eine Leibrente ; nun dieſe kaduck gegan-
gen
gen iſt , hab ich allen Gerechtſamen des
Helikons entſagt . „
Jſt das Scherz , oder ſolls geernſtet ſeyn ?
„ Warum Scherz ? „
Weil ich gegruͤndete Urſach hab’ zu ver-
muthen , daß ich den erſten Dichter Deutſch-
lands hier gegen mir uͤber hab ’ .
„ Mein Herr , ich koͤnnte Jhnen ihre
Frage jezt zuruͤckgeben . Aber ich verſichre
Sie , daß mich Deutſchland nicht als Dich-
ter kennt und auch nie kennen wird . Denn
ich hoffe nicht , daß Caſpar Fritſch ſich an
mir eben ſo wie an dem ſelgen Gellert ver-
ſuͤndigen , und nach meinem Tode meine
Caſualprodukte unter dem Titel vermiſchter
Gedichte eigenmaͤchtig ans Tageslicht ſtel-
len wird . „
Entweder Herr , Sie halten maͤchtig hin-
term Berge , oder ich irre mich in der Perſon .
„ Das lezte gewiß ; denn ich rede mit
aller Aufrichtigkeit , und die mehreſten Her-
ren
ren aus der Geſellſchaft werdem das auf
Verlangen mit ihrem Zeugniß verbuͤrgen . „
Jch faßte meinen Mann ſcharf ins Auge ,
konnt ihm keine Schaͤlkeley abmerken , mußt’
ihm deshalb Glauben beymeſſen . Frug
weiter : Wer ſind Sie und was bedienen
Sie ?
„ Geht dieſe lezte Frage aufs buͤrgerliche
Leben oder aufs litterariſche ? „
Je nun , wenn Sie wollen , auf beydes .
„ Jm buͤrgerlichen Leben hab’ ich keine
Bedienung , denn die Qualification als no-
ſtrificirter Magiſter , gilt da ſo viel als gar
nichts . Aber in der gelehrten Republik
bin ich angeſtellt , habe da mein Aemtgen ,
das mir Brod giebt auf Lebenszeit . „
Herr , ſind Sie Aldermann , oder Zunft-
meiſter , oder Sprecher , oder Schreyer des
großen Volks ? ’S gilt mir gleich , wer Sie
auch ſind , ſo ſind Sie mir willkommen , hab
lang nach einem ſolchen Republikaner ge-
trach-
trachtet , mich mit ihm mal auszuſchwatzen .
Holla ! Eine Flaſch acht und vierziger .
„ Alles das bin ich nicht . Jhre Freude
uͤber meine Bekanntſchaft wird ſich vermuth-
lich maͤßigen , wenn ich Jhnen ſage , daß
ichs nicht hoͤher als auf den Nachtwaͤchter
habe bringen koͤnnen . Jch bin aus dem
Geſchlecht der Wabbel , wohn’ im Buch-
machergaͤßgen und ſtehe bey der hieſigen
Ueberſetzerfabrick ſchon zweymal fuͤnf Jahre
und ſieben Tage in Arbeit . Nun wiſſen
Sie hoffentlich alles was Sie von mir zu
wiſſen begehrten . „ — Hier ſtund er auf
und wollt’ ſich empfehlen . —
Herr , ſprach ich , wenn Sie nicht auf
ihren Poſten muͤſſen , ſo bleiben Sie . Ein
Nachtwaͤchter iſt in meinen Augen auch ein
ehrlicher und brauchbarer Mann , mit dem
ich mir kein Bedenken mach’ , einmal her-
um zu trinken , ob das gleich nicht jeder-
manns Sach ’ iſt , weil dieſe Art Leute oft
an-
geſtellt werden , ein Kloak auszutragen ,
welches einige Handwerker und Zuͤnftler fuͤr
unehrliche Handthierung halten . — Aber
ich begreifs doch wahrlich nicht , wie meine
Augen einen ſolchen Fehl gebehren konnten .
Auf Ehr und Gewiſſen , ich vermeint in
Jhnen einen großen beruͤhmten Dichter vor
mir zu ſehen !
„ Was bewegte Sie , das zu glauben ? „
Drey Ding , erſtlich Jhre Phyſiognomie ,
die nach allen Regeln der untruͤglichen Kunſt
reiner Buchſtab einer himmelanſchwebenden
poetiſirenden Seel iſt . Zum andern ge-
wiſſe Aeuſſerlichkeiten , die auffallend ſind ,
und dem koͤrperlichen Ausdruck eines Dich-
ters vollkommen entſprechen , vornemlich
Jhre lyriſche Kleidung . Endlich Mienen ,
Blicke und Bewegungen , aus welchen vor-
hin , als Sie vorm Ofen ſtunden , meiner
Empfindung nach das Gefuͤhl hervorſtrahlt’ :
ich bin ’n großer Mann , hab’ durch mein
Mei-
Meiſterwerk mir Unſterblichkeit errungen ,
du Pygmeenvolk da unter mir , blick auf
und ſchau wie ich den Lorbeer- und Eichen-
kranz ſchuͤttel , der um meine Schlaͤf’ weht .
„ Kennen Sie den Dichter von Perſon
fuͤr welchen Sie mich anſahen ? „
Nein , hab ihn nie mit Augen geſehn ;
aber das thut nichts zur Sach’ , ich kenn
ihn gnug aus ſeinem Meiſterwerk — —
„ Was iſt das ? „
Die Meſſiade , die Oden , das Bardiet ,
die Sinngedichte und die Parabel .
„ Viel Ehre ! Sie ſahen mich alſo fuͤr
Klopſtock an ? Es haben mir mehr Leute
geſagt , daß ich ihm gleichen ſoll ; aber Sie
ſehen wohl : der Schein betruͤgt . „
Herr es iſt nicht bloßer Schein , ich be-
ſitz das Kunſtgeheimniß , gleich auf den er-
ſten Anblick jeden , der mir aufſtoͤßt , fuͤr
das anzuſprechen , was er iſt ; er ſey ein
Fuͤrſt , ein Arzt , ein Officier , ein Rechts-
E ge-
gelehrter , Dichter , Denker , Seher oder
was ſonſt .
„ Diesmal hat Sie gleichwol ihre Kunſt
verlaſſen . „
Das ſeh ich , und begreif’s eben nicht .
„ Jch begreif’s aber wohl , daß ſich das ,
wenn Sie ein Proſopomant oder Geſichts-
gucker ſind , gar oft begeben muß . „
Wes Glaubens ſind Sie ?
„ Jch bin ein Pnevmatomant , oder beſ-
ſer , ein Pſychognomiſt . „
Was iſt das ?
„ Einer , dem die Gabe verliehen iſt , die
Geiſter zu pruͤfen . „
Wie geſchieht das ?
„ Durch einen genauen Umgang , durch
Aufmerkſamkeit auf Aeuſſerungen , Hand-
lungen und Thatſachen der Perſonen , deren
Charakter ich beurtheilen will . Wo mir
dieſe Kriterien fehlen , urtheil ich entweder
gar nicht , oder ſuſpendire mein Judicium
ſo
ſo lange , bis ich nach der Vorſchrift des
Meiſters meiner Schule , des ehrwuͤrdigen
Ariſtoteles , den Scheffel Salz mit ihnen
verzehrt habe , den er zum Pruͤfungsmittel
verordnet hat , und ich verſichre Sie , daß
meine Kunſt weit ſeltner truͤgt , als die ih-
rige . „
Raͤum’s ein . Wer die gebahnte Land-
ſtraß ’ haͤlt , wie ’n Fuhrmann , kann frey-
lich nicht aus dem Weg fallen ; aber wenn’s
um Eile zu thun iſt , daß er bald an Ort
und Stelle ſeyn will , der nimmt die gerade
Linie , und macht ſich Weg , wo vor keiner
war .
„ Aber der eilfertige Wandrer ſtolpert
auch leicht uͤber einen Stein , oder eine
Wurzel , die ihn vor die Fuͤße kommt .
Wenn Sie in der Landſtraße geblieben waͤ-
ren , mein Herr , den Dichter nicht in den
Geſichtslinien , ſondern in den Gedichten
geſucht ; meine Traueroden den fruͤhen Graͤ-
E 2 bern,
bern , oder die Oden an Cidli meinen Hoch-
zeitgedichten gegenuͤbergeſtellt haͤtten , nicht
aber meine Phyſiognomie dem Jdeal , das
Sie ſich von dem Kaiſer der Dichter ge-
macht haben : ſo waͤr mir ſchwerlich die Ehre
zu Theil worden , mit dieſem verwechſelt zu
werden . Aufrichtig von der Sache geſpro-
chen : der Barde Klopſtock iſt Menſch ge-
bohren , kein Weſen einer hoͤhern Art , wird
folglich an Gebehrden wie ein Menſch er-
funden . Das hohe Dichtergefuͤhl iſt ſeiner
Seele , nicht ſeinem Koͤrper aufgedruͤckt ,
und wenn dieſes Gefuͤhl den Geſichtszuͤgen
des Dichters zu Zeiten eine pathognomiſche
Richtung giebt ; einen Ausdruck des Nach-
denkens , der Aufmerkſamkeit , einiger Be-
trachtung und Vergegenwaͤrtigung gewiſſer
Jdeale ; oder mit kraͤftigern Kunſtwoͤrtern
der Modeſprache , die jedoch im Grunde
nichts mehr und nichts weniger ſagen , des
Empfangens , Schwebens , Durchblickens ,
Ergreif-
Ergreifens , Ueberſchauens : ſo ſieht doch
der Dichter beym Schoͤpfungswerk einer
Ode , nach vorausgeſezter Uebereinſtimmung
ſeiner Geſichtszuͤge mit den meinigen , nicht
anders aus als ich , wenn ich auf meinem
Weberſtuhl ſitze , und das Ueberſetzerſchiff-
lein behend durch den Zettel des Originals
laufen laſſe , daß mein Tagewerk gefoͤrdert
werde . Da haben wir beyde das Anſehen
denkender Koͤpfe , die einer Sache nach-
ſinnen ; und mehr vermag kein menſchlich
Auge , mit oder ohne Adlerblick , das unſre
Relationen nicht anderweit kennt , mit Zu-
verlaͤßigkeit zu entdecken . Auſſerdem aber ,
noch dazu im Ruhepunkte betrachtet , wenn
der Dichter auf der Poſt faͤhrt , oder auf
Schlittſchuhen ; am Boſtonianiſchen Frey-
heitsſtabe luſtwandelt , oder ein Pferd tum-
melt , wo ſoll da ſein poetiſcher Geiſt her-
vorleuchten , daß jemand ſagen koͤnne : die-
ſer Fußgaͤnger , oder dieſer Reuter iſt ein
E 3 Dich-
Dichter ? Jn der That , da iſt wohl Klop-
ſtocks Geiſt ſo wenig ſichtbar , als es der
Geiſt des großen Ludwigs war , der am
Tage Flotten ausruͤſtete , Schlachten ge-
wann , große Plans dachte , und das
Schickſal von Europa entſchied , wenn er
des Abends einer Favoritin im Arm lag ,
oder bey ihrer Entbindung aßiſtirte , und
ſeine Hoheit ſo weit vergaß , daß er dem
Geburthshelfer zu trinken einſchenkte . „
Halt der Herr ein mit ſeiner Red ’ , ſie
beginnt einen Zufluß zu gewinnen wie ein
Strohm , der ſich uͤber’s Ufer erhebt und’s
Blachfeld weit umher uͤberſchwemmt . Jch
vermerk’ wohl , daß wir in unſern Grund-
ſaͤtzen weiter aus einander ſind als Zenith
und Nadir , wird keiner den andern bekeh-
ren oder von ſeiner Meynung uͤberzeugen .
Jezt hoͤr der Herr mich an , will ihm Be-
ſcheid geben , weils doch einmal am Tage
liegt , daß ich den Nachtwaͤchter der gelehr-
ten
ten Republik fuͤr den Conſul angeſehen ,
welches einem an einen fremden Ort wohl
begegnen kann , wie mein Jrrthum , ob-
ſchon Jrrthum , dennoch vernuͤnftigen Grund
hab , und mithin philoſophiſche , nicht
ſchwaͤrmeriſche Phantaſey iſt . Jch bekenn’
und leugne nicht , daß der edelgedraͤngte
Juͤngling , der ſich fuͤr Klopſtocks Schoß-
juͤnger ausgiebt , und all’ die Partikularia ,
die er von ſeinem Lehrprinz in Erfahrung
gebracht hatt’ , aus Herzensdrang gegen die
vier Winde des Himmels ausgepoſaunt ,
mich zu dem Wahn verleitet hat , ich koͤnn
hier das Original des Fragments mit Haͤn-
den greifen . Denn da mir mein Gefuͤhls-
blick ſagte , der Herr ſey ein Dichter , wor-
inn ich gleichwol recht geurtheilt hab , und
nun weiter frug : welcher ? So fielen mir
zwey ſo individuelle Umſtaͤnd’ in die Augen ,
wodurch der Biograph ſeinen Helden charak-
teriſirt , daß ein ganz unphyſiognomiſcher
E 4 Kopf
Kopf drauf verfallen waͤr , einen Mann
mit eben dieſen ausgezeichneten Aeuſſerlich-
keiten , fuͤr den Barden anzuſprechen . Ue-
berleg der Herr ſelbſt : Kl. Ober- und Un-
terkleider harmoniren nicht allemal , die Jh-
rigen eben ſo wenig ; er traͤgt einen rothen
pluͤſchenen Rock , der Herr traͤgt auch einen ;
und dieſer Rock bey dieſer Witterung iſt eine
ſolche poetiſche Anomalie , die die Vermu-
thung zu einer moraliſchen Gewißheit er-
hoͤht . Das all iſt nichts gegen das was
kommt . Das Fragment berichtet weiter ,
daß aus der Art , wie Klopſtock ſeine To-
backspfeife in die Hoͤh ’ haͤlt , wenn er am
Ofen ſteht , das Gefuͤhl ſtrahlt : ich bin
Klopſtock . Nun traf ſichs gerad , daß un-
ter den dreyßig und mehr Perſonen hier ,
als ich hereintrat , der Herr allein ſeinen
Platz beym Ofen genommen hatt’ , und
manoͤvrirt mit ſeiner Pfeif ’ genau auf vor-
beſchriebne Art himmelan , welches keiner
der
der uͤbrigen Schmaucher thaͤt , die ihre
Pfeifen ganz beſcheidentlich vorwaͤrts ſinken
ließen . Schaut’s der Herr ! das iſt der
eigentliche Verlauf der Sach ’ . Nun ent-
ſcheiden Sie ſelbſt , ob ich vernuͤnftiger-
weiß’ , mit der kaͤlteſten Ueberlegung , an-
ders urtheilen konnt , als ich wirklich gethan
hab .
„ Jhr Verſtand iſt in meinen Augen ge-
rechtfertiget und auch ihr Urtheil ; dieſes iſt
ſo , wie die groͤßten Phyſiognomiſten unſrer
Zeit zu urtheilen pflegen , die aus der Form
aͤhnlicher Naſen die nemlichen Schluͤſſe zie-
hen , die Sie aus der Materie und Farbe
aͤhnlicher Kleider zogen . Gegen die ge-
ſunde Urtheilskraft des Klopſtockiſchen Bio-
graphen aber hab’ ich ſehr vieles . „
Und was ? Sag der Herr an .
„ Erſtlich , daß der Schwindelkopf me-
chaniſche Bewegungen ſeines Helden ſo an-
ſtaunen und ihnen Bedeutungen beylegen
E 5 kann,
kann , die kein Geſunder traͤumt ; uͤber die
natuͤrliche Urſache derſelben , die jedem in
die Augen faͤllt , aber gefliſſentlich hinweg-
ſieht . So liegt zum Beyſpiel die Urſache
des Klopſtockiſchen Pfeifenſchwunges hoͤchſt-
wahrſcheinlich nicht in dem Gefuͤhl : ich bin
Klopſtock ; wahrlich ! da waͤr mir der Mann
laͤcherlich und veraͤchtlich , wenn er ſeine
Tobackspfeife , oder gar die Nachtmuͤtze
zum Herold ſeines Ruhms brauchte , ſo
eine ausgeſuchte Thorheit koͤnnte keine Meſ-
ſiade wieder gut machen . Ganz natuͤrlich
liegt der Grund hiervon in der Beſchaffen-
heit des Tobacks , wenn dieſer zu feucht
iſt und ſchlecht brennt ; oder in der Me-
thode ihn zu rauchen , wenn er zu ſparſam
den Rauch in den Mund zieht , und be-
fuͤrchtet , die Pfeife moͤchte verloͤſchen , ſo
erhebt er ſie , nach der bekannten Theorie
der Schmaucher , etwas uͤber die Horizon-
tallinie und thut etliche Zuͤge ſchnell hinter
ein-
einander , um das Verloͤſchen zu verhindern .
Das war der Fall , in dem ich mich vor-
hin befand . Mit der Nachtmuͤtze hat es
gleiche Bewandniß ; ich kann Sie verſichern ,
daß ich meine Muͤtze gewiß in alle die La-
gen zu bringen pflege , in die Klopſtock die
ſeinige faltet . Wenn ich bey meiner Ueber-
ſetzerarbeit einen Gedanken nicht gleich-
ſpitzen und koͤrnen , oder einen Perioden
nicht fuͤglich runden kann ; ſo fliegt unwill-
kuͤhrlich die Muͤtze von einem Ohr aufs an-
dere ; ich ziehe ſie bald tief in die Augen ,
bald weit uͤber die Stirn zuruͤck . Wenn
es mit der Ueberſetzerarbeit nicht fort will ,
werf ich ſie zuweilen gar aus Verdruß ge-
gen die Wand . So laß ich meine Muͤtze
oft Ueberſetzerlaunen entgelten , wie die
Klopſtockiſche auſſer Zweifel poetiſchen En-
thuſiaſmus entgilt , ohne dabey Stolz zu
manifeſtiren . Zum andern iſt es unweis-
lich , augenblickliche Zufaͤlligkeiten zu Cha-
rakter-
rakterzuͤgen zu machen , und oͤffemtlich dafuͤr
auszuſchreyen . Denn dadurch wird in die
Perſoͤnlichkeit eines Mannes etwas hinein-
getragen , was entweder nicht darinnen ver-
handen iſt , oder wenn es da iſt , ſich in der
Perſon ſanfter und weniger auffallend nuͤan-
ciret , als in der groteſken Zeichnung . Jn
dem Bilde , das Meiſter Glattkinn entwor-
fen hat , ſieht Klopſtock Zug vor Zug be-
trachtet aus wie ein ſteifer ſtrotzender Pe-
dant ; in der Natur aber , als ein biedrer
geſetzter Mann , der kein Luftling iſt , auch
kein Spasmacher noch ein kriechender Schlei-
cher . Den Dichter aber und den Unſterb-
lichkeitsſpaͤher ſieht ihm keiner an , ſo wenig
als Sie mir den gelehrten Nachtwaͤchter an-
geſehen haben . Endlich find’ ich es laͤcher-
lich , daß der aufbrauſende Verherrlicher ſei-
nen Verherrlichten in ſo manche Situatio-
nen verſezt , die dem ehrwuͤrdigen Manne
ein komiſches Anſehen geben . Wie wuͤrde
ſich
ſich der Saͤnger des Meßias ausnehmen ,
wenn er eine Schlacht kommandirte ? Auſ-
ſer Zweifel wie der gleichunſterbliche Flac-
cus bey der Schlacht von Philippi . Wuͤr-
den Sie wohl unter dem Feldherrn Klopſtock
dienen wollen ? „
Wer ? Jch ? Nein , da bewahr mich Gott
vor ! Ein anders waͤrs , wenn der ſelge
Kleiſt kommandirt’ , der war Soldat und
beyher Dichter ; aber Dichter und beyher
Feldherr , — nein , das geht nicht , we-
nigſtens bey uns zu Lande . Jn Frankreich
und in der Tuͤrkey mags wohl angehen , da
kommandiren zuweilen Aebt ’ und Koͤche die
Armeen ; doch findet man eben nicht , daß
ſie viel Heldenthaten verrichtet haͤtten , wenn
ſie gleich in der Kirch und Kuͤche fuͤr Genies
moͤgen paßirt haben .
„ Wenn der Biograph ferner den großen
Mann als einen deklarirten Boſtonianer
ſchildert ; wenn er bey dieſer Gelegenheit
eines
eines ſeltſamen Ceremoniels gedenket , wel-
ches er die Rebellen beobachten laſſen ſoll ,
wenn ihm welche zuſprechen , das doch ein
hoͤchſtſeltener Fall ſeyn mag , denn die Ame-
rikaner bekuͤmmern ſich um deutſche Dichter
wohl wenig ; wenn er ihm einen Hang bey-
mißt von Scharmuͤtzeln , Attaquen und
Schlachten zu reden , und ſehr naiv hinzu-
ſezt , ſo was zu beſchreiben iſt ſein Leben :
ſo heißt das im regulaͤren Styl , Kl. kanne-
gieſert fuͤr ſein Leben gern . Und was mey-
nen Sie ? Waͤr ein Kaiſerair , wenn ’s ein
Privatmann annehmen wollte , nicht hoͤchſt
mißſtaͤndig und laͤcherlich ? Gleichwol muß
ſichs der Maͤrtyrer ſeines Anekdotenjaͤgers
von ihm attribuiren laſſen . Wenn ein ernſt-
hafter Mann , durch einen bedeutenden
mißbilligenden Blick , irgend eine Unbeſon-
nenheit eines Juͤnglings ruͤgt , muß denn
das gleich ein Kaiſerair gelten ? Solche
Kaiſerairs aus der Schulmonarchie ſind
leicht
leicht zu haben , der Rektor Schatz hat vor
ſeiner Geographie ein recht ausgeſuchtes .
Wenn doch unſre — „
Vergeß der Herr ſeiner Red nicht , in
dieſem Stuͤck geb ich Jhnen Recht . Mit
Gott dem Herrn , und mit den Erdengoͤttern
vergleich ich nicht gern etwas , ſo gemein
auch ſolch Vergleichen iſt . Drum nenn
ich kein Buch goͤttlich , als das heilige Bi-
belbuch ; auch nenn ich kein Gedicht , oder
einen Dichter goͤttlich , noch weniger einen
Komponiſten , Virtuoſen oder ein Maͤdchen ,
und ſo halt’ ichs auch mit dem Beywort
kaiſerlich , koͤniglich , oder was ſonſt den
hohen Potentaten eigentlich nur zukommt ;
bin immer eingedenk des goldenen Spruchs :
gebt dem Kaiſer was des Kaiſers iſt , und
Gotte was Gottes iſt . — Mit dem Kai-
ſerair , phyſiognomiſch betrachtet , iſts uͤber-
dies gar ein eigen Ding . Da , wo ’s nach
aller Welt Zeugniß wirklich iſt , vermags
der
der Kuͤnſtler nicht nachzubilden , oder doch
der Seher Lavater aus’m Bild nicht her-
aus zu finden ; und wo’s von Gott und
Rechtswegen nicht ſeyn darf , vermeint’s
ein Kind zu ſehen . — Nun was hatte
der Herr noch auf dem Herzen ?
„ Nichts mehr als einen uſum epanor-
thoticum . „
Wie lautet der ?
„ Wenn doch unſre Malerakademiſten ,
deren wir jezt viel haben , phyſiognomiſche
und unphyſiognomiſche , nicht ſo fruͤh , ehe
ſie den Pinſel zu fuͤhren wiſſen , ſich an
ſchwere Koͤpfe wagen , ſondern fein beym
hoͤlzernen Gliedermann idealiſcher Charak-
tere bleiben wollten , den ſie drehen und
ſchrauben koͤnnen , wie ſie wollen . Denn
ſchwere Originale vorzunehmen , und ſie
mit biſarren Schwinglinien , die nur einem
Hogarth zu Gebothe ſtehen , zu karrikaturi-
ren ; und wenn ſie ihr Hornbildgen ohne
Sinn
Sinn und Geſchmack entworfen , und mit
einem ſtrahlenreichen Heiligenſchein umzo-
gen haben , drunter zu kritzeln Sankt Jgnaz ,
oder Sankt Klopſtock , und es ſo herum zu
tragen und feil zu bieten : wahrlich ! das
iſt Frechheit und Uebermuth . Wer kein
Kenner iſt , kauft die Fratze um der bun-
ten Farben , oder des drunter verzeichneten
Heiligen willen , der etwan ſein Schutzpa-
tron iſt , praͤgt ſich ſolche ins Gedaͤchtniß ,
verrichtet aus Gewohnheit ſeine Andacht da-
vor ; kann ſichs aber nicht erwehren , zu-
weilen bey ſich zu denken : lieber Gott , ſieht
doch mein Heiliger bald aus wie der Schaͤ-
cher am Kreuz ! Jch moͤchte wohl wiſſen ,
was Kl. bey ſich gedacht haben mag , als
ihm Tellows Heft zu Geſichte gekommen
iſt . „
Wenn ſich alles ſo verhaͤlt , wie der Herr
da erzaͤhlt , und der Acht und vierziger bey
den lezten Haranguen nicht mit im Spiel
F gewe-
geweſen , und den gerechten Amtseifer ge-
gen den Biographen veranlaßt hat ; daß ihm
der Herr einige unſchuldige Wort ’ aufge-
fangen und zu Bolzen gedrehet hat , wie die
Leut , die einen ſchlimmen Trunk haben ,
zuweilen pflegen : ſo wollt ichs wohl erra-
then , wies dem guten Vater Klopſtock da-
bey mag zu Muth’ geweſen ſeyn . Mag
ihm wohl ergangen ſeyn , wie dem beruͤhm-
ten Staatsmann Graf Oxenſtirn , der pflegt
von ſich zu erzaͤhlen , er hab waͤhrend ſeiner
Miniſterſchaft in Deutſchland nur zwey
ſchlafloſe Naͤcht’ gehabt ; die erſt’ als der
Koͤnig bey Luͤtzen geblieben , die zweyte nach
der Noͤrdlinger Affaͤr’ , die uͤbrige Zeit hab’
er immer ruhig geſchlafen . So denk ich ,
hab’ der ehrwuͤrdige Bard’ , ſeit ſeinem Dich-
terberuf , der ſchlafloſen Naͤcht ’ auch nur
zwey gehabt ; die ein’ , als ihn die Berliner
gezuͤchtiget hatten , und die andr’ , als Tel-
low ihm ſein Elogium bracht’ . Mich
nimmts
nimmts nur Wunder , daß er ſo ſtill dabey
geſeſſen , und das Gemaͤchts nicht oͤffentlich
gemißbilliget hat , wenn ’s ſo unverdaut Ge-
ſchwaͤtz iſt , wie der Herr meynt .
„ Daruͤber wundre ich mich nicht : man
koͤnnte allenfalls das Stillſchweigen ſo er-
klaͤren , daß Klopſtock als ein weiſer Mann
von dem Fragment keine Notitz nehme , ſich
zu groß achte , jeder Muͤcke , die um ihn
her ſumſet , mit der Fliegenklappe nachzu-
laufen , um ſie zu wuͤrgen ; in ein paar
Jahren ſey ja ohnehin Graß uͤber den Un-
rath gewachſen . Daruͤber aber wundre ich
mich , wie die Kunſtrichter dieſe Brochuͤre
ſo ungeahndet durchſchluͤpfen zu laſſen , oder
gar heraus zu ſtreichen , ſich nicht entbloͤdet
haben . Ja der Merkur hat ſich kein Ge-
wiſſen gemacht , die Fortſetzung davon zu
begehren , und den Verfaſſer dazu aufzu-
muntern . Wenn ein Alter , der’s beſſer
verſtehen ſollte , ein unbedachtſames Kind
F 2 eine
eine Thorheit begehen ſieht , ſolche nicht
ruͤgt ; ſondern den Knaben aufriſcht , aͤhn-
liche Thorheiten mehr zu begehen , und
dieſer daruͤber geſtraft oder wohl gar geſtei-
niget wird : hat der die Seele eines ſolchen
Menſchen nicht hernach auf ſeinem armen
Gewiſſen ? „
Mag wohl ſo ſeyn , wir wollen uns nicht
druͤber ereifern , da mag der Merkur zuſe-
hen . Hat mehr auf ſeinem Gewiſſen ; iſt
’n Schadenfroh geweſen von je her , ſeitdem
er die Rinder des Admets verſteckt hat , bis
auf den heutigen Tag , da er die Toiletten
bedient , ſeine Wort’ ſind nie Evangelien
geweſen , worauf man bauen koͤnnt’ . Haͤtt’
der Fragmentiſt wohl bey andern Leuten ſich
Raths erholen koͤnnen , eh’ er ſein Geſchrieb-
nes in Druck ausgehen ließ ; haͤtt damit
ſollen vor die rechte Schmiede kommen .
„ Wenn man ihm glauben koͤnnte , ſo
waͤr das auch geſchehen ; doch vermuthlich
iſt
iſt das nur Fiktion , ſonſt wuͤrde die Welt
glauben muͤſſen — „
Nun Herr , Zeit hat Ehre . Morgen
iſt wieder ein Tag , fuͤr heute mag ’s gnug
gekannegieſert ſeyn . — Wuͤnſch dem
Herrn wohl zu ruhen .
Mag. Wabbel gab mir drauf’s Geleit
bis in meine Herberg’ , erbot ſich gegen mich
aller willigen Dienſt ’ , deshalb beſchied ich
ihn den morgenden Tag zu mir . Jch be-
friedigt’ den Abend noch mein Reiſejournal ,
und legt’ mich drauf beſſer humoriſirt ſchla-
fen , als ich vermuthet hatte .
Der noſtrificirte Magiſter hielt Wort auf
den Punkt , war fruͤh Glock acht auf mei-
nem Zimmer , hatt’ allerley Entwuͤrf aus-
ſtudiret , wie er mich zu amuͤſiren gedacht’ .
Wollt mich da und dort introduciren ; bey
Einem ſollt’ ich das Brod brechen , bey ei-
nem Andern Schildereyen oder Naturalien
in Augenſchein nehmen , und ſo bracht’ er
F 3 noch
noch mehr der Ding in Vorſchlag . Dar-
aus urtheilt’ ich , daß er gute Kundſchaft
in der Stadt haben muͤßt’ , darum beſchloß
ich , ihm einige Dubia vorzulegen , die ich
mit mir herum trug , und die er mir her-
nach auch loͤßt’ .
Noch einmal mit ihm die gelehrte Runde
zu gehen , ſchlug ich ganz ab ; auch mocht
ich mich bey keinem Gelehrten zu Gaſte bit-
ten : denn ich hatte nicht Luſt , im Ange-
ſicht eines ehrſamen Publikums , mich fuͤr
einen Hammelbraten in einer gelehrten Zei-
tung , oder in einer Monatsſchrift oͤffentlich
zu bedanken , wie’s ehemals die Klotziſche
Gaſtfreundſchaft gebot ; oder die Gaͤſte , die
ihres Wirthes paſſiva mehren halfen , aus
eigner Bewegung thaten ; ihrem Dalai Lama
ein oͤffentlich Dankopfer brachten , wenn
ſie ſeiner Perſon oder Schriften erwaͤhnten ,
und mit Entzuͤcken der ſeligen Stunden ge-
dachten , die ſie mit ihm in Halle , Leipzig
und
und Lauchſtaͤdt zugebracht hatten . Welche
Sitte noch nicht veraltet iſt : denn die uͤber-
triebenen Verherrlichungen beruͤhmter Maͤn-
ner und Schriftſteller , kommen , duͤnkt
mich , oͤfterer aus einem vollen Magen als
aus einem vollen Herzen . Weil nun die-
ſem Brauch gefraͤßiger Schoͤndenker nach-
zuahmen nicht meine Affaͤre war ; gleich-
wol nicht zu vermuthen ſtund , daß einer
der Herren , die ſichs in ihrem Pleißathen
wohl ſeyn laſſen , zu mir hinterm Wald ſich
verirren ſollt’ , daß ich ihm auch eine Ehr’
anthun koͤnnt’ , ſo ließ ich’s Beſchmaußen
lieber gar ; meynt ’ , es ſey beſſer , eine
Wallfarth nach Gellerts Grab anzuſtellen ,
die wurd bald nach dem Fruͤhſtuͤck vollbracht .
Bey dieſer Gelegenheit erfuhr ich , daß der
oben belobte empfindſame Reiſende durch
Deutſchland , in ſeiner empfindſamen Be-
taͤubung bey der naͤmlichen Wallfarth , in
Meynung Yoricks Manier nachzuahmen ,
F 4 und
und von Gellerts Grabe einige Brennneſſeln
auszuraufen , die dort nichts zu thun hat-
ten , uͤber ein verfallnes Miſtbeet , dem ehe-
maligen Gloͤckner an der Johanniskirche zu-
gehoͤrig , hergefallen ſey , und alles Un-
kraut darauf rein ausgejaͤtet habe .
Jm Ruͤckweg wollt’ ich bey Weidmanns
Erben und Reich vorſprechen , und Namens
des phyſiognomiſchen Jnſtituts eine Dank-
ſagungsadreß dieſer beruͤhmten Buchhand-
lung uͤberreichen , weil ſie mit ihren ſchwei-
zeriſchen Bundsverwandten das phyſiogno-
miſche Werk ans Licht geſtellt : aber ’s war
Niemand zu Haus . Alſo zahlt ich die Praͤ-
numeration auf den vierten Theil und be-
gab mich mit Freund Wabbel wieder in
meine Herberg . Hab’ vergeſſen zu noti-
ren , was mein Wirth fuͤr ein Schild aus-
gehangen hatt’ , war , denk ich , keiner der
renommirten Gaſthoͤf ; doch wurden die
Gaͤſt ’ fuͤr ihr Geld wohl bedient , mit ſo
guter
guter ſchmackhafter Koſt und weichen Feder-
betten , als im beſten Hotel . Dennoch
klagt der Wirth , daß er nicht viel Einkehr
haͤtt’ , welches wohl von der abgelegnen
Straße herruͤhren mocht’ , und daß der ehr-
liche Kauz nicht wußt’ ſein Netz auszuwer-
fen ; meynt ’ mit dem Angelhacken ſey alles
gethan . Daruͤber aßimilirt ich flugs ein
paar Jdeen , die mein Gaſt aus Gefaͤllig-
keit oder aus Ueberzeugung gar paßlich
fand .
Nicht leicht , ſprach ich , werden in der
Natur zwey Ding zu finden ſeyn , die ein-
ander ſo aͤhnlich waͤren , als ein Gaſtwirth
und ein Skribent . Beyde haͤngen ihr Schild
aus , der ein’ uͤber ſeine Hausthuͤr , der an-
dre vor ſein Buch , ſo ſchoͤn und bunt ſtaf-
firt als moͤglich . Beyde wuͤnſchen ſich oͤf-
tern Zuſpruch , ſtecken ſich daher hinter die
Fuhrleut , Poſtillons , Thorwaͤchter , Meß-
helfer , ſpendiren auch wohl , der Eine gute
F 5 Wort’,
Wort’ , manch Glas Brandewein und
manchen Teller mit Eſſen an dieſes Geſin-
del , daß ſie ihnen fleißig Paſſagiers zuwei-
ſen ſollen ; der Andre aber verfaͤhrt eben ſo
mit den litterariſchen Poſtillonen , die das
Recenſenten-Schild auf ’m Arm tragen und
auf ihrer Station das Horn fuͤhren duͤrfen .
Auch hoffiren die Skribenten den gelehrten
Viſitatoren , Examinatoren , und vor allen
Dingen den Praͤnumerationsmacklern . Ge-
ben der guten Wort ſatt und gnug , heißen
jeden Schwager und Gevatter , laufen den
Ariſtarchen mit dem Teller entgegen und
praͤſentiren ihnen ihre Schrift darauf aufs
niedlichſte ausgeputzt . Ließens auch vor
Zeiten an Spendagen nicht ermangeln , leg-
ten ein gut Trankgeld dabey ; wiewol das
Haͤndeverſilbern , ſeitdem ſich die Viſitato-
ren ſo gemehrt haben , daß einer nichts wei-
ter zu thun haͤtt’ , als mit der Hand in die
Taſchen zu langen , jezt ganz in Abnahme
gedie-
gediehen ſeyn mag . So begegnen ſich
Wirth’ und Schriftſteller immer auf einem
Weg , den ſie einſchlagen , um ſich in die
Hoͤh’ zu helfen . Gleichfalls verfahren ſie
beyde ganz auf einerley Weiß’ , wenn ſie
einmal in Ruf ſtehen ; anfangs ſchuͤſſeln
ſie auf , das beſte was in ihrem Vermoͤgen
iſt , ſind gegen jedermann freundlich und
manierlich und begnuͤgen ſich mit kleinem
Gewinnſt ; haben ſie ſich aber einmal aufs
große Pferd geſchwungen , ſo giebts kein
trotziger , unbaͤndiger Volk , als die Nation
der Wirth’ und Autoren ; da kuͤmmern ſie
ſich wenig mehr um die Landkutſchenregen-
ten , oder um den Freund Thorwaͤchter , mit
dem ſie vorher Bruͤderſchaft gemacht hat-
ten . Schnauzen wohl ſelbſt die Gaͤſte maͤch-
tig an , wenn die duͤnnen Bruͤhen , die ſie
nun auftiſchen , das zaͤhe Rindfleiſch und
der ranzige Speck nicht hinunter wollen und
irgend einer das Maul dabey verzieht . Das
duͤr-
duͤrfen ſie den Leuten ſchon bieten , wenn
ſie einmal Zulauf haben , da wuͤrzt das
Vorurtheil alle ſchlechte Speiſen . Was
einem feinen Zuͤngler aneckelt , das verſchlin-
gen tauſend hungrige Bruͤder fuͤr Leckerbiſ-
ſen , wenn ’s nur in einer großen Kuͤch ’ zu-
bereitet iſt . Das beweiſen die ſieben und
dreyßig periodiſchen Garkuͤchen , wenn ich
mich nicht verzaͤhl , die im deutſchen Reich
jetziger Zeit aufgethan ſind , denen verdirbt
nichts , wird alles rein aufgeſpeiſt , und
wenns ſo uͤbel riecht , daß man die Naſe zu-
halten moͤcht , ſo heißts Fumet und Haut-
gout , waͤſſert den Leckern wohl gar das
Maul darnach . Was kein Menſch allein
mag , wird durch einander gequirlet , ein
wenig Salz und Pfeffer druͤber geſtreut ,
gehoͤrig ſervirt und gilt als ein Einſchiebeſ-
ſen , oder als Schaugericht ; ſo ſehr dem
Magen vor der loſen Speiſ’ widert .
Jn-
Jndeß hilft zum Laufen nicht allemal
ſchnell ſeyn ; ’s gluͤckt nicht jedem Gaſt-
geber , wie nicht jedem Autor , daß er ſich
ſo hinauf ſchraubt und Zulauf gewinnt .
Mancher beſcheidene Mann appretirt alles
was er macht gar fein und ſorgfaͤltig , haͤlt
ſein Geraͤth ’ blank und wiſcht jeden Flecken ,
der ausſieht wie Fliegenſchmeiße , ſauber
davon ab . Aber wenn er in einem engen
Gaͤßgen wohnt , wie mein Wirth , oder den
Pfiff nicht recht verſteht , oder einen kleinen
Krug haͤlt , und kein groß Hotel , wie der
Herr in ſeiner Ueberſetzerbude : ſo hilft ihm
ſein ausgehaͤngtes Schild zu nichts , muß
mit betruͤbten Augen anſehn , wie die Paſ-
ſagirer zu Roß und Fuß und die vornehmen
Sechsſpaͤnner vor ihn voruͤber traben und
rollen , in renommirten Herbergen Einkehr
ſuchen , und ſich lieber dort woll ’n prellen
als bey einem Biedermann wohl bedienen
laſſen . Denn ſo iſt nun einmal der ver-
kehrte
kehrte Welt Lauf : manch ſchlecht Wirths-
haus hat Einkehr und Zulauf , und manch
ſchlecht Buch Leſer und Bewunderer , wie
Dr. Ailhauds Purgiermittel Abnehmer ,
durch welchen Vertrieb er ſich zum Con-
ſeiller du Roi und Beſitzer verſchiedner Ba-
ronien purgirt hat . Da hingegen ein An-
drer , dems minder gluͤckt , bey gutem Vor-
rath , wovon doch kein Menſch zehren will ,
in ſeinem Krug verſauret , wie der ſelge
Reiſke . — Da haben Sie vollkommen
Recht , ſprach Mag . Wabbel hierauf kurz
und gut , ohn’ ein Wort weiter : denn die
Supp’ wurd eben aufgetragen , fuͤr die er ,
wie ich glaube , die Exploſion ſeiner beyden
Lungenfluͤgel diesmal aufſpart’ .
Bey der Mahlzeit gabs allerley weiſer
Tiſchreden , die , Gott ſeys gedankt , weder
Luthers noch Klopſtocks Compilator aufge-
ſchnappt hat . Endlich ruͤckt’ ich auch mit
meinen Zweifelsknoten heraus . Der erſte
be-
betraf Belehrung und Aufſchluß uͤber
das froſtige zuruͤckhaltende Weſen der Leip-
ziger Gelehrten bey meinem Beſuch , das
mir nicht aus dem Kopf wollt ; weil ich
weis , daß die Hoͤflichkeit da zu Hauſ ’ iſt ,
und die Herren eher des Guten zu viel thun
als zu wenig , wiewol zwiſchen Hoͤflichkeit
und Herzigkeit noch gar ein großer Unter-
ſchied iſt . Daruͤber gab mir nun mein
Tiſchgenoß Beſcheid , der mir ſattſam Gnuͤge
leiſtet ’ . Es ſey , ſprach er , ungefehr ein
Jahr fruͤher als ich ausgereißt bin , ein
Horcher an der Wand umher gezogen , ob
ers gleich nicht Wort haben woll’ , daß er
gereißt ſey , der hab den Gelehrten allent-
halben fleißig zugeſprochen , hab ſie ausge-
holt , ihnen ihre Gedanken und Meynungen
uͤber allerley Punkte , wovon jezt kontrover-
tirt wird , argliſtig abgefragt , und wo er
was erwiſcht , was er meinte , daß es in
ſeinem Kram tauglich waͤr , hab ers fleißig
auf-
aufgezeichnet , und alles gar fein rubricirt ,
friſchweg drucken laſſen , unter dem Titel :
Allerley aus Reden und Handſchriften groſ-
ſer und kleiner Maͤnner . Hab ’s Buͤchel-
gen auch zu Haus , war mir aber wieder
ganz aus dem Sinn gekommen . Treten
der Schnurren alle Meß zu viel aus Licht ,
daß man die eine mit der andern druͤber
vergißt . Heißt der Stoppelſammler mit
Namen Fabian Brauſeke , fuͤhrt den Na-
men mit der That : braußt der Tropf wie
neuer Moſt , daß man meynen ſollt’ , der
Schlauch ſeiner Hirnhaut muͤßt platzen .
Jſt ſein Gered aber eitel Wildomanns Ar-
beit , Jrrwiſch’ und Sternſchnuppen , die ,
wenn ſie einen Augenblick phoſphoreſcirt
haben , herab auf die Erde fallen , eine
klebrige Materie hinterlaſſen , die ausſieht
wie kranker Lungen Auswurf .
Unter-
Unterdeſſen , meynt’ Freund Wabbel ,
haͤtten’s die Gelehrten uͤbel empfunden , daß
Fabian ſo aus der Schul geſchwatzt ; haͤtt
ſich auch einer Namens aller dagegen wie-
wol auſſerhalb Leipzig manifeſtirt , und oͤf-
fentlich kund gethan , daß kuͤnftig Groß und
Klein ſeine Thuͤr fuͤr dergleichen irrenden
Rittern zuthun werd . Koͤnn’ alſo wohl
ſeyn , daß mich das litterariſche Leipzig fuͤr
einen ſolchen Horcher an der Wand ange-
ſehn , woraus denn Grund und Urſach ſich
deutlich zu Tage leg’ , warum ich ſo kaltbluͤ-
tig ſey aufgenommen worden . Durch dieſe
Aufklaͤrung ſoͤhnt’ ich mich mit den vier obern
Fakultaͤten ganz wieder aus : denn weil die
Herren kein phyſiognomiſch Auge haben ,
und niemanden ins Herz ſehen koͤnnen , wie
wir Kunſtverſtaͤndigen , konnt’ ich ihnen
ihr Mißtrauen gegen wildfremde Leut ’ nicht
verargen ; zumal ſie einen bereits auf dem
Spioniren ertappt hatten . Einen Scheffel
G Salz
Salz aber mit jedem zu lecken , das war
nicht in meinem Plan , einfolglich blieben
wir geſchiedene Leut ’ .
Das zweyte Dubium loͤßte mir mein
Tiſchgenoß nicht ſo nach Wunſch , wie das
erſte . Jch frug nemlich : wie kommts , daß
in einer Stadt wie Leipzig , wo alles zu ha-
ben iſt , was ſich erdenken laͤßt , dem An-
ſchein nach die Phyſiognomiſten ſo duͤnn ge-
ſaͤet ſind , daß ich keinen Sohn der Kunſt
hab auskundſchaften koͤnnen ? Und wie iſts
moͤglich , daß hier im Vaterland der bilden-
den Kuͤnſte , die die rechte Hand der großen
Wiſſenſchaft ſind , phyſiognomiſcher Sinn
noch nicht erwacht iſt ; da bey mir hinterm
Wald ſchon eine phyſiognomiſche Privat-
akademie exiſtirt ? Jch haͤtte geglaubt , es
muͤßt’ hier wenigſtens ſchon ein phyſiogno-
miſcher Catechiſmus fuͤrs Landvolk unter
der Preß ſeyn , nachdem von der Weidman-
niſchen
niſchen Handlung allhier , der Schall dieſer
heilſamen Lehr , eben ſowol , als von Win-
terthur , ausgegangen iſt in alle Lande .
Woran fehlts hier zu Land’ , an Menſchen-
kunde , oder an Menſchenliebe ?
Hoffentlich an keinein von beyden , ant-
wortet ’ Mag. Wabbel , wohl aber am
Glauben , daß Menſchenkunde und Men-
ſchenliebe durch Phyſiognomik befoͤrdert
werde . Die Lavateriſchen Fragmente ſind
bey uns ein Waarenartikel , nichts mehr .
Wir haben deren viele , die hier ihre Nie-
derlage finden , von denen man aber bey
uns keinen Gebrauch macht , und die in
der Tuͤrkey oder in Nordamerika erſt Ver-
trieb finden . Jnzwiſchen giebt es auch hier
wohlhabende Perſonen , die Muſe gnug ha-
ben , ſich mit einem Nichts zu beſchaͤftigen ,
und ein koſtbares Nichts am liebſten waͤhlen .
Wollen Sie , ſo will ich Sie zu einigen
G 2 Da-
Damen fuͤhren , die fuͤr Phyſiognomiſtinnen
gelten koͤnnen , wo Sie die Fragmente in
einem ſplendiden Bande , mit dem niedlich-
ſten Draͤſelkaͤſtgen vereinbart , antreffen
werden ; und ſo begiebt ſichs oft , daß die
Dame Geſichtszuͤge und Goldfaͤden zugleich
in Arbeit nimmt , dieſe auszupft , und jene
ausdeutet , und mit dieſer edlen Beſchaͤf-
tigung fuͤr den Verſtand und fuͤr den Beu-
tel gleich viel gewinnt .
Wie ? fiel ich hier dem unverſchaͤmten
Schwaͤtzer haſtig ein , meynt der Herr , daß
die Phyſiognomik fuͤr Weiber geſchrieben
ſey ? Und daß ſie blos zum Amuͤſement
muͤßiger Koͤpf dien’ , wie ein Feenmaͤhrgen
fuͤr Ammen und Kinder ?
Wenn ich Jhnen , erwiedert er , meine
wahre Herzensmeynung entdecken ſoll , ſo
geb’ ich in der That einem Feenmaͤhrgen
glei-
gleichen Werth mit der Phyſiognomik , und
finde hier keinen Unterſchied , als daß das
erſte ſeiner Abſicht nach fuͤr Unmuͤndige , die
lezte aber fuͤr erwachſene Kinder erfunden
iſt . Dennoch find’ ich in verſchiedenen
Haͤuſern , wo ich die Ehre des Zutritts
habe , das auch oft umgekehrt : die Kinder
blaͤttern die Fragmente , unterdeſſen die
Mutter , die derſelben ſchon ſatt und muͤde
iſt , die Conte de Fées wieder vornimmt
und ſtudirt . Glauben Sie wohl , daß auſ-
ſer dem lieben Schwaͤrmer L. jemals einem
ſelbſtſtaͤndigen denkenden Manne eingefallen
iſt , aus dem phyſiognomiſchen Studium
ſich ein ernſthaftes Geſchaͤfte zu machen ,
und ein Spielwerk der erhitzten Phantaſie
fuͤr das Forum der Vernunft zu ziehen ?
Wenn die Tuͤrken Schriftſteller waͤren , was
wuͤrden wir dazu ſagen , wenn ſie aus den
Wirkungen des Maßlach ernſthafte Theorien
webten ? Alle Spiele der Einbildungskraft
G 3 ha-
haben etwas Anziehendes , wie die Gluͤcks-
ſpiele . Jch tadle es nicht , wenn ſich ein
Mann zur Erholung dann und wann eine
leere Stunde damit ausfuͤllt ; aber ich
wuͤrde ihn , der Talente haͤtte , was reelles
zu thun , von Herzen verachten , wenn er
ſie anwendete , ein Spieler zu werden ; und
ein Phyſiognom von Profeßion iſt mir ganz
das nemliche . Aus dieſen Praͤmiſſen wer-
den Sie die Urſache nun leicht folgern koͤn-
nen , warum Sie hier keine Phyſiognomen
angetroffen haben , die werden Sie auch
nirgends finden als da , wo man Muͤßig-
gang zu einem Berufsgeſchaͤfte macht .
Nun hat’ ich eben gnug . Jch merkt’ bey
dieſer Red ’ heftige Bewegungen in der Gal-
lenblaſe ; die Ader vor der Stirn ſchwoll
auf wie ’n Strick , und wenn’s zum Durch-
bruch kommen waͤr’ , ſo haͤtt ich Mag. Wab-
beln leicht was an der Phyſiognomie ver-
dor-
dorhen . Aler ich weis ſelbſt nicht , wie’s
war ; mein politiſch Phlegma widerſtund
diesmal den Ausbruͤchen des Zorns ſo gut ,
als die Roßlaſtanien oder die Goldweiden-
rinde der Faͤulniß des Rindfleiſches nach
den Bucholziſchen Verſuchen uͤber antiſepti-
ſche Subſtanzen . Jch gab dem Salzlecker
kurzen Beſcheid , ſchaft ihn fort , zahlt meine
Zeche , und ſchickt mich dazu , fruͤh bey gu-
ter Zeit mich von Leipzig zu ſtreichen .
G 4 Zwey-
Zweyter Ritt .
Etwas uͤbers brachium ſaeculare .
’S ging mir mit meiner phyſiognomi-
ſchen Ausflucht bald wie jenem Schwaben .
Als der aus ſeiner Heimath auf die Wan-
derſchaft zog , dacht er , die ſchwaͤbiſchen
Nudeln und Knoͤtel waͤren aller Orten da-
heim . Wo er die nicht fand , macht er in
ſeinem Kalender ein Kreuz , und ſchrieb Faſt-
tag dabey , wenn ihm gleich Speck in But-
ter gebraten , ein Schnitt Schinken , oder
eine Bratwurſt war aufgetragen worden .
Jn Leipzig haͤtt’ ich mancherley Nahrung
fuͤr den Geiſt ſuchen koͤnnen ; weil mich aber
nur nach phyſiognomiſcher Speiſe luͤſtete ,
die dort nicht aufzutreiben war , ſchrieb ich
frey-
freylich im nein Jtinerarium : Faſttag — ,
mahlt ein groß Kreuz dazu , und dacht : da-
her komm ich nicht wieder .
Den Webbel konnt ich den ganzen Mor-
gen nicht verdauen . War ſein Gluͤck , daß
ihm nicht enfiel , mir’s Geleit zu geben ,
fuͤrcht , daß ich ihm mit einem ſinnlichen
Argument ins Geſicht gefahren waͤr : denn
nun fing mich ſein geſtrig Gered’ an erſt
recht zu wurmen . Auch kam mir wie ge-
rufen in den Sinn die herzige Apoſtrophe
des Lavaters an Menſchenfreunde , Littera-
toren und Juͤnglingslehrer , da er ſpricht :
verhuͤtets doch , daß ungeuͤbte phyſiognomi-
ſche Schwaͤtzer , die nichts ſehen , oder nur
halb und ſchief ſehen , durch ihr Gewaͤſch ’
uns nicht die gute goͤttliche Wahrheit der
Phyſiognomik verderben . Nicht verwan-
deln ihre Herrlichkeit in unvernuͤnftige Vieh-
heit . Mich duͤnkt , er hab’ recht ſolche
Ketzer , als der Mag. Wabbel einer war ,
G 5 vor
vor Augen gehabt , als er dieſe Wort aus
Herzensdrang niederſchrieb . Denn der
Pilz war ja nichts mehr , als ein ungeuͤbter
Schwaͤtzer , der von Dingen zu urtheilen
ſich unterfing , die ſeinem Nachtwaͤchterver-
ſtand ’ zu hoch waren ; und was meynt’ er
mit ſeinem Gewaͤſch anders , als die Herr-
lichkeit der Kunſt zu unvernuͤnftiger Vieh-
heit herab zu wuͤrdern ?
Dieſe Aufforderung an Menſchenfreunde
fiel mir aufs Herz ; mein Gewiſſen macht’
mir Vorwuͤrfe , daß ich dem Leipziger ſeine
Schandreden , die er fuͤhrt’ , ſo ungenoſſen
hatt ’ hingehn laſſen . Zwar bedacht ich ,
daß ich ihn ſchwerlich wuͤrd ’ niederdiſputirt
haben . Denn was vermag gegen einen logi-
kaliſchen Simſon , der ein noſtrificirter Ma-
giſter iſt , ein Philiſter , wie ich ? Aber ich
haͤtt’ den Spieß wohl umdrehen koͤnnen , daß
ich die Simſonsrolle geſpielt haͤtt’ und er des
Philiſters , das ſchien mir im erſten Feuer
gar
gar gerecht und billig geweſen zu ſeyn .
Wie ſoll man einem ſolchen Schwaͤtzer , dem
die ſieben Geiſter der Kuͤnſte , worinnen er
die Meiſterſchaft erlangt hat , zu Gebothe
ſtehn , wie ſoll man den bezwingen und
hindern , daß er die goͤttliche Wahrheit der
Phyſiognomik nicht in Viehheit verwandele ,
wenn man nicht das Brachium ſaeculare
mit zu Huͤlf nimmt ? Nun vermeyn’ ich ,
daß , wenn ich benebſt meinem Philipp , der
rechtſchaffen ſeinen Mann ſteht , den welt-
lichen Arm gegen den Wicht erhoben haͤt-
ten , wir ihm wohl bald den Ariſtoteliſchen
Salzhandel gelegt haben moͤchten . Haͤtt
mir der Tropf auf oͤffentlicher Heerſtraß ’ ,
unter Gottesfreyem Himmel niederknien
und Abbitt thun ſollen der Laͤſterung hal-
ber , die er gegen die phyſiognomiſche Kunſt
und Kunſtgenoſſen ausgeſtoßen ; dabey
haͤtt er mir einen theuren Eid ſchwoͤren ſol-
len , in Zukunft beyd’ in ihren Wuͤrden zu
laſ-
laſſen , und ſie mit keinem Wort weiter an-
zutaſten , oder durch ſeine unheilige Zung zu
profaniren . Jedoch bedacht ich mich bald
nachher anders . Wenn eine jede gelehrte
Diſkrepanz uͤber Lehrmeynungen , ſprach
zu mir ſelbſt , durchs Fauſtrecht ausgegli-
chen werden ſollt’ , ſo wuͤrde der Rauffereyen
kein End’ ſeyn . Zaͤhlt man doch , wie uns
der heilige Auguſtinus berichtet , im Alter-
thum 288 beſondere Sekten , die uͤber die
philoſophiſche Frag , was Gluͤckſeligkeit ſey ,
und wie man dazu gelange , uneinig waren ;
gleichwol findet man nicht , daß einer die-
ſer Sektirer ſeinem Widerſacher den Bart
zerzaußt , oder den Mantel zerriſſen habe .
Wer weis , ob uͤber die Frag : giebts eine
Phyſiognomik , und was iſt ſie ? — Kunſt
oder Wiſſenſchaft ? — Licht eines Fix-
ſterns oder Sternſchneuze ? mit der Zeit
nicht eben ſo viel gelehrte Sekten ſich zan-
ken werden . Die phyſiognomiſche Ge-
meinde
meinde wird wohl immer eine Partikular-
kirch ’ bleiben , und ihr Glaube wird nie der
oͤkumeniſche werden . Vermuthbar geſchaͤh’
auch nicht einmal dem herzguten Lavater ein
Dienſt damit , wenn ſeine Lehr geprediget
wuͤrde , we das Evangelium der neuen
Welt .
Es fehlt’ alſo nichts , als die Gelegenheit ,
ſo waͤr ich diesmal ein geſtiefelter Apoſtel
worden . Das war ſicher einer von mei-
nen Teuflsaugenblicken , haͤtt’ wohl ge-
wuͤnſcht , einen Taſchenſpiegel bey der Hand
zu haben , um drein zu ſchauen und zu
beobachten , wie der Keim einer boͤſen That
im Herzen die Geſichtsmuſkeln von auſſen
verzieh , daß man einem abmerken koͤnn’ ,
was er im Schilde fuͤhr ’ .
Aus dieſem Phenomenon der Operatio-
nen meiner Seel’ , welche leztere ich dies-
mal wirder belauſcht hatt’ , und durch neue
Erfahrung beſtaͤtiget fand , wie Leidenſchaft
den
den Willen ſtimmt und den Jaherrn Ver-
ſtand durch ihr Tumultuiren bald uͤbertaͤubt ,
keimten wieder einige fruchtbare Betrachtun-
gen hervor , die ich mehrerer Deutlichkeit
halber mir alſo in Frag und Antwort zer-
gliedert’ .
Frag’ . Wie generirt ſich die Jntoleranz
oder der Verfolgungsgeiſt ?
Antwort . Wenn einer von der Wahrheit
und Gewißheit einer Sache ſich uͤberzeugt
hat , entweder durch die Sinnen , — man
mag deren fuͤnfe , oder nach einiger Mey-
nung nur drey , oder gar ſieben und mehr
zaͤhlen ; — oder wenn er durch innern Ge-
fuͤhlsblick , oder durch Vernunftſchluͤſſe zu
einer feſten Ueberzeugung gelangt iſt : ſo
empfindet er ein Verlangen in ſich , daß
andre Leut die Sache eben ſo erkennen ſol-
len , als er ſelbſt ; und je lebhafter dieſe
Ueberzeugung iſt , deſto feuriger wird auch
das Verlangen , ſie andern mitzutheilen .
Dar-
Daraus generirt ſich nun natuͤrlicherweiſe
Diſputirſucht , Rechthaberey , Schwaͤrme-
rey und Verfolgungsgeiſt . Dieſe vier un-
baͤndigen Roß ’ ziehen an einem Strang , das
leichte Gerippe Vernunft haͤlt zum Schein
die Zuͤgel in ſeiner duͤrren Hand ; die vier
muthigen Heugſt aber ſetzen das Stangen-
gebiß auf die Bruſt , kuͤmmern ſich wenig
um den Fuhrmann , und rennen mit ihm
zwerch uͤber Feld an Stock und Stein .
Der Enthuſiaſmus trabt immer neben dem
Verfolgungsgeiſt her , iſt in unſern Tagen
trefflich ausgefuͤttert und bey Kraͤften , daß
man meynen ſollt’ , er werd mit ſeinem Ne-
bengeſpann alles unter die Fuͤße treten , wie
ſich das ſchon mehrmal in dieſer Unterwelt
begeben hat , wenn er wild worden iſt , ſich
forn aufgebaͤumt und hinten ausgefeuert hat .
Davon ſind die zehn Hauptverfolgungen ,
welche die chriſtliche Kirch ’ in ihrer Kindheit
von dem blinden heidniſchen Enthuſiaſmus
hat
hat erdulden muͤſſen , und die zehnmal zehn
Verfolgungen , die der chriſtliche Emthuſiaſ-
mus in dem vollbuͤrtigen Alter der Kirche
hinwiederum verhengt hat , ein redender
Beweis .
Frag’ . Kann ſich wohl Schwaͤrmerey
und Toleranz zuſammen geſellen , daß ſie
eintraͤchtig bey einander wohnen , wie ſich
das in unſerm Zeitalter dem Anſehn nach
wirklich begiebt ?
Antwort . So wenig Wolf und Lamm
oder Stier und Tieger zuſammen auf die
Weide gehen , ſo wenig ſtallt Schwaͤrme-
rey und Toleranz zuſammen . Gleichwol
erhebt heut zu Tage die Toleranz ihr ſanft-
muͤthiges Haupt , obgleich zu der nemlichen
Zeit die Schwaͤrmerey die Loͤwenmaͤhne
ſchuͤttelt . Das erklaͤr mir einer wie’s zu-
geht , obs durch Mirakel geſchieht , oder
nach dem ordentlichen Lauf der Ding’ ?
Ein Exeget wuͤrd’ ſich hier bald zu helfen
wiſ-
wiſſen ; wuͤrd’ ſprechen , es ſey eine Weiſ-
ſagung dadurch erfuͤllt : die Verbruͤderung
der Toleranz und Schwaͤrmerey ſey ange-
deutet durch die jungen Loͤwen und Kaͤlber ,
die ein Knab auf einer Weide ſollt huͤten
koͤnnen , und nun ſteh der Einſturz des Welt-
baues nah bevor . — Denn es begiebt
ſich nichts unter der Sonn’ , daruͤber die
Ausleger nicht in der Schrift Auskunft fin-
den . — Jch deut mir aber das all an-
ders aus : unſere heutige Schwaͤrmerey iſt
nicht der alte wuͤtige Enthuſiaſmus mit der
Loͤwenmaͤhne , ſondern nur Spielwerk , Gau-
keley , ein nachgeahmter theatraliſcher Loͤwe .
Der tritt ein und ſpricht : ihr lieben Leute ,
fuͤrcht’ euch micht , ich bin kein rechter Loͤwe
nicht , hernach geht er ab und ſchmaucht ,
nach der Bemerkung des Zuſchauers , mit
dem Simſon oder Herkules , mit dem er
ſich herum gebalgt hat , ganz treulich ſeine
Pfeife hinter der Couluͤſſe . So viel Gri-
H maſſen
maſſen auch unſere heutigen Enthuſiaſten
ſchneiden ; ihre Wuth mag uͤbrigens religioͤs ,
poetiſch , patriotiſch , ſentimentaliſch , phy-
ſiognomiſch , oder von welcher Art und
Beſchaffenheit ſeyn als ſie will : ſo iſt ſie
immer mehr toͤnendes Erz und klingende
Schelle , mehr Wortausſtroͤhmung als Aus-
ſtroͤhmung allgewaltiger Herzgefuͤhle ; mehr
taͤndelnder Modekram als Schwing- und
Stoßkraft der Seele . Jſt daher kein Wun-
der , wenn unſre ſuͤßliche aͤtheriſche Schwaͤr-
merey ſo lammsartiger Natur iſt , daß ſie
ſich von dem Verfolgungsgeiſt ganz losge-
ſchirrt hat , und ſolchergeſtalt mit unſern
ſchwaͤrmeriſchen Zeiten die Toleranz , welche
iſt eine Frucht kaltbluͤtiger philoſophiſcher
Unterſuchung , eben ſo wohl beſtehen kann ,
als eine coquette Modetracht bey einem den-
noch unverdorbnen Herzen . Und wenn
auch jemand darwider einwenden wollt’ ,
die Schwaͤrmerey ſey ihrer alten Tuͤck un-
ver-
vergeſſen ; der Verfolgungsgeiſt ſchweb um
ſie wie ihr Schatten , ſie fuͤhr ihn aber nur
incognito mit ſich herum , und er duͤrf ſich
nicht aus helle Tageslicht wagen , weil die
Gewaltigen auf Erden keiner Art von Enthu-
ſiaſmus mehr , wie vor Zeiten gar oft ge-
ſchah , ihr brachium ſaeculare leihen moͤch-
ten . Denn wenn nur ein kleiner Stadt-
magiſtrat ſein Quintlein Gewalt aus der
Hand geben wollt’ , ſo wuͤrd’ der ehrliche
Mag . Grattus unfehlbar das Maͤrtyrer-
thum des philanthropiniſchen Enthuſiaſmus
davon tragen , wie der ſelge Paſtor Alberti ,
der ſogar ohne Zuthun des weltlichen Arms
allein durch den Bannſtrahl des orthodoren
Fanatiſmus auf gewiſſe Art die Maͤrtyrer-
kron ’ erlangt haͤtte . Koͤnn’ auch noch der
ſelge Mann in der Erde nicht Ruh haben ;
denn der Ritter Goͤtz , von einigen zubenahmt
mit der ſtreitbaren Hand , hab ihm unlaͤngſt
im Sarge noch den lezten Stoß gegeben .
H 2 Dem
Dem allen ungeachtet halt ich dafuͤr , daß
dieſe Einrede meine Behauptung nicht un-
tergrabe . Will zwar nicht in Abrede ſeyn ,
daß dieſer beruͤhmte Ketzermacher tuͤchtig
unter den Theologen ſeiner Kirch aufraͤu-
men , und wenigſtens zwey Drittel davon
aus ihren Pfruͤnden zum Land hinaus ja-
gen wuͤrd’ , wenn er koͤnnt , wie er wollt ’ ;
will auch nicht leugnen , daß mancher Schul-
mann ſein Buͤndel ſchnallen , und anſtatt des
Schulzepters den Pilgerſtab in die Hand
nehmen muͤßt’ , wenn die Fuͤrſten an phi-
lantropiniſchen Anſtalten eben den Geſchmack
faͤnden , als an militariſchen : aber wenn ein
oder der andre Zelot uͤber die Schnur haut ,
ſo iſt das nur eine Ausnahm’ von der Re-
gel , und nicht die Regel ſelbſt . Waͤr mirs
doch bald ſelbſt begegnet , daß ich aus phy-
ſiognomiſchen Enthuſiaſmus gegen den
ehrlichen Mag . Wabbel auch den Ritter mit
der ſtreitbaren Hand geſpielt haͤtt’ .
Frag.
Frag . Zu was nutzt und frommt der
Welt die zeitige Modeſchwaͤrmerey ?
Antwort . Weil in dem großen Weltall
jedes Ding ſo geordnet iſt , daß es zu Ver-
vollkommung des Ganzen ſeinen Scherf mit
beytraͤgt ; ob wohl die Nutzbarkeit davon
zuweilen fuͤr gemeinen Meuſchen Augen
verborgen iſt , und nur einem feinen Spaͤ-
her einleuchtet ; wie denn ſogar Menſchen
laͤſtiges Ungeziefer als Floͤh und Wanzen ,
desgleichen mancherley Leibesgebrechen und
Krankheiten , als Milz-Schwind- und
Waſſerſucht , unter Philoſophen und Dich-
tern Panegyriſten gefunden haben : ſo be-
duͤnkt mich , daß unſre heutige Schwaͤrme-
rey auch ihre gute Seit hab’ und weder auf
Koſten des Witzes , noch durch Beyhuͤlf ſo-
phiſtiſcher Kuͤnſt ’ ſich mancherley Nutz und
Gewinn angeben laſſe , der dadurch erzielet
werd’ . Erſtlich gewaͤhrt dieſes donum dem
Beſitzer eine gewiſſe Herzensfuͤlle , die ihm
H 3 nichts
nichts leeres darinn uͤbrig laͤßt , ein Gefuͤhl
von Selbſtzufriedenheit und uͤberſchwengli-
cher Wonnetrunkenheit ; eine Verſchwebtheit
der Seel’ in die hohen Jdeale ihrer Be-
ſchauung , welche alle Senſationen von auſ-
ſen her verdunkelt , und denſelben wie eine
eherne Mauer den anprallenden Wellen des
Oerans widerſteht . Wie ich das all an
mir ſelbſt empfunden hab in der ſuͤßen
ſchwaͤrmeriſchen Stunde meiner Réverie ;
auch theils vorher ſchon , ſeitdem mich der
phyſiognomiſche Enthuſiaſmus angewandelt
hat . Zweytens iſt die Schwaͤrmerey die
erſte vegetative Grundkraft aller Wirkſam-
keit und Thaͤtigkeit des menſchlichen Geiſtes .
Wo iſt ohne Antrieb derſelben irgend eine
Sach’ von Wichtigkeit zu Stande gebracht
worden ? Wer uͤber die großen Weltbege-
benheiten ſpekulirt , findet immer den Urſtoff
der wichtigſten Weltveraͤnderungen in einem
ſchwaͤrmeriſchen Kopf liegen , drum daͤucht
mich,
mich , die heroiſchen Tugenden und der
Koͤnigsmord wuͤrden aus einem Ey gebruͤ-
tet . Durch ſie hebt ſich die Schnellkraft
des Geiſtes ; alle Faſern des Hirns werden
geſpannt wie ſchlaffe Seil , wenn ſie mit
Waſſer genetzt werden ; ſie treibt das Herz-
blut raſcher durch die Aorta , ſpruͤht Feuer-
funken aus den Augen ; erfuͤllt die Bruſt
mit allbelebender Waͤrme , die ich mit der
Brutkraft vergleiche , welche die Kuͤchlein
im Ey belebt . Ohne die wohlthaͤtige Ein-
wirkung der Schwaͤrmerey , wuͤrde die Welt
vier Baͤnd ’ phyſiognomiſcher Fragmente ,
ein phyſiognomiſches Cabinet , ein Luſtſpiel ,
einen Kalendertraktat , und meine Reiſen
entbehren muͤſſen , welches in der Reihe
der Wiſſenſchaften kein geringerer Uebelſtand
ſeyn wuͤrde , als in einem wohlgereiheten
Gebiß ein fehlender Zahn . Sind deshalb
in meinen Augen die Leut’ , die auf nichts
peiter als ſchlichten geraden Menſchen-
H 4 ver-
verſtand Anſpruch machen , gar kleine Lich-
ter . Jch mach’ aus dem Verſtand uͤber-
haupt nicht groß Weſen ; daſeym muß er
im Kopf als Depoſitaͤr aller Vorrechte der
Menſchenwuͤrde ; nur vermag er fuͤr ſich al-
lein betrachtet nichts großes aus zurichten ,
dazu iſt er zu kalter Natur , zu ungelenk
und bedaͤchtlich . Wenn aber der Verſtand
mit der gehoͤrigen Doſis Schwaͤrmerey ver-
ſezt iſt , da iſt das Regiment im Kopf wohl
beſtellt , und verhalten ſich beyde gegen ein-
ander , wie Pferd und Reuter ; nur ver-
ſehen’s unſre Modeſchwaͤrmer , daß ſie das
Ding verkehrt verſtehen , und die Schwaͤr-
merey auf dem Verſtand ’ reuten laſſen ,
welches aber juſt umgekehrt ſeyn ſoll . Kann
mir das auch noch auf andre Weiſ’ ver-
gleichen , nemlich mit meinem Weyher da-
heim . Hab einen Karpfenteich , voll herr-
licher Fiſch , groß und ſchmackhaft . Nun
iſt aber , wie bekannt , der Karpf’ ein traͤ-
ger
ger Fiſch , der immer auf dem Grund ſteht ,
nicht gern herum ſchwimmt und Nahrung
ſucht . Da hat mich ein alter Fiſchmeiſter
ein Geheimniß gelehrt , wie man ihm koͤnn
gelenk und hurtig machen , daß ihm ſein un-
thaͤtig Phlegma vertrieben werd’ . Wenn
nemlich der Karpfenſatz ein Jahr oder was
laͤnger geſtanden , und ſchon etwas heran-
gewachſen , werf ich kleine Hechtlein in den
Teich . Da iſt ’s nun luſtig zu ſehen , wie
die kleinen Schecker ’ die Karpfen herum
treiben und ſie wiſſen in Bewegung zu ſetzen ,
daß ſie in die Hoͤh kommen und Nahrung
ſuchen , koͤnnen ihnen gleichwol nichts an-
haben . Sind aber die Hecht ’ etwas zu
maͤchtig , verſchlingen ſie den Karpfenſatz
allgemach , und am End hat einer Hecht
im Teich , und keine Karpfen . So iſts mit
Verſtand und Schwaͤrmerey beſchaffen , wo
die zu maͤchtig iſt , verſchlingt ſie einen gar ,
daß man ſeine Staͤtt’ nicht mehr finden
H 5 kann;
kann ; wo aber beyd ’ im gehoͤrigen Ver-
haͤltniß bey einander haußen , da ſtehts um
einen ſolchen Kopf ſo gut , als um meinen
Karpfenteich .
Sachte ! Sachte ! rief ich aus , als ich
ſo weit mit meiner Meditation gekommen
war . Philipp , hilf mir auf ! denn mein
Cimber lag auf den Knien , und konnt’ nicht
wieder in die Hoͤh’ . Hatte der Gaul wohl
auch ſeine Meditation gehabt , und ſo wenig
auf den Weg geachtet , als ich , ſtrauchelt’
an einem Stein , und dort lagen nir beyde .
Gleichwol ging der Sturz ohn’ Ungluͤck ab ,
und wir gelangten bald nachhen in die
Herberg .
Als ich Tags drauf meine Reiſe fort-
ſezt’ , dacht’ ich wieder an den geſtigen Zu-
fall und an meine philoſophiſche Betrach-
tung , verglich mich mit dem Verſand , und
meinen Gaul mit dem Enthuſiaſnus , ob
er gleich deſſen zur Zeit wenig mehr haben
mag.
mag . Mt dem Reuten allein , ſprach ich ,
iſt ’s nicht ausgemacht , das Auge des Ver-
ſtandes muß auch auf den Weg ſehen , und
der Schwaͤrmerey den Zuͤgel fein kurz hal-
ten , ſonſt kanns gleichwol geſchehen , daß
der Verſtand den Hals bricht . Das ſoll
mir in Zukunft eine Lehr’ ſeyn , daß ich den
phyſiſchen Zuͤgel meines Gauls und den
moraliſchen meiner Gefuͤhle fein kurz halt’ ,
nicht Hand und Zuͤgel muͤßig auf dem Sat-
telknopf ruhen laſſ ’ ; auch unterweges nicht
zu viel auf andre Ding ſimulir ’ , ſondern
fein auf jedem Tritt und Schritt Acht hab ,
damit ich meine Wallfarth hienieden , wie
meine phyſiognomiſche Reiſe , wohlbehalten
vollende .
Zwey-
Zweytes Stillager .
Empfindſamkeit und Empfindeley .
B egegnet mir gleich beym Eintritt ins
Wirthshaus ein drollig Abentheuer , und
zwar in der Stadt Meißen , die Heinrich
der Finkler erbauet hat . Fand am Wirth
eine jovialiſche anſchmeichelnde Gaſtwirths-
Phyſiognomie , daß ich bald merkt’ , die
Zung muͤßt ihm wohl geloͤßt ſeyn . Hub
deshalb an mit ihm zu koſen ; frug , ob er
viel Einkehr haͤtt’ , und was fuͤr Paſſagier
zunaͤchſt vor mir bey ihm geherbergt haͤtten .
Der Mann war den Augenblick in Odem
geſezt , macht’ den Eingang ſeiner Red von
dem gewoͤhnlichen Gemeinplatz der nahrlo-
ſen Zeit , ſprang davon auf die Litaney ſei-
ner haͤuslichen Calamitaͤten uͤber , holte weit
aus
aus von den Contributionen des vorigen
Krieges ; zaͤhlt’ mir an den Fingern vor ,
wie viel er ſeit der Zeit Pferd verloren , auch
wie oft er war Wittwer worden . Schmerzt
ihn beſonders eine erwachſene Tochter , die
Stuͤtze ſeiner Wirthſchaft . Das all bracht ’
der Mann mit ſo freundlich lachendem Ge-
ſicht vor , ob ihm gleich dabey oft die Au-
gen uͤbergingen , daß ich mich nicht entbre-
chen konnt ’ druͤber nachzugruͤbeln , wie ’s
doch kommen mag , daß die meiſten Leut’
andre , die ſie gern ehren moͤchten , durch
grinzende Grimaſſen zu ehren vermeynen ,
ſo wenig ſich uͤbrigens das ins Lachen ver-
zogne Geſicht zum Jnhalt ihres Geſpraͤchs
ſchicken oder reimen mag ?
Jch dollmetſch ſolch Anlachen freundli-
cher anſchmeichelnder Leut als ein Kompli-
ment , ſoll in Wort’ uͤberſezt ungefehr ſo viel
heißen : ob mir gleich im Grunde gar nicht
laͤcherlich iſt , ſo verbreitet doch die Gegen-
wart
wart Ew. Gnaden , oder Ew. Herrlichkeit ,
oder Ew. Hoheit ein ſolch Wonnegefuͤhl
uͤber mich , daß ich all mein Leid druͤber
vergeſſ’ , wie Sie an meinem Herzſpiegel
hier gar anſchaulich ſehen koͤnnen , wenn
Sie hinein zu ſchauen belieben . Kann
ſeyn , daß dies Meteor am Geſichtshorizont
auch von einer Ausduͤnſtung der Eigen-
lieb ’ erzeugt wird : ſtrebt jeder ſich beym
erſten Anblick dem andern in ſeiner vortheil-
hafteſten Geſtalt zu zeigen . Nun aber
lehrt die Erfahrung , daß ein freundlich Ge-
ſicht mehr einnimmt , als ein ſteifes muͤr-
riſches oder hoͤlzernes ; die Gewohnheit wird
leicht zur andern Natur , und daher ließ ſich
das unwillkuͤhrliche holdſelige Laͤcheln beym
Eintritt in eine Geſellſchaft , oder zu einer
Perſon , um deren Gunſt man buhlt , wohl
erklaͤren . Waͤr auch moͤglich , daß das
Anlachen der Geringern gegen die Großen
im Volk ſo viel bedeuten ſollt’ als eine
ſym-
ſymboliſche Appellation an die Rechte der
Menſchheit : denn im ganzen Thierreich hat
bekanntermaßen allein der Menſch das Pri-
vilegium zu lachen . Nun aber pflegen die
Großen , wenn ſie mit einem aus dem Volk
was verhandeln , oft zu vergeſſen , daß ſie
ein Weſen vor ſich haben , das mit ihnen
gleicher Art iſt ; achten ihre Hund’ und
Pferde mehr als ihre Diener und Untertha-
nen . Daher will noͤthig ſeyn , daß die
leztern die erſtern durch Aufweiſung ihrer
Privilegien an Vorrechte , die ſo leicht ver-
jaͤhren , auf eine freye Art zuweilen erin-
nern . Ein zukuͤnftiger Pathognomiſt , der
einmal in einem eignen Fragment die Na-
tur der Anlacher analyſirt , wird uns zu ſei-
ner Zeit wohl ſagen , welche von dieſen Er-
klaͤrungen heißen mag die richtige .
Nachdem mir nun mein freundlicher
Wirth das vorgeplaudert hatte , was ich
nicht zu wiſſen begehrte , kam er nun auch
auf
auf das , warum ich ihn gefragt hatte , und
fuhr in ſeiner Red alſo fort : ſchwere Zei-
ten , — Geldmangel , — kein Waarenver-
trieb , — lieber Gott ! da vergeht den Leu-
ten die Luſt zu reiſen . Seit acht Tagen eine
Extrapoſt mit zwey Paſſagiers ! — Je
nun , die waren allgut , wenn ’s nur alle
Tage ſo kaͤm . Waren ein paar liebe Leut-
gen , vor einer Stunde ſind ſie erſt fort . —
Eine junge Dame wie Milch und Blut , un-
ter dem engliſchen Hut ſahen ihr ein paar
moͤrderiſche Augen hervor , und das Reit-
kleid ſchloß ihr an Leib wie angegoſſen . —
Der Cavalier ein gar feiner Herr , that ihr
uͤber die maßen ſchoͤn , ſchloß ihre weiße
Hand immer in ſeine zwey Haͤnde , fluͤſtert’
ihr was ins Ohr , oder kuͤßte die Spitzen
ihrer Finger vom Daumen an bis auf dem
Goldfinger — . ’S mochten Brautleute
ſeyn , oder ſonſt gute Bekannte : denn Ehe-
leute thun ſo nicht mit einander .
Bey
Bey dieſer Red ’ ſchoß mir ’s Blatt .
Ha , dacht ich , das iſt wohl am Ende gar
mein entflohnes Sangvoͤgelein . Das
Herz ſchlug mir ploͤtzlich wie ’n Hammer ,
das Geſicht brannt mir wie Feuer ; ich
fuͤhlt ein Springen und Huͤpfen in allen
Adern , daß ich wohl draus abnahm , hier
ſey meines Bleibens nicht laͤnger . —
Jch that in einem Nu zwanzig Fragen an
den Wirth , davon er keine beantworten
konnt’ , lief in der Stub herum , ſucht nach
meinem Hut , und merkt ’ nicht , daß er
mir auf dem Kopf ſaß . Wollt ſtracks wie-
der aufſitzen und der Poſtchaiſe nacheilen ,
in der feſten Meynung , die Sophie zu er-
haſchen . Der Wirth ſtund ganz verſteint
da , wußt ’ nicht , was das bedeutet’ , fuͤrch-
tet , ſeine Geſchwaͤtzigkeit wuͤrd ihm einen
Paſſagier entreißen , der ihm gar ein ſelten
Wildpret war . Aber ungluͤcklicher oder
gluͤcklicher Weiſe hatte der Cimber ein Huf-
J eiſen
eiſen abgetreten . Jch ließ ihn augenblick-
lich vor die Schmiede fuͤhren ; doch eh das
Eiſen gegluͤhet und zurecht gehaͤmmert war ,
hatte ſich mein Blut ſchon wieder verkuͤhlt ;
als der Gaul zuruͤck kam , wollte ich nimmer
aufſitzen und ließ ihn ganz gemach in den
Stall ziehn .
Haͤtt’ ſchier eine neue Narrheit began-
gen , wenn der Verſtand nicht die Ober-
hand uͤber die Leidenſchaft behielt , die den
Willen ſchon beſtochen hatte . Mein innres
Gefuͤhl ſagt’ mir ſo klar und deutlich , die
Dame ſey keine andre Chriſtenſeel als die
Sophie , wie mir’s vor etlichen Tagen ge-
ſagt hatt’ , der Leipziger Stundenrufer ſey
das groͤßte Dichtergenie . Sonach duͤrfts
mit dem innern Gefuͤhlsſinn gar ungewiß
Ding ſeyn . Wenn die phyſiognomiſchen
Gegenfuͤßler ſollten Recht haben , die das
innre Gefuͤhl aus der Aßimilation vorem-
pfundner Jdeen ableiten : ſo waͤrs mit
Haͤn-
Haͤnden zu greifen , wie ’s mich als Jrr-
wiſch in Sumpf gefuͤhrt . Denn wie haͤtt’
mir einfallen ſollen , die Sophie in einer
Poſtchaiſe hinter Meißen , auf dreyßig
Meilweges weit von meiner Heimath auf-
zuſuchen , wenn mir nicht einmal im Tau-
mel der Phantaſie ein Bild von ihr vorge-
ſchwebt haͤtt’ , das mit des Wirths Erzaͤh-
lung ziemlich uͤbereintraf ? Nachher , als
ich das all’ ruhig uͤberdacht’ , fand ich frey-
lich keinen uͤberwiegendern Grund der Wahr-
ſcheinlichkeit fuͤr das Daſeyn der Sophie in
der Poſtchaiſe , als fuͤr jedes andre Weibs-
bild aus einem der neun Kraiß des heiligen
roͤmiſchen Reichs . Dem ungeachtet lebt ’
und webt’ die Sophie nun wieder in meinem
Kopf’ , ſpukt darinn herum wie eine Maus ,
die in einen ausgehoͤlten Kuͤrbiß kriecht , und
nicht wieder heraus kann .
Daher war ich fruͤh bey guter Zeit auf-
ging hinab in die Wirthsſtub’ , um mich
J 2 zu
zu zerſtreuen . Fand hier einen Paſſagier
beym Thee , einen feinen jungen Mann ;
hielt die Haͤnd ’ in einander geſchlungen ;
ſah vor ſich weg immer auf ein Fleck , und
ſchiens nicht zu bemerken , daß ich ihn gruͤſ-
ſet’ . Jch vermeynt’ , er verricht’ ſein Mor-
gengebet , welches mir wohl gefiel , weils
eine ſeltne Erſcheinung iſt , daß man Leute
von einer hoͤhern Klaſſe als Handwerker
und Tageloͤhner , wenn ſie nicht Amts-
und Berufshalber dazu verpflichtet ſind ,
auſſerhalb der Kirch in der Stellung der
Betenden findet . Bekenn’s , daß ich Einer
von denen bin , die Andern nicht leicht dies
gute Beyſpiel geben , obs gleich einen herr-
lichen Eindruck auf mich macht , wenn
mir’s von Andern gegeben wird . Jch
wollt’ den Mann in ſeiner Andacht nicht
ſtoͤhren , ſaß gegen ihm uͤber , und macht
iudeß von ſeinem Geſicht folgende phyſio-
gnomiſche Projektion . Kein Dichter ; die
Stirn
Stirn hat zu feſte Knochen , um dichten
zu koͤnnen , ſonſt unverworren , offen , hell-
ſehend , aber nicht tiefgrabend . Die Naſe
iſt keine der luftigen , das mehr zuſinkende
Auge verſchließt Empfindung in ſich ſelbſt .
Jm Munde kalter Schmerz eines ſtillen
Dulders . Jm ganzen Geſicht nichts von
Kraftweſen .
Wir vollendeten beyde unſre ſtillen Be-
trachtungen zu gleicher Zeit ; der Fremde
ſchluͤrfte ſeine lezte Taſſe , gruͤßte mich nun
freundlich , und packte ſein kleines Theeſer-
vice , das ihm eigenthuͤmlich zugehoͤrte , wie-
der ins Futteral . Bey dieſer Gelegenheit
entdeckt’ ich , daß dieſe Geraͤthſchaft mit
Silhouetten-Malerey gezieret war . Des
war ich froh , fehlt’ wenig , daß ich dem
Unbekannten ein phyſiognomiſch Huzza zu-
gerufen , wie die engliſchen Schiffer pfle-
gen , wenn ſie ſich auf einer Seereiſe begeg-
nen ; denn ich meynt , er ſey ein phyſio-
J 3 gnomi-
gnomiſcher Glaubensgenoß ; hielt doch an
mich , weil mich dieſe Vermuthung oft ge-
taͤuſcht hatte’ . Zog aus meiner Schreibta-
fel einige Abſchattungen hervor , die ich mir
vorgenommen hatt’ , als das phyſiognomi-
ſche Schiboleth , woran ich einen wahren
Sohn der Kunſt erkennen wollt , zu brauchen .
Herr , ſprach ich , Sie haben da eine
artige Manier , ſeh ich , Silhouetten auf
Porzellan zu fixiren , daß ſie der Zeitver-
wuͤſtung widerſtehen . Eine herrliche Erfin-
dung ! Ohne Zweifel ſind Sie ein Phyſio-
gnom , — wie leſen Sie dieſe Schatten-
koͤpf’ , die ich Jhnen hier vorlege ?
„ Wie ich ſie leſe , mein Herr ? — die
kann ich nicht leſen ; es iſt ja kein Geſchrieb-
nes . Aber Dr. Luthers Bildniß , das ich
zu Haus unter Glas habe , kann ich wohl
leſen . Das hat ein kuͤnſtlicher Schreibmei-
ſter in Schrift verfaßt , und aus den ſechs
Hauptſtuͤcken des Catechiſmus den ganzen
Dr.
Dr. Luther zuſammen geſezt , daß die ſieben
Bitten nebſt ihrer Auslegung gar deutlich
in den ſieben flammenden Haarlocken herun-
ter wallen . „
Jch rafte meine Schatten flugs zuſam-
men , ſah wohl , daß der Mann ein phy-
ſiognomiſcher Jdiot war , der nicht einmal
Korb und Eimer zu unterſcheiden wußt’ .
Wie kommts , frug ich weiter , daß Sie
Geſchmack an dieſer Taſſenverzierung fin-
den , da Jhnen die phyſiognomiſche Kunſt
ganz fremd zu ſeyn ſcheint ?
„ Die Kunſt uͤberlaß ich dem Fabrikma-
lec ; aber mit den Abſchattungen auf dieſer
Mundtaſſe hat es eine gewiſſe Bewandniß ,
die ich Jhnen hier nicht erklaͤren kann ; denn
dazu gehoͤrt eine ganze Geſchichte . „
Wenn dieſe Geſchichte kommunikabel iſt ,
war meine Gegenrede , ſo theilen Sie mir
ſolche mit . Jch hab’ Zeit , ſie zu hoͤren ,
wenn der Herr Zeit und Luſt hat , ſie zu
J 4 er-
erzaͤhlen . — Drauf hub der Fremde alſo
an .
„ Jch bin ein Kaufmann ; die Art von
Gewerbe , die ich treibe , noͤthigt mich oft ,
Handelsreiſen zu thun ; bisweilen traͤgt
ſichs zu , daß ich im Jahr nicht laͤnger als
vier Monat zu Hauſe bin . Daher kann
ich nur einen Drittel meines haͤuslichen
Gluͤcks in dem Beſitz einer liebenswuͤrdigen
Frau und zweyer Kinder genießen , an de-
nen mein Herz ſo feſt haͤngt , daß es mir
jedesmal große Ueberwindung koſtet , mich
von ihnen zu ſcheiden . Die Meinigen fuͤh-
len eben das fuͤr mich , was ich fuͤr ſie em-
pfinde , vielleicht noch ſtaͤrker und anhalten-
der , weil ſie nichts zerſtreuet , wie mich .
Wenn ich die Summe meines haͤuslichen
Gluͤcks als Kapital in Anſchlag bringe , und
finde , daß zwey Drittel davon unbenutzt
bleiben , ſo muß ich das als Verluſt be-
rechnen . Wo ſich aber Gewinn und Ver-
luſt
luſt nicht wenigſtens die Wage halten , da
handelt der Kaufmann zuruͤck . Daher hab
ich auf Mittel gedacht , noch ein Drittel
meines liebſten Kapitals in Umlauf zu
ſetzen , um wenigſtens einigen Gewinn da-
von zu ziehen : das iſt der imaginaͤre Um-
gang mit meinen Lieben , die das Gluͤck
meines Lebens und der Lohn meiner Arbeit
ſind . — Meine einheimiſchen Geſchaͤfte
reißen mich auch oft in meinem Hauße aus
dem Zirkel der Meinigen , der fuͤr mich ſo
maͤchtigen Zauberreiz hat ; doch die Mor-
genſtunde beym Thee laß ich mir auf keine
Weiſe nehmen . Dieſe iſt dem Ehegluͤck
heilig , da ruhen alle Sorgen und Geſchaͤfte
des Tages ; ich denke , ſehe , empfinde
nichts als meine Gattin und Kinder ; das
ſind die Augenblicke , wo wir uns des Le-
bens zuſammen freuen . Mit dem Glocken-
ſchlag acht endiget ſich durch eine zaͤrtliche
Umarmung dieſes uns ſo intereſſante Schau-
J 5 ſpiel,
ſpiel , und jedes geht an ſeine Geſchaͤfte . —
Um den Genuß dieſer empfindſamen Stunde
auch abweſend nicht zu verlieren , hab ich
mich mit meiner Gattin vereinigt , uns
durch die Einbildungskraft einander zu ver-
gegenwaͤrtigen . Jch kann ſicher drauf rech-
nen , daß zu der verabredeten Zeit die
Meinigen nichts anders denken , als mich ,
ihren Gatten und Vater ; von nichts ſich
unterreden , als von mir ; nichts thun , das
nicht eine Beziehung auf mich haben ſollte ;
und ſie ſind eben ſo gewiß , daß zu der
nemlichen Zeit kein andrer Gedanke in mei-
ner Seele ſchwebt , als der Gedanke von
ihnen . Aus dieſer Urſache hab ich von ei-
ner Modeerfindung Gebrauch gemacht , die
ſo gut zu meinem Jdeal ſich paßt . Jch
kann auf Reiſen die Schattenbilder meiner
Lieben nicht bequemer betrachten , als an
meiner Mundtaſſe ; und ſo wie meine Au-
gen unveraͤnderlich in der beſtimmten Zeit
dar-
darauf gerichtet ſind , ſo ſind auch zuverlaͤſ-
ſig die Augen meiner Gattin und Kinder
auf meine Silhouette geheftet , neben Dr.
Luthers Bildniß . — Was fuͤr himmliſches
Entzuͤcken uns dieſe idealiſche Converſation
gewaͤhrt , bin ich unvermoͤgend , mein Herr ,
Jhnen zu beſchreiben ; es muß gefuͤhlt wer-
den , und fuͤr dieſes Gefuͤhl hat Niemand
Sinn als Liebende . Sind Sie einer dieſer
Auserwaͤhlten , ſo verſtehen Sie mich ohne
Worte ; gehoͤren Sie nicht unter dieſe Zahl ,
ſo koͤnnen Sie auch nicht faſſen , wie Jdeal
wirklichen Genuß zu erſetzen vermag . „
Herr , fiel ich ihm ein , auf Ehre , das
kann ich ! Bin in den idealiſchen Regionen
weniger Fremdling , als Sie in den phyſio-
gnomiſchen , hab mich ganz in ihr Gefuͤhl
hinein gedacht , und behagt mir ihre Art zu
prozediren nicht unrecht . Hab auch wohl
zu Zeiten geliebt oder geminnet , wie jezt
unſer rothwaͤlſcher Witz ſpricht . Wenn
ſichs
ſichs nun begab , daß etwan ein weiter
Raum Lalagen von mir trennt’ , gaben wir
uns idealiſche Rendevous im Mond . Wo
ſich der am Himmel blicken ließ , war ich
drauſſen im Feld , ſah unverwandt hinein ,
und fand unausſprechliche Wonne zu den-
ken , daß mein Liebchen vielleicht auch hin-
ein ſchaut’ , und ſonach unſre Geſichtslinien
wenigſtens in einem Punkt einander beruͤhr-
ten . Da machten wir den lieben Mond zu
unſerm Vertrauten , meynten , er belauſch
uns auf Gottes weitem Erdboden allein :
aber ſeit der empfindſamen Epoque , da der
liebliche Mond ein allgemeiner Tummel-
platz der Liebenden worden iſt , aller Augen
hinein ſchauen ; alle verliebte Seufzer dahin
wallen , und wie in einem offnen Wirthshaus
drinn herbergen , iſt mir des Lerms dort zu
viel , daß er zu einem vertraulichen Tête
à tête nimmer taugt . Find deshalb die
idealiſche Entrevuͤe mit Jhren Lieben , die
nicht
nicht auf einen Standpunkt , ſondern auf
einen Zeitpunkt kalkulirt iſt , wohl ausge-
dacht ; uͤber das facht die Ueberzeugung
gleichzeitiger ſympathetiſcher Gefuͤhle von
Jhrem Kleeblatt zu Haus das Feuer der
Jmagination maͤchtig an , und dadurch wird
mirs begreiflich , wie negative Attribute ih-
res haͤuslichen Gluͤcks , als Trennung und
Abweſenheit , die Summe deſſelben eh’ meh-
ren als mindern . — Wenn ich Jhr Sy-
ſtem anders recht umſpann , ſo beſitzen Sie
ein empfindſames Herz , das in Jhrer Lage
eine fortwaͤhrende Stoͤhrung Jhrer innren
Zufriedenheit wuͤrde bewirket haben , wenn
Sie nicht einen ſonderbaren Weg eingeſchla-
gen waͤren , dieſe Empfindſamkeit mehr zur
Empfaͤnglichkeit des Vergnuͤgens als der
Schmerzen zu bequemen . Geben Sie mir
ein Fragment ihrer heutigen Unterhaltung
mit Jhrer Hausfrau und Deſcendenz zum
beſten , wollen ſehn , ob ich mit Jhnen ſym-
pathiſiren kann .
„Sie
„ Sie beurtheilen mich ganz recht : eine
ſuͤſſe empfindſame Schwaͤrmerey bemaͤchti-
get ſich meiner Seele jederzeit in der ideali-
ſchen Morgenſtunde ; aber die Bilder , die
mir da vorſchweben , kann ich Jhnen nicht
zeichnen . Sie , mein Herr , wuͤrden mir
nicht nachempfinden koͤnnen , und ich wuͤrde
dadurch die Gemaͤhlde , die ich Jhnen auf-
ſtellte , fuͤr entweiht halten . Jm Ganzen
ſind es Vorſtellungen kleiner Familienſce-
nen , die mich entzuͤcken ; und da iſt keine
vielleicht zu erdenken , die nicht von einem
unſrer empfindſamen Schriftſteller ſchon en
gros gezeichnet und kommentirt worden ſey .
Auf dieſe Gemaͤhlde muß ich Sie verweiſen . „
Jch verſtehe Sie , den harten rauhen
Kontour empfindſamer Scenen pflegen uns
die empfindſamen Maler bis zum Ekel vor-
zupinſeln , aber nicht den feinen Detail der
individuellen Handlung , der eigentlich das
Herz ruͤhrt . Dieſer iſt fuͤrs Gefuͤhl gei-
ſtiger
ſtiger Natur , fluͤchtig und ſchnell , wirkſam
wie Hirſchhorngeiſt ; aber in Worte uͤber-
getragen , iſt und bleibt er ſchlecht Waſſer .
Daher iſt mir unbegreiflich , wie die Em-
pfindler das vaterlaͤndiſche Publikum mit
ihrem Geſchwaͤtz ſo lang ungeſtraft haben
aͤffen duͤrfen . Sollt’ meiner Meynung
nach ſich keiner beygehen laſſen , ſeine Em-
pfindeley aufs Papier zu werfen , und ſie
wie ein Kunſtgemaͤhld’ im Angeſicht des
ehrſamen Publikums zur Schau auszuſtel-
len ; denn es giebt nicht zwey Leut’ in der
Welt , die ein Ding auf einerley Art em-
pfinden , und neun Zehntel des empfindſa-
men Auswurfs ſind nicht werth’ , von einer
Menſchenſeel ’ nachempfunden zu werden .
Die Herzensempfindſamkeit verſchließt den
Mund , ſtroͤhmt nicht in weitſchweifige Ha-
ranguen uͤber , ſondern in unausredbare
Herzgefuͤhle ; und wenn ſie ſich ja aͤuſſert ,
ſo geſchieht das pathognomiſch , nicht rheto-
riſch. —
riſch . — Eben drum ſprech ich den Herrn
fuͤr einen aufrichtigen und ungefaͤrbten Sen-
timentaliſten an , weil Sie ihre Gefuͤhle mit
Worten auszureden ſich unvermoͤgend be-
kennen , und weil ſich Jhre Empfindſam-
keit bey Gegenſtaͤnden aͤuſſert , die der Theil-
nehmung des Herzens werth ſind . Wenn
aber ſo ein zarter empfindlicher Mutterkrebs ,
der ſeiner Natur nach doch wohl ein hart
Schaalthier iſt , und nur in der empfindſamen
Mauſſe die Schaalen abgeworfen hat , vors
Pult tritt und die Eindruͤcke , die jedes Luͤft-
gen oder Sonnenſtaͤubgen auf ſein reizbares
Fell macht , herauspredigt , wunder meynt ,
was fuͤr eine ſubtile Organiſation vor allen
uͤbrigen Adamskindern er zum voraus hab’ ,
und verlangt , daß jede Menſchenſeel’ mit
ihm ſympathiſiren muͤſſ’ , ſonſt beleb ſie nur
einen Hackklotz , oder einen kalten verwahr-
loßten Kopf : wer kann ſich da enthalten ,
des thoͤrichten Wahnſinns zu lachen ? Und
wenn
wenn einige zartfuͤhlende Weiberſeelen ihrer
Sage nach mit ſolchem Schnak bis zu
Schwindel und Ohnmachten ſympathiſiren
koͤnnen , auch bey Dingen wo eigentlich
nichts zu empfindeln iſt ; bey der Beſchrei-
bung des Todeskampfs , der lezten Zuckun-
gen und Zittern einer langbeinigen Muͤcke ,
oder wenn einer eine welkende Blume herz-
brechend parentirt , ganz in Thraͤnen und
Wehmuth zerfließen , indeß das Gewinſel
ihrer Kinder , die uͤber Stuhlzwang oder
Bauchweh ſchreyen , ihr Trommelfell nicht
erſchuͤttern kann : ſo iſt doch fuͤr ſelbſtſtaͤn-
dige Maͤnner der Empfindler Gewaͤſch loſe
Speiſe ohne Saft und Kraft . Sind in
deren Auger die Empfindler uͤberhaupt gar
ſchlechte Schuͤtzen , treffen immer ’s Zwerch-
fell , wenn ſie aufs Herz zielen — —
Eben da ich anfing zu bemerken , daß ich
in die Materie eingedrungen ſey , und noch
mehr Monita uͤber Empfindſamkeit und
K Em-
Emfindeley vorzubringen und das all ins
Licht zu ſetzen gedacht’ , weil ich an dem
Kaufmann einen horchſamen Zuhoͤrer fand ,
unterbrach mich der Brieftraͤger im ſchoͤnſten
Fluß meiner Red’ . Mein Auditor lief mir
aus der Schul’ , und ich mußt’ das ϰαλον
ϰ̕αγαδον , das der Goͤtterboth’ auf ſeinen
Reiſen ſo gern auspackt , nothgedrungen bey
mir behalten , weil ich Niemand fand , dem
damit gedient war .
Dennoch trug dieſe Morgenſtunde fuͤr
mich Gold im Munde : denn ſie bracht’ mir
einen dreyfachen Gewinn ein . Erſtlich
vergewiſſert’ ſie meinen phyſiognomiſchen
Glauben . Kein Menſch kann mirs ableug-
nen , daß ich diesmal durch mein Urtheil
wie der Handauflegende Apoſtel aufgeſchloſ-
ſen hab , was verſchloſſen da war ; hab den
Charakter des Mannes ſo rein aus ſeinen
Geſichtszuͤgen herausgehoben , wie einen
Eyerkaͤs aus der Form , ohne was dran zu
ver-
verbroͤckeln oder zu verhunzen . Haͤtt’ nur
gewuͤnſcht , von der oͤffentlichen Kanzel her-
ab vor der ganzen Gemeinde , den wild-
fremden Mann phyſiognomiſirt zu haben ,
damit Klein und Groß von der Gewißheit
der Kunſt uͤberzeugt worden waͤr . Denn
das hemmt eben den Fortgang der guten
Sache , daß die Phyſiognomen gemeiniglich
die richtigen Urtheile in ihres Herzensſchrein
verſchließen und kein groß Geſchrey davon
machen ; aber wenn ihnen einmal was
menſchliches begegnet , daß ſie einen Buch-
ſtaben uͤberſehen oder falſch ausſprechen , er-
heben die Gegner groß Geſchrey , meynen ,
jeder Phyſiognom ſey ein A B C ſchuͤtz , und
ſitz keiner auf der Leſebank . Welches tolle
Geſchwaͤtz mich allzeit in der Seel aͤrgert ;
denn ich vertrau der Kunſt , beſonders wenn
ich einen Treffer gezogen hab’ , eben ſo ſehr
als Dr. Hill den Kraͤften der Salbey , zur
Verlaͤngerung des menſchlichen Lebens , oder
K 2 Dr.
Dr. Marx den Kraͤften des Eichelkoffees ,
wenn er glaubt , einen Kranken dadurch
geſund gemacht zu haben ; obgleich Dr .
Baldrian meynt , es muͤſſe zu dieſem Wun-
dertrank noch ein Jngredienz hinzukommen ,
nemlich das Waſſer aus dem Teich Bethes-
da , wenn er all das leiſten ſolle , was der
Anpreißer deſſelben verheißt .
Zweytens war mir das Sentimentalwe-
ſen des Kaufmanns behaͤglich , weil dadurch
meine Theorie vom Wonnegefuͤhl , das der
Contemplationsgeiſt ins Herz ergießt , tref-
lich beſtaͤtiget wurde . Trug hierzu auch
wohl etwas bey , daß wir in Anſehung der
Herzensangelegenheiten ziemlich auf einen
Ton geſtimmt waren : er liebte , ich liebte ;
er war gluͤcklich in der Liebe , ich begehrt’
es zu ſeyn ; daher wenn er dieſe Saite ſei-
nes Lieblingsideals anſchlug , gabs in mei-
nem Herzen einen empfindſamen Nachhall .
Jch konnt’ nicht aufhoͤren , den Handels-
mann,
mann , ungeachtet ſeiner großen phyſiogno-
miſchen Unwiſſenheit , fuͤr den gluͤcklichſten
Sterblichen dieſſeits des Mondes zu preiſ-
ſen : denn ein Ehemann , der nach vielen
Jahren ſein Liebesgluͤck noch ſo lebhaft fuͤhlt ,
daß er ſich mit Jdealen von ſeiner Gattin
in ihrer Abweſenheit unterhaͤlt , iſt wahrlich
eine ſeltne Erſcheinung !
Endlich nutzt ich die Erfindung der Sil-
houetten-Malerey auf Porzellan , weil ich mich
zufaͤlliger Weiſ ’ an Ort und Stelle befand ,
wo ich in der Mutterfabrik des deutſchen Por-
zellanweſens dergleichen Arbeit leicht konnt
fertigen laſſen . Saͤumt deshalb nicht , meine
Beſtellung zu machen , und erhielt zween
Tage drauf den Chocolatenbecher mit der
Sophie Silhouett’ , umſchwebt von einer
Guirlande von Bluͤmlein vergiß mein nicht ,
alles gar natuͤrlich und niedlich . Worauf ich
zuſammenpackt , und weil hier meines Blei-
bens nicht laͤnger war , von dannen zog .
K 3 Drit-
Dritter Ritt .
Der Schatz im Gebuͤrge .
S agt einer unſrer Klaßiker , wenn ich
mich recht beſinn , der mit der Bienenkapp ’ ,
irgendwo ein herrlich Wort ; auf einem
Spatziergang ſey leicht jeder Weg der rechte .
Das iſt eine Brill vor das Bollwerk , da-
hinter die Schriftſteller ſich verſtecken , wenn
die Kunſtrichter drauf einſtuͤrmen , da koͤn-
nen ſie nicht druͤber ſpringen , ſondern muͤſ-
ſen mit langen Naſen wieder abziehn . Denn
ſpricht der Kunſtrichter ; hier iſt der Weg
verfehlt , da verirrt ſich der Autor , dort
tappt er wie ein Blinder an der Wand her-
um , muß ihn aus Commiſeration auf die
Spur helfen ; — he ! Freund , da kommſt
du unrecht , hier iſt die Straße . So ant-
wortet
wortet der Autor : laß ſich der Herr darum
nur unbekuͤmmert , die Straße weiß ich
lang , mag ſie aber nicht ziehen ; ich geh
nur ſpatzieren , und da iſt jeder Weg der
rechte . Nun mag fuͤhrohin ein Schriftſtel-
ler ſo viel krumme Spruͤng ’ machen als er
Luſt hat , durch dick und duͤnn waden ;
wem gehts was an ? Wenn er ſich fuͤr ei-
nen Spatziergaͤnger ausgiebt , darf niemand
ſeinen Gang meiſtern , oder ihm eine Di-
rektionslinie nach dem Kegelſchnitt vor-
zeichnen .
Schier haͤtt ich Luſt , meine Reiſe fuͤr
einen Spatzierritt auszugeben , daß niemand
fragen duͤrft’ , warum ich auf meiner phy-
ſiognomiſchen Wanderſchaft gerad den un-
phyſiognomiſchen Weg gewaͤhlt . — Aber
wer macht wohl auf dreyßig Meilen einen
Spatzierritt ? Auſſer dem großen Spatzier-
gaͤngergenie , dem Marquis von St. A ** ,
den ich noch auf ſeinem Kreuzzug durchs
K 4 heil.
heil . roͤmiſche Reich zu recontriren verhoff ,
hat ſich wohl ſchwerlich ein Luſtwandler zu
Roß und Fuß ſo weit von ſeiner Heimath
verlauffen . Allerdings iſts ein verdruͤßli-
cher Handel , wenn ein Groͤnlandsfahrer
mit ledigen Tonnen wieder heimkehren muß ,
und nicht ſo viel Heeringe zur Ausbeute
mitbringt , als er Wallfiſch zu fahen ver-
meynte . Mein Plan war gut : ich wollt
die großen Staͤdt ’ durchziehn , uͤber Leipzig ,
Dreßden , Berlin , Hamburg und ſo wei-
ter meinen Weg fortſetzen , dacht’ da die
Phyſiognomen Neſterweiß auszunehmen ;
doch als ich aus Meiſſen zum Thor hinaus
ritt , aͤndert ich ploͤtzlich meinen Cours ,
macht Rechts um und trabt gerades Weges
nach dem Erzgebuͤrge zu , und das aus fol-
gender Betrachtung , die mir unverſehens
aufſtieß .
Wenn der Gelehrte , dacht ich , der
neuerdings im Clima alles das zu finden
ver-
vermeint , was weiland die Pandora in ih-
rer Buͤchſe verwahrete , das Ding beym
rechten Ende genommen hat : ſo iſt zuver-
laͤßig das Clima des platten Landes und
der großen Staͤdt der Phyſiognomik nicht
guͤnſtig . Alles was durch das Vehikulum
einer warmen Jmagination zur Conſiſtenz
kommen ſoll , gedeyht beſſer in einem roman-
tiſchen Thal , beym Eingang einer ſchauer-
vollen Felſenhoͤhle , auf unwegſamen muͤh-
ſam zu erſteigenden Gebuͤrgen und in oͤden
wuͤſten Gegenden , als in einem wohlange-
bauten Lande , oder in volkreichen Staͤdten .
Selbſt die alten Propheten ſind aus dem
Gebuͤrg hervorgegangen , oder haben in der
Wuͤſte gelehrt ; und die neuen Propheten
und Prophetenknaben , die Seher , Schwe-
ber , Jdealiſirer , und die ganze Knapp-
ſchaft der Begeiſterten , haben noch ihr We-
ſen in den Gebuͤrgen , lieben die Einoͤden
und das verfallne Mauerwerk , wie die Zi-
K 5 him
him und Ohim . Daher hat manch Doͤrf-
gen , manche einſame Strohhuͤtt ’ , die zu
beſchauen kein Reiſender den Kopf aus dem
Wagen ſteckt , zuweilen eine Seltenheit auf-
zuweiſen , die man in den vornehmſten
Staͤdten in Europa vergebens ſucht .
Berlin und Petersburg hat eine Socie-
taͤt der Wiſſenſchaften , die aus den groͤßten
Vielwiſſern unſerer Zeitgenoſſen zuſammen
geſetzt iſt ; aber eine Viehmagd , mit einer
Eſpece von Allwiſſenheit begabt , dieſes
Kleinod des menſchlichen Wiſſens beſitzt
nur der Lucerner Canton , in einer Ortſchaft
ohne Namen . Staatsmaͤnner an den groſ-
ſen Hoͤfen , moͤgen ia wohl zu Zeiten in den
Divan des Großſultans , oder in ein ver-
mauret Conclave der Cardinaͤl ’ , oder in das
Kabinet eines benachtbarten Monarchen ei-
nen Tiefblick thun ; doch erfordert das viel
Umſtaͤnd ’ , ſie muͤſſen erſt durch Beyhuͤlf ’
eines goldnen Regen durchs Dach des Se-
rails
rails , oder andrer auslaͤndiſchen Pallaͤſte
herunter ſteigen , wenn ſie klar und deutlich
ſehen wollen , was drinnen vorgeht . Aber
das all’ in einer Bouteille reinen Brunnen-
waſſers zu ſchauen , das vermag keiner die-
ſer einſichtsvollen Miniſter , das kan auf
Gottes weiten Erdboden kein Menſch , auſ-
ſer der Waſſerprophetin zu Biel . Jn dem
heiligen Rom , wo die ſichtbare Kirch’ auf
Erden Hof haͤlt , wo ſo viel fromme Moͤnch ’
und Nonnen hauſen , wo die Quelle der Mi-
rakel ſeyn ſollt’ , geſchehen gleichwol von le-
benden Heiligen keine ; und der apoſtoliſche
St. Martin von Schierbach , macht nebſt
andern curieuſen Mirakeln die er verrichtet ,
die kranken Kuͤh’ durch ſeinen Schatten heil.
Rom iſt auf ſieben Berg ’ gebaut , davon
traͤgt jeder ſtattliche Tempel und Gebaͤud ’ ;
aber keiner traͤgt ein Mirakulatorium , der-
gleichen giebts nur eins in der Welt , das
ſteht hinter Zuͤrich in der Schweiz , auf ei-
nem
nem einſamen und verwilderten Plaͤzgen .
Der zeitige Dechent zu Pondorf hat ſeine
Wunderſtimm ’ nicht zuerſt auf ofnen Kreuz-
wegen und innerhalb der Ringmauern groſ-
ſer Staͤdt ’ erſchallen laſſen , ſondern hat aus
einem abgelegnen Winkel hervor ſein Spiel
getrieben , wie ein Kobolt , der die Leut ’
vorerſt zur Nachtzeit bey einer Kirchhof-
mauer , oder bey einer zerfallnen Grabſtaͤtt ’
mit Kalch und Steinen aͤft , biß er ſich bey
Weibern und Knaben in Reſpekt geſetzt , und
hernach erkuͤhnt , ſie am hellen Mittag am
Kleid , oder gar bey der Naſe zu zupfen .
Moͤgen der Beyſpiel’ vor der Hand gnug
ſeyn zu beweiſen , daß das Jmaginations-
weſen in Gegenden , wo die Arnica waͤchſt ,
uͤberaus wohl bekomm ; in weiten Sand-
ebenen hingegen , wo die maͤrkiſchen Ruͤben
gutthun , durchaus nicht bewurzeln kann .
Doch wie ieder Boden das Wachsthum ge-
wiſſer Pflanzen beguͤnſtigt : ſo ſind ſchlich-
ter
ter Menſchenverſtand , kaltbluͤtige Vernunft ,
Pruͤfungsgeduld und theoretiſche Philoſo-
phie , unter einem Himmelsſtrich , der ſich
uͤber Blachfeld ausdehnt , gleichſam einhei-
miſche Produkte . Dieſem Einfluß des Cli-
ma ſchreib’ ich ’s lediglich zu , daß in den
Brandenburgiſchen Staaten kein Schwaͤr-
mer iemals recht hat aufkommen koͤnnen ,
und die dahin von außem her ſind verpflan-
zet worden , haben nur wie exoteriſche Pflan-
zen im Gewaͤchshauß’ vegetirt ; ihr Saame
aber iſt unter freyem Himmel daſelbſt ent-
weder nicht aufgekommen , oder nach des
Landes Beſchaffenheit bald ausgeartet . Jch
vermein’ der weiſe L. hab’ eben ſo ſpekulirt ,
als er vor einigen Jahren ſelbſt ausreißt ,
und nachher der gemeinen Sage nach Emiſ-
ſarien ausſandt ’ den alten Wunderglauben
wieder aufzuſpuͤren , wo er irgend auf Erden
noch verborgen waͤr’ . Da ließ er ſeine Juͤn-
ger die großen Staͤdt ’ voruͤber ziehn ; oder
wenn
wenn ſie ihr Weg durchhin fuͤhrt , durften ſie
ſich ’s nicht austhun , was ihr Jntent ſey :
auf Hoͤhen und in Hainen aber , bey den
Hirten auf den Gebuͤrgen kletterten ſie her-
um , gingen unter iedes Strohdach ein , und
durchſtoͤrten die Dreſchtennen , Spinnſtuben
und Milchkeller , in Meynung die Heilig-
keit und Einfalt der Sitten des goldnen
Weltalters , und die Kraft des Glaubens
Berge zu tranſportiren , dort zu erhaſchen .
Alſo ſteuert’ ich , unter dem Geleit dieſer
Beherzigung , mit Macht auf das Gebuͤrge
loß , und gelangt im zweyten Rennen den
folgenden Tag in den erzgebuͤrgiſchen Kraiß .
Wie ſich das Terrain allgemach erhob , und
die blauen Berg’ in der Fern’ mir vor-
ſchwebten , erhoben ſich in meiner Seel’ wie-
der mancherley Jdeale , die mich ſchier in ei-
ne Reverie verſenkt haͤtten , wenn der De-
ſpot unterm Eſophagus diesmal nicht mehr
Einfluß auf die Seel ’ gehabt haͤtt’ , als das
Clima.
Clima . Begegnet mir ein Bauersmann
unweit einer Ortſchaft , den frug ich : Lands-
mann wie hoch iſt ’s hier zu Land’ am Tage ,
nach eurer Uhr im Dorf’ ? Herr , antwor-
tet derſelb’ wir haben keine Uhr im Dorf ’ ;
aber nach der Bratenuhr der Gutsherrſchaft
iſt ’s eben Mittag , denn die Rebhuͤner ſind
braun . Jch konnt’ einem gewiſſen gehei-
men Trieb’ , der ſich doch leicht erklaͤren
ließ , nicht wilderſtehen hier einzuſprechen ,
erfuhr , daß eine tugendſame Wittib benebſt
einigen Koſtfraͤulein den Edelhof bewohn ,
nahm mir vor ein Abentheuer zu wagen ,
und mich bey den Damen à la Bunkel zu
introduciren . Beſann mich auf einen der
Weideſpruͤch ’ dieſes Weiberſponſirers , mei-
nen ungebetenen Eintritt zu entſchuldigen ,
und fuhr nicht uͤbel dabey .
Die Frau vom Hauß’ , eine feine wohl-
geſtalte Dame , in ihren beſten Jahren , der
nichts abging , als hie und da ein Zahn ,
empfing
empfing mich mit ungemeiner Redſeligkeit ,
die ich nach der Mahlzeit beſſer goutirt’ als
vor derſelben . Bald nach Tiſch ’ frug die
Dame , ob wir Belieben truͤgen — war
noch außer mir ein junger Officier zum Be-
ſuch da , der wohl nicht Betens halber in
dieſen Stiftsconvent gekommen war , — der
phyſiognomiſchen Uebungsſtund ’ beyzuwoh-
nen , die ſie ihrer Gewohnheit nach taͤglich
um dieſe Zeit zu halten pflegten . Jch
horcht’ hoch auf , als ich vernahm , daß die
Phyſiognomik im Erzgebuͤrg ’ Wurzel ge-
ſchlagen , das macht’ mir ſo viel Freud’ ,
als der Anblick des erſten Ulmenbaums
beym Ammonstempel dem Heer des großen
Alexanders , als es die Libyſche Sandwuͤſte
gluͤcklich durchwandert hatte . Der ganze
Zug ging in die ſogenannte Bibliothek , die
außer einem Vorrath aſcetiſcher Schriften ,
worunter die Predigten fuͤr verheyrathete
Frauenzimmer die mehreſten Merkzeichen
einer
einer fleißigen Lektuͤre an ſich trug , nichts
wichtiges enthielt , außer das beliebte Hey-
rathsſyſtem des Herrn Hermes , welches
Kernbuch nach allen drey rechtmaͤßigen Auf-
lagen ſich hier befand , und die phyſiogno-
miſchen Fragmente .
Die Frau von Bohn hatte die Gewohn-
heit , die Phyſiognomik des Nachmittags
eben ſo zu behandeln , wie ihr bibliſches
Schatzkaͤſtlein in der Morgenſtunde . Sie
grif nach einem Band der Fragmente , wel-
cher ihr zuerſt in die Hand kam , und das
Blatt , das ſie ohne Wahl aufſchlug , war
das Penſum des Tages , das geleſen und
von ihr kommentirt wurde ; und wenns nicht
reichhaltig genug war , wurd’ auch wohl
das Looß noch einmal gezogen . Diesmal
bracht’ ihr der Zufall das drey und dreyßig-
ſte Fragment des zweyten Theils zuerſt zu
Geſicht’ . Ueber die Tafel mit Loͤwen , Tie-
ger , Katz’ und Leoparden gab ’s herrliche
L Bemer-
Bemerkungen ; die mich aber weniger in-
tereßirten , als der Kontraft den ich mittler-
weil’ zwiſchen den grimmigen , haͤmiſchen ,
ſchlauen Thierphyſiognomien , und den ſanf-
ten , gutmuͤthigen Lammsphyſiognomien der
jungen Maͤdchen zu bemerken Gelegenheit
fand , die um ihre Domina herum nieder-
kauerten , und die Ausfluͤſſe ihrer Suada
gierig einſogen . Hatte , duͤnkt mich , keins
aus der Geſellſchaft eine Aehnlichkeit mit ei-
ner Vorſtellung auf der Kupfertafel , außer
der junge Officier , an dem ich katzenartige
Lauerſamkeit wahrnahm ; die aber mehr
pathognomiſch , als phyſiognomiſch ſchien ,
denn eine der Koſtfraͤuleins ſpielte das
Maͤuschen ganz unverholen ; wiewol das
die Dame Gouvernante , die ganz verleo-
pardiſirt war , nicht bemerkte . Sie war
uͤberhaupt nur Phyſiognomiſtin im Buch’ ,
die dem Meiſter nachlallte , was er ihr vor-
predigte ; denn wo ſie derſelbe verließ ,
wußte
wußte ſie keinen Beſcheid , wovon beykom-
mende Probe , die mir von ihrer Vorleſung
im Gedaͤchtniß iſt hangen blieben , das
mehrere beſagt .
Es iſt doch zum Erſtaunen , ſprach ſie ,
wie weit die Aehnlichkeit zwiſchen Menſchen
und Thieren zuweilen geht . Jch kenne
einen Cavalier , der dem Mann dort mit
dem Hirſchgeweih — war die Geſchichte
des Aktaͤons auf einer Schilderey , die im
Zimmer hing , — ſo gleich ſieht , daß ,
wenn man dieſem das Geweyh naͤhm , oder
es ſich bey jenem hinzudenken wollte , jeder-
mann glauben ſollte , der Kavalier ſey hier
gemahlt ; dennoch iſt auf dem Bilde ein
Hirſchkopf zu ſehen und kein Menſchenkopf .
Gleicherweiſe find ich den hier in der Schluß-
Vignette abgebildeten Dey aus Algier , dem
ſitzenden Leoparden ſo gleich , daß , wenn
die Abbildung des Einen verloren gegangen
waͤre , ſie aus dem Konterfey des Andern
L 2 voll-
vollkommen erſezt und wieder hergeſtellt
werden koͤnnte . Bemerken Sie doch , wie
aus dieſer grauſenden Phyſiognomie alle
Leopardeneigenſchaften vorblicken . Welche
verbiſſene Wuth , in dem auf beyde Seiten
herabhangenden Maule ! Was fuͤr ein un-
ausloͤſchlicher Durſt nach Chriſtenblut leuch-
tet ihm aus den Augen ! Jſt es nicht als
wenn der Wuͤtrich nach den Haken hinſaͤhe ,
in die er eben ein Dutzend Chriſtenſklaven
habe werfen laſſen , und ein grauſam Ver-
gnuͤgen empfaͤnd , zu ſehen , wie ſich die
Ungluͤcklichen zu tode zappelten ? Und wel-
che Haͤrte und Unerbittlichkeit im ſteifen
Nacken ! Auch ſogar die herabhangende Binde
des Turbans iſt hier charakteriſtiſch : ſie
markirt Grimm und Unbaͤndigkeit , wie die
Unſinnigen in ihrer Raſerey pflegen ſich
Haar und Bart auszuraufen , ſo hat der
Kahlkopf hier ſeinen Zorn an ſeinem Tur-
ban ausgelaſſen und ſolchen zerriſſen . Fuͤr-
wahr,
wahr , die Menſchheit ſchaudert vor dieſer
graͤßlichen Phyſiognomie zuruͤck ! — Gott ,
was giebts fuͤr Ungeheuer unter den Men-
ſchen !
Konnt’ mich nicht laͤnger mehr enthal-
ten , hier ein Wort drein zu ſprechen , um
das Aug’ der Dame auf den rechten Seh-
punkt zu ruͤcken . Gleichwol , redet’ ich ihr
ein , iſt der Mann auf der Vignett ’ an alle
dem ſehr unſchuldig , was Jhr ’ Gnaden aus
ſeiner Phyſiognomie leſen ; denn er hat
wohl keine Menſchenſeel knuten , patocken ,
ſpieſen , zerſaͤgen , oder in die Haken wer-
fen laſſen . Mit ſeinem hoͤlzernen Schwerdt
mag er zu Zeiten um ſich ſchwadronirt ha-
ben ; aber dafuͤr hat er von Andern wieder
derbe Puͤff ’ einnehmen muͤſſen . Kennen
Sie dieſen Vezier , und wiſſen Sie wie er
mit Namen heißt ?
Wie er heißt ? antwortet’ die Dame ein
wenig uͤbelnehmend , was liegt daran , ob
L 3 er
er Jbrahim oder Muſtapha geheißen hat ?
Jch begnuͤge mich zu wiſſen , daß es ein
Dey aus Algier iſt , wie ſich das aus dem
Text urtheilen laͤßt , denn da ſteht deutlich :
der ſitzende Leopard ſey ein wahres Bild ei-
nes Dey aus Algier , auf dem Teppich ſei-
nes Throns und ſein Miniſter an der Seite .
Natuͤrlich hat Herr Lavater dieſe gefundene
Aehnlichkeit mit dem beygefuͤgten Portraͤt
belegen wollen , und in der That , haͤtte er
es auf keine Weiſe uͤberzeugender thun koͤn-
nen . Wenn aber das auch nicht waͤre , ſo
ſtuͤnds ſchlecht um die Phyſiognomik , wenn
man nicht einen Fuͤrſten , Arzt , Juden ,
Tuͤrken , Dey , Hoſpodar , Staroſten u. ſ. w.
aus der Phyſiognomie erkennen koͤnnte .
Ja , ſagt ich , ſo ſollts wohl ſeyn ; aber
irren iſt menſchlich . Der Kopf hier in der
Vignett’ iſt Clausnarr , nichts mehr und
nichts weniger , und was Sie fuͤr ein Frag-
ment ſeines Turbans halten , iſt nichts an-
ders
ders als ſeine Narrenkapp , daran der Ku-
pferſtecher die Schellen vergeſſen hat .
Haͤtt ein Chriſtenmenſch anhoͤren ſollen ,
wie die lebhafte Frau gegen mich auffuhr .
Ey mein Herr , wer mir ſagt , daß das ein
Narr ſey , der ſagt mir , ich ſey eine Thoͤ-
rin !
Don Bellanis , der bisher den Stum-
men im Serail geſpielt hatte , wollte nun
auch den Favoriten der Sultanin machen ,
ruͤſtet’ ſich zum Beyſtand der Dame , und
publicirt eine Fehde gegen all und jede , die
Clausnarren nicht fuͤr einen Dey von Al-
gier erkennen wollten , ſprach ihnen auch
ohne Gnad die fuͤnf Sinnen ab . Jch zog
mich bey dieſem unverſehenen Angriff hinter
meine alte Landwehr zuruͤck : ſie reden was
ſie wollen , — ergriff ſtillſchweigend den
dritten Verſuch der Fragmente , ſchlug auf
die Reviſion pagina 28 , und ſprach etwas
im triumphirenden Ton : da leß der
L 4 Herr! —
Herr ! — Nun war die Maus in der
Fall’ , und der Sieg ganz auf meiner Seite ;
aber es that doch einer Bruͤcke noth , eh die
Partheyen wieder zuſammen kamen , die
wurd endlich auf des herzguten Lavaters
Unkoſten errichtet . Jch ſchaft ſelbſt die
Materialien zur Hand , ob ichs gleich in
Foro conſcientiae nicht auszufechten mich
getraut’ , daß ich meinen abweſenden Freund
und Lehrer zum Schuldtraͤger vorſchob .
Jhr’ Gnaden , ſprach ich , duͤrfen ſichs nicht
befremden laſſen , daß Jhr Urtheil diesmal
geſtrandet iſt , das nemliche iſt ſchon an die-
ſer Sandbank manchem phyſiognomiſchen
Piloten , mit dem Senkbley in der Hand
wiederfahren , der auf den Text im Buch
ſein Augenmerk gerichtet und dieſen fuͤr den
Leuchtthurm angeſehen , der doch hier nur
Meteor iſt . Mir kommts vor , als ſey
dieſe Vignett eine Attrapp ’ , mit Vorbedacht
aufgeſtellt , den phyſiognomiſchen Witz oder
Scharf-
Scharfblick daran zu verſuchen , und wie
an einem Wetzſtein zu ſchaͤrfen .
Ey , erwiedert’ die Dame , noch immer
etwas aufgebracht , ich begehre nicht meinen
Witz an einen Stocknarren zu wetzen . Jch
ſage Jhnen , daß L. ſehr unrecht gethan hat ,
ſeine Leſer , die Unterricht ſuchen , auf eine
ſolche Art zu taͤuſchen und ihrer gleichſam
zu ſpotten . Nun deployirte ſie noch eine
volle Lage von Vorwuͤrfen und Verweiſen
gegen den lieben Mann , und ich hielts ei-
ner geſunden Politik gemaͤß , zum Schein
auch einmal mit unter zu plaͤnkern , dacht’s
koͤnn ihm das wenig verſchlagen , es ſey da-
mit ſo boͤß nicht gemeynt , und mir bring’s
gleichwol Vortheil ein . Aber bald wacht’
bey mir das Gewiſſen auf , und ich konnt
mir ’s nicht verzeihen , daß ich den Ruͤcken
meines Freundes Preiß gegeben hatt’ , um
den meinigen ſicher zu ſtellen . Denn im
Grunde hatt’ ich gegen meine Ueberzeugung
L 5 geredet,
geredet , und die Attrapp blos erfunden ,
den Unwillen der Dame , die ihre Phyſio-
gnomiſten-Ehre beleidiget hielt , eine andre
Richtung zu geben , als gerad nach mir zu .
Wie ſie nun nicht aufhoͤren konnt’ zu
griesgramen , ſo lang’ das Buch aufgeſchla-
gen da lag , nahm ich wieder das Wort ,
ſprach : es iſt durch den Augenſchein klar ,
daß Claus Narr’ mit ſeiner Leoparden-
Phyſiognomie , einem Dey von Algier glei-
cher ſieht , als einem Hofſpaßmacher ; aber
vielleicht gehoͤrt er zu den Ausnahmen , die
ſich nicht unter die Regel bringen laſſen .
Denn wie ’s nicht unmoͤglich iſt , auf den
Galeeren Reguluskoͤpf’ , und im Zuchthauß ’
Veſtalinnengeſichter zu finden : ſo iſt’s auch
wol moͤglich , Deyen- oder Beglerbegskoͤpf ’
unter der Narrenkapp’ anzutreffen ; und
umgekehrt mag ſich ’s auch begeben , daß ei-
ne Galeerenmaͤßige Phyſiognomie , in einen
ehrwuͤrdigen Senat ; und eine Bordelmaͤſige ,
in
in ein keuſches Nonnenkloſter ſich einſchleicht ;
oder eine Narrenkapp ’ ſich auf den Teppich
eines Throns pflanzt . Bey dieſen Aus-
nahmen iſt ’s ſchwer , den Fuͤrſten , Kriegs-
mann , Arzt , Dichter , Denker , Seher
heraus zu finden . Vielmehr begegnet’s da
wol , daß der Phyſiognomiſt den Schach
fuͤr den Narren , den Richter fuͤr den Dieb ,
und eine Veſtalin fuͤr eine Buhldirn’ an-
ſpricht . Durch dieß Erpediens gelang’s
beſſer , als mit einem Glaß Kryſtallenwaſ-
ſer , die aufgebrachten Lebensgeiſter der Da-
me wieder zu beſaͤnftigen ; doch wurd’ die
phyſiognomiſche Uebungsſtund ’ ſogleich ge-
ſchloſſen , und den ganzen Tag dieſe ver-
ſtimmte Saite , die einmal einen Mißlaut
von ſich gegeben , nicht wieder beruͤhrt . Jch
uͤbernachtet’ in dieſer kloͤſterlichen Burg , wo
uͤbrigens alle Geſetze des Gaſtrechts nach
Kloſtergebrauch , gegen irrende Ritter und
Pilger freygebig geuͤbt wurden , und zog
mit
mit meinem Reiſigen , nachdem ich die Da-
me vom Hauß ’ freundlich begruͤßet , und
unter ihrem Fenſter den Cimber ihr zu Eh-
ren weidlich getummelt hatt’ , in aller Fruͤh ’
wieder meiner Straße .
Stieß mir den ganzen Tag kein Aben-
theuer auf . Jch erquickt’ meinen Geiſt an
dem herrlichen Gemaͤhlde der waldigen Ge-
gend , und der Ausſicht in die Boͤhmiſchen
Berg’ , die den Horizont begraͤnzten , freut’
mich uͤber das mannichfaltige Colorit des
abſterbenden Laubes im Vorholz , uͤber wel-
ches ein duͤſtrer Fichtenwald im Hinter
grund ’ empor ragt’ . Mein Philipp war
auch in ſeinem Element’ , da’s ſo Waldein
ging , wurd’ ganz geſpraͤchig ; da er im ebe-
nen Feld ’ keinen Laut angeſchlagen hatt’ ,
macht allerley kritiſche Bemerkungen , uͤber
das oͤkonomiſche Abtreiben der Waͤlder , er-
eifert’ ſich wo er uͤberſtaͤndiges Holz fand ,
und ließ ſeine Weisheit , die er aus dem all-
gemei-
gemeinen oͤkonomiſchen Forſtmagazin einge-
ſogen hatt’ , ringsum ausſtroͤhmen , wie ein
loͤchrich Faß ſein Waſſer ; dacht ’ nicht dran ,
daß die Waldanomalien im Erzgebuͤrg’ ,
nach gewiſſen Abſichten ſo guten Grund ha-
ben koͤnnen , als die wiſſenſchaftlichen , wel-
che die Kunſtrichter , die alles nach ihrem
Wiſſen meiſtern wollen , mit dem kritiſchen
Waldhammer fleißig anzeichnen , und dem
Autor ſo wenig Quartier geben , als mein
Philipp den erzgebuͤrgiſchen Foͤrſtern , die ,
indeß ein unberufner Kritiker ihr Revier
durchzog , in großer Gemuͤthsruh’ einen Ha-
ſen ſtreiften , an den Bratſpieß ſteckten , und
von ihrem Waldariſtarch kein Wort wußten .
Als der Tag ſich zu neigen begann , und
die hohen Berg ’ die Thaͤler bereits uͤberſchat-
teten , war ich mit meinem Philipp tief in
den Wald gerathen , wo ſich der Weg nach
und nach verlohr . Es ging Bergauf , Berg-
ab , und die romantiſche Gegend , der ich
zu
zu weit nachgeſpuͤrt hatte , zog mich in ein
Labyrinth , aus dem ich mich nicht heraus
zu finden wußt’ . Vergebens ſpuͤrten wir
nach einem Pfad umher , der uns zum Leit-
faden haͤtt ’ dienen moͤgen , zu irgend einer
menſchlichen Wohnung zu gelangen . Jn-
dem ich ſo etwas mißmuthig fortritt , fing
Philipp hinter mir halb laut an : Herr ,
dort ſeitwaͤrts lauſcht einer hinterm Baum
hervor , weiß nicht ob ’s hier geheuer iſt .
Haſt Recht , ſprach ich , ſchau ein wenig
umher ; moͤgen hier wohl mehr der Buſch-
klepper ſtecken . Halt Kraut und Loth pa-
rat , wer weiß wo wirs brauchen koͤnnen .
Jch trabt’ drauf mit Macht auf den Ort
loß , wo Philipp eine Menſchengeſtalt wollt’
geſehen haben , viſirt’ dort allenthalben um-
her in dem Gebuͤſch ; aber da war kein le-
bendiger Odem zu verſpuͤren . Gleichwol
ſchlaͤngelt’ ſich ein Fußpfad unweit davon
mit ſo vielen Kruͤmmungen durchs Holz ,
wie
wie ein Schlangenweg durch einen engli-
ſchen Garten , dem wir folgten . Sahen
bald darauf einen Mann vor uns herſteigen ,
der lange Schritt’ macht’ , als einer der je-
mand gern aus dem Geſicht kommen will ,
und doch nicht den Schein haben mag , als
ob er lief . Jch ließ den Philipp alsbald
Jagd auf ihn machen , doch der Fußgaͤnger
ſchritt friſcher zu , als der Spondaͤengaͤnger ,
biß der Sporn ſeinen Mechaniſmus alſo er-
ſchuͤttert’ , daß er leichter auf den Fuͤßen
wurd’ , als ein Reh . Dem Cimber wan-
delt bey dieſer Gelegenheit unverſehens ſein
alter Ehrgeiz an , kein Pferd voraus zu laſ-
ſen , und ſo war der Wandersmann bald
eingeholt .
He ! Kamerad ! rief Philipp , wo fuͤhrt
dieſer Weg hin ?
Dicht’ durchs Holz .
Ph . Das ſeh ich wol ; aber an welchem
Ort , oder in welche Stadt ?
(Tro-
( Trozig ) Das weiß ich nicht . ( Lag auf
dem Jch das ganze Gewicht der Antwort ) .
Ph. Narr , wie kannſt du einen Weg
gehn , den du nicht kennſt ?
Narr , wie kannſt du den naͤmlichen Weg
reuten ?
Ph. Kurz von der Sach’ , wo geht der
Weg hin ?
Vorwaͤrts !
Ph. Hoͤr Geſell ! Gieb Beſcheid wie ’s
paßt , oder es ſetzt Hiebe .
Die ſind mir nichts neues , zwey uͤber
einen , da gehts ordinaͤr ſo .
Gemach Philipp , gemach ! fiel ich ein ;
der gute Mann hat ſich wol eben ſo von der
Straß ’ verirrt , als wir .
Verirrt ? Wie das ? Mir iſt jeder Weg
der rechte .
Sollte das ein Spaziergaͤnger ſeyn ?
dacht’ ich , ſieht mir doch nicht darnach aus .
Jch
Jch frug traulich : wo ſoll die Reiſe hin gehn
Landsmann ?
Nirgends .
Hm ! dacht’ ich weiter , wenn den der
Narrenfreſſer nicht bald wegſchnappt , ſo
frißt er keinen mehr . Alle dieſe Reden wa-
ren ſonderbar genug , ließen ſich nicht min-
der auf einen Strauchdieb , als einen Nar-
ren deuten ; uͤberdies ſprach der Mann in
einem ſo muͤrriſchen Ton , und ſchritt ſo be-
hend zu , als woll er uns in einen Hinter-
halt von Bergcorſen locken . Bey dieſen
Umſtaͤnden nahm ich meine Zuflucht zur
phyſiognomiſchen Kunſt , eh’s Nacht wurd’ ;
denn ich begehrt’ nicht in Winkelmanns Feh-
ler zu faller , der laut des Meiſters Zeug-
niß , Phyſiognomiſt in einem außerordent-
lichen Grad war , und es doch ſeinem Moͤr-
der nicht anſah . Drum ſtudiert ich alle
Menſchengeſchter , die mir auf der Straß ’
begegneten , wiewol mir noch keins aufge-
M ſtoßen
ſtoßen war , das auch nur aufs Theater in
der Emilia Galotti zum Banditen getaugt
haͤtt’ . Der Wandersmann , als ich ihn ge-
nau ins Auge faßt’ , ſah einem Spizbuben ſo
wenig gleich , als Onkel Toby nach Cho-
dowiecki einem Genie , und wenn er einer
geweſen waͤr , ſo muͤßt’s ein Reguluskopf
unter dem Diebsgelichter geweſen ſeyn . Er
hatt’ ein braves biederes Geſicht , nichts
ſchiefes , haͤmiſches , gleisneriſches , auch
nichts leopardenaͤhnliches , der Blick des
Auges fortgehend durch Schaal ’ und Huͤlle
auf den Kern . Die Kinnlade , wenn ſolche
nicht durch magre Lebensart verlaͤngert war ,
zeigte Maͤnnlichkeit an , die ſich der Rohig-
keit naͤherte . Auf der Stirn , vom Plinius
der Aushaͤngſchild der Freude und Traurig-
keit genannt , war mit leſerlichen Buchſta-
ben Truͤbſinn und uͤbler Humor angeſchrie-
ben . Uebrigens ließ die Phyſiognomie der
Kleidung , Waͤſche , und des koͤrperlichen
Anſtan-
Anſtandes , eher einen reputirlichen Mann ,
als einen Vagabonden vermuthen ; auch
ſchien er , außer einem Stabe von Weiß-
dorn , der zur Nothwehr dienen konnte , und
allenfalls einem Brodmeſſer , keine hauen-
den und ſtechenden Waffen , oder Schießge-
wehr bey ſich zu fuͤhren . Das bewog mich ,
meinen Gefehrten genauer zu ſondiren . Jch
ſeh wol , fing ich an , wir ziehen einerley
Straße , und keiner von uns weiß wo ſie
hinfuͤhrt , will der Herr , ſo koͤnnen wir uns
den Weg durch ein Geſpraͤch verkuͤrzen . So
viel ich aus des Herrn Phyſiognomie ur-
theil , iſt was in ſeiner Seel , das ihn
druͤckt und bangt . Jſt dem nicht alſo ?
„ Verſtehn Sie ſich auf Phyſiognomie
Herr ? „
Jch vermeins , wenigſtens treib ich das
Studium zu Befoͤrderung der Menſchen-
kund ’ und Menſchenliebe mit allem Fleiß .
M 2 „Zu
„ Zu Befoͤrderung der Menſchenliebe ? —
Alſo Lavaters Nachtreter . — Von allen
Orten und Enden her doch nichts als ewi-
ger Nachhall ! — Nirgends feſter Gang
und Mannstritt , der ſelbſt Fußtapfen zur
Nachfolge zeichnet . Ueberall Kindesſinn
gnug , zum Anſtaunen und Begaffen jedes
neuen Dinges als Spielzeug ; aber nicht
Kraft und Weisheit , es zu vervollkommen
und zu nießbrauchen . „
Dieſe Red fiel mir ſonderbar auf , drum
ſprach ich weiter : mit Erlaubniß , daß ich
fragen mag , iſt der Herr ein Litteratus oder
ein Profeßionsverwandter ?
„ Beydes . Seitdem ſich aber jeder
Dummkopf zum Litteratus ſtempeln laͤßt ,
wie Meiſter Menadie zum Doktor , iſt mir
das Wort zu aͤquivok , und ich halte mich
lieber zu den Profeßioniſten . „
Jch verſteh den Herrn : er iſt alſo zwey-
ſchuͤrig , ſo ein litterariſcher Patrizier , der
un-
unterm gelehrten Adel nicht turniermaͤßig
iſt ; aber doch bey einem Ehrengelach einen
Degen anſchnallen darf . Jrgend ein Apo-
theker , Buchhaͤndler , Buchdrucker , oder
Chirurgus , nicht wahr ?
„ Nichts von allem dem ! — Wenns
Sie ’s denn genau wiſſen wollen : ich bin
ein Phyſiognomiſt von Profeßion . „
Seit dem Salzkaͤrner , der einer alten
Ueberlieferung zu Folge , das Freyburger
Bergwerk entdeckte , hat im Erzgebuͤrgi-
ſchen Kraiß zuverlaͤßig kein Menſch eine ſo
unvermuthete Freud empfunden als ich , da
ich das vernahm . Wahrlich , eine wun-
derbare Kataſtrophe ! Der Raͤuber , von
dem ich einen Augenblick vorher waͤhnt’ ,
er werd mir mit ſeinen Diebsgeſellen nach
der Gurgel faſſen , verwandelte ſich mit ei-
nemmal in einen meiner Zunftgenoſſen .
Das war mir um mehr als einer Urſach
willen lieb . Denn vorerſt hau und ſchieß
M 3 ich
ich mich nicht gern herum , abſonderlich
mit Diebsbanden . Hiernaͤchſt beſcheert mir
da das Ungefehr in einer Einoͤde , was ich
auf viel Meilweges vergeblich geſucht hatte ;
endlich freut ’ mich die feine Organiſation
meiner Naſe , daß , gleichwie die Schiffer
in der offenbaren See , auf funfzig Seemei-
len weit Land riechen , das edle Spezerey
traͤgt , ich gleicherweiſe den phyſiognomi-
ſchen Grund und Boden von weitem her
ausgewittert hatt’ . Das hoͤr ich gern ,
ſprach ich drauf , ſonach ſind wir eines
Handwerks .
„ Nicht ſo ganz wie Sie denken : ich
bin von der ſtrengen Obſervanz . „
Wie ? Erkennen Sie nicht den Zuͤrcher
fuͤr Jhren Meiſter ?
„ Nein . Jch verdanks ihm , daß er zuerſt
die Bahn gebrochen ; auch den erſten Licht-
blick verdank ich ihm . Nun mir aber die
Augen geoͤfnet ſind , ſeh ich nicht mehr mit
den
den ſeinigen , ſondern bediene mich meiner
eigenen . „
Und was ſehen Sie da ?
„ Ganz was anders , als was er zu ſe-
hen vermeint . „
Zum Exempel ?
„ Jch ſehe dort ein Dorf , das mir ſehr
gelegen kommt , da zu uͤbernachten . —
Leben Sie wohl , mein Herr . „
Nicht doch . Wir bleiben beyſammen ,
Sie ſind auf dieſen Abend mein Gaſt in
der Herberg .
„ Jch bin keines Menſchen Gaſt . „
Und warum das ?
„ Jch habe zu oft die Zeche bezahlen
muͤſſen .
Ein ſonderbarer Mann ! der meine Neu-
gierde immer mehr reizte . Mußt’ ihm
viel gute Wort geben , eh er ſich bewegen
M 4 ließ,
ließ , mir zu willfahren . Wir gelangten
mit ſinkender Nacht an Ort und Stelle ,
war ein feiner Flecken an der Boͤhmerſtraß ,
wo alles zu haben war , was zur Leibes
Nahrung und Nothdurft gehoͤret . Jch ent-
ſchloß mich , hier einige Tage zu raſten , um
meinen Waldphyſiognom bey guter Muſe
recht auszukoſten , in dem ich , nach der
Praͤliminarnotitz , die ich von ihm genom-
men hatt’ , zu urtheilen , einen großen
Schatz phyſiognomiſcher Wiſſenſchaft ver-
muthen konnt’ .
Drit-
Drittes Stillager .
Uebers Erwachen phyſiognomiſchen
Sinnes .
D ie Ermuͤdung des vorigen Tages hielt
mich laͤnger , als gewoͤhnlich , in den Federn .
Wuͤßt’ nicht leicht , daß ich ſanfter geſchlafen
haͤtt ’ außer als Knabe , wo ich zuweilen auf
dem Catechismus ſchlief , wenn ich ein Pen-
ſum zu lernen vorhatt’ , das war unſtreitig
der ſuͤßeſte Schlaf in meinem Leben . Als
ich erwachte , war mein erſtes von meinem
Gefehrten Kundſchaft einzuziehen ; war mir
ein groß Gaudium , die Meynungen und
Grundſaͤz ’ des phyſiognomiſchen Quackers
zu vernehmen , und ſeine Abweichungen von
der wahren Lehr’ , wie ſolche in dem Canon
der Fragmenten verfaßt iſt , zu pruͤfen und
gruͤndlich zu widerlegen ; vernahm aber zu
M 5 mei-
meinem nicht geringen Befremden , daß der
Scheker vor einer Stund’ bereits ohne Sang
und Klang dekampirt ſey . Kam mir die
Zeitung ungelegen , weil mein ganz Tage-
werk dadurch zerſtoͤret wurd’ . Philipp
meynt’ , er hab’s dem Schurken wol ange-
ſehn , daß nichts hinter ihm ſey . Wenn er
gedurft haͤtt’ wie er wollt’ , hab er ihm das
rohe ungeſchlachte Weſen , und das raͤthſel-
hafte in ſeinem Benehmen bald vertreiben ,
ihn ſchmeidig machen , und zur Sprache
bringen wollen . Jch aber urtheilt’ aus alle
dem , beſonders , da ich vernahm , daß er
auf meine Rechnung nicht mehr , als fuͤr
zween Dreyer Kartoffeln verzehrt hatt’ , —
denn vor Muͤdigkeit unterblieb die ordent-
liche Abendmahlzeit , — daß das einer von
den herumziehenden Schwung- und Kraft-
maͤnnern ſeyn muͤßt’ , die ſich , ſagt man ,
ſtark auf die Kartoffelmaſtung legen ſollen .
Deswegen hab ichs in meiner Wirthſchaft
ganz
ganz abgeſchaft , die Stier’ mit Kartoffeln
zu maͤſten , ſeitdem ſie die Denker und ſchoͤ-
nen Geiſter zu ihren Dudaim erwaͤhlt ha-
ben . Denn es duͤnkt mich ein chimiſcher
Mißbrauch zu ſeyn , dieſe koͤſtlichen Erd-
fruͤcht ’ in einen Rindsmagen , wie in einen
gemeinen Kochtopf zu ſchuͤtten , um die oͤh-
lichte und erdene Subſtanz derſelben in Fei-
ſtigkeit und Talg zu verwandeln , und die
feinen aͤtheriſchen Theile ohne Nutzen weg-
dunſten zu laſſen , aus denen , wenn ſie bey
linder Waͤrme des Ventrikels in einen Men-
ſchenſchaͤdel hinauf getrieben , und da gleich-
ſam unterm Helm gefangen werden , ein
herrlicher Nervengeiſt gewonnen wird , der
die Seele ſtaͤrkt und ihre Kraͤfte erhoͤht .
Jndem ich ſo in der Still’ bey mir nach-
dacht’ , wo der innre Herzensdrang den
Waldbruder moͤcht ’ hingetrieben haben , daß
er ſo urploͤtzlich verſchwunden ſey , erhob
ſich unter mir ein großer Lerm im Hauß .
War
War das traute Paar der Wirthsleut ’ mit
einander Handgemein , und fochten mit em-
phatiſchen Worten und athletiſchen Faͤuſten ,
ohne daß ſich ein Part gegen dem andern
des Sieges ruͤhmen durft’ . Philipp der
brave Junge legt ’ ſich aus guter Meynung
dazwiſchen , und ſchied ſie zum Verdruß ei-
nes Dutzend ſchelmiſcher Bauern von einan-
der , die im Kraiß herum ſaßen , und dem
Fauſtkampf mit innigem Vergnuͤgen zu-
ſahn , wie ehemals der ehrwuͤrdige roͤmiſche
Senat dem Mordſpiel der Gladiatoren , oder
die ſpaniſchen Grandes einem Stiergefecht .
War eine Scene , die recht fuͤr den Pinſel
eines Oſtade gemacht ſchien . Den weitern
Thaͤtlichkeiten wurde nun wol abgewehrt ,
doch ſpruͤheten die elektriſchen Funken von
beyden Seiten noch heftig , biß die Par-
theyen einer Stubenlaͤnge von einander ent-
fernt wurden , da ſchienen ſich die Gemuͤ-
ther augenblicklich beſaͤnftiget zu haben ; das
Ehe-
Ehepaar ſprach ſo kaltbluͤtig mit einander ,
als ob nichts vorgefallen ſey . Dieſer ploͤz-
liche Uebergang vom Sturm zur Windſtille ,
war indeſſen nichts weiter , als eine elektri-
ſche Pauſe ; denn da die Wirthin ihre Gele-
genheit erſah , wiſchte ſie zur Thuͤr hinaus ,
und machte im Vorhauß durch ein Solo
von Scheltworten und Verwuͤnſchungen dem
Herzen nochmals Luft , wo ſie denn den
Vortheil hatte , daß ihr niemand wider-
ſprach , oder ihrer gelaͤufigen Zung ’ Ein-
halt thaͤt ; denn Philipp bewachte die Thuͤr
wie eine Saͤbelpoſt , daß der Wirth nicht
hinaus kam .
Jch erfuhr , daß dergleichen Auftritte bey
dieſem Ehepaar nichts ſeltenes waͤren , wel-
ches mich Wunder nahm , da ich in beyder
Geſichtsformen , alles Forſchens ungeach-
tet , nichts heterogenes entdecken konnt’ ;
vielmehr harmonirten beyde , in Anſehung
der feſten und muſkuloͤſen Theile des Ge-
ſichts,
ſichts , obſchon letztere die Zornwuth etwas
verzerrt hatte . Außerdem bemerkt’ ich noch
bey dem Wirth um den Mund herum viel
aͤhnliches mit dem Koͤnig Priamus in den
Fragmenten . Jch rief ihn beyſeits , und
frug ihn um die Urſach ’ ſeines Ehezwiſtes .
Lieber Herr , ſprach er , unſer einer iſt ein
gemeiner Mann , den die ganze vornehme
Welt hudelt : aber in ſeinen vier Pfaͤhlen
muß jeder Hausvater , der ſeine Steuern
und Gaben ordentlich abtraͤgt , Herr ſeyn ;
und das will ich auch . Dies Recht giebt
mir die Haustafel uͤber mein Weib , Kinder
und Geſinde , die will aber meine Frau nicht
immer gelten laſſen , und daruͤber kommen
wir manchmal zuſammen .
Das geht an mehr Orten ſo her , ſonder-
lich in bergichten Gegenden , ſprach ich , da
ſind die Weiber all’ wild auf die Herrſchaft
im Hauſ’ . Jſt mir bekannt ein Exempel
von der Stadt Blankenburg am Harz , wo
vor
vor Zeiten , — obs noch ſo iſt , weiß ich
nicht , — die Weiber das Hausregiment
ganz an ſich geriſſen hatten , und die Maͤn-
ner zu raufen , ſchlagen , ſchelten , ſich un-
terfingen . Weshalb des Orts Obrigkeit
dem Unheil endlich ſteuren mußt’ , wie das
Blankenburger Stadtrecht deutlich beſagt ,
wo der Magiſtrat im 15. §. verordnet , daß
ein Mann der erfunden wuͤrd’ , daß er ſich
von ſeinem Weibe raufen ließ , und ſolches
nicht gebuͤhrender Weiſe eifert’ oder klagt’ ,
nicht nur bey Rath in Strafe genommen
werden , ſondern ihme hieruͤber noch das
Dach auf ſeinem Hauſ ’ ſollt ’ abgehoben
werden . Aber ſagt mir doch guter Freund ,
in welchem Stuͤck euer Weib die Haustafel
nicht will gelten laſſen ?
„ Hauptſaͤchlich in Anſehung der Herr-
ſchaft uͤber’s Geſinde . Jch ſoll nicht Fug
und Recht haben , eine flinke raſche Dirne
in mein Wirthshaus zu dingen , die gewandt
iſt,
iſt , den Gaͤſten ein freundlich Geſicht ma-
chen kann , wenn ’s ihr gleich nicht ums
Herz iſt , und mit der ſie gern kurzweilen .
Da bringt ſie ein haͤßlich Gerippe zum Vor-
ſchein , eine Wehklage , der kein Gaſt Be-
ſcheid thaͤt , wenn ſie ihm einen Trunk zu-
braͤchte . Wenn ich die ins Haus naͤhm ,
Herr ! eh ein Jahr verging , waͤr ich ein
geſchlagner Mann . „
Daraus nahm ich zur Gnuͤge ab , daß
der Zwieſpalt der Wirthsleut ’ eigentlich
phyſiognomiſchen Urſprungs ſey . Fiel mir
bey eine gar merkwuͤrdige Stelle aus den
Fragmenten , die , wo mir recht iſt , alſo
lautet : Welcher Hausvater waͤhlt einen
Bedienten , welche Hausfrau eine Magd ,
daß ihr Aeuſſerliches , daß ihre Geſichtsbil-
dung nicht mit in Anſchlag komme ? Ja
wohl , ja wohl ! kommt bey der Wahl des
Geſindes die Geſichtsbildung mit in Anſchlag ,
mehr gemeiniglich als man denken ſollt’ .
Wer
Wer den Sinn der angezognen Worte faßt ,
der hat hier einen Schluͤſſel zum Ehege-
heimniß manches lieben Paares , dem man
durch Huͤlfe deſſelben bis ins Eingeweid der
innern Hausverfaſſung hinein ſchauen kann .
Wenn ’s aller Orten ſo waͤr , wie’s der herz-
gute L. haben will , daß die Hausfrau die
weiblichen Dienſtbothen waͤhlen duͤrft’ , ſo
wuͤrd’s jede kluge Frau machen , wie hier
die Wirthin , und mißgeſtaltete Phyſiogno-
mien am liebſten waͤhlen . Wenn aber der
Mann das gegen die Haustafel zu ſeyn er-
achtet , und das jus patronatus uͤber das
Geſind ſich zueignet , ſo wett ich zehn ge-
gen eins , daß er waͤhlt wie der Wirth zum
wilden Mann in Loͤbnitz auf dem Erzge-
buͤrg . Will ſich dem die Frau nicht fuͤgen ,
ſo giebts Wirwar im Haus , auch wohl zu
Zeiten Staub , wenn die Ehconſorten einan-
der aufs Wamms greifen , wie hier geſchah .
Darum rath ich allen , die Vorhabens ſind
N ehe-
ehelich zu werden , durch einen geheimen
Artickel , gleich nach der Feſtſtellung des
Heyrathsguths und der Gegenſteuer , die
Haustafel in Abſicht der Herrſchaft uͤber
das Geſinde vorerſt zu reguliren , und da-
bey der obigen Vorſchrift zu folgen , die
Frau zu berechtigen , daß ſie uͤber die weib-
lichen , und den Mann , daß er uͤber die
maͤnnlichen Domeſtiken - Phyſiognomien
competenter Richter ſey . Sollt das nicht
klecken wollen , waͤrs ſodann Sach’ , daß
beyde Theile zu Vermeidung ehelichen Un-
wills , zu billiger Umtauſchung dieſer Ge-
rechtſame ſich verbaͤnden , ſo daß der Haus-
herr die weiblichen , die Hausfrau dagegen
die maͤnnlichen Bedienten nach ihren phy-
ſiognomiſchen Ermeſſen in Beſtallung neh-
men moͤcht’ . So duͤnkt mich , ſey ’s auch
ſchon Sitt’ im Lande , bey Leuten von Le-
bensart oder in großen Staͤdten , wo man ’s
nicht gern zum oͤffentlichen Bruch kommen
laͤßt,
laͤßt , und den Auflaurern was zu reden
macht .
Wenn daher ein Menſchenſpaͤher , Mo-
raliſt oder Politiker , die ſtehenden Ehen
nach ihrer innren Beſchaffenheit , zu irgend
einen Behuf zu erforſchen vorhaͤtt , wie die
Calenberger Wittwenpfleger ihre aͤußre
Beſchaffenheit in Abſicht der Dauer , nach
den Geſetzen der Mortalitaͤt unterſucht ha-
ben , koͤnnten ihm folgende Cautelen hiebey
zu ſtatten kommen , wornach ſich ſchier
ſicherer das Reſultat moͤcht ’ finden laſſen ,
als die Calenberger das ihre dem Verneh-
men nach calculirt haben . Erſtlich in ei-
nem Hauſe , wo ſich bey der weiblichen
Bedienung ſaftvolle , wolluͤſtig hinſchmach-
tende Phyſiognomie veroffenbahrt hat , die
maͤnnliche Bedienung aber aus Greißen ,
Kruͤpeln und Zwergen beſteht , da herrſcht
der Hauspatron als Sultan , und iſt
im Beſitz die Haustafel zu erklaͤren , wie
N 2 ein
ein Deſpot die Geſetze , ohne Widerſpruch
zu befuͤrchten . Jſts umgekehrt , verſteht
ſichs , befiehlt Sie , und Er gehorcht , wie
aus dem Exempel meines ſehr werthen
Freundes , des Obervogts zu Minneſingen
zu erhaͤrten ſteht . Zweytens , wo die Phy-
ſiognomie der Hausbedienten gar nicht in
Anſchlag kommt , laͤßt ſich vermuthen , daß
beyden Theilen am mutuum adjutorium
gnuͤgt , ſolche Eheleut’ tragen zwiſchen den
Augen und uͤber der Naſenwurzel gemei-
niglich das Merkzeichen ausdaurender Kaͤlte ,
wie die hundertjaͤhrige Jungfer in den Frag-
menten . Jn Abſicht des Hausregiments
iſt ſo eine Eh’ anarchiſch , auch im Grund
nur ein quaſi conjugium . Drittens , wo
auf eine gluͤckliche Phyſiognomie der Be-
dienten beyderley Geſchlechts Bedacht ge-
nommen wird , von der Franzoͤſin bis zum
Stubenmaͤdchen , und wiederum vom Hof-
meiſter bis zum Stallbuben herunter , da
iſt
iſt das Regiment getheilt , und laut Ehe-
vertrag ein Tauſch der wechſelſeitigen Ge-
rechtſame getroffen . Weil bey ſolchen Ehen
die Eiferſucht nicht praͤſidirt , ſind ſie dem
Anſchein nach die gluͤcklichſten , und man
pflegt zu ſagen , ſo ein Paar lebe zuſammen
wie zwey Engel . Wo endlich eitel veral-
tete Domeſtikengeſichter ſans conſequence
zum Vorſchein kommen , da iſt das Regi-
ment wieder getheilt ; aber auf andre Ma-
nier , ein Schwerdt haͤlt’s andre in der
Scheide : der Hausvater waͤhlt den Diener ,
die Frau die Magd . — Wer inzwiſchen
von dieſen Cautelen Gebrauch machen will ,
ſoll wiſſen , daß man ſie nicht brauchen
kann , wie einen Haberſack , der fuͤr alles
paßt was man hineinſchuͤttet , ihn zu fuͤllen ,
ſondern wie ein Futteral , das nur fuͤr
Dinge paßt , wozu es gemacht iſt . Will
das ſo viel ſagen , daß dieſe Cautelen nicht
fuͤr jede Eh’ in der Welt paſſen , ſondern
N 3 nur
nur fuͤr die , wo das Auge des Phyſiogno-
miſten , nach vorgaͤngiger Analyſe der Ge-
ſichtszuͤge beyder Ehegatten wahrnimmt , daß
ſie nicht nach der Haustafel leben , wie ich
das alles einmal bey mehrerer Muſe , in
meinen phyſiognomiſchen Waͤldern weiter
auszufuͤhren gedenk .
Eben wollt ich dem Philipp Ordre ſtel-
len , nach der Mittagsmahlzeit aufzuſatteln ,
als der phyſiognomiſche Pilger mit ſeinem
weißdornen Stab wieder ins Haus trat ,
der Geſundheitshalber ſeinem gewoͤhnlichen
Spatziergang , von zwey Meilen jeden Mor-
gen , gemacht hatte . Vor Freuden , daß
ſich der vermeinte Fluͤchtling wieder einge-
funden , befahl ich aufzuſchuͤſſeln , das
Beſte , was die Kuͤch vermocht’ , und der
Abmarſch wurd kontremandirt . Mein Gaſt
war diesmal kein Koſtveraͤchter , obwol an
jeder Speiſe der Ehezwiſt der Wirthin deut-
lich zu ſchmecken war . Bey der Mahlzeit
gings
gings ſo ſtill her , als bey einem Leicheſſen ;
alle Verſuche , dem Fremdling die Zung zu
loͤſen , waren vergebens . Wollt’ nichts
heraus ; dafuͤr aber gings einwaͤrts deſto
beſſer . Jch merkt’ , daß das eine Virtuo-
ſenlaune ſey , beſchloß daher , mit Fragen
nicht in ihn zu dringen , ſondern nur zu-
weilen einen phyſiognomiſchen Akkord an-
zuſchlagen , um ſeinen Geiſt dadurch zu er-
wecken . Das gelang nicht eher als gegen
Sonnenuntergang , da wir vor dem Haus
unter einem Lindenbaum ſaßen . Kam ein
bejahrter Mann angeritten , der vor den
Wirthshaus anhielt , einen Trunk begehrt ,
und darauf ſeines Weges fortritt .
Das war zuverlaͤßig , fieng ich an , ein
Accißeinnehmer , Rechnungsbeamter , oder
einer , der in Ziffern und Gelde wuͤhlt ,
ſolches ordnet , unterſcheidet , in Faͤcher
ſortirt und zu Buche bringt , eine ganz ta-
bellariſche Seele . Sonſt ein fein ehrlich
N 4 Ge-
Geſicht , eines treuen Haushalters , der die
Kaſſe , die er unter Haͤ n den hat , nicht be-
ſtehlen wird . —
Eine wahre Scharfrichter-Phyſiognomie !
unterbrach mich mein Gefaͤhrte . Das ha-
gere dreyeckigte Geſicht , das Paar kleine
pechſchwarze Augen , die Habichtsnaſe , die
in die Unterlippe eingteift ; die gelbe Pe-
rucke mit dem verſchmutzten Haarbeutel en
Crapaud , iſt das nicht , den Knebelbart
abgerechnet , der Gellertſche Scharfrichter
nach dem Leben ?
Allerdings ! erwiedert’ ich , auf dieſe
Aßimilation war ich nicht verfallen . Aber
folgern Sie denn daraus , daß der Reu-
tersmann eben ein Scharfrichter ſeyn muß ,
weil er mit einem Mann , der ehemals in
dieſer Qualitaͤt exiſtirte , eine Aehnlichkeit
hat ?
„ Es kuͤmmert mich wenig , ob er als
Raſenmeiſter wirkliche Beſtallung hat , oder
nicht
nicht . Jſt er was anders , ſo ſteht er in
der Welt nicht an ſeinem Platze , wie das
bey den meiſten Menſchen der Fall iſt . Die
Definition eines Scharfrichters iſt aber ſei-
nem Geſicht leſerlich aufgedruckt . „
Vermuthlich nehmen ſie das Wort nicht
in der gewoͤhnlichen Bedeutung .
„ Allerdings ! Jch verſtehe darunter einen
Mann , der eine Fertigkeit beſitzt , fuͤr einen
Preiß von fuͤnf Gulden , einen jeden Men-
ſchen der ihm uͤbergeben wird , mit kaltem
Blute abzuſchlachten , auf eine Art , wie
man’s von ihm verlangt . Ob er dieſe Fer-
tigkeit auf dem Schaffot und Rabenſtein ,
oder nur privatim ; auch auf welche Art er
ſie ausuͤbt , vermoͤge obrigkeitlicher Gewalt ,
oder aus eigenem Antrieb , das kann ich ihm
nicht anſehn . Gnug er beſitzt ſie , das leſ’
ich ihm aus dem Geſicht ’ . „
Alſo waͤr das ein Variant , denn ich leſ’
das Geſicht ganz anders .
N 5 „Sie
„ Sie leſen es auf gut Lavateriſch , da
kann ’s nicht fehlen , daß ſie immer falſch
leſen . „
Wie das ?
„ Aus ganz natuͤrlichen Urſachen . Sie
bauen auf falſche Grundſaͤtze , glauben dem
Erzwindbeutel dem Gefuͤhlsblick , machen
ihn zum Richter Jhrer phyſiognomiſchen Ur-
theile , als wenn der nicht immer das Echo
der Stimmung des Herzens waͤre . L. hat
dadurch ſchon dem Embrio ſeiner Kunſtge-
burt , Gebrechlichkeit , Hinfaͤlligkeit und ver-
weßliche Geſtalt mitgetheilt , daß er dieſen
edlen geſunden Keim , einer ſo kraͤnklichen
Mutter , als ſeine Empfindung , oder ſein
innres Gefuͤhl iſt , anvertrauet hat . Er
war einem feurigen Liebhaber zu vergleichen ,
der ſeine Geliehte nach ſeiner Neigung waͤhlt ,
ohne zu bedenken , ob ſie geſchickt ſey ihm
eine geſunde Nachkommenſchaft , oder nur
Sterblinge zu gebaͤhren . Anſtatt durch
das
das Vehikulum des Verſtandes und gepruͤf-
ter Erfahrung die phyſiognomiſche Kunſt
zur Ausgeburt zu befoͤrdern , waͤhlte er hier-
zu Gefuͤhle deſſelben Herzens , das ſeinen
Verſtand ſo oft betrogen hat , und immer
betruͤgen wird . Nach dieſen ſind , wie ſich
augenſcheinlich erweiſen laͤßt , ſeine phyſio-
gnomiſchen Regeln , Bemerkungen und Ur-
theile gemodelt . Alle ſind durch die Form
des ihm eignen typus perceptionum ge-
gangen , und daher auf einerley Art abge-
rundet wie die Graupen . Sie enthalten
zwar die ganze Summe ſeiner Empfindun-
gen uͤber phyſiognomiſche Gegenſtaͤnde , und
ſo lernen wir aus den vier dicken Baͤnden
der Fragmente ihren Verfaſſer nach ſeiner
Art zu empfinden , zu denken und handeln ,
das iſt ſeinen perſoͤnlichen Charakter , zur
Gnuͤge kennen ; aber kein Menſch in der
Welt lernt daraus andre Menſchen gruͤnd-
lich beurtheilen . Alle Juͤnger dieſes Mei-
ſters
ſters koͤnnen daher nichts thun , als ihm auf
der Bahn ſeiner Empfindungen in duͤrftiger
Knechtlichkeit nachtreten . Wenn er ihnen
zuruft : wer ſieht nicht ! ſo iſt dieſe Ellipſe
durch den Zuſatz zu ergaͤnzen , wenn er mit
meinen Augen ſieht , das heiſt , was er
ſieht eben ſo empfindet , als ich „
Nun ja ſo ſolls auch ſeyn . Wie alle ,
die geſunde Augen haben , vermoͤge des Ge-
ſichts , die ſichtbaren Ding ’ auf einerley Art
empfinden : ſo auch die , welche gefunden
Gefuͤhlsſinn haben , fuͤhlen und empfinden
gleichfalls dadurch auf einerley Art . Mit-
hin macht L. nicht ſein Gefuͤhl allein , ſon-
dern das gleichmaͤßige aller Phyſiognomen
zum Richter ſeiner Ausſpruͤch’ . Er ſelbſt
iſt nur Sprecher und Worthalter , das Con-
cluſum aber iſt des Senats aller Geſichts-
forſcher unterm Mond .
„ Und die urtheilen ganz anders . Aber
dieſe Urtheile bleiben archivariſche Urkun-
den,
den , die nicht ans Tageslicht kommen ;
denn nicht jeder laͤßt Fragmente drucken .
Wer vom der Hand der Erfahrung geleitet ,
die Menſchen nach dem Maasſtab der Ver-
nunft abmißt , kann unmoͤglich mit dem
uͤbereinſtimmen , der das bloße Augenmaß
zur Regel braucht ; am wenigſten wenn
nicht einmal der Verſtand , ſondern das
Herz dem Auge das tertium comparationis
vorſchiebt . Welcher Menſchenſpaͤher kann
mit Lavatern Schritt halten , wenn der gut-
herzige Mann verſichert , daß kein Menſch
in der Welt ſich vor ſeiner Geſichtsdeutung
zu fuͤrchten habe ? Was iſt das anders ge-
ſagt , als daß er von allen nach der Liebe ,
und nicht nach der Strenge die die Wahr-
heit fordert , urtheilen , Narben und Flecken
uͤberſehen , dagegen jeden guͤnſtigen Zug
ausheben , durch moͤglichſt guͤnſtige Deu-
tung auffriſchen , und ſo viel an ihm ſey ,
zum Gegenſtand der Menſchenliebe qualifi-
ciren wolle . „
Dar-
Darinn hat der Herr Recht , daß das
Lavatriſche Syſtem mehr auf gute , als auf
ſchlimme Adſpekten geſtellt iſt ; doch darauf
iſts eben angefangen : Die Befoͤrderung der
Menſchenliebe iſt ja der Phyſiognomik vor-
nehmſter Endzweck .
“ Das iſt eben das πρωτον ψευδος der
Lavaterianer , die Maſke , mit welcher das
gute Herz den Verſtand betruͤgt . — Phy-
ſiognomik und Menſchenliebe , welche Kluft
dazwiſchen ! uͤber die L. keine Bruͤcke bauen
wird ; ja die laſſen ſich nicht in eins zu-
ſammen ſchmieden , wie zwey Stab Eiſen .
Das iſt das Einſeitige Jhrer Kunſt , daß
Sie alles auf Menſchenliebe reduciren wol-
len . „
Was iſt denn ihr Endzweck wenn ’s nicht
Menſchenliebe iſt ?
„ Menſchenkunde , und aus dieſer Men-
ſchenhaß . „
So
So bewahr mich Gott vor einer Kunſt ,
die ja ſchier ſo arg waͤr’ , als die ſchwarze ,
wenn ſie mich lehren ſollt ’ meinen Neben-
menſchen zu haſſen !
„ Was kann die Kunſt dafuͤr , daß die
Menſchen haſſenswerth ſind ? Sie ſtellt ſie
in ihrer natuͤrlichen Geſtalt dar . Sie iſt
ein Probierſtein , der die betruͤgliche Com-
poſition unaͤchter Metalle ſo treu offenbart ,
als den feinen Silberſtrich . „
Des Glaubens bin ich auch , wir ſtrei-
chen aber , merk ich , nicht auf einerley Art .
Lehren Sie mich Jhren Strich , wenn Sie
kein Geheimniß draus machen .
„ Das will ich . Die Gefuͤhlspropheten
beruͤhren mit leichter Hand nur die Ober-
flaͤche ihrer Maſſe , und finden uͤberall Sil-
bergehalt , denn ſie urtheilen nur nach den
Eindruͤcken des erſten Anblicks ; der wahre
Phyſiognom ſtreicht ſchaͤrfer , greift durch
den gleisneriſchen Anſud durch , bringt den
innern
innern Gehalt auf die Probe ; traut ſeinem
Auge dennoch nicht , ſondern uͤberfaͤhrt den
Strich mit dem Aezwaſſer der unbefange-
nen Vernunft und Erfahrung . Nun ſieht
er erſt was er hat , und befindet ſich im
Stande , den wahren Gehalt nach Mark
und Loth zu beſtimmen . „
Herr wir verirren uns in die Bilder-
ſprach’ , die ſonſt recht mein Element iſt ;
aber jezt fuͤrcht’ ich , ſie duͤrft’ mich uͤber-
taͤuben , da ich will belehrt ſeyn . Sag mir
der Herr das all’ mit dem Probierſtein noch
einmal , mit klaren duͤrren Worten ohne
Bild und Gleichniß , daß ichs rein ſchmecken
kann , wie einen Trunk Quellwaſſer .
„ Auch das ! Jch behaupte , daß die Phy-
ſiognomen , die ſich bey Ausuͤbung ihrer
Kunſt aufs Gefuͤhl , das iſt , auf das pfeil-
geſchwinde Urtheil ihrer Seele verlaſſen ,
welches die erſten Eindruͤcke wirken , die eine
Geſichtsform auf ihr Gemuͤth’ macht , im-
mer
mer in dem Fall ſind , grundfalſch , ſchief ,
vag , wenigſtens einſeitig , oder eintoͤnig ,
naͤmlich nach dem Grundton , den ihr Herz ,
das heißt ihre Denkungsart angiebt , zu ur-
theilen . Leute von gutem Charakter ent-
decken den naͤmlichen Charakterzug immer
zuerſt in allen Geſichtern die ihnen vorkom-
men . Leute von Gefuͤhl , ſchwaͤrmeriſche
Koͤpfe finden immer was Sentimentaliſches ,
was an Schwaͤrmerey graͤnzendes an An-
dern , tragen die Zuͤge ihrer eignen Perſoͤn-
lichkeit unvermerkt in die Geſichtszuͤge derer
uͤber , die ſie phyſiognomiſch beurtheilen .
Sehen Sie hier Gang , Form und Melodie
der Lavateriſchen Compoſition ! Er , der
Schweber , Jdealiſirer , verſchwebt , ver-
idealiſirt jeden Zug , den ihm ſeine Phan-
taſie hierzu als tauglich vorſpiegelt ; Er ,
der Mann von Talenten , voll Drang und
Wirkſamkeit , von reinem guten Herzen ,
voll warmen Gefuͤhls der Menſchenliebe
O theilt
theilt ſeine Gaben freygebig jeder Phyſiogno-
mie mit , der nicht der Stempel der Dumm-
heit , der Narrheit , oder der Bosheit offen-
bar aufgedruckt iſt . „
Ein Wort mit Gunſt ! Nun begreif ich ,
warums Winkelmann ſeinem Moͤrder nicht
anſah , der doch Phyſiognom war in einem
hohen Grad , und warum der bekannte
Kreuztraͤger Paul Beck , ſeelgen Andenkens ,
der nicht weniger Phyſiognom war als Win-
kelmann , der ſchwaͤrzeſten Verraͤtherey und
Treuloſigkeit die betruͤgliche Larve der Freund-
ſchaft nicht vom Geſicht riß : jener hatte
zuviel Archaͤologie , dieſer zu viel Bonhom-
mie im Sinn , darum deutet’ der erſte den
gierigen Raͤuberblick ſeines Moͤrders auf
eitel Gemmenliebhaberey , als er ihm ſeine
Pretioſen zeigte ; und der ander’ den fal-
ſchen Judasblick ſeiner Verfolger , auf eitel
Biedertreu und Aufrichtigkeit , welches
Trugurtheil beyde hernach , dieſer mit Gluͤck
und
und Wohlſtand , jener mit dem Leben buͤßen
mußte . — Nun docir der Herr weiter
fort .
„ Was hilfts , wenn ich aus einem Ge-
ſichte Blick , Drang , Kraft und Wirkſam-
keit leſe , oder die Beſtimmung unter Zehn-
tauſenden hervorzuleuchten , wenn ichs nicht
deuten kann , wie der Beſitzer dieſer Kraft
und Wirkſamkeit ſolche anwenden werde ,
ob als Egoiſt und gewaltthaͤtiger Tyrann ;
oder als Menſchenfreund und nuͤtzlicher
Weltbuͤrger ; ob er ſich hervordringen wer-
de , Myriaden ſeiner Mitmenſchen vorzu-
leuchten mit der Fackel der Verwuͤſtung ,
wie Pugatſchew , oder mit dem Licht der
Weisheit und Erkenntnis wie Leibnitz , oder
mit der heiligen Lampe der Tugend und Re-
ligion , wie der fromme Biſchof Palafox .
Gleichwol iſt dieſer Unterſchied ſehr wiſſens-
werth , und ohne dieſe Beſtimmung ſagt mir
die angefuͤhrte Geſichtsdeutung wenig mehr
O 2 als
als nichts . Wenn ich eine Gattin ſuche ,
was hilfts , wenn mir das ſeelenvollſte weib-
liche Geſicht empfohlen wird , oder eins das
aufgegangen iſt wie Semmel in Milch , oder
ein verſchwebtes , geſchmackvolles , poeti-
ſirendes ? Wenn ich nicht weis , ob dieſes
Verſchweben in platoniſche Buhlerey , oder
in tranſcendentale Liebestreue ; das Ge-
ſchmackvolle in Pracht und Ueppigkeit , oder
in weiſe haͤusliche Anordnung ; das Poeti-
ſirende in Traͤumerey und Grillen , oder in
gefuͤhlvolles Entzuͤcken der Liebe ; das Milch-
geſicht in Albernheit und Ziererey , oder in
unſchuldige ſanguiniſche Froͤhlichkeit ; das
Seelenvolle in ungeſtuͤme Herrſchſucht ,
Starrſinn und Eigenduͤnkel , oder in kluge
Unterwuͤrfigkeit , Nachgiebigkeit , Kunſt , des
Mannes Herz zu gewinnen und ſich zu er-
halten ſich arten werde ? Was ſagen mir
Geſichtscharaktere , dadurch ich eine Lais , Ju-
lia , Cleopatra , Meſſalina , nicht von einer
Aſpaſia,
Aſpaſia , Lucretia , Arria und Zenobia un-
terſcheiden kann ? Wenn die Lavateriſche
Methode die erſten Eindruͤcke , die eine Phy-
ſiognomie macht , zum Punkt annimmt ,
von welchem das Urtheil ausgehen ſoll : ſo
iſt das ein gewiſſer Faden , und nie das
rechte Ende , von dem ſich der ganze Cha-
rakter , oder das was in dem Menſchen iſt ,
herauswinden und entwickeln laͤßt . So
gelangt man nie zum Zwecke , erfaͤhrt nie ,
was zu wiſſen Noth thut , nichts als allge-
meine vage Urtheile , die auf- und nieder-
ſchwanken wie duͤnne ſchaukelnde Breter ,
auf die man nicht ſicher fußen kann . —
Eben das individuelle Gefuͤhl , woraus Jhr
Meiſter ſeine phyſiognomiſchen Urtheile her-
leitet , veroffenbaret bey anſcheinenden
Reichthum und Ueberfluß , innre Duͤrftig-
keit und Armuth . Zarte Nerven empfin-
den tauſend Dinge auf einerley Art , zum
Exempel , als unangenehm und ſchmerz-
O 3 haft,
haft , wo ſtaͤrkere die Abſtuffingen vom
Kuͤtzel bis zum Schmerz unterſcheiden ; wer-
den bis zu Schwindel und Ohnmacht ge-
reizt , wo dieſe balſamiſche Erquickung ein-
ſaugen . Daher kanns Faͤlle geben , wo
empfindſame Perſonen weniger unterſchei-
den und einfoͤrmiger urtheilen , als die ſtaͤr-
kere Nerven haben : denn ſie werden von
angenehmen und unangenehmen Empfindun-
gen zu heftig erſchuͤttert . Und aus dieſem
Grunde getraue ich mir Lavaters ganzen
ſynonymiſchen Theſaurus in fuͤnf oder ſechs
Formeln einzuſchließen , und darunter alle
ſeine phyſiognomiſchen Urtheile , die er je-
mals ausgeſprochen hat , oder noch dereinſt
ausſprechen wird , einzuſchließen . Wenn
die Fragmente hier zur Hand waͤren , wollte
ich Jhnen die Formeln Schockweiße zuzaͤh-
len , die alle nichts mehr und nichts weni-
ger ſagen als : ein Kopf der Faͤhigkeit
oder Talente verſpricht ; eben ſo viel ließen
ſich
ſich in dieſe : Leichtſinn und gutes Herz und
andre dergleichen concentriren . „
Freund , wenn das der erſte Theil Jh-
res Sermons iſt , ſprach ich , ſo hab ich
daran gnug , und verſteh daraus , wie Jh-
rer Meynung nach die Lavateriſche Schul
den phyſiognomiſchen Probierſtein brauche .
Schreiten Sie nun immer zum andern Theil
Jhrer Betrachtung , und lehren Sie mich
nun auch Jhre Methode zu phyſiognomi-
ſiren . — Doch indem wittert’ ich den
Butterdampf der gebratnen Lerchen von der
Kuͤch’ her , drum fuhr ich fort : oder laſſen
wir das anſtehn bis morgen , wenn Sie hier
verweilen koͤnnen ; außerdem acht’ ich das
Gericht , das Sie mir auftiſchen , mehr
als einen Spieß Lerchen . Mein phyſio-
gnomiſcher Gefaͤhrtsmann willigte ein , zu
bleiben , wir hielten unſre Mahlzeit , und
ſchieden von einander , nachdem Zeit und
O 4 Stun-
Stunde zur zweyten phyſiognomiſchen En-
trevuͤe verabredet war .
Jch uͤberdacht’ dieſen Diſcurs nochmals
fuͤr mich reiflich , fand , daß meine ganze
Theorie in Fermentation gerathen war , das
Syſtem war zerruͤttet , und die Grundſaͤtz ’
lagen im Kopf ſo unordentlich durch einan-
der her , wie die ſechs Hauptſtuͤck im Wuͤr-
tenberger Catechiſmus . Getraut mich den-
ſelben Abend nicht einmal die Phyſiogno-
mie eines Spitzhundes zu beurtheilen , der
ſich als Schmarotzer bey mir introducirt
hatte , und nun , da ich ihn zur Thuͤr hinaus-
weiſen wollt’ , konnt’ ichs ihm nicht anſehn ,
daß er um ſich beißen wuͤrd , obgleich zu
andrer Zeit meinem Beobachtungsgeiſt die-
ſes ſtilltuͤckiſche Weſen des Hundes nicht
wuͤrd’ entgangen ſeyn .
Des folgenden Tages zu gerechter Zeit
ſezte mein Conſort ſeine Red ’ im didakti-
ſchen Ton alſo fort .
„Wer
„ Wer Menſchen will kennen lernen , der
verlangt zufoͤrderſt zu wiſſen , was ſie in
Beziehung auf ihn ſelbſt ſind , und was er
ſich von ihnen zu verſehen habe , in wiefern
ſie ihm nuͤtzen oder ſchaden koͤnnen ; klaßifi-
cirt ſie erſt nach den Eigenſchaften des Her-
zens , und nachher nach denen des Geiſtes .
Jemands moraliſchen Charakter ihm gerade
zu und allein aus dem Geſicht leſen wollen ,
iſt leere Einbildung und Vermeſſenheit . Die
Geſichtsform liefert ihren Quotienten von
Charakterzuͤgen ; aber der Theil iſt niemals
das Ganze . Die Phyſiognomik ruhet nicht
auf einem , ſondern auf zwey Erkenntniß-
gruͤnden : nemlich Geſichtszuͤgen und That-
ſachen , das ſind die beyden ſtarken Arme ,
die zuſammen den Menſchen ganz umſpan-
nen . Einer allein iſt zu unkraͤftig dazu ,
ergreift zwar , aber umſpannt nicht . „
Ja Herr , wenn Sie da hinaus wollen ,
ſo kanns an dem einen Arm der Thatſachen
O 5 gnug
gnug ſeyn , da brauchts keiner Geſichtsſpaͤ-
hung ( das laͤuft , dacht ich bey mir , im
Grunde doch auf Salzleckerey hinaus . )
„ Alſo glauben Sie , daß es eine ſo
leichte Sache ſey , den Charakter der Men-
ſchen nach ihren Handlungen richtig , zu
beurtheilen ? Jmmer den rechten Geſichts-
punkt zu treffen und Handlungen nicht eben
ſo ſchief und verkehrt auszudeuten , als es
mit den Geſichtszuͤgen geſchiehet ? Nicht
einmal aus den offenbar ſtrafbaren Hand-
lungen laͤßt ſich ſicher auf den Charakter
ſchließen ; und wie wenig ſind derer , gegen
die Menge der Zweydeutigen ! Unter zehn-
tauſend Handlungen , iſt vielleicht kaum
eine fuͤr einen Charakterzug geradezu ent-
ſcheidend . Wie jedes Ding ſeine Phyſio-
gnomie hat , der Himmel ſowol , wenn er
von Wetterpropheten ; als ein Apfel , eine
Birn , eine Weintraube , wenn ſie von
Leckermaͤulern betrachtet werden : ſo hat
auch
auch jede Handlung oder Thatſache die ih-
rige . Vor ſich allein genommen laͤßt ſich
aber dieſe ſo wenig ſicher beurtheilen als
eine Geſichtsform ; doch beyde zuſammen
genommen wirken das feſte untruͤgliche Ur-
theil der phyſiognomiſchen Kunſt . Beyde
ſind allgemeine Zeichen , die fuͤr ſich ein-
zeln betrachtet , nichts gelten ; die aber al-
les gelten koͤnnen , wenn ſie der Kunſtver-
ſtaͤndige gehoͤrig zuſammen ordnet , und in
bedeutſame Formeln verwandelt , wodurch
die ſchwerſten Aufgaben , die der menſch-
liche Verſtand ſonſt nicht entziffern wuͤrde ,
ſicher und geſchwind geloͤſet werden . „
Das all’ iſt meiner Meynung nach nichts
mehr , als die phyſiognomiſche Kunſt a po-
ſteriori , wenn einer an einem uͤberwieſenen
Dieb auch ein Diebsgeſicht entdeckt , oder
Kuͤnſtleraugen , an einem ſchon bekannten
Kuͤnſtler . Dieſe Methode hat Lavater gar
oft gebraucht , und iſt nicht neu .
„Aller-
„ Allerdings hat er ſich meiner Methode
oft bedienet , denn ſie iſt die bewaͤhrte , na-
tuͤrliche , und die zu allen Zeiten im Gang
geweſen iſt ; aber er hat ſie nicht in formam
artis aufgenommen . Er vergleicht Ge-
ſichtszuͤge mit Thatſachen , um die Bedeut-
ſamkeit der Erſten mit dieſen zu belegen ;
vermeynt aber nicht , daß ſein Urtheil aus
dieſer Vergleichung hergefloſſen ſey , ſondern
ſeine lebhafte Jmagination bildet ihm ein ,
ſolches aus den Geſichtszuͤgen allein heraus
zu leſen , als wenn er von den Thatſachen
nichts wuͤßte , das heißt die Schloͤſſer ohne
Schluͤſſel aufriegeln . Jch hingegen beken-
ne meine Unwiſſenheit , daß ich weder Ge-
ſichtszuͤge ohne Thatſachen , noch dieſe ohne
jene zu beurtheilen vermag . „
Dieſe Theorie ſcheint zur Praxis des ge-
meinen Lebens nicht unrecht zu ſeyn , ob ich
ihr gleich nicht beypflichten kann . Aber ,
daß ich fragen mag , haben Sie ſich dieſen
phy-
phyſiognomiſchen Scherf ſelbſt ausgemuͤnzt ,
oder als ein reiſender Handwerker irgendwo
zum Allmoſen empfangen ?
„ Scherf oder Schaumuͤnze , das gilt
gleich . Er traͤgt das Gepraͤge phyſiogno-
miſchen Sinnes . Seitdem dieſer in mir er-
wacht iſt , hab ich die Menſchenkunde nicht
als Spielwerk , ſondern als das ernſtlichſte
Geſchaͤft meines Lebens betrieben ; habe
ſelbſt verſucht , gedacht , gepruͤft ; habe nicht
mehr mit fremden Augen geſehen , ſondern
mit meinen eignen . Und das Reſultat mei-
ner Bemuͤhungen iſt nun , daß ich wenig
ſehe , was L. ſahe , viel was er nicht ſahe ,
alles aber was er voraus ſahe , und als ein
Seher Gottes in ſeinen Fragmenten ver-
kuͤndigte , wenn phyſiognomiſcher Sinn er-
wachen wuͤrde . „
Wie lautet dieſe Weiſſagung ? Hab’ die
Fragmente ſonſt wohl inn , daß ichs eine
Wette gelten ließ , wenn ſie verloren gingen ,
das
das ganze Opus aus dem Gedaͤchtniß wie-
der herzuſtellen , wie Picus von Mirandola ,
oder ein andrer Gedaͤchtnißheld mit der hei-
ligen Bibel zu thun ſich vermaß ; kann
gleichwol jezt nicht drauf kommen .
„ Jch will Jhnen drauf helfen . Laßt
phyſiognomiſchen Sinn erwachen , und wir-
ken unter den Menſchen , ſind des Sehers
Worte , und da ſtehen ſie gebranntmarkt
die Kammern und Conſiſtorien , und Kloͤſter
und Kirchen , voll heuchleriſcher Tyranney ,
Geizhaͤlſe , Schmeerbaͤuche und Schaͤlke . —
Abfallen wie welkes Herbſtlaub wird alle
Ehrfurcht , Hochachtung und Zuneigung ,
die das betrogne Volk zu ihnen hatte . Man
wird empfinden lernen , daß es Laͤſterung
ſey , ſolche bedauernswuͤrdige Figuren fuͤr
Heilige , fuͤr Saͤulen der Kirche und des
Staates , fuͤr Menſchenfreunde und Reli-
gionslehrer zu halten . „
Ganz
Ganz recht ! ich entſinn’ mich der Paſſa-
ge , doch da iſt von der Phyſiognomie des
Laſters die Red ’ .
„ Und das iſt die Phyſiognomie der Men-
ſchen , wenigſtens ſo weit ich ſie kenne , ſeit-
dem ich Thatſachen und Geſichtszuͤge ge-
ſpaͤhet , und mit einander verglichen habe .
So lehrt mich die Kunſt , nach dem Erwa-
chen des phyſiognomiſchen Sinnes in mir ,
die Menſchen wuͤrdern . Nun urtheilen Sie ,
ob Menſchenliebe , oder Menſchenhaß durch
Phyſiognomik befoͤrdert werde ? „
Sind Sie ein Schriftſteller Herr ?
„ Nein , und warum ? „
Jch hatte Sie im Verdacht , daß Sie
vielleicht die wahrſcheinlichſte Geſchichte un-
ter der Sonne , oder den Roman Belphegor
genannt , geſchrieben haͤtten ; deſto lieber iſt
mirs zu vernehmen , daß Sie dieſen Unſinn
nicht
nicht auf Jhrem Gewiſſen haben . Wiewol
Jhre vorgeblichen Erfahrungen in der phy-
ſiognomiſchen Menſchenkunde , ſehr mit den
Grundſaͤtzen und Meynungen eines duͤrfti-
gen Theoreyklaubers , des Verfaſſers naͤm-
lich , uͤbereintreffen ; der geht auch nur aufs
haſſenswuͤrdige am Menſchen aus , wie Sie
auf die boͤßartigen Zuͤg ’ des Herzens und
der Geſichtsform .
„ Was kann ich dafuͤr , daß die gutarti-
gen ſo aͤußerſt rar ſind , als die ſchoͤnen Na-
ſen , daß mir noch keine gutartige Phyſio-
gnomie vorgekommen iſt . „
Das iſt viel geſagt , und im Vorbeygehn ,
fuͤr mich auch kein Kompliment .
„ Dahin wars auch nicht gemeynt . Die
Wahrheit zu ſagen hab ich von Jhrem Ge-
ſicht noch keine Notiz genommen : denn mei-
ne Methode verbietet mir , unter Ausnah-
me einiger Faͤlle , mit meinem Urtheil zu ei-
len;
len ; fuͤr Jhren Bedienten , oder Jaͤger aber ,
habe ich ſchon beym erſten Anblick im Wal-
de , als er mich zum Wegweiſer enroliren
wollte , eine Formel gefunden . „
Der gehoͤrt alſo unter die Ausnahmen ?
Nun , laſſen Sie hoͤren !
„ Alle Zuͤge ſeines Geſichts haben ein
entſcheidendes Gepraͤge der Poͤbelphyſiogno-
mie , ganz das Rohe , Trotzige , Ungeſchlachte
derſelben . Alles an ihm hat , wenn ich ſo
ſagen darf , die Tinktur , oder alles an ihm
iſt Melodie der Bengelſchaft . Weil hier
Thatſachen den Geſichtszuͤgen zu ſichern Ex-
ponenten dienten , ſo lief ich , ungeachtet
dieſes fruͤhzeitigen Urtheils , doch nicht Ge-
fahr zu irren . Unterdeſſen habe ich nichts
dagegen , daß der Kerl ein guter Wildſchuͤtz
ſeyn , daß er ehrlich dienen kann , ohne je
einen Haſenbalg veruntraut zu haben ; daß
P er
er ſich ſonſt nuͤchtern , maͤßig , ſittig ver-
halte — alles das ſtreite ich ihm nicht ab ;
aber weils zunaͤchſt auf mich keine Bezie-
hung hat , habe ich ihn darauf noch nicht
angeſehen . „
Meine Geſichtsform iſt Jhnen alſo ganz
unlesbar ?
„ Noch zur Zeit , ja ! — Wollen Sie
aber wiſſen wie L. ſie deuten wuͤrde ? Das
will ich Jhnen ſagen . „
Nun ?
„ Gewaltſamkeit und Groͤße iſt nicht in
dieſem Geſichte . — Bedaͤchtig , altbuͤrger-
lich , zunftmeiſterlich , zufrieden . — Uebri-
gens wird es wenig zerſtoͤren und wenig
bauen . „
So , ſo ! — Nun fuͤr heute mags Feyer-
abend ſeyn .
„Und
„ Und auf morgen wuͤnſche wohl zu le-
ben . „
Die rohe Offenherzigkeit des Geſellen , ob
ſie mir gleich aufſiel , war mir doch nicht
zuwider , denn nach dem zeitigen Weltlauf ,
pflegt die Subruſticitaͤt gemeiniglich vom
Genieweſen beſchwaͤngert zu ſeyn , davon
ich meiner Meynung nach waͤhrend der Un-
terredung mit dem phyſiognomiſchen Fuͤnd-
ling , hie und da einen Funken hatt ’ auf-
ſpruͤhen ſehen . Ueberdies hatt’ ich weder
ſeine παραδοξα noch ſeine Perſon ſo ap-
profondirt , wie ich wuͤnſcht’ , deshalb ge-
genredet’ ich alſo : nein Herr , ſo iſts nicht
gemeynt , wir haben noch viel mit einander
abzumachen eh’ wir uns ſcheiden . Der
Herr muß mir ſeine Erfahrungen zum be-
ſten geben , damit ich belehrt werd’ , wie
phyſiognomiſch Studium Menſchenhaß ge-
baͤhren koͤnn ’ .
P 2 „Der
„ Der Beweiß hiervon iſt ganz in mein
curriculum vitae verwebt , — und weilen
kann ich hier nicht laͤnger . „
Nun ſo geb ich dem Herrn auf eine Ta-
gereiſ ’ das Geleit , wie ?
Er ſchwieg .
Ende des zweyten Hefts .