Was ich fruͤher, als ich am Schluſſe des Zwei-
ten Baͤndchens meiner Lebensgeſchichte die Feder
niederlegte, weder gedacht noch gewollt, ſoll je-
dennoch zur Wirklichkeit kommen — ich ſoll ſie
wieder aufnehmen, um dem freundlichen Leſer in
meiner ſchlichten Weiſe auch noch diejenigen Le-
bensereigniſſe mitzutheilen, die mir nach meinem
45ſten Jahre zugeſtoßen ſind. So wuͤnſchen und
verlangen es ſo manche Ehrenmaͤnner und Ehren-
frauen alles Ranges und Standes, deren Stim-
men mir hoͤrbar geworden ſind, und denen ich
fuͤr ihre mir zugewandte Liebe gern dankbar wer-
den moͤchte — Dankbar aber vornehmlich auch
meinem guͤtigen Schoͤpfer, welcher, ganz gegen
mein Hoffen, mir bis hieher Leben, Kraft und
Geſundheit ſchenkt und mich vielleicht nur dazu
noch aufſparen und gebrauchen will, da ich doch
ſonſt der Welt wohl nur wenig mehr nuͤtzen kann.
Mein ſonſtiges Bedenken, von den neuern Zeiten
und von meinem eignen kleinen Antheil an den
Welthaͤndeln zu reden, iſt auch nicht mehr das
3. Baͤndchen. (1)
nemliche, wie vormals: denn Einmal kennt mich
nun der Leſer ſchon genug, um zu wiſſen, daß
mir’s nirgends um die Perſon, ſondern immer
nur um die Sache zu thun iſt, und wird mir
alſo auch nicht leicht Ruhmredigkeit Schuld ge-
ben, wo ich nur der Wahrheit die Ehre gebe;
und dann, fuͤr’s Andre, koͤnnt’ es hie und da
doch auch wohl zutreffen, daß in meinem einfaͤl-
tigen Munde etwas zu Nutz, Lehre und War-
nung jetziger und kuͤnftiger Zeiten mit unterliefe.
Hauptſaͤchlich aber draͤngt es mich, Einem Manne,
obwohl er Meiner zu ſeinem Lobe nicht bedarf,
weil ihn die Welt, ſein Herz und ſeine Thaten
genugſam preiſen, — dem Manne, der in der
Nacht der Truͤbſal uͤber meiner Vaterſtadt zuerſt
wie ein ſchoͤner leuchtender Stern des Heils auf-
gegangen iſt — die ſchuldige Anerkenntniß wider-
fahren zu laſſen. Nein, ich will ihn nicht loben:
aber meine getreue Erzaͤhlung ſelbſt ſoll ſein Lob
ſeyn!
Von der See hatt’ ich — ob gern oder un-
gern: das will ich nicht entſcheiden! — meinen
Abſchied genommen; hatte mich auf ihr und in
der Fremde genugſam herumgetummelt, um mir
die Hoͤrner abzulaufen, und hielt es nunmehr fuͤr
das Geſcheuteſte, mich an eine ſtille, buͤrgerliche
Nahrung zu geben, wie es mein Vater und
meine Vorvaͤter auch gethan hatten: denn der
bisherige Hang zum Seeleben war eigentlich nur
mit dem muͤtterlichen Blute auf mich gekom-
men, und es ſchien ganz gut und recht, mich
wieder zur vaͤterlichen Weiſe zu wenden. Da
nun auch mein ererbtes Haͤuschen ganz zum Be-
trieb von Bierbrauen und Branntweinbrennen
eingerichtet war, und mir dieſe Handthierung
ebenſowohl zuſagte, als auch ein ehrliches Aus-
kommen verſprach: ſo bedacht’ ich mich nicht lan-
ge, ſie gleichfalls zu ergreifen; habe auch manche
liebe Jahre hindurch mein leidliches Auskommen
dabei gefunden. Jch ward alſo Colberger Buͤr-
ger; hatte mein beſonderes Verkehr mit den
Landleuten umher und ruͤhrte mich tuͤchtig, um
nun das, was ich ergriffen hatte, auch ganz und
aus Einem Stuͤcke zu ſeyn.
Aber es mochte doch wohl ſeyn, daß es ent-
weder mit dem ebengedachten „Hoͤrner-Ablaufen‟
noch nicht ſeine volle Richtigkeit hatte, oder daß
doch ſonſt noch fuͤr meine dreiviertel Schock Jahre
zu viel Regſamkeit und Eifer in mir war, oder
endlich lag es und liegt noch zu tief in meiner
Natur, daß ich keine Unbilde — treffe ſie mich
oder Andre — ſtatuiren kann: — genug, ich lief
mit dem Einen wie mit dem Andern oft genug
an; und ohne daß ich es wollte und wuͤnſchte,
mag es auf dieſe Weiſe leicht gekommen ſeyn,
daß meine lieben Mitbuͤrger, die es meiſt gemaͤch-
licher angehen ließen, mich mitunter fuͤr einen
unruhigen Kopf verſchrieen, und dem es in Gui-
(1 *)
nea, unter der Linie, vielleicht gar ein wenig zu
warm unterm Hute geworden. Von dem Allen
muß ich doch einige Proͤbchen beibringen, die es
beweiſen moͤgen, daß ich noch immer der alte
Nettelbeck war.
Erſt alſo von meinem Unbedacht! — Der
See mit genauer Noth entronnen, dacht’ ich in
meinem Sinn, daß es nun mit dem Erſaufen
weiter keine Noth haben ſollte; und doch war ich,
auch als Landratze, ein paar Mal zunaͤchſt dar-
an, einen naſſen und elenden Tod durch eigne
Schuld zu finden.
Es war im December 1784, als mich einſt
mein Gewerbe nach Henkenhagen, einem Dorfe,
drittehalb Meilen von Colberg entlegen, fuͤhrte.
Jch war zu Pferde und nahm den Weg dahin
laͤngs dem Strande, als den ebenſten und gele-
genſten. Schon verdrießlich, daß mein Knecht
den Gaul nicht nach meinem Sinne geſtriegelt,
und da dieſer bei meinem ſcharfen Ritt unter dem
Bauche heftig ſchaͤumte und ſchmutzig ausſah, ver-
meinte ich, Beidem abzuhelfen, wenn ich ein Eck-
chen in die See ritte, um ihn von den Wellen
abſpuͤlen zu laſſen. Es war windiges Wetter,
und das Meer ſtuͤrmiſch. So wie indeß die naͤch-
ſte Welle zuruͤcktrat, ritt ich ihr trocknen Fußes
nach, und ließ ſie wieder heranrollen, und ritt
darnach wieder ein Eckchen, und meinte nun ge-
nug zu haben.
Nun aber kam unverſehens eine hoͤhere Sturz-
welle, die ſich dicht vor meinem Pferde donnernd
und ſchaͤumend brach. Es wurde davon ſcheu,
baͤumte und wandte ſich; ſo daß nun eine neue
Woge nicht nur uͤber unſern Koͤpfen zuſammen-
ſchlug, ſondern auch, da ſie uns von der Seite
faßte, uns mit Gewalt zu Boden warf. Jch
hielt mich gleichwohl feſt in Sattel und Buͤgeln.
Als jedoch die See nach wenig Augenblicken wie-
der zuruͤcktrat, richtete ſich das Pferd mit mir
empor, bis abermals eine Welle uns heimſuchte,
die es dergeſtalt blendete, daß es, anſtatt dem
Zuͤgel zu folgen und nach dem Strande umzu-
kehren, vielmehr ſeeeinwaͤrts kollerte und bald
auch den Grund unter ſeinen Fuͤßen verlor. Waͤh-
rend wir nun, ſchwimmend, mehr unter als uͤber
dem Waſſer krabbelten, ward mir doch der Han-
del endlich bedenklich. Jch ſuchte die Fuͤße aus
den Steigbuͤgeln loszubekommen; warf mich vom
Pferde herab und ſchwamm dem Lande zu, das
ich auch gluͤcklich erreichte. Doch Hut und Pe-
ruͤcke waren verloren gegangen.
Den erſtern ſah ich noch in der Ferne trei-
ben. Raſch warf ich den Rock vom Leibe und
watete und ſchwamm ihm nach, bis ich ihn gluͤck-
lich erreicht hatte. Abermals im Trocknen, ſchaute
ich nun auch nach meinem Gaule um, der es
mir gluͤcklich nachgethan, aber, wild und ſcheu
geworden, im vollen Sprunge landeinwaͤrts lief.
Jch eilte ihm nach, und ſah bald, von den hohen
Sandduͤnen herab, daß einige Leute bereits damit
beſchaͤftigt waren, ihn einzufangen. Als ich nun
endlich herankam und ſie mir mein Thier uͤber-
lieferten, ſtand ich da, voͤllig durchnaͤßt, den Hut
auf dem kahlen Kopfe, (: ein kurzgeſchorner Schaͤ-
del aber war damals etwas Laͤcherliches:) und
bedachte bei mir ſelbſt, was weiter zu thun ſey?
Doch ich meynte, ich ſey ja wohl eher einmal naß
geweſen; warf mich auf’s Pferd, und trabte, als
ſey nichts geſchehen, nach Henkenbagen zu.
Jndeß muß ich doch ziemlich verſtoͤrt ausge-
ſehen haben: denn alle Leute, die mir begegne-
ten, ſperrten die Augen auf und fragten, was
mir begegnet ſey? Jch dagegen hielt mich mit
keiner langen Antwort auf, bis ich das Dorf er-
reichte: aber als ich nun vom Pferde ſteigen
wollte, fuͤhlte ich mich von Naſſe und Kaͤlte ſo
erſtarrt, daß ich mich nicht zu regen vermochte.
Ob nun das, was ich that, das Geſcheuteſte war,
weiß ich nicht: aber anſtatt den naͤchſten warmen
Ofen zu ſuchen, macht’ ich mit meinem Gaule
auf der Stelle rechtsum und ſprengte, im geſtreck-
ten Galopp, nach Colberg heim, wo ich mein
Abentheuer mit einer achttaͤgigen Unpaͤßlichkeit be-
zahlte, ohne jedoch dadurch kluͤger zu werden.
Denn noch in dieſem nemlichen Winter ver-
ſuchte ich es faſt noch halsbrechender, indem ich
in einem zweiſpaͤnnigen Jagdſchlitten uͤber Land
fuhr. Es gab ein dichtes Schneegeſtoͤber; ſo daß
man nur wenige Schritte deutlich ſehen konnte.
Bei der Muͤhle zu Simoͤtzel hatt’ ich einen ſtark
angeſchwollenen Bach zu paſſiren, wo jetzt uͤber-
dem in der gewoͤhnlichen Fuhrt viele zuſammen-
getriebene Eisſchollen zu erwarten waren. Dies
zu vermeiden, ließ ich meinen Knecht abſteigen,
um ſich umzuſehen, ob etwa oberhalb der Muͤhle
eine Bruͤcke vorhanden ſey. Er rief mir zu, daß
er eine ſolche gefunden; und ich hieß ihm, dicht
vor den Pferden voranſchreiten, um mir als
Wegweiſer zu dienen. So nun folgte ich dem
Menſchen blind und gedankenlos zu einem Ueber-
gange, was nicht eine Bruͤcke, ſondern ein Steg
ohne Gelaͤnder war, das aus zwei nebeneinander-
gelegten Balken beſtand, die hoͤchſtens 28 Zoll
in der Breite betragen mochten. Jn der Laͤnge
aber hielten ſie leicht 36 bis 40 Fuß, und das
Gewaͤſſer rauſchte ungeſtuͤm darunter herdurch.
Mitten auf dieſer wunderlichen Paſſage, in-
dem ſich die Pferde (: wie ſie nicht anders konn-
ten:) heftig draͤngten, ſtuͤrzte das Eine rechts hin-
ab in die Stroͤmung. Es war ein Gluͤck, ſowohl
daß der Schlitten dabei queer auf die Balken zu
ſtehen kam, als daß bei dem Sturz des Thieres
ſaͤmmtliche Straͤnge riſſen; noch ein groͤßeres aber,
daß gerade der Muͤhlburſch zufaͤllig neben dem
Muͤhlwehr ſtand, der augenblicks die Schleuſe
niederließ und dadurch das reiſſende Gewaͤſſer zum
Stehen brachte. Nun wurde der Schlitten, ſammt
mir und dem noch angeſchirrten Pferde, mit Noth
und Muͤhe von den Balken herabgebracht; waͤh-
rend das andre, ſich im Waſſer waͤlzende endlich
auch das Ufer gewann. Waͤre der Zug des Ge-
waͤſſers nicht gehemmt und mir, in meiner ge-
faͤhrlichen Schwebe, nicht ſchnelle Huͤlfe geleiſtet
worden, ſo trieb Alles mit mir unausbleiblich
durch die Schleuſe und unter den Muͤhlraͤdern
weg, die beide nur etwa 30 Schritte von dem
Stege entfernt waren.
Nun ſtand Alles, was in der Muͤhle war,
um mich her, und fragte, wie ich ſo unſinnig habe
ſeyn koͤnnen, mich und mein Leben mit einem
ſolchen Zweigeſpann auf zwei elende Balken zu
wagen? Da war nun wenig drauf zu antworten,
als daß ich, durch das Schneetreiben am Sehen
verhindert und mich auf meinen Fuͤhrer verlaſſend,
die Gefahr nicht eher inne geworden, bevor ich
mitten drinne geſteckt. Hintendrein, bei ruhige-
rem Nachdenken, habe ich aber nur zuviel Grund
zu dem Argwohn gefunden, daß der heilloſe
Bube mich wohl abſichtlich dahin gelockt haben
koͤnne, um mir mit guter Manier das Garaus
zu machen: denn wenige Tage ſpaͤter entlief er
aus meinem Dienſte; und es fand ſich, daß er
mich auf eine bedeutende Weiſe beſtohlen hatte.
Zu einer andern Zeit ſaß ich, in voller Ge-
muͤthsruhe, daheim vor meinem Raſir-Spiegel, mit
dem Meſſer in der Hand, als der Kaͤmmerei-
diener, ein aufgeblaſener wuͤſter Menſch, zu mir
eintrat und mit lallender Zunge etwas daherſtot-
terte, was ich nicht begriff und verſtand, was
aber wohl ein obrigkeitlicher Auftrag an mich ſeyn
ſollte. Jndem ich ihn verwundert und ſchweigend
darauf anſah, aber ſofort ſpuͤrte, daß er ſich ei-
nen derben Rauſch getrunken, mocht’ er ſich durch
dieſen meinen pruͤfenden Blick, oder was es ſonſt
war, beleidigt fuͤhlen, und ſtieß einige Grobhei-
ten gegen mich aus, die ich, in gelaſſener Kuͤrze,
dadurch erwiederte, daß ich mein Raſir-Meſſer bei
Seite legte, die Zimmerthuͤre oͤffnete und meinen
torkelnden Urian bat, ſich beliebigſt hinauszu-
trollen. Dem aber ſchwoll der Kamm noch mehr;
es kam zu unnuͤtzen Redensarten; und da ich da-
mals noch in meinem Thun und Laſſen ziemlich
kurz angebunden zu ſeyn pflegte, ſo macht’ ich
auch hier nicht viel Federleſens, ſondern packte
ihn, mit derber Seemannsfauſt, am Kragen und
ſchob ihn, bei ſeinem Straͤuben, etwas unſaͤu-
berlich auf die Gaſſe hinaus. Mag auch wohl
ſeyn, daß er dabei (: denn mit dem Piedeſtal war’s
ohnehin unrichtig:) auf die Pflaſterſteine zu liegen
kam und ſich den Mund blutig fiel; waͤhrend ich,
mir nichts dir nichts, an mein unterbrochenes
Geſchaͤft zuruͤckkehrte.
Nun aber war auch ſofort Feuer im Dache.
Jch hatte einen ganzen wohledlen Magiſtrat in
ſeinem, an mich geſchickten Diener beleidigt; und
eine ſolche Ungebuͤhrlichkeit ſollte und konnte nicht
ungeahndet bleiben! Mochte ich vielleicht ohne-
dem ſchon nicht wohl angeſchrieben ſtehen; ſo war
dies nun ein neuer Frevel, wo die ganze obrig-
keitliche Autoritaͤt mit in’s Spiel zu kommen
ſchien und einmal ein Exempel ſtatuirt werden
mußte! Gleich des andern Tages alſo kriegt’ ich
eine Vorladung vom Magiſtrat, am naͤchſten
Morgen dieſerwegen zu Rathhauſe zu erſcheinen.
Jnzwiſchen hatt’ es der Zufall gefuͤgt, daß
bei einem Gange durch die Stadt meine Augen
auf das Mauerwerk der Kupferſchmieds-Bruͤcke ſie-
len, wo ich wahrnahm, daß beide Stirnmauern,
auf welchen das Gebaͤlke der Bruͤcke ruhte, in
ſehr ſchadhaftem Stande, und die Eine derſelben
ſogar zum Theil niedergeſchoſſen ſey; ſo daß durch
das naͤchſte, etwas ſchwere Fuhrwerk, das hin-
uͤber paſſirte, leicht ein Ungluͤck entſtehen koͤnnte.
Dies hatt’ ich auch ſofort, nach Buͤrgerpflicht,
dem Stadt-Dirigenten, Landrath Sehlert, an-
gezeigt, der ſich von der vorhandenen Gefahr zur
Stelle uͤberzeugte und von Stund’ an die Bruͤcke
ſperren ließ. Daneben hatt’ ich ihm vorgeſchla-
gen, daß es, zu Erneurung des Gemaͤuers kei-
nes weiteren koſtbaren Unterbaues und Geruͤſtes
beduͤrfen werde, wenn man nur einen Bagger-
Prahm von der Colberger Muͤnde herbeiſchaffte
und unter die Bruͤcke braͤchte. Er billigte das;
und ich hatte den Prahm auch wirklich herbei-
geholt und unter der Bruͤcke befeſtigt. Die Mau-
rer aber waren ſeitdem auf demſelben mit ihrer
Arbeit beſchaͤftigt.
Jndem ich nun zu der beſchiedenen Zeit auf
dem Wege nach dem Rathhauſe begriffen war,
um meine Strafſentenz zu empfangen, ſah ich
ſchon aus der Ferne, daß das Waſſer im Per-
ſante-Strom durch einen hartſtuͤrmenden Nord-
wind hoch aufgeſtauet war; und als ich zur Bruͤcke
gelangte, fand ich es dort in ſolcher Hoͤhe ange-
ſchwollen, daß der Prahm bis dicht unter die
Balken der Bruͤcke emporgehoben worden, und
jeden Augenblick zu befuͤrchten war, er moͤchte
die ganze Bruͤcke abtragen und davonfuͤhren,
wenn er nicht ungeſaͤumt unter derſelben hinweg-
gebracht werden koͤnnte. Jm Weitergehen gieng
ich (: wie ich es bei ſo etwas nicht laſſen kann:)
mit meinen Gedanken zu Rathe, auf was Art
hier wohl zu helfen ſeyn moͤchte; wiewohl doch
mein ſtiller Groll, je naͤher ich dem Rathhauſe
kam, mir je mehr und mehr zufluͤſterte: „Du biſt
ja doch wohl ein rechter Thor, dich mit ſolcherlei
Anſchlaͤgen zu plagen! Haſt du doch von all
deinem Beſtthun nichts, als Aerger, zum Lohn.‟
Als ich in die Rathsſtube eintrat, war mein
Verklaͤger ſchon vorhanden, etwas nuͤchterner
zwar, als vorgeſtern, aber auch nur um ſo fer-
tiger mit dem Maul; zumal da er bald wahr-
nahm, daß die Herren ihm den Ruͤcken ſteiften,
indem ſie mir, mit etwas unhoͤflichen Vorwuͤrfen,
das, was ich gethan, als eine Verachtung der
Obrigkeit auslegten. Jch dagegen fuͤhrte meine
Sache nach der Wahrheit; es wurde hin und
her geſtritten, und der Herr Secretarius hatte
ſeine volle Arbeit mit Protokolliren … Siehe!
Da flog unverſehens die Thuͤre auf, und mit
Schreckniß im Angeſicht kam der Stadtzimmer-
meiſter Kannegieſſer hereingeſtuͤrzt und rief:
„Meine Herren, es wird ein großes Ungluͤck ge-
ſchehen — Die Bruͤcke wird zuſammt dem Prahm
davongehen. Jch bin nicht mehr vermoͤgend ge-
weſen, ihn darunter hervorzubringen; und noch
ſteigt das Waſſer mit jeder Minute. Kommen
Sie ſelbſt, Herr Landrath, und uͤberzeugen ſich,
daß das Ungluͤck nicht mehr abzuwenden iſt.‟
Beide eilten hinaus; und mit dem Proto-
koll hatt’ es einſtweilen einigen Stillſtand. Da
wandte ſich denn der zweite Buͤrgermeiſter, Ro-
loff, an mich und ſagte: „Nettelbeck, Sie pfle-
gen ja ſonſt wohl in manchen Dingen guten Rath
zu wiſſen; zumal wo es in Jhr eigentliches Ele-
ment einſchlaͤgt, wie hier. Sagen Sie doch —
Was iſt dabei zu thun?‟
„Jch meyne, dem iſt bald abgeholfen;‟ war
meine kurze Antwort. — „Man bohrt ein Loch
in den Prahm und laͤßt ihn ſoweit voll Waſſer
laufen, bis er ſich hinlaͤnglich geſenkt hat, um
wieder unter der Bruͤcke hervorzugleiten.‟
Kaum waren dieſe Worte ausgeſprochen, ſo
riß der Buͤrgermeiſter haſtig das Fenſter auf und
ſchrie den Weggehenden drunten zu, augenblicklich
zuruͤckzukehren. Es geſchah; und indem ſie ein-
traten, hub er an: „Nettelbeck ſchlaͤgt ſo eben
ein gutes Mittel vor, die Bruͤcke zu retten.‟ —
Jch aber wandte mich zu dem Zimmermeiſter:
„Nehm’ Er einen zweizoͤlligen Boͤtticherbohrer,
und bohr’ Er damit ein Loch in den Boden des
Prahms: dann wird ſo viel Waſſer hineinlaufen,
daß dieſer ſich um Einen oder ein paar Fuß ſenkt
und Spielraum genug gewinnt, unter der Bruͤcke
durchzugleiten. Damit er aber bei ſeiner Laſt
von Kalk, Lehm und Mauerſteinen nicht gar auf
den Grund verſinke, ſo muß das Loch auch zu
rechter Zeit wieder verſtopft werden koͤnnen; und
dazu wird es bloß beduͤrfen, ſich im voraus mit
einem langen, hoͤlzernen Pfropf, nach dem Maaſſe
der Oeffnung, zu verſehen.‟
Eh’ ich die Worte noch gaͤnzlich geendet, rief
der Zimmermeiſter mit flammenden Augen: „Das
geht! Wahrhaftig, das geht! — Herr Landrath,
bleiben Sie in Gottes Namen hier; nun ſoll dem
Dinge bald geholfen ſeyn.‟
Jetzt gab es um den Rathstiſch her aber-
mals eine Stille, bevor mein Protokoll wieder
beginnen wollte: dann aber ſtand der Buͤrger-
meiſter Roloff von ſeinem Stuhl auf, ſah all die
Rathsherren nach der Reihe an und ſagte: „Mei-
ne Herren — Den Mann ſollten wir ſtrafen? —
Was meinen Sie?‟ — Alles ſtill, bis auch der
Landrath aufſtand und ſich zu meinem Widerpart
wandte: „Ein andermal, guter Freund, wenn
Magiſtrats-Sachen an Buͤrger zu beſtellen ſind,
geſcheh’ es nuͤchtern, mit Vernunft und mit Be-
ſcheidenheit. Die Sache iſt hiermit abgethan;
und Sie, Herr Nettelbeck, gehen in Gottes Na-
men, und mit unſerm Dank, nach Hauſe.‟ —
Und das that ich denn auch, nachdem ich zuvor
noch ſelbſt nach dem Prahm geſehen und fernern
Rath und Anſchlag gegeben.
Wiederum, und nicht lange darnach, begab
ſich’s, daß kurz vor der Weihnachtszeit ein Gloͤck-
ner in der Stadt vermißt wurde, nachdem er —
vielleicht etwas angetrunken — auf die Lauen-
burger Vorſtadt geſchickt worden, um, als Kir-
chendiener, faͤllige Landmiethe einzufordern. Zwar
hatt’ er, gegen die Abendzeit, den Heimweg wieder
angetreten: aber wo er zuletzt geblieben, war auf
keine Weiſe zu ermitteln. Endlich, am Nach-
mittag des heiligen Abends vor Weihnachten,
erſcholl das Geruͤcht, der arme Menſch liege, ohn-
weit der zweiten kleinen Bruͤcke, todt im Wall-
graben, mitten im Rohr, wohinab er von dem
ſteilen, mit Glatteis uͤberzogenen Walle gepur-
zelt ſeyn mochte.
Voll Mitleids lief ich hinzu, und fand bereits
die Bruͤcke mit unzaͤhligen Menſchen aus allen
Staͤnden beſetzt, welche Alle nach dem Ertrunke-
nen hingafften, ohne irgend eine huͤlfreiche Hand
anzuſchlagen. „Aber, lieben Leute,‟ — wandt’
ich mich an einige naͤchſtſtehende Buͤrger — „War-
um wird der Leichnam nicht herausgeſchafft? Wir
wollen da nicht lange ſaͤumen — Kommt und
helft mir!‟ — Allein ſie verzogen die Maͤuler;
murmelten etwas, das ſo klang, als wollten ſie
ſich damit nicht „unehrlich‟ machen und dem
Henkersknecht vorgreifen; und Einer nach dem
Andern zog ſich ſachte von mir ab. Weil ich nun
ſah, daß auf einem andern Fleck Landrath und
Buͤrgermeiſter, und wer ſonſt noch vom Rathe,
beiſammenſtanden, trat ich ſie an und bat, daß
ſie’s doch moͤglich machten, den todten Koͤrper
aus dem Waſſer zu ziehen. — „Mein Gott!‟
verſetzte der Landrath, „Es will’s ja Keiner!‟ —
„Gut, ſo will ich’s;‟ war meine Antwort. —
„Jch allein aber ſchaffe nichts. Meine Herren,
gebe Einer von Jhnen ein gutes Beiſpiel und
helfe mir.‟ — Jch ſah Einen nach dem Andern
darauf an: aber meine Rede duͤnkte ihnen ſpoͤt-
tiſch, und ſie kehrten mir den Ruͤcken. — Nun
wurde ich warm und griff einen geiſtlichen Herrn,
den die Neugierde auch herbeigefuͤhrt hatte, am
Rockermel: „Topp, Herr! Wenn Keiner will
und ein fuͤhlbares Herz hat, ſo machen wir
Beide uns getroſt an’s Werk!‟ — „Jch? ich?‟
ſtotterte er — „Mein Gott, dazu bin ich nicht
im Stande‟ — und ſomit riß er ſich von mir los
und entfernte ſich eiligſt. Mir aber lief endlich
auch die Galle uͤber. Jch ſchickte ihnen Allen ei-
nen derben Seemannsfluch nach und begab mich
in grollendem Unmuthe nach Hauſe.
Kaum ein paar Stunden darauf erfuhr ich
durch meinen Sohn, daß endlich den beiden Bet-
telvoigten von Magiſtrats wegen befohlen worden,
den Ertrunkenen aus dem Graben zu holen. Weil
aber die Stelle, bei fortwaͤhrendem Glatteiſe,
wirklich einigermaaſſen gefaͤhrlich, und es alte,
ſteife Kerle waren, ſo ſiel das Erperiment ſo un-
gluͤcklich aus, daß der Eine gleichfalls kopfuͤber
neben dem Gloͤckner ins Waſſer ſtuͤrzte und auf
der Stelle erſoff. Das war im Angeſicht von
mehr als hundert Menſchen geſchehen, deren Kei-
ner einen Finger ruͤhrte, das neue Ungluͤck zu
verhuͤten oder wieder gut zu machen.
Nun ließ mich’s noch weniger ruhen, als
vorher. Jch eilte dem Platze zu, mitten in das
Gedraͤnge, das jetzt noch dichter zuſammengeſtroͤmt
war. „Lieben Leute,‟ rief ich — „jetzt endlich
werdet ihr doch in euch gegangen ſeyn und euch
ſchaͤmen, daß ſolch ein Skandal vor euren ſicht-
lichen Augen hat geſchehen koͤnnen? — Kommt!
helft! Laßt uns wieder gut machen, ſo viel noch
moͤglich iſt!‟ — Waren ſie mir aber vorher ſchon,
ſobald ſie mich erblickten, ausgewichen, ſo wollte
mir jetzt noch weniger Jemand Stand halten. Da
konnt’ ich mir denn freilich nicht anders helfen
und las ihnen eine Epiſtel, die von den derbſten
war. „Wie?‟ rief ich — „Seyd ihr Menſchen?
ſeyd ihr Chriſten? Seyd ihr wohl werth, daß
Gott ſeine Sonne uͤber euch aufgehen laͤßt? Bei
Heiden und Tuͤrken und in Landern, die nichts
von Gott und Jeſu Chriſto wiſſen, hilft und ret-
tet doch Einer den Andern, wenn es um Leib
und Leben gilt!‟
Drauf griff ich einen Schoͤnfaͤrber an, der
mir eben in den Wurf kam. — „Was meynſt
du? Wenn du oder ich dort laͤgen, wo dieſe
Ungluͤcklichen liegen: wollteſt du oder ich erſt
von unehrlichen Haͤnden herausgezogen ſeyn?‟
— „Dazu gebe ſich ein Andrer her, aber ich
nicht!‟ antwortete er mir trotzig und gieng ſeines
Weges. Jch ſchalt, ich tobte: aber damit war
nichts ausgerichtet. Jch mußte meinen Jngrimm
in mich ſchlucken, und rannte nach Hauſe, um
nur von der ganzen Hiſtorie nichts mehr zu ſehen
und zu hoͤren. Kaum aber da angelangt, kam
ein Bote, der mich eiligſt zum Landrath beſchied,
ohne daß ich wußte, was es da geben ſolle.
Noch voll Aergers ließ ich ihm die (freilich nicht
ganz huͤbſche) Antwort zuruͤck vermelden: „Erſt
nur moͤge er ſorgen, daß er die Todten aus dem
Graben ſchaffte. Es ſey morgen hoher Feſttag,
und darum um ſo noͤthiger, daß der unchriſtliche
Spektakel ein Ende kriegte.‟ — Eben dieſe Be-
trachtung aber mocht’ es wohl ſeyn, was den
Herren bange machte, und was auch den Buͤrger-
meiſter zur nemlichen Stunde bewog, mich zu
ihm bitten zu laſſen. Jn der That hatten Beide,
als ich nach einigem abgekuͤhlteren Beſinnen mich
zu dem Gange entſchloß, Ein und das nemliche
Anſinnen, und erſuchten mich mit den freundlich-
ſten Worten, ſie aus dieſer Verlegenheit zu zie-
hen und der Stadt die Schande zu erſparen.
Nun waren ſie zwar ſelbſt Zeugen, wie wenig
ich mit meinem gutwilligen Eifer ausgerichtet;
indeß verhieß ich ihnen doch, es von Neuem zu
verſuchen und mein Beſtes zu thun.
3. Bändchen. (2)
Jndem ich nun wieder zu der Bruͤcke kam,
ſtoͤberte mein bloßer Anblick, als waͤr’ ich der
Knecht Ruprecht geweſen, Alles auseinander, was
da noch ſtand und Maulaffen feil hatte. Sie
mochten ſich wohl vor einer neuen Strafpredigt
fuͤrchten. An Ort und Stelle ſann und ſann ich
nun, wie das Ding am ſchicklichſten anzugreifen
und wie, vor allen Dingen, ein tuͤchtiger Kum-
pan zu finden ſey, der ſeine Hand mit anlegte.
Da kam, im gluͤcklichſten Moment, von dieſem
Allen noch nichts wiſſend, mein guter, alter Freund,
der Brauer Martin Blank, ehemals mein See-
kamerad, von einem Gange auswaͤrts daherge-
ſchritten. Dem erzaͤhlt’ ich nun mit kurzen Wor-
ten, was mich auf dem Herzen druͤckte, und
ſchloß damit: „Bruderherz, du biſt ein Mann
von meinem Schlage: du wirſt mir helfen!‟
— „Ja, das will ich!‟ war ſeine Antwort, in-
dem er ſeinen Mantelrock abzog und auf das
Bruͤckengelaͤnder warf. Jch gieng voran, und er
folgte.
Der Abhang des Walles war ſteil und ſchluͤpf-
rig, und unten, am Rande des Grabens, ließ
ſich nur mit Muͤhe fußen. Mein Gefaͤhrte mußte
mich oben am Kragen halten, waͤhrend ich mich
niederbog, den naͤchſten Leichnam zu erfaſſen:
aber der Ort war ſo gefaͤhrlich, daß wenig fehlte,
wenn ich nicht das Gleichgewicht verlor und der
Dritte unten im Graben war; wiewohl das we-
niger zu ſagen hatte, da ich ſchwimmen konnte.
Weil denn aber an dieſer boͤſen Stelle nichts aus-
zurichten war, mußte beſſerer Rath geſchafft und
vom Thorſchreiber eine Leine herbeigeholt werden,
die wir um die todten Koͤrper ſchlangen, und
womit wir ſie nach einer zugaͤnglichern Stelle zo-
gen, bis ſie denn endlich gluͤcklich aufs Trockne
gebracht wurden.
Daruͤber war es Abend geworden, und mein
Freund, der nunmehr nach Hauſe zu eilen hatte,
uͤberließ mir die Sorge, die Todten vollends an
einen ſchicklichen Ort zu ſchaffen. Mir fiel die
Kalkkammer der St. Georgenkirche auf der Vor-
ſtadt bei, wo ſie fuͤrerſt niedergelegt werden konn-
ten, um nach den Feiertagen chriſtlich beerdigt
zu werden. Aber ehe ſie dahin gelangten, mußte
ein Bauer, der noch ſpaͤt mit ſeinem Fuhrwerk
aus der Stadt kam, von der Thorwache ange-
halten und, halb in der Guͤte, halb mit Gewalt
bewogen werden, ſie bis dahin aufzuladen. Selbſt
der Kuͤſter, den ich herauspochte, machte eine
bedenkliche Miene, ihnen das Plaͤtzchen zu goͤn-
nen, und griff nur erſt nach den Kirchenſchluͤſſeln,
als ich mir’s herausnahm, mit einem Woͤrtchen
von Abſetzung zu drohen. Zuletzt ſtattete ich von
Allem ſchuldigen Bericht bei der Obrigkeit ab,
und erhielt herzlichen Dank zum Lohn. Mehr
verlangte ich auch nicht; und ſelbſt um dieſen
waͤre mir’s kaum zu thun geweſen. Mehr aber
freut mich’s, daß ſeitdem die Zeiten auch in je-
nem ſchaͤndlichen Vorurtheil ſich ganz umgewan-
(2 *)
delt haben, und daß jetzt hoffentlich ſo etwas in
meiner lieben Vaterſtadt nicht wieder vorfallen
koͤnnte.
Neben meinen haͤuslichen und Berufsgeſchaͤf-
ten machte ich mir aber von Zeit zu Zeit auch
noch andre Sorgen, die ich mir wohl haͤtte ſpa-
ren koͤnnen, wenn ich ſie nicht als meine Spiel-
puppe betrachtet haͤtte, und um die ich mich zu
andrer Zeit ſelbſt auslachte. Man wird ſich aus
meinem fruͤheren Seeleben erinnern, daß zu An-
fange des Jahres 1773 unſer Sklavenſchiff, ei-
nes empfangenen Lecks wegen, genoͤthigt geweſen,
in den Fluß Kormantin, zwiſchen Surinam und
Berbice, einzulaufen, und wie ich damals dort
eine ungemein fruchtbare, aber noch von keiner
europaͤiſchen Macht in Beſitz genommene Land-
ſchaft vorgefunden.Vergl. Bd. II. S. 107 ff. Flugs wirbelte mir auch
dieſer letztere Umſtand im Kopfe herum: der preu-
ßiſche Patriotismus ward in mir lebendig, und
ich ſann und ſann, warum denn nicht mein Koͤ-
nig hier eben ſo gut, als England und Frank-
reich, ſeine Kolonie haben und Zucker, Kaffee und
andre Kolonialwaaren eben, wie Jene, anbauen
laſſen ſollte? Je laͤnger ich mir das Project an-
ſah, deſto mehr verliebte ich mich drein; und zu-
gleich meynte ich, daß ich ſelbſt, in meiner Ein-
falt, wohl der Mann dazu ſeyn koͤnnte, Herz
und Hand zur Ausfuͤhrung dranſtrecken zu helfen.
Darum ließ mir’s auch, als ich des naͤchſten
Jahres darauf nach Colberg zuruͤckgekehrt war,
keine Ruhe, als bis ich mich hingeſetzt und meinen
Plan umſtaͤndlich zu Papier gebracht hatte. Jch
dachte, wer ihn laͤſe und nur irgend zu Herzen
naͤhme, muͤßte mir auch in meinen Vorſchlaͤgen
beipflichten; und ſo packt’ ich ihn fein mit einer
allerunterthaͤnigſten Vorſtellung zuſammen, und
ſchickte mein Schooßkind unmittelbar an den alten
Friedrich ein, der zuletzt doch immer das Beſte
bei der Sache thun mußte. Hatt’ ich jedoch ge-
glaubt, da vor die rechte Schmiede zu kommen,
ſo war ich gleichwohl arg betrogen: denn, woran
es auch immer liegen mochte, — meine Eingabe
blieb ohne Antwort; und ſo ließ ſich wohl daraus
ſchließen, daß der Koͤnig das Ding nicht mit
meinen Augen angeſehen, und weiter auf ihn
nicht zu rechnen ſeyn werde. Alſo war ich auch
geſcheut genug, ihm weiter keinen Moleſt damit
zu machen.
Nur mir ſelbſt wollte die ſchoͤne preußiſche
Kolonie am Kormantin noch immer nicht aus
Sinn und Gedanken weichen! Jch putzte mir
das Luftſchloß noch immer beſſer und vollſtaͤndi-
ger im Einzelnen aus; und da ich wohl erwog,
daß der Anbau des Landes ohne Huͤlfe von hin-
reichenden Negerſklaven nicht zu bewerkſtelligen
ſeyn werde, ſo verband ich damit zugleich die
Jdee einer Niederlaſſung auf der Kuͤſte von Gui-
nea, wo ja ſchon hundert Jahre fruͤher der große
Kurfuͤrſt und ſeine Brandenburger feſten Fuß ge-
faßt gehabt Vergl. Bd. II. S. 16., und von wo die neue Kolonie
mit ſchwarzen Arbeitern hinreichend verſorgt wer-
den koͤnnte. So wurde mir mein Project von
Tage zu Tage lieber, obgleich ich meine Gedan-
ken fuͤr mich behielt und auf kuͤnftige beſſere Zei-
ten rechnete: denn was der koͤnigliche Greis, als
zu weit ausſehend, von der Hand gewieſen hatte,
das konnte ja leicht bei ſeinem hochherzigen Nach-
folger einſt eine guͤnſtigere Aufnahme finden.
Als daher Friedrich der Einzige die Augen
geſchloſſen, und Friedrich Wilhelm, auf ſeinem
Wege zur Huldigung in Koͤnigsberg, durch Pom-
mern zog, nahm ich flugs meinen alten Plan
wieder vor, und paßte es ſo ab, daß ich dem
Koͤnige in Coͤrlin unter die Augen kam und ihm
mein Memorial uͤberreichte. Kaum auch liefen
einige Wochen in’s Land, ſo hatt’ ich auch mei-
nen Beſcheid, des Jnhalts: „Daß Se. Majeſtaͤt
auf den entworfenen Plan zu einer Seehandlung
nach Afrika und Amerika fuͤr Hoͤchſtdero eigene
Rechnung zwar nicht entriren moͤge, inzwiſchen
die gemachten Vorſchlaͤge der Seehandlungs-So-
cietaͤt zugefertigt und derſelben uͤberlaſſen habe,
ob ſie darauf ſich einzulaſſen rathſam finde.‟
Das war nun wohl nicht ganz auf mein
Ohr: aber doch ließ es ſich hoͤren; und die Her-
ren von der Seehandlung konnten vielleicht ge-
neigt ſeyn, Vernunft anzunehmen. Aber was
geſchah? — Jn noch kuͤrzerer Friſt (denn raſch
genug expedirte man mich!) gieng, nicht von je-
ner Societaͤt, an die ich verwieſen worden, ſon-
dern von dem Koͤnigl. Preuſſ. Pomm. Kriegs-
und Domainen-Kammer-Deputations-Collegium
zu Coeslin die Reſolution bei mir ein: „Da Se.
Koͤnigl. Majeſtaͤt geruht haͤtten, auf jene Vor-
ſchlaͤge nicht zu reflectiren: ſo koͤnne auch beſag-
tes Collegium ſich auf das weit ausſehende Hand-
lungs-Project nicht einlaſſen.‟ — Nun, ſo war
denn meine Freude abermals in den Brunnen
gefallen; was mir damals herzlich leid that, weil
ich glaubte, daß in Coeslin wohl freilich nicht
die rechte Erleuchtung uͤber meinen Plan zu ſu-
chen geweſen ſeyn moͤchte. Spaͤterhin habe ich
in Erfahrung gebracht, daß die Englaͤnder auf
den nemlichen Gedanken gekommen, und daß es
ihnen auch nicht gefehlt habe, am Fluſſe Kor-
mantin eine Niederlaſſung mit dem gedeihlichſten
Erfolge zu gruͤnden.
Jch hatte aber auch kaum noͤthig, mich um
Dinge in der Ferne zu kuͤmmern, da Gelegenheit
genug in der Naͤhe war und mir dicht vor den
Fuͤßen lag, wo ich zum Guten rathen und mich
um’s allgemeine Beſte einigermaaßen verdient ma-
chen konnte. So war es etwa gleich ein Jahr
nachher (1787), daß die Colberger Kaufmann-
ſchaft mir die Ehre anthat, mich zum Verwand-
ten des Seglerhauſes aufzunehmen. Es iſt dies
nemlich ein ſtaͤdtiſches Collegium, welches aus
fuͤnf Kaufleuten und drei der angeſehenſten Schif-
fer beſteht und das Seegericht bildet, vor welchem
alle Schiffahrtsſachen, ſowohl nach dem Preuß.
Seerecht, als nach den Uſanzen, in erſter Jnſtanz
entſchieden werden. Dieſe Auszeichnung konnte
und wollte ich nicht von mir zuruͤckweiſen; und
ſo geſchah es denn, daß gleich in der zweiten oder
dritten Seſſion ein Schiffer, vom Colberger Deep
gebuͤrtig, und ein Steuermann, ebendaher, auf-
gefordert wurden, ein Protokoll zu unterzeichnen.
Der Schiffer kratzte ſeinen Namen mit Noth und
Muͤhe auf das Papier; ſein Gefaͤhrte aber er-
klaͤrte, daß er des Schreibens voͤllig unkundig
ſey, und begnuͤgte ſich, ſeine drei Kreuze hinzu-
malen, wobei ihm die große Brodtſchnitte, die er
zu ſeiner Bekoͤſtigung zu ſich geſteckt, beinahe
aus dem Buſen entfallen waͤre.
Jch kann nicht laͤugnen, daß ich mich hier-
bei tief in die Seele dieſer ehemaligen Standes-
genoſſen ſchaͤmte. Weß das Herz voll war, deß
gieng auch der Mund uͤber; und ſo bat ich meine
Herren Beiſitzer, es doch reiflich zu Herzen zu
nehmen, wie ſchlechte Ehre wir Preuſſen einleg-
ten, wenn ſo oft Landsleute von dieſem Schnitt
vor einem auswaͤrtigen Seegericht ſtaͤnden, und
was fuͤr Gedanken Hollaͤnder und Englaͤnder
wohl von unſerm Seeweſen faſſen moͤchten? Das
Wenigſte waͤre, daß fremde Handelsleute ſich auf
alle Weiſe huͤten wuͤrden, ſolchen unwiſſenden
und rohen Menſchen Schiffe und Ladungen an-
zuvertrauen, und daß daruͤber die ganze preuſſi-
ſche Rheederei in Mißkredit und Verachtung ge-
rathen koͤnnte. Andrer Orten — ſetzte ich hin-
zu — wuͤrde kein Steuermann oder Schiffer zu-
gelaſſen, bevor ſie in einem Steuermanns-Exa-
men erwieſen haͤtten, daß ſie ihrer Kunſt und
Wiſſenſchaft vollkommen maͤchtig geworden. Sie
wuͤßten auch, daß ich noch immer fortfuͤhre, mich
in meinen Nebenſtunden mit dem Unterricht jun-
ger Seeleute zu beſchaͤftigen; und ſo laͤge mir
denn, zu Sicherung meiner eigenen Ehre, daran,
daß ſie die Guͤte haͤtten, mit naͤchſtem einer Pruͤ-
fung meiner Lehrlinge beizuwohnen und ſich von
ihren gemachten Fortſchritten in der Steuermanns-
kunſt zu uͤberzeugen.
Das geſchah auch wirklich, und die Herren
fanden einen ſolchen Wohlgefallen an der Sache,
daß auf der Stelle beſchloſſen wurde: Es ſolle
fortan auf hieſigem Platze kein Schiffer oder
Steuermann angenommen und vereidet werden,
bevor er nicht ſeine Tuͤchtigkeit durch ein wohl-
beſtandenes Examen nachgewieſen. Und ſo iſt es
ſeitdem auch fortdauernd hier gehalten worden.
Um die nemliche Zeit etwa befand ſich das
hieſige Koͤnigl. Licent-Amt in einiger Verlegen-
heit wegen eines hinreichend tuͤchtigen Schiffs-
vermeſſers, der ſich auf die Berechnung der Traͤch-
tigkeit der Fahrzeuge verſtaͤnde, und wie viel La-
ſten ſie laden und uͤber See fuͤhren koͤnnten.
Denn bisher hatten ein paar ſubalterne Licent-
Beamten dieſes Geſchaͤft verſehen; aber ſo un-
wiſſend und ungeſchickt, daß die von ihnen ver-
meſſenen Fahrzeuge ſtets zu groß oder zu klein
befunden wurden; woher es denn auch an Strei-
tigkeiten zwiſchen dem Licent und den Schiffern
nie abriß. Zufaͤllig mochte es nun bekannt ge-
worden ſeyn, daß ich mich auf dies Geſchaͤft ver-
ſtaͤnde; und ſo geſchah mir von der obern Zoll-
behoͤrde der Antrag, mich ſolcher Verrichtung fuͤr
die Zukunft anzunehmen. Mehr der Ehre, als
des kleinen Nutzens wegen, ließ ich mich dazu
willig finden; legte hier im Hafen an einigen
Schiffen, die bereits in Danzig und Koͤnigsberg
vermeſſen waren, meine Probe ab, und ward
demnaͤchſt von der Koͤnigl. Regierung zu Stettin
in Pflicht genommen und beſtaͤtigt; ohne mir
traͤumen zu laſſen, daß ich dadurch den Neid und
Groll meiner beiden Vorgaͤnger in dieſem Amte
erregt haben koͤnnte.
Das erſte Schiff, das mir zur Berechnung
vorkam, war ein kleines engliſches, ſcharf ge-
bautes Fahrzeug, auf zwei Decke eingerichtet,
Kajuͤte, Roof und Kabelgat mit im Raume ver-
ſenkt; ſo daß in letzterem nur wenig zur Bela-
ſtung uͤbrig blieb. Jndem ich nun den kubiſchen
Jnhalt nach dieſen beſondern Umſtaͤnden in eine
Verzeichnung brachte, ergab meine darauf ge-
gruͤndete Berechnung eine Belaſtungsfaͤhigkeit von
nicht mehr als 36 Laſten, zu 5,760 Pfund, wie
damals gebraͤuchlich war. Waͤhrend jedoch mein
Atteſt hieruͤber an die Regierung abgieng, hatten
meine beiden Widerſacher das Schiff gleichfalls,
nach ihrer Weiſe, in aller Stille vermeſſen, die
Traͤchtigkeit deſſelben auf 55 Laſten berechnet, und
daruͤber gleichzeitig einen Bericht nach Stettin
abgeſandt, worinn ich eben ſo ſehr der Unwiſſen-
heit, als der Unredlichkeit, beſchuldigt wurde.
So gelangte denn bald darauf ein gefaͤhrlich
beſiegeltes Schreiben an mich, worinn die Stet-
tiner Herren mir meine begangene Ungeſchicklich-
keit vorhielten und mich zur Verantwortung zo-
gen. Jch, meines Theils, begnuͤgte mich, mei-
nen gemachten Riß, ſammt der ſchriftlichen Be-
rechnung, einzupacken und um eine ſtrenge, aber
unpartheiiſche Pruͤfung meines Verfahrens zu
bitten; mit dem Beifuͤgen, daß uͤbrigens dieſe
Arbeit, ſo wie ſie meine erſte geweſen, auch mei-
ne letzte bleiben werde. Nun war man doch dort
ſo vernuͤnftig oder ſo billig geweſen, unſre bei-
derſeitigen Aufſaͤtze in Danzig und Koͤnigsberg
einer neuen Berechnung unterwerfen zu laſſen;
wobei die Richtigkeit des meinigen, ſo wie die
Falſchheit des andern Machwerks an’s Tageslicht
kam. Meine Angeber wurden fuͤr ihren boͤſen
Willen, auſſer einer Ordnungsſtrafe, angewieſen,
ſich fernerhin in mein Geſchaͤft nicht zu miſchen;
mir aber angetragen, daſſelbe wiederum zu uͤber-
nehmen. Solches habe ich denn auch, des ge-
meinen Beſtens wegen, gerne gethan, und dies
Amt bis zum Jahr 1821 mit Ehren verwaltet.
Ernſtlicher aber war es um das Jahr 1789
und weiterhin mit einem Streite gemeynt, den
die Colberger Buͤrgerſchaft unter ſich auszufech-
ten hatte, und wobei ich, auch wenn ich gewollt
haͤtte, unmoͤglich ruhiger Zuſchauer bleiben konnte.
Aber freilich, ich wollte und konnte auch
nicht, da es drauf ankam, himmelſchreiende Miß-
braͤuche aufzudecken und abzuſtellen, die unter
dem Schein des Rechten, ohne alle Scheu, aus-
geuͤbt wurden. Es gab nemlich in Colberg, nach
der damaligen ſtaͤdtiſchen Verfaſſung, ein Colle-
gium, genannt die Funfzehn-Maͤnner, weil es
aus 15 der angeſehenſten Buͤrger beſtand, und
welches urſpruͤnglich die Gerechtſame der Buͤrger-
ſchaft bei dem Magiſtrat zu vertreten hatte, und
deſſen Gutachten in ſtaͤdtiſchen Angelegenheiten
gehoͤrt werden mußte. Allmaͤhlig aber hatten
dieſe Funfzehn-Maͤnner angefangen, ihr Anſehen
mehr zu ihrem Privat-Nutzen, als zum allge-
meinen Beſten, geltend zu machen; und ſo wie
die Menſchen nun Einmal zum Boͤſen immer
feſter zuſammenhalten, als zum Guten, ſo war
auch hier ſchon ſeit lange eine enge Verbruͤderung
entſtanden, ſich einander zu allerlei heimlichen
Praktiken den Ruͤcken zu ſteifen und durchzuhel-
fen. Da waren denn Depoſiten-Kaſſen ange-
griffen, Scheinkaͤufe angeſtellt, Gemeindegut lie-
derlich verſchleudert, und andre Greuel mehr be-
gangen worden, die ein recht- und ehrliebender
Mann vor Gott und ſeinen uͤbervortheilten Mit-
buͤrgern nicht laͤnger dulden konnte.
Jch ſchaͤme mich nicht, zu bekennen, daß ich
der Erſte war, der dem Faſſe den Boden aus-
ſtieß; und als ein paar wackre Maͤnner, der Zim-
mermeiſter Steffen und der Gaſtwirth Emmrich,
auf meine Seite traten, ſo brach ich los, und
machte eine lange Reihe von Ungebuͤhrniſſen, Ver-
untreuungen und krummen Schlichen, die in der
letzten Zeit veruͤbt worden, vor Gericht anhaͤngig.
Es kam daruͤber zu einem langen und verwickel-
ten Prozeſſe, wobei die ganze Laſt auf uns Drei
zuruͤckfiel, die wir von gemeiner Buͤrgerſchaft als
Worthalter mit Vollmacht hiezu verſehen waren.
Keine Art von Raͤnken und Rabuliſtereien blieb
gegen uns unverſucht; ſo daß der Rechtsſtreit
dadurch beinahe vier Jahre hindurch verſchleppt
wurde. So, wie ich mir die Sache zu Herzen
nahm, hatt’ ich waͤhrend dieſer ganzen Zeit keine
ruhige Stunde; und oft haͤtt’ ich gerne mit Feuer
und Schwerdt drein fahren moͤgen, wenn das
heilloſe Gezuͤcht immer ein neues Maͤntelchen fuͤr
ſeine aufgedeckte Bosheit zu erhaſchen ſuchte.
Endlich aber doch kam die unſaubre Geſchichte zu
einem noch leidlichen Schluſſe, demzufolge das
Collegium der Funfzehn-Maͤnner gaͤnzlich aufge-
loͤſt wurde, um neuerwaͤhlten Zehn-Maͤnnern
Platz zu machen, welche, als Repraͤſentanten der
Buͤrgerſchaft, die nemlichen Befugniſſe haben ſoll-
ten, ohne die nemliche Macht zum Boͤſesthun
von ihnen zu erben. Man bewies mir das Ver-
trauen, mich in die Zahl dieſer zehn Buͤrger-Re-
praͤſentanten aufzunehmen; und ich habe dies
Ehrenamt auch mit Luſt und Eifer bis zum Jahre
1809 bekleidet, wo die neue Staͤdte-Ordnung
andre und verbeſſerte Einrichtungen herbeifuͤhrte.
Hier mag es nun auch der Ort ſeyn, meine
haͤuslichen und ehelichen Verhaͤltniſſe mit einigen
Worten zu beruͤhren; wiewohl dieſe Lebens-Er-
fahrungen gerade diejenigen ſind, deren ich mich
nicht erinnern darf, ohne ſehr ſchmerzliche Em-
pfindungen in mir zu erwecken: denn als Ehe-
mann und als Vater iſt mir erſt ſehr ſpaͤt mein
beſſerer Gluͤcksſtern erſchienen. Zwar war auch
der erſte Anſchein zu Beidem guͤnſtig genug, als
ich im Jahre 1762 mich, wie ich ſchon fruͤher
erzaͤhlt habe, Vergl. Bd. I. S. 130. in Koͤnigsberg zum Heirathen
entſchloß. Jch war ein flinker lebensluſtiger Bur-
ſche von 24 oder 25 Jahren, und mein junges
Weib mochte eben nur 16 zaͤhlen: allein Alles
ſtand gut und gluͤcklich um uns; und ſolange wir
dort lebten und ich als Schiffer ab- und anfuhr,
gab es die friedſamſte Ehe von der Welt. Von
drei Kindern, die ſie mir gebar, blieb indeß nur
ein Sohn am Leben; der nemliche, der mich in
den letzten vier Jahren meines Seelebens, als
unzertrennlicher Gefaͤhrte, begleitete.
Nach ſieben Jahren, als mir in Stettin der
koͤnigliche Schiffsdienſt ſo ſchnell verleidet worden,
brachte meine zufaͤllige Anweſenheit in Colberg
und der Wunſch meiner damals noch lebenden
Eltern mich zu dem Entſchluſſe, meinen Haus-
halt von Koͤnigsberg, wo mir’s eben auch nicht
beſſer hatte gluͤcken wollen, nach meiner Vater-
ſtadt zu verlegen. Vergl. Bd. I. S. 246. Waͤhrend ich noch damit
umgieng, meldete mir ein alter Hausfreund, daß
meine Frau, von welcher ich ſeit beinahe neun
Monaten entfernt gelebt, gluͤcklich eines Knaͤb-
leins geneſen; doch als ſie, nach vollendeten
Sechswochen, auf meinen Ruf mit Kind und
Kegel in Colberg anlangte, praͤſentirte ſie mir,
neben jenem aͤlteren Sohne, auch ein kleines
Maͤdchen von zwei Monaten, als das unſrige.
Man mag ſich’s denken, daß ich mir maͤchtig die
Stirne rieb und ein wenig verdutzt in die Frage
ausbrach: „Aber wie hat ſich der Junge ſo auf
Einmal in ein Maͤdchen verwandelt?‟ — Da
fiel die Suͤnderinn mir und meinen Eltern wei-
nend zu Fuͤßen, und bekannte, was ſich nun
laͤnger nicht verheimlichen ließ: — Daß der Haus-
freund mir noch etwas mehr geweſen; daß er,
um mich Entfernten zu taͤuſchen, mir meines
Weibes Niederkunft um einige Wochen fruͤher,
als ſie wirklich erfolgt war, gemeldet und es nur
in der Angabe des Geſchlechts ſo arg verſehen
habe. Die buͤßende Magdalene bat indeß, mit
erhobenen Haͤnden, ſo flehentlich um Vergebung,
daß ich ſowohl, wie meine Eltern, dadurch be-
wegt wurden und das Geſchehene in Vergeſſen-
heit zu ſtellen verſprachen. Jn der That mochte
hier Schweigen und Verzeihen auch wohl das
Beſte ſeyn, was ſich thun ließ; wenn ich gleich
die ungluͤckliche Frucht dieſes Fehltritts dadurch
geſetzlich fuͤr mein Kind erklaͤrte.
Nun verſuchte ich mich, wie man weiß, wie-
derum fuͤnf Jahre in fremden Welttheilen, waͤh-
rend welcher Zeit Frau und Kinder von meinen
Eltern ernaͤhrt wurden. Doch als ich nach Hol-
land heimgekehrt war, belehrten mich Briefe von
guten Freunden, daß die Ungetreue neuerdings
auf Abwege gerathen, die nicht ohne lebendigen,
doch bald darauf wieder verſtorbenen Zeugen ge-
blieben; und nun erforderte denn allerdings mein
guter Name die Scheidung, welche auch unver-
zuͤglich durch die Gerichte vollzogen wurde. Jch
behielt meinen Sohn; ſie aber kehrte mit ihrer
Tochter nach Koͤnigsberg zuruͤck; von wo an ich,
unter meinen nachmaligen Jrr- und Kreuzfahr-
ten, ſie und ihr Schickſal gaͤnzlich aus den Au-
gen verlor.
Erſt im Jahre 1787, nachdem ich bereits
wieder in Colberg zur Ruhe gekommen, erfuhr
ich, daß die Ungluͤckliche dort im Elend geſtorben,
und ihre von aller Welt verlaſſene Tochter mich
flehentlich bitte, mich ihrer zu erbarmen. „Was
kann auch das arme Geſchoͤpf fuͤr die Suͤnden
ſeiner Mutter?‟ dachte ich bei mir ſelbſt; und
ſo macht’ ich auch flugs Anſtalt, ließ das Maͤd-
chen dort kleiden und ſorgte fuͤr Reiſegeld, um
ſie nach Colberg kommen zu laſſen und in mein
Haus aufzunehmen. Leider aber mußt’ ich bald
bemerken, daß Blut und Gemuͤth der Dirne
(wie es bei der verwahrloſeten Erziehung auch
wohl nicht ausbleiben koͤnnen) ſich ganz nach
muͤtterlicher Weiſe hinneigten. Allein die ſchaͤr-
fere Zucht, zu der ich dadurch genoͤthigt wurde,
behagte ihr nicht; ſie entzog ſich heimlich meiner
Aufſicht, ſchweifte in der Jrre umher, fuͤhrte ein
unſittliches Leben und bereitete mir viele Jahre
hindurch ein reiches Maaß von Verdruß und
Sorge.
Allein auch der beſſere Sohn, der mein ein-
ziger Troſt war, ſollte mir zuletzt nur Herzeleid
und Thraͤnen bereiten. Er hatte ſich fuͤr den
Handelsſtand beſtimmt und im Jahre 1793 ſeine
Lehrlingszeit in dem Comptoir des Hrn. Kauf-
mann Pagenkopf zu Stralſund gluͤcklich uͤber-
ſtanden, und war zu mir heimgekehrt, als eine
Krankheit ihn uͤberfiel, die ſein junges Leben
dahinraffte. Meines Lebens Luſt und Freude
gieng mit ihm zu Grabe!
Jch ſtand nun einſam und verlaſſen in der
Welt, und wußte nicht, fuͤr wen ich mir’s in
derſelben noch ſauer werden laſſen ſollte. Zwar
hatte meine Nahrung leidlichen Fortgang: aber
3. Baͤndchen. (3)
doch betrog mich mein Geſinde, wo es wußt’
und konnte. Jch ſah, es fehlte am rechten feſten
Kern im innern Haushalt; und das fuͤhrte mich
endlich auf den Gedanken, es noch einmal im
Eheſtande zu verſuchen. So warf ich denn im
Jahre 1799 meine Augen auf eine Schiffers-
wittwe in Stettin, die ich von fruͤherer Zeit her
als eine ordentliche und rechtliche Frau zu kennen
glaubte. Die Verbindung kam auch zu Stande:
aber nun erſt giengen mir, wiewohl zu ſpaͤt, die
Augen auf. Die fromme Wittwe war, ohne daß
ich es wußte, umgeſchlagen; hatte gern ihr
Raͤuſchchen und hielt es eifrig mit mancherlei an-
dern Dingen, die den Ehefrieden nothwendig ſtoͤ-
ren mußten. An ein Zuſammenhalten des ehrlich
Erworbenen war nun laͤnger nicht zu denken;
vielmehr ſah ich den unvermeidlichen nahen Un-
tergang meines kleinen Wohlſtands vor Augen.
Es war ein ſaurer Schritt — aber was blieb
mir anders uͤbrig, als eine abermalige Schei-
dung?
Alle dieſe widrigen Erfahrungen eroͤffneten
mir auf’s neue nichts, als truͤbe Ausſichten in
die Zukunft. Kaum gehoͤrte ich noch irgend ei-
nem Menſchen an. Jch war nachgerade ein al-
ter Mann geworden; und fuͤhlte ich gleich mein
Herz noch friſch und meinen Geiſt lebendig, ſo
wollten doch die ſtumpf gewordenen Knochen nicht
mehr gut thun. Jch gewann, wenn ich es ſo
nennen darf, einen Ueberdruß am Leben; meine
eigenen Geſchaͤfte wurden mir gleichguͤltig, und
noch gleichguͤltiger der Gedanke an Erwerb; ſo
daß ich mich faſt einen Verſchwender haͤtte nen-
nen moͤgen. Die paar Jahre, die mir noch uͤbrig
waͤren, dachte ich mich wohl ſo hinzuſtuͤmpern;
und wenn nur noch der Sarg ehrlich bezahlt
worden, moͤchte man mich immer auch hinſtecken,
wo meine Vaͤter ſchliefen; — fuͤr den uͤbrigen
kleinen Reſt wuͤrden dann ſchon lachende Erben
ſorgen. Ohnehin war mein Haͤuschen mein groͤß-
ter und beinahe einziger Reichthum; und dieſes
hatt’ ich, um doch noch etwas Gutes fuͤr meine
Vaterſtadt zu ſtiften, in meinem Teſtamente dem
Seglerhauſe, deſſen Aelteſter ich ſeit dem Jahre
1793 geworden war, zum Eigenthum vermacht;
dergeſtalt, daß oben die Verſammlungen des Col-
legiums gehalten werden, unten aber eine be-
duͤrftige Kaufmanns-Wittwe lebenslaͤngliche freie
Wohnung finden ſollte.
Auf ſolche Weiſe, indem Jahr an Jahr ſich
hinzog, war auch der, in ſeiner Unſeligkeit nur
zu merkwuͤrdige Zeitpunkt von 1806 herbeigekom-
men. Mir, als feurigem Patrioten, der die al-
ten Zeiten von unſers großen Friedrichs Thaten
noch im Kopfe hatte, blutete, gleich ſo Vielen,
das Herz bei der Zeitung von dem entſetzlichen
Tage von Jena und Auerſtaͤdt und ſeinen naͤch-
ſten Folgen. Jch haͤtte kein Preuſſe und abtruͤn-
nig von Koͤnig und Vaterland ſeyn muͤſſen, wenn
mir’s jetzt, wo alle Ungluͤckswellen uͤber ſie zu-
(3 *)
ſammenſchlugen, nicht ſo zu Sinne geweſen waͤre,
als muͤßt’ ich eben jetzt auch Gut und Blut und
die letzte Kraft meines Lebens fuͤr ſie aufbieten.
Nicht mit Reden und Schreiben, aber mit der
That, dachte ich, ſey hier zu helfen; — Jeder
auf ſeinem Poſten, ohne ſich erſt lange, feig und
klug, vor- und ruͤckwaͤrts umzuſehen! Alle fuͤr
Einen, und Einer fuͤr Alle — Darauf war mein
Sinn geſtellt; und es haͤtte ja keine Ehre und
Treue mehr unter meinen Landsleuten ſeyn muͤſ-
ſen, meynte ich, wenn nicht Tauſende mir gleich
gefuͤhlt haͤtten, ohne es ebenſowenig, als ich, in
lauten prahlenden Worten unter die Leute zu
bringen.
Als nun Magdeburg und Stettin, die bei-
den Herzen des Staates, gefallen waren und die
ungeſtuͤme franzoͤſiſche Windsbraut ſich immer
naͤher und drohender gegen die Weichſel heran-
zog: da ließ ſich’s freilich wohl vorausſehen, daß
bald genug auch die Feſte Colberg an die Reihe
kommen wuͤrde, die dem Feinde zwar unbedeutend
erſcheinen mochte, aber ihm doch zu nahe in ſei-
nem Wege lag, als daß er ſie ganz haͤtte uͤber-
ſehen ſollen. Das that er auch wirklich nicht:
allein er hatte ſich dieſe letzte Zeit her bei unſern
Feſtungen eine Eroberungs-Manier angewoͤhnt,
die kein Pulver, ſondern nur glatte Worte ko-
ſtet; und damit war er fuͤrwahr auch noch fruͤher
bei der Hand, als ein Menſch es haͤtte erwarten
ſollen.
Kaum war nemlich Stettin uͤbergegangen,
ſo machte ſich von dorther, aus einer Entfernung
von 16 Meilen, ein franzoͤſiſcher Officier, als
Parlamentair, auf den Weg und erſchien (am
8. Nov.) bei uns in Colberg, um die Feſtung
zur Uebergabe aufzufordern. Gleichzeitig ward
der koͤnigliche Domainen-Beamte, der auf der
Altſtadt, unter den Kanonen des Platzes, wohnte,
entboten, in Stettin zu erſcheinen und dem fran-
zoͤſiſchen Gouvernement den Huldigungs-Eid zu
leiſten. Auf beiderlei Anſinnen (das mindeſtens
fuͤr unſern Feſtungs-Commandanten als eine
Ehrenruͤhrigkeit haͤtte gelten koͤnnen) erfolgte
zwar eine abſchlaͤgige Antwort: allein es iſt wohl
ſehr gewiß, daß der Franzoſe, anſtatt allein zu
kommen, nur einige wenige Hunderte zur Be-
gleitung haͤtte haben duͤrfen, um in dieſem Au-
genblicke unaufgehalten zu unſern Thoren einzu-
ziehen. Dies ſcheint unglaublich und iſt doch
buchſtaͤbliche Wahrheit! Jch, der ich nicht Sol-
dat bin, und mir’s alſo eben ſo wenig heraus-
nehme, uͤber militairiſche Gegenſtaͤnde zu ent-
ſcheiden, als ich mich kluͤglich huͤten werde, hier
eine kunſtgerechte Beſchreibung der Belagerung
Colbergs zu unternehmen, kann und will nur
urtheilen, ſoweit ein geſundes Paar Augen und
mein ſchlichter Menſchenverſtand ausreicht; —
Das Uebrige mag dem Ermeſſen des geneigten
Leſers anheimgeſtellt bleiben.
Denke ſich derſelbe dieſen Ort als ein maͤ-
ßiges Staͤdtchen von noch nicht 6000 Seelen,
an dem rechten Ufer des kleinen Fluſſes Perſante
gelegen, welcher nur an ſeinem Ausfluſſe in die
Oſtſee einige hundert Schritte hinauf ſchiffbar iſt,
wo er, eine halbe Viertelmeile von der Stadt,
einen Hafen fuͤr geringere Fahrzeuge bildet. Die
daran belegenen Wohnungen und Speicher heiſſen
„die Muͤnde;‟ und zwiſchen Stadt und Muͤnde,
ebenfalls am oͤſtlichen Ufer, zieht ſich eine Vor-
ſtadt, genannt „die Pfannſchmieden‟ hin. Dieſe
dankt ihren Urſprung, wie ihren Namen, der
Benutzung einiger reichhaltigen Salzquellen, wel-
che ſich gegenuͤber nahe an der weſtlichen Strom-
ſeite finden, wo auch die Salzſiedereien und ein,
in weſtlicher Richtung ſich weit durch das „Sie-
derfeld‟ erſtreckendes Gradir-Werk angelegt ſind.
Die Stadt ſelbſt bildet ein ſtumpfes Viereck,
und wird an den drei Landſeiten von einem
Hauptwall und ſechs Baſtionen eingeſchloſſen.
Nahe Auſſenwerke von Wichtigkeit ſind hier nicht
vorhanden; aber der Platz gewinnt nichtsdeſto-
minder eine bedeutende Staͤrke durch einen brei-
ten moraſtigen Wieſengrund, welcher ſich, un-
unterbrochen, von Suͤden nach Nordoſten dicht
umherzieht, keine Annaͤherung durch Laufgraͤben
geſtattet und uͤberdem durch Schleuſen tief unter
Waſſer geſetzt werden kann. Erſt jenſeits erhebt
ſich, nach Suͤden die Altſtadt, nach Oſten der
Hoheberg und der Bollenwinkel, und nach Nord-
oſt der Wolfsberg, von wo aus die Stadt be-
ſchoſſen werden kann; daher ſie eigentlich die
Verwandlung in ein großes verſchanztes Lager
erfordern wuͤrden, um alsdann, mit einer hin-
laͤnglichen Truppenzahl beſetzt, den Platz von
dieſer Seite unangreifbar zu machen. Allein nur
der Wolfsberg, als der gefaͤhrlichſte Punkt, war
mit einer Schanze verſehen; auf dem Muͤnder
Kirchhofe war eine Batterie angelegt, und den
Eingang des Hafens deckte an der Oſtſeite ein
ſtarkes Werk, „das Muͤnder-Fort.‟ Die Weſt-
ſeite der Stadt lehnt ſich an die Perſante, zwi-
ſchen welcher und dem aus ihr abgeleiteten Holz-
graben die Neuſtadt, und an dieſe noch weiter
weſtlich ſich anlehnend, die Gelder-Vorſtadt mit
verſchiedenen Befeſtigungen und Auſſenwerken
umgeben iſt; waͤhrend am untern Einfluſſe des
Holzgrabens die „Moraſtſchanze‟ die Verbindung
mit dem Muͤnder-Fort ſichert. Jn weiterer Ent-
fernung, ſuͤdweſtlich, kann eine Erhoͤhung, „der
Kauzenberg‟ genannt, der Feſtung nachtheilig
werden; weshalb auch fruͤherhin dort Verſchan-
zungen angelegt, aber ſeither wieder verfallen
waren.
Noch war die entſchloſſene und gluͤckliche
Gegenwehr in Jedermanns Andenken, welche der
tapfre Commandant, Obriſt v. Heyden, hier in
drei auf einander folgenden Belagerungen der
Ruſſen und Schweden, zu Land und Meer, in
den Jahren 1758, 1760 und 1761 beſtanden
hatte, und wie er auch das Drittemal nicht durch
Waffenmacht, ſondern durch Hunger, zur Ueber-
gabe gezwungen worden. Dieſe Erfahrungen
von der Wichtigkeit und Feſtigkeit des Platzes
hatten auch den Koͤnig Friedrich bewogen, den-
ſelben im Jahre 1770 durch verſchiedene neue
Werke verſtaͤrken zu laſſen; Kenner wollten je-
doch behaupten, daß dieſe erweiterten Anlagen
ihrem Zwecke nur ungenuͤgend entſpraͤchen. Man
hatte immer an Colberg getadelt, daß es zu klein
ſey, um als Feſtung bedeutend zu werden und
eine betraͤchtliche Garniſon zu faſſen: aber es gab
kaſamattirte Werke; es gab 6 bis 700 Buͤrger-
haͤuſer innerhalb der Waͤlle, die noͤthigenfalls zu
20 und 30 Menſchen faſſen konnten und gefaßt
haben; und ſo lebe ich des feſten Glaubens, daß
Colberg, gegen noch ſo große Feindesmacht, mit
Ehrlichkeit, mit genugſamem Proviant, mit ge-
hoͤriger Einrichtung der Ueberſchwemmung und
mit Sicherheit von der Seeſeite, ſich zu halten
vermoͤge.
Allein wie ſah es doch im Herbſte 1806 mit
Allem, was zu einer rechtſchaffenen Vertheidigung
gehoͤrte, ſo gar truͤbſelig aus! Seit undenklicher
Zeit war fuͤr die Unterhaltung der Feſtung ſogut
als gar nichts gethan worden. Wall und Gra-
ben verfallen; von Palliſaden keine Spur. Nur
drei Kanonen ſtanden, im Baſtion Pommern,
auf Lavetten und dienten allein zu Laͤrmſchuͤſſen,
wenn Ausreiſſer von der Beſatzung verfolgt wer-
den ſollten. Alles uͤbrige Geſchuͤtz lag am Bo-
den, hoch vom Graſe uͤberwachſen, und die dazu
gehoͤrigen Lavetten vermoderten in den Remiſen.
Rechnet man hiezu die unzureichende Zahl der
Vertheidiger, ſo wie die unkriegeriſche Haltung
derſelben, (denn die tuͤchtigere Mannſchaft war
in’s Feld gezogen) die allgemeine Entmuthung,
welche noch taͤglich durch die herbeiſtroͤmenden
Fluͤchtlinge und tauſend ſich kreuzende Ungluͤcks-
botſchaften allſtuͤndlich genaͤhrt wurde, und den
notoriſchen Mangel an den noͤthigſten Beduͤrfniſ-
ſen fuͤr den Fall einer Belagerung: ſo behaupte
ich ſicherlich nicht zuviel, wenn ich meyne, daß
ein raſcher kecker Anlauf in jenen erſten Tagen
mehr als hinreichend geweſen waͤre, den Com-
mandanten in ſeinen eigenen Gedanken zu ent-
ſchuldigen, daß er keinen ernſtlichen Widerſtand
gewagt habe.
Dieſer Commandant war damals der Obriſt
v. Loucadou; ein alter abgeſtumpfter Mann, der
ſeit dem baierſchen Erbfolge-Kriege, wo er ein
Blockhaus gegen die Oeſtreicher muthig verthei-
digt hatte, zu dem Rufe gekommen war, ein
beſonders tuͤchtiger Officier zu ſeyn. Spaͤterhin
hatt’ er nur wenig Gelegenheit gehabt, ſeine Re-
putation zu behaupten; und gegenwaͤrtig war
der Geiſt verflogen, oder hieng noch ſo blind an
dem alten Herkommen, daß er ſich in der neuen
Zeit und Welt gar nicht zurechtfinden konnte.
Das war nun ein großes Ungluͤck fuͤr den Platz,
der ihm anvertraut worden, und ein Jammer fuͤr
Alle, welche die dringende Gefahr im Anzuge
erblickten und ihn aus ſeinem Seelenſchlafe zu
erwecken vergebliche Verſuche machten.
Natuͤrlich konnte ſolch ein Mann uns kein
großes Vertrauen einfloͤßen. Waͤhrend Alles,
was Militair hieß, ſeinen traͤgen Schlummer mit
ihm zu theilen ſchien, fuͤhlte ſich die ganze Buͤr-
gerſchaft von der lebhafteſten Unruhe und Be-
ſorgniß ergriffen; man berathſchlagte unter ein-
ander; und weil ich Einer der aͤlteſten Buͤrger
war, der den ſiebenjaͤhrigen Krieg erlebt und in
den fruͤheren Belagerungen, neben meinem Vater,
freiwillige Adjutanten-Dienſte beim alten braven
Heyden verrichtet hatte, ſo waͤhlte man mich
auch jetzt, das Wort zu fuͤhren und, als Re-
praͤſentant geſammter Buͤrgerſchaft, uns mit dem
Commandanten uͤber die Maaßregeln zur Ver-
theidigung des Platzes genauer zu verſtaͤndigen.
Nach dem alten Glauben, „daß Ruhe die
erſte Buͤrgerpflicht ſey,‟ und was nicht Uniform
trage, auch keinen Beruf habe, ſich um militai-
riſche Angelegenheiten zu bekuͤmmern, koͤnnt’ es
freilich ſonderbar und anmaaſſend erſcheinen, daß
wir Buͤrger in die Vertheidigung unſrer Stadt
mit drein reden wollten: aber bei uns in Col-
berg war das anders. Von aͤlteſter Zeit her
waren wir die natuͤrlichen und geſetzlich berufenen
Vertheidiger unſrer Waͤlle und Mauern. Vor-
mals ſchwur Jeder ſeinen Buͤrgereid mit Ober-
und Untergewehr, und ſchwur zugleich, daß dieſe
Armatur ihm eigen angehoͤre; ſchwur, daß er
die Feſtung vertheidigen helfen wolle mit Gut
und Blut. Die Buͤrgerſchaft war in fuͤnf Com-
pagnieen vertheilt, mit einem Buͤrger-Major
an der Spitze; und wo es dann im Ernſt ge-
golten, hatte der Commandant ſie nach ſeiner
Einſicht gebraucht und weſentlichen Nutzen von
ihrem Dienſte gezogen. Jn Abwefenheit der
Garniſon, wenn dieſe in Friedenszeiten zur Ne-
vuͤe ausruͤckte, beſetzten ſie die Thore und Poſten;
und noch immer verſammleten ſie ſich jezuweilen,
mit Erlaubniß des Commandanten, aus eignem
Antriebe in der Maikuhle — weniger freilich zu
kriegeriſchen Uebungen, als um ſich in dieſem
lieblich gelegenen Waͤldchen zu vergnuͤgen.
Von dieſen oͤrtlichen Verhaͤltniſſen hatte in-
deß der Obriſt v. Loucadou entweder nie einige
Kenntniß genommen, oder ſie waren ihm, als
eine vermeynte Nachaͤffung des Militairs, laͤcher-
lich und zuwider. Das erfuhr ich, als ich einige
Tage nachher mich ihm vorſtellte und im Namen
meiner Mitbuͤrger ihm eroͤffnete: „Daß wir, mit
Gott, entſchloſſen waͤren, in dieſen bedenklichen
Zeitlaͤuften mit dem Militair gleiche Laſt und
Gefahr zu beſtehen. Wir ſtaͤnden im Begriff,
uns in ein Bataillon von 7 bis 800 Buͤrgern
zu organiſiren, die mit vollſtaͤndiger Ruͤſtung
verſehen waͤren, und baͤten um die Erlaubniß,
uns vor ihm aufſtellen zu duͤrfen, damit er die
Guͤte haͤtte, Muſterung uͤber uns zu halten,
demnaͤchſt aber, je nachdem es die Nothwendig-
keit geboͤte, uns zu vertheilen und uns unſre
Poſten anzuweiſen. Unſer Wille waͤre gut, und
wir wuͤrden unſre Schuldigkeit thun.
Ein Major v. Nimptſch, der daneben ſtand,
ließ mich kaum ausreden, ſondern fuhr, ſammt
einer kraͤftigen Redensart, mit der Frage auf
mich ein: „Aber, Herr, was geht das Jhn
an?‟ — wogegen der Obriſte ſich begnuͤgte, den
Mund zu einem ſatyriſchen Laͤcheln zu verziehen
und mir zu erwiedern: Jmmerhin moͤchten wir
uns verſammlen und aufſtellen.
Das geſchah alſobald. Wir traten, mit un-
ſern Officieren und nach Nothdurft armirt, auf
dem Markte in guter Ordnung zuſammen; und
nun begab ich mich abermals zum Commandan-
ten, um ihm anzuzeigen, daß wir bereit ſtaͤnden
und ſeine Befehle erwarteten. Seine Miene war
abermals nicht von der Art, daß ſie mir gefallen
haͤtte. „Macht dem Spiel ein Ende, ihr guten
Leutchen!‟ ſagte er endlich — „Geht in Gottes
Namen nach Hauſe. Was ſoll mir’s helfen, daß
ich euch ſehe?‟ — So hatt’ ich meinen Beſcheid
und trollte mich. Als ich aber kundbar machte,
was mir geantwortet worden, gieng dieſe unver-
diente Geringſchaͤtzung Jedermann ſo tief zu Her-
zen, daß Alles in wilder Bewegung durch einan-
der murrte und ſich im vollen Unmuth zerſtreute.
Jmmer aber noch nicht ganz abgeſchreckt,
gieng ich bald darauf wieder zum Obriſten mit
einem Antrage, von welchem ich glaubte, daß er
ſeinem militairiſchen Duͤnkel weniger anſtoͤßig ſeyn
werde. Es ſey vorauszuſehen, ſagte ich — daß
es, bei der Jnſtandſetzung der Feſtung zu einer
kraͤftigen Gegenwehr, beſonders auf den Waͤllen,
Vieles zu thun geben duͤrfte, um das Geſchuͤtz
aufzuſtellen, zu ſchanzen und die Paliſaden her-
zuſtellen. Die Buͤrgerſchaft ſey gern erboͤtig, zu
dergleichen, und was ſonſt vorkaͤme, mit Hand
anzulegen, ſoviel in ihren Kraͤften ſtehe, und ſey
nur ſeines Winks gewaͤrtig. — „Die Buͤrger-
ſchaft! und immer wieder die Buͤrgerſchaft!‟ ant-
wortete er mir mit einer haͤßlichen Hohnlache —
„Jch will und brauche die Buͤrgerſchaft nicht.‟
Konnt’ es nun wohl fehlen, daß ſolche Aeuſ-
ſerungen nicht nur unſer Herz von dem Manne
gaͤnzlich abkehrten, ſondern daß auch ſogar aller-
lei boͤſer Argwohn ſich bei uns einfand, der durch
die ganz friſchen Exempel, wie unſre Feſtungs-
Commandanten zu Werke gegangen waren, nur
noch immer mehr genaͤhrt wurde? Wer buͤrgte
uns vor Verraͤtherei? vor heimlichen Unterhand-
lungen? vor feindlichen Briefen und Boten? —
Man kam darinn uͤberein, daß es die Noth er-
fordere, vor ſolcherlei Praktiken moͤglichſt auf
unſrer Hut zu ſeyn. Zu dem Ende waͤhlten wir,
in der Stille, unter uns einen Ausſchuß, deſſen
Mitglieder ſich zu Zweien bei Tag und Nacht an
allen drei Stadtthoren, je nach ein paar Stun-
den, abloͤſeten, um dort auf Alles, was aus-
und einpaſſirte, ein wachſames Auge zu behalten.
Des Vorwandes zu ihrer Gegenwart gab es
mancherlei; falls auch die Aufmerkſamkeit des
Militairs (wie doch nicht geſchah) dadurch er-
regt worden waͤre.
Jnzwiſchen wurden nun doch von Seiten der
Commandantur einige ſchlaͤfrige Anſtalten getrof-
fen; wenigſtens ſah man auf den Waͤllen die
Kanonen auf Kloͤtze legen, da es ſich fand, daß
die Lavetten zuſehr verfault waren, um ſie tra-
gen zu koͤnnen. Auch an der Paliſadirung ward
hie und da gearbeitet: aber es war nichts Tuͤch-
tiges und Ganzes. Als ich jedoch wahrnehmen
mußte, daß es hiermit ſein Bewenden hatte, und
daß zur aͤuſſern Vertheidigung gar keine Hand
angelegt wurde, machte ich mich, nach zuvor ge-
nommener Verabredung mit meinen Freunden,
abermals zum Obriſten, um ihn aufmerkſam dar-
auf zu machen, welche gute Dienſte uns in den
fruͤheren Belagerungen inſonderheit eine Schanze
auf dem Hohen-Berge, etwa eine Viertelmeile
von der Stadt, links des Weges nach Tramm,
geleiſtet haͤtte, um den Feind nicht in Schußweite
herankommen zu laſſen. Noch waͤren die Ueber-
bleibſel derſelben uͤberall erkennbar; und wenn er
nichts darwider habe, ſeyen wir bereit, dieſe Ver-
ſchanzung eiligſt und mit geſammter Hand wie-
derherzuſtellen, und erwarteten nur ſeine naͤhere
Anweiſung.
An das alte hoͤhniſche Geſicht, das er hiezu
machte, war ich nun ſchon gewoͤhnt und ließ es
mich auch nicht irren. Deſto ſonderbarer und
merkwuͤrdiger aber kam mir die Antwort vor, die
ich endlich erhielt. „Was auſſerhalb der Stadt
geſchieht,‟ ließ er ſich vernehmen — „kuͤmmert
mich nicht. Die Feſtung innerlich werde ich wiſ-
ſen zu vertheidigen. Meinetwegen moͤgt ihr drauſ-
ſen ſchanzen, wie und wo ihr wollt. Das geht
mich nichts an.‟ — Demnach thaten wir nun,
was uns unverboten geblieben, und thaten es
mit allgemeiner Luſt und Freude. Nicht nur,
was Buͤrger hieß, zog nach der Bergſchanze aus,
ſondern auch Geſellen, Lehrjungen und Dienſt-
maͤgde waren in ihrem Gefolge. Da ich einſt
noch das alte Werk geſehen hatte, ſo gab ich an,
wie bei der Arbeit verfahren werden ſollte; ver-
theilte und ordnete die Schanzgraͤber und zog
ſelbſt mit einem Hohlkarrn und der Schaufel
vorauf, um ein ermunterndes Beiſpiel zu geben.
Als mir jedoch Alles immer noch viel zu lang-
ſam gieng, eilte ich zuruͤck nach der Lauenburger
Vorſtadt, um der Arbeiter noch mehrere, theils
durch guͤtliches Zureden, theils durch baare Be-
zahlung aus meiner Taſche, herbeizufuͤhren. So
gelang es uns denn, ein Werk aufzufuͤhren, das
ſich ſchon durſte ſehen laſſen und dem fuͤr dieſen
Augenblick nur die Beſatzung fehlte. Mangelte
es uns aber dermalen auch an Truppen, ſo war
doch gewiſſe Hoffnung vorhanden, daß die Gar-
niſon verſtaͤrkt werden wuͤrde und daß dann all-
ſtuͤndlich ein Bataillon hier einruͤcken koͤnne. Das
geſchah in der Folge auch wirklich; das Werk
wurde zugleich noch bedeutend verbeſſert, und
verwandelte ſich ſo in einen Poſten, der dem
Feinde lange und viel zu ſchaffen gemacht haben
wuͤrde, wenn er nachmals gehoͤrig vertheidigt
worden.
Eine andre Sorge, die den Verſtaͤndigeren
unter der Buͤrgerſchaft gar ſehr am Herzen lag,
war die fruͤhzeitige und ausreichende Anſchaffung
von Lebensvorraͤthen fuͤr den Fall einer feindli-
chen Einſchlieſſung oder Belagerung: denn bis
jetzt waren Dreiviertel der Einwohner gewohnt,
von Einem Markttage zum Andern zu zehren.
Und wovon wollte die Beſatzung leben? Jch hielt
es alſo fuͤr wohlgethan, und hatte auch in mei-
nem Amte, als Buͤrger-Repraͤſentant, den Beruf
dazu, Haus bei Haus in der Stadt umzu-
gehen und die Beſtaͤnde an Korn und Victualien,
zumal bei den Baͤckern, Brauern und Brandt-
weinbrennern, ſo wie auch die Vorraͤthe der Letz-
tern an Brandtwein, aufzunehmen. Eben ſo be-
gab ich mich auf die naͤchſt umher gelegenen Doͤr-
fer; und unter dem Vorwande, als ſey ich ge-
ſonnen, Korn und Schlachtvieh aufzukaufen,
(wie Beides mein Gewerbe mit ſich brachte)
erfuhr ich, was jeden Orts in dieſer Gattung
vorhanden war. Alles Dieſes brachte ich in ein
Verzeichniß, und uͤberzeugte mich ſolchergeſtalt,
daß wir nur wuͤrden zugreifen duͤrfen, um fuͤr
Mund und Magen auf eine lange Zeit hinaus
genug zu haben.
Aber dies Zugreifen konnte nicht von Seiten
der ſtaͤdtiſchen Behoͤrden, ſondern mußte von der
Commandantur ausgehen und auf militairiſchen
Fuß betrieben werden. Jch nahm alſo meine
Verzeichniſſe in die Hand; gieng zu Loucadou;
legte ihm Ein Papier nach dem Andern vor, und
bat ihn, ſchleunige Anſtalten zu treffen, daß
dieſe Vorraͤthe, gegen Ertheilung von Empfang-
ſcheinen, in die Feſtung geſchafft wuͤrden. Denn
wenn der Feind ſich uͤber kurz oder lang naͤherte
und dieſe Ortſchaften beſetzte, ſo wuͤrde ohnehin
Alles von ihm geraubt und ſein Unterhalt da-
durch erleichtert werden. Auf dieſe gutgemeynte
Vorſtellung ward ich jedoch von dem Herrn Obri-
ſten hart angelaſſen; und er erklaͤrte mir kurz-
weg: „Zu dergleichen Gewaltſchritten ſey er nicht
authoriſirt. Jeder moͤge fuͤr ſich ſelbſt ſorgen.
Was ſeine Soldaten anbetraͤfe, ſo waͤre Mehl
zu Brodt in den Magazinen vorhanden.‟ —
„Aber‟ — wandte ich ihm ein — „der Menſch
lebt nicht vom Brodte allein. Jhr Mehl liegt
in Fachwerksſpeichern; und die Magazine ſtehen
Alle an Einer Stelle zuſammengehaͤuft und dem
feindlichen Geſchuͤtze ausgeſetzt. Die erſte Gra-
nate, die hineinfaͤllt, kann ihr Untergang werden.
Waͤre es nicht ſicherer, dieſe Vorraͤthe in andre
und mehrere Gebaͤude zu vertheilen?‟ — „Pah!
pah!‟ war ſeine Antwort — „Die Buͤrgerſchaft
3. Baͤndchen. (4)
macht ſich große Sorge um Meinetwillen.‟ —
Vergebens bat ich ihn nun noch, ſich wenigſtens
meine Papiere anzuſehen und ſie in genauere Er-
waͤgung zu ziehen. Er aber, als haͤtte die Peſt
an denſelben geklebt, raffte ſie eilfertig zuſammen,
druͤckte ſie mir wieder in die Haͤnde, und ver-
ſicherte: Er brauche all den Plunder nicht; und
damit Gott befohlen!
Es mag hierbei nicht unerwaͤhnt bleiben,
daß bei all meinen Unterredungen mit dieſem
Manne ſich auch, wie von ungefaͤhr, ſeine Koͤ-
chinn, Haushaͤlterinn, oder was ſie ſonſt ſeyn
mochte, einfand und ihren Senf mit darein gab.
Mocht’ ich nun Dies oder Jenes vortragen, und
mein Bedenken ſo oder ſo aͤuſſern: — flugs war
das ſchnippiſche Maul bei der Hand: „Ei, ſeht
doch! Das waͤre auch wohl noͤthig, daß ſich
noch ſonſt Jemand darum bekuͤmmerte! Der
Herr Obriſt werden das wohl beſſer wiſſen.‟ —
Dieſe Unverſchaͤmtheit wurmte mich oftmals ganz
erſchrecklich, und ich hatte Muͤhe, in meinem Jn-
grimm nicht loszubrechen. Jetzt aber lief das
Faß einmal uͤber; ich ſagte dem Weibsbilde rein
heraus, wie mir’s um’s Herz war, und zog mir
dadurch den Herrn und Beſchuͤtzer auf den Hals;
ſo daß ich, um es nur auch mit dem zu keinem
Aeuſſerſten kommen zu laſſen, hurtig meine Pa-
piere ergriff und mich entfernte. Sah ich doch,
daß ich mit einem ſolchen Queerkopfe nimmer
etwas ausrichten wuͤrde, und daß es hinfuͤhro
am gerathenſten ſeyn werde, mir nichts mit ihm
zu ſchaffen zu machen.
Freilich aber machte mich Alles, was ich
rings um mich ſehen und hoͤren mußte, ſtuͤndlich
nur noch unruhiger. Nirgends war ein Trieb
und Ernſt, zu thun, was Zeit, Noth und Um-
ſtaͤnde erforderten! Um den Magiſtrat und ſeine
Anſtalten ſtand es eben ſo klaͤglich. Es geſchah
entweder gar nichts, oder es geſchah auf eine ver-
kehrte Weiſe; und wer etwa noch guten und kraͤf-
tigen Willen hatte, ward nicht gehoͤrt. Mit Ei-
nem Worte: Man ließ es drauf ankommen, was
daraus werden wollte; und es war an den Fin-
gern abzuzaͤhlen, daß unſer Untergang das Facit
von der heilloſen Bethoͤrung ſeyn wuͤrde. Mir
blutete das Herz, wenn ich mir unſern Zuſtand
betrachtete; und ich fuͤhlte mich je laͤnger je we-
niger dazu gemacht, dies klaͤgliche Schauſpiel
gelaſſen mit anzuſehen.
Jn Colberg — das ſah ich wohl — war
auf keine Huͤlfe und keinen Beiſtand mehr zu
hoffen; geholfen aber mußte werden! Jch ent-
ſchloß mich alſo, in Gottes Namen und der win-
terlichen Jahrszeit zum Trotz, unſern guten un-
gluͤcklichen, ſo ſchlecht bedienten Koͤnig unmittel-
bar ſelbſt in Koͤnigsberg, Memel, oder wo ich
ihn finden wuͤrde, aufzuſuchen und ihm Colbergs
Lage und Noth vorſtellig zu machen. Von dem
Kaufmann Hoͤpner miethete ich ein großes Boot,
unter dem Vorwande, damit nach der Jnſel
(4*)
Bornholm hinuͤberzuſtechen; und eben ſo uͤber-
redete ich insgeheim, unter guter Bezahlung, ei-
nen Seefahrer, der vormals als Matroſe unter
mir gedient hatte, mich auf dieſer gewagten Un-
ternehmung zu begleiten. Das Fahrzeug ward
in den erforderlichen Stand geſetzt, nothduͤrftiger
Proviant nach der Muͤnde hinausgeſchafft und
nur noch ein guͤnſtiger Wind erwartet, um un-
verzuͤglich in See zu ſtechen.
Gerade in dieſem Augenblick traf der Kriegs-
rath Wiſſeling von Treptow in Colberg ein; ein
Mann, der Kopf und Herz auf dem rechten
Flecke hatte, und der ſich nebſt Andern, die gleich
ihm zur pommerſchen Kriegs- und Domainen-
Kammer gehoͤrten, von Stettin entfernt hatte,
um ſich dem Feinde nicht zu Werkzeugen ſeiner
landverderblichen Operationen herzuleihen, dage-
gen aber in den noch unbeſetzten Gegenden der
Provinz die Verwaltung fuͤr koͤnigliche Rechnung
ſo lange, als moͤglich, im Gange zu erhalten.
Wiſſeling war mein Freund; und es that mir
wohl, alle meine Klagen, Sorgen und Bedenken
in ſein redliches Herz auszuſchuͤtten. Er ſah zu-
gleich ſelbſt und mit eignen Augen, wie es hier
zugieng, und fuͤhlte ſich daruͤber nicht weniger
bekuͤmmert. Als ich ihm aber das Geheimniß
meiner vorhabenden Reiſe entdeckte, mißbilligte
er das Wagſtuͤck; ſetzte aber ſogleich auch hinzu:
„Vertrauen Sie mir Jhre Papiere an; und Al-
les, was ſonſt noch zu einer vollſtaͤndigen Ueber-
ſicht der Verhaͤltniſſe des Platzes fehlt, laſſen
Sie uns in einem gemeinſchaftlichen Aufſatze be-
arbeiten. Jch uͤbernehme es, mich ſelbſt zu Lande
zum Koͤnige zu begeben und mein Moͤglichſtes zu
thun, damit hier beſſere Anſtalten getroffen wer-
den. Thun und wirken Sie derweilen hier, was
in Jhren Kraͤften ſteht. So Gott will, wird es
uns gelingen, dem Koͤnige den Platz zu retten.‟
— Jch blieb auf ſein Wort, und er reiste ab.
Taͤglich und ſtuͤndlich ſtroͤmten bei uns noch
Verſprengte und Selbſt-Ranzionirte von unſern
Truppen ein, die theils weiter nach Preuſſen zo-
gen, theils eine Zuflucht bei uns ſuchten, um ſich
von ihren Strapazen zu erholen oder ihre Wun-
den bei uns auszuheilen. Unter den Letzteren
befand ſich auch der Lieutenant v. Schill, vom
Regiment Koͤniginn-Dragoner, der, ſchwer am
Kopfe verwundet, nicht weiter kommen konnte.
Der Zufall machte uns bald mit einander bekannt.
Er war ein Mann nach meinem Herzen; einfach
und beſcheiden, aber von aͤchtem deutſchen Schroot
und Korn; und ſo braucht’ es auch keiner langen
Zeit, daß er mir ein volles Vertrauen abgewann.
Wie konnt’ ich ihm aber dieſes ſchenken, ohne
zugleich ihm unſre ganze verzweiflungsvolle Lage
zu ſchildern, meine Klagen uͤber Loucadou in
ſein Herz auszuſchuͤtten, und daneben meine
frommen Wuͤnſche uͤber ſo Manches, was zur
Sicherung und Erhaltung der Feſtung zu veran-
ſtalten noch uͤbrig ſey, gegen ihn laut werden
zu laſſen?
Alles, was ich ihm ſagte, machte je mehr
und mehr ſeine Aufmerkſamkeit rege; und es
mag wohl ſeyn, daß es auch den Entſchluß in
ihm erzeugt oder befeſtigt hat, in Colberg zu
bleiben und ſich hier nuͤtzlich zu machen. Sobald
er wieder ein wenig zu Kraͤften gekommen war,
beſahen wir uns gemeinſchaftlich den Platz und
ſeine Umgebungen. Wir trafen dabei in dem
Urtheil zuſammen, daß die Erhaltung deſſelben
zuletzt hauptſaͤchlich auf den Beſitz des Hafens
und die Behauptung der Gemeinſchaft zur See
mit Preuſſen und unſern Verbuͤndeten ankommen
werde. Hinwiederum war die „Maikuhle‟ der
Schluͤſſel des Hafens; und dies angenehme Luſt-
waͤldchen, welches ſich, hart vom Ausfluß der
Perſante, weſtlich eine Viertelmeile laͤngs den
Uferduͤnen der Oſtſee hinſtreckt, mußte um jeden
Preis feſtgehalten werden. Dieſe Wahrheit hatte
ſich bereits in den fruͤheren Belagerungen auf-
gedrungen: allein jetzt, wo unſre Huͤlfe einzig
von der Seeſeite zu erwarten ſtand, mußte ſie
ein doppeltes Gewicht gewinnen. Dennoch war,
bis dieſen Augenblick, zur Verſchanzung dieſes
entſcheidenden Punktes noch keine Schaufel in
Bewegung geſetzt worden. Man verließ ſich auf
das Muͤnder-Fort und die Moraſtſchanze, die
aber Beide unzureichend waren, den Feind, ſo-
bald er ſich hier einmal feſtgeſetzt hatte, aus die-
ſem, ihm unſchaͤtzbaren Poſten zu vertreiben.
Wahr iſt eſ, es wuͤrden 1500 Mann dazu
gehoͤrt haben, ein hier anzulegendes Auſſenwerk
zu beſetzen und vollkommen ſicher zu ſtellen: das
aber hinderte uns nicht, den Gedanken zu faſſen,
daß hier bei Zeiten wenigſtens Etwas — ſey es
auch nur gegen den erſten Anlauf — geſchehen
koͤnne und muͤſſe, und daß dann die Noth und
ein dadurch herbeigefuͤhrtes beſſeres Erkenntniß
wohl das Uebrige thun werde. Woher aber Haͤn-
de nehmen, um dort auch nur einige leichte Erd-
Aufwuͤrfe zu Stande zu bringen? — Noch hatte
Schill nur erſt einige wenige Leute um ſich ge-
ſammlet, die er zu ſeinen jetzt beginnenden Strei-
fereien in die Ferne nicht entbehren konnte; Geld-
mittel waren noch weniger in ſeinen Haͤnden,
und von Loucadou war vollends fuͤr dieſen Zweck
nichts zu erwarten. Auf ſein Zureden und die
Verſicherung, ſich zu meiner kuͤnftigen Entſchaͤ-
digung eifrigſt zu verwenden, entſchloß ich mich,
ohne laͤngeres Bedenken, meine paar Pfennige,
die ich im Kaſten hatte, daran zu ſtrecken.
Demzufolge trieb ich auf der Gelder-Vor-
ſtadt und allen naͤchſt umliegenden Doͤrfern Tage-
loͤhner und Haͤuſler, ſoviel ich deren habhaft wer-
den konnte, zuſammen; verſprach und zahlte gu-
ten Lohn, und verwandte auf dieſe Weiſe gegen
400 Thaler aus meiner Taſche. Tag und Nacht
ſchanzten und arbeiteten wenigſtens 60 Menſchen,
eine geraume Zeit hindurch, an dieſen Befeſti-
gungen, nach dem von Schill dazu entworfenen
Plane. Weder der Commandant, noch ſonſt Je-
mand, fragte und kuͤmmerte ſich, was wir da
ſchafften; und ſo blieb es auch meinem Freunde
uͤberlaſſen, dieſe Schanzen mit ſeinen Leuten in
dem Maaſſe, als ſich Dieſe aus den Ranzionir-
ten freiwillig um ihn ſammleten, immer ſtaͤrker
zu beſetzen. Allein um ſie dort ſeſtzuhalten,
mußte auch fuͤr Loͤhnung und Mundvorrath in
genuͤgender Menge geſorgt werden. Fuͤrerſt fiel
dieſe Sorge mir anheim, ſolange mein Beutel
dazu vorhielt, oder meine Kuͤche und mein Brandt-
weinlager es vermochten.
Es waͤre hier wohl der Ort, mich uͤber des
wackern Schills erſte Unternehmungen und deren
immer weiteren Umfang etwas umſtaͤndlicher aus-
zubreiten; und man wuͤrde daraus erſehen, daß
dieſelben, ſo geringe auch ihr Anfang war, den-
noch der Feſtung auf mehr als Eine Weiſe zu-
gute kamen, noch mehr aber den Glauben und
das Vertrauen auf den alten preuſſiſchen Helden-
namen bei unzaͤhlig vielen Menſchen zuerſt wie-
der ſtaͤrkten, und in Colberg ſelbſt, bei'm Buͤr-
ger, wie bei'm Soldaten, einen ganz neuen Geiſt
und Muth erweckten; auch wohl weſentlich dazu
beitrugen, den Feind, oder doch einzelne Streife-
reien deſſelben, noch mehrere Monate hindurch
aus unſrer Naͤhe zuruͤckzuhalten. Allein ich ent-
halte mich deſſen, da ich, mit großer Freude, ver-
nehme, daß an einer ausfuͤhrlichen Geſchichte der
Unternehmungen meines unvergeßlichen Freundes
gearbeitet wird, wodurch meine Zuthat ſo gut,
als uͤberfluͤſſig, gemacht wird. Dieſe Lebensgeſchichte v. Schill’s, zum
Theil aus ſeinen eigenen Anzeichnungen, ſo wie aus
einem reichen Vorrath meiſt ungedruckter authen-
tiſcher Papiere entnommen, wird, von dem Heraus-
geber dieſer Nettelbeckſchen Biographie bearbeitet,
binnen kurzem oͤffentlich erſcheinen. Das Geſtaͤnd-
niß aber bin ich ihm ſchuldig, daß er ſich, ſo wie
um ſein Vaterland uͤberhaupt, ſo um Colberg
inſonderheit, ein nicht geringes Verdienſt und ein
dankbares Andenken fuͤr immer erworben hat.
Unter der Zeit war auch der Kriegsrath Wiſ-
ſeling aus Preuſſen gluͤcklich wieder, und mit ſehr
ausgedehnten Vollmachten vom Koͤnige fuͤr die
Verpflegung der Feſtung, zuruͤckgekehrt. Sein
Eifer, verbunden mit der raſtloſeſten Thaͤtigkeit,
brachte ſofort ein neues wunderbares Leben in
das ganze Adminiſtrations-Geſchaͤft. Ganze
Heerden Schlachtvieh, lange Reihen von Ge-
treidewagen zogen zu unſern Thoren ein; und
Heu und Stroh, in reichem Ueberfluſſe, fuͤllte
die Futter-Magazine, oder ward in den Scheu-
nen der Vorſtaͤdter untergebracht. Fuͤr dieſe ge-
zwungenen Lieferungen erhielt der Landmann,
nach dem Tax-Werth, Lieferungs-Scheine, die
kuͤnftig eingeloͤst werden ſollten, und mit denen
er gern zufrieden war. Jn der Stadt wurde ge-
ſchlachtet und eingeſalzen, und die Boͤden der
Buͤrgerhaͤuſer mit Kornvorraͤthen aller Art be-
ſchuͤttet. — So konnte Colberg allgemach fuͤr
nothduͤrftig verproviantirt gelten; waͤhrend zu
hoffen ſtand, daß das Fehlende im naͤchſten Fruͤh-
ling, bei wieder eroͤffneter Schifffahrt, durch Zu-
fuhr zur See zu erſetzen ſeyn moͤchte.
Einen neuen Troſt zum Beſſeren gab es,
als bald darauf, vom Koͤnige geſchickt, der Haupt-
mann von Waldenfels, ein junger thaͤtiger Mann,
bei uns auftrat, um, als ernannter Vice-Com-
mandant, dem Obriſten v. Loucadou zur Seite
zu ſtehen und deſſen Kraftloſigkeit zu unterſtuͤtzen.
Brav, wie ſein Degen, aber noch nicht von zu-
reichender Erfahrung geleitet, begann Dieſer ſei-
ne neue Laufbahn, gleich in den erſten Tagen
des Januars 1807, durch eine gewagte Unterneh-
mung auf das, 9 bis 10 Meilen weit entlegene
Staͤdtchen Wollin, um ſich durch Vertreibung der
dort ſtehenden Franzoſen eine freie Communication
mit Schwediſch-Pommern zu eroͤffnen. Wahr-
ſcheinlich waͤre der naͤchtliche Ueberfall, wozu er
einen bedeutenden Theil der Beſatzung Colbergs
verbrauchte, gelungen, wenn nicht an Ort und
Stelle Fehler begangen worden waͤren, die ſeinen
uͤbereilten Ruͤckzug, mit einem Verluſte von mehr
als 100 Mann, zur Folge hatten.
Dieſer erſte Fehlſchlag war um ſo nachthei-
liger, da er ohne Zweifel dem Vice-Comman-
danten mehr oder weniger an ſeinem Selbſtver-
trauen raubte und ihn dadurch hinderte, das gei-
ſtige Uebergewicht uͤber Loucadou zu behaupten,
das ihm in ſeiner Stellung gebuͤhrt haͤtte. Denn
wenn auch in unſern Vertheidigungs-Anſtalten
durch ihn, von ſeiner erſten Erſcheinung an, un-
endlich viel Gutes gewirkt wurde, und er mit
dem alten graͤmlichen Manne daruͤber manchen
Kampf zu beſtehen hatte: ſo mußte er doch auch
eben ſo oft dem Eigenſinn deſſelben nachgeben
und ſich nach ſeinen Launen bequemen. Wir hat-
ten alſo an ihm den Mann noch immer nicht,
den wir brauchten.
Auch Schill, der ſeit dem Januar vom Koͤ-
nige zur Organiſirung eines Frei-Corps foͤrmlich
authoriſirt worden war und von allen Seiten ge-
waltigen Zulauf fand, ward, ſo wie ſchon von
Anfang her, ein von Loucadou in Colberg ſehr
ungern geſehener Gaſt, dem daher auch Jener,
wo er nur wußte und konnte, Hinderniſſe in den
Weg legte; ſey es, daß der Name, welchen der
junge Mann ſich ſo ſchnell erworben, ſein An-
ſehen zu beeintraͤchtigen drohte, oder weil die
Thaͤtigkeit, womit Dieſer handelte, ſeinem eig-
nen gemaͤchlichen Schlendrian zum ſtillen Vor-
wurf gereichte. Schlimm war es immer, daß
ihre beiderſeitigen Befugniſſe keine ſcharfe Abgren-
zung gegen einander hatten, waͤhrend ſie doch von
einerlei Punkte aus und gemeinſchaftlich handeln
ſollten. Nur ließ ſich der wackre Partheigaͤnger,
bei all ſeiner ihm natuͤrlichen Beſcheidenheit, nicht
ſo leicht unterjochen; und er fand auch noch im-
merdar Spielraum, wenn es ihm bei uns zu
warm und beklommen ward, ſich auſſerhalb der
Feſtung zu tummeln. Zudem ſtand ſein Ruf nun
einmal feſt; und ſelbſt als ſein Ueberfall gegen
Stargard (am 16. Febr.) ihm mißlang und er
bald darauf in Naugard einen empfindlichen Un-
fall erlitt, konnt’ er ſich mit unverletzter Ehre
naͤher gegen Colberg zuruͤckziehen.
Seine Abſicht bei jenem Zuge war geweſen,
das, vom Marſchall Mortier aus Schwediſch-
Pommern entſandte Corps des Diviſions-Gene-
rals Teullié, welches zur Berennung unſers Pla-
tzes beſtimmt war, indem es ſich noch zu orga-
niſiren ſuchte, auseinander zu ſprengen und uns
noch einige Zeit laͤnger Luft zu verſchaffen. Da
der Streich nicht gegluͤckt war, ſo drang nun
jener franzoͤſiſche Heerhaufe ungeſaͤumt nach, und
ward nur noch durch Schill’s gut genommene
und kraͤftig behauptete Stellung bei Neubruͤck,
halben Weges zwiſchen Treptow und Colberg,
acht volle Tage aufgehalten. Jetzt war alſo das
lang erwartete Ungewitter im nahen Anzuge; und
da man endlich den Ernſt ſpuͤrte, beſann man
ſich auch, daß der Kauzenberg, dicht jenſeits
Sellnow, ein gelegener Poſten ſeyn wuͤrde, dem
Feinde das naͤhere Vordringen von dieſer Seite
zu erſchweren. Eiligſt gieng man daran, die vor-
mals im ſiebenjaͤhrigen Kriege hier aufgeworfenen
Befeſtigungen, deren ich oben erwaͤhnt habe, und
wovon ſich noch einige Spuren fanden, zu er-
neuern.
Wohl auch war es hiezu an der Zeit gewe-
ſen: denn ſchon am 1. Merz Es konnte des Verfaſſers Abſicht nicht ſeyn, hier
auf alle und jede kriegeriſche Vorfaͤlle waͤhrend der
Belagerung des Platzes von Tag zu Tag einzuge-
hen, ſondern nur hauptſaͤchlich dasjenige, was eine
hellere Ueberſicht des Ganzen gewaͤhrt, oder in eini-
ger perſoͤnlichen Beziehung zu ihm ſteht, zu beruͤh-
ren. Wem es um das Erſtere zu thun iſt, mag um
ſo lieber auf eine damals erſchienene kleine Schrift
(Colberg, im Jahr 1807 belagert und vertheidigt.
Berlin, Maurer, 1808. 8.) verwieſen werden, da
dieſelbe ein, von Nettelbeck ſelbſt gefuͤhrtes Tage-
buch zur Grundlage hat und in den meiſten Angaben
vollen Glauben verdient. Weniger Gutes iſt von
einer andern Tagesſchrift zu ſagen, betitelt: „Tage-
buch von der Belagerung der Feſtung Colberg im
Jahr 1807. Berl., Littfas, 1808. 12.‟ bemaͤchtigte ſich
der Feind des Paſſes bei Neubruͤck und zeigte ſich,
zwei Tage ſpaͤter, im Angeſichte des Kauzenber-
ges; waͤhrend zu gleicher Zeit eine andre Abthei-
lung deſſelben den Weg am Strande der Oſtſee
uͤber Colberger Deep einſchlug und ſein Abſehen
augenſcheinlich auf die Maikuhle gerichtet hatte.
Eben hieher aber hatte ſich auch, nach der Ver-
draͤngung von jenem Paſſe, ein Theil des Schill-
ſchen Corps geworfen, welches nicht nur den
Feind entſchloſſen zuruͤckwies, ſondern von jetzt
an auch fortwaͤhrend dieſen Poſten beſetzt hielt,
deſſen hohe Wichtigkeit von Tage zu Tage immer
beſſer erkannt wurde. Ernſthafter aber war,
gleich am folgenden Morgen, ein neuer feindli-
cher Verſuch gegen die Schanze auſauf dem Kauzen-
berge, den man, mit Huͤlfe einiger Verſtaͤrkun-
gen aus der Feſtung, und nach einem vereinzel-
ten Gefecht in der Naͤhe von Pretmin, gluͤcklich
vereitelte. Eigentlich aber hatte dieſer Angriff
nur den Marſch der Hauptmacht verdecken ſollen,
welche ſich gleichzeitig von Neubruͤck ſuͤdoͤſtlich
gegen Groß-Jeſtin wandte; bei Coͤrlin die Per-
ſante paſſirte, und bis zum 10. Merz ſich bis
Zernin und Tramm herum gezogen hatte, um
den Platz auch von der Oſtſeite einzuſchließen.
Jetzt konnte uns die fruͤher hergeſtellte Schan-
ze auf dem Hohen-Berge, die das letztgenannte
Dorf dominirte, von Nutzen werden; daher ſie
auch unverzuͤglich noch weiter ausgebeſſert und
einiges Geſchuͤtz darinn aufgefahren wurde. Da
ſich’s aber berechnen ließ, daß der Feind bei
Tramm nicht ſtehen bleiben, ſondern ſich auch
nach dem Dorfe Bullenwinkel und dem großen
Stadtwalde, „der Colberger Buſch‟ genannt,
ausbreiten wuͤrde; wie auch alſobald geſchah: ſo
war es auch eine Vorkehr von dringender Noth-
wendigkeit, ihn von der Lauenburger Vorſtadt,
die hieherwaͤrts gelegen iſt, in moͤglichſter Ent-
fernung zu halten. Jch wußte, daß dies, wie
vormals, durch eine, auf dem Damme naͤchſt der
Ziegelſcheune zu errichtende Schanze am zweck-
maͤßigſten geſchehen konnte; und da Diejenigen,
denen es eigentlich zugekommen waͤre, ſich dieſer
Sache nicht annehmen wollten: ſo bewog ich die
Buͤrgerſchaft, auch zu dieſer Arbeit freiwillige
Hand anzulegen, ſobald der Feind im Weſten
der Stadt wirklich erſchienen war und nun auch
von der entgegengeſetzten Seite augenblicklich er-
wartet werden durfte. Am 5. Merz griffen wir
das Werk gemeinſchaftlich an; ſchanzten Tag und
Nacht unverdroſſen, und hatten auch die Freude,
es ſchon am 9., noch vor Erſcheinung eines Fran-
zoſen, vollendet zu ſehen.
Waͤhrend wir noch mit dieſer Arbeit beſchaͤf-
tigt waren, ließ ſich der Commandant vom Haupt-
mann v. Waldenfels bewegen, uns, in Geſell-
ſchaft des Letztern, des (Gott erbarme ſich’s!)
Jngenieur-Capitains Duͤring und einiger Andern,
dort auf dem Platze zu beſuchen. Es war ſeit
der ganzen Zeit das Erſtemal, daß er ſich auſſer
den Thoren der Stadt blicken ließ. Anſtatt uns
aber in unſerm Fleiſſe durch irgend ein freundli-
ches Wort aufzumuntern, machte er unſer Vor-
nehmen, mit ſpoͤttiſchem Lachen, als Kinderſpiel
veraͤchtlich. Jndem aber noch weiter unter den
Herren von der Haltbarkeit der Feſtung hin und
her geſprochen wurde und die Meynungen ver-
ſchieden ausfielen, konnt’ ich mein Herzpochen
nicht laͤnger zaͤhmen, ſondern nahm das Wort
und rief: „Meine Herren, Colberg kann und
muß dem Koͤnige erhalten werden; es koſte,
was es wolle! Wir haben Brodt und Waffen;
und was uns noch fehlt, wird uns zur See zu-
gefuͤhrt werden. Wir Buͤrger ſind, Alle fuͤr Ei-
nen Mann, entſchloſſen, und wenn auch all unſre
Haͤuſer zu Schutthaufen wuͤrden, die Feſtung
nicht uͤbergeben zu laſſen. Und hoͤrten es je mei-
ne Ohren, daß irgend Jemand — Er ſey Buͤr-
ger oder Militair — von Uebergabe ſpraͤche: bei
Mannes Wort! dem rennte ich gleich auf der
Stelle dieſen meinen Degen durch den Leib; und
ſollt’ ich ihn in der naͤchſten Minute mir ſelbſt
durch die Bruſt bohren muͤſſen!‟ — So giengen
wir fuͤr diesmal, halb lachend, halb erzuͤrnt, aus
einander.
Bis zum 13. Merz hatte der Feind ſeine
Umzingelung des Platzes vollendet, indem ſeine
Truppen ſich weſtlich beim Colberger Deep und
oͤſtlich im Stadtwalde, nach Bodenhagen hin,
an das Seeufer lehnten. Dennoch war die Ein-
ſchlieſſung nicht ſo genau, daß nicht immer noch
einige Nachrichten von auſſen her, durch fluͤch-
tende Landleute, zu uns durchgedrungen waͤren,
die uns das dichtere Zuſammenziehen der franzoͤ-
ſiſchen Truppen ankuͤndigten. Spaͤtere Ausſchi-
ckungen von Reuter-Patrouillen, welche Schill
veranſtaltete, beſtaͤtigten dieſe Geruͤchte. Ueber-
haupt aber blieb uns auf dem Wege laͤngs dem
Strande, zumal nach Weſten hin, noch manche
verſtohlne Gemeinſchaft mit der Nachbarſchaft,
faſt die ganze Zeit der Belagerung hindurch, uͤbrig;
und auch zu Waſſer ließ ſich jeder beliebige Punkt
der Kuͤſte heimlich erreichen.
Unbedeutende Plaͤnkeleien an der Oſtſeite
leiteten einen bedeutenderen Angriff gegen die
Schanze auf dem Hohen-Berge ein, welche dem
Feinde unbequem zu ſeyn ſchien. Von beiden
Seiten ruͤckten immer mehr Truppen in’s Ge-
fecht; bis, bei dem heftigeren Andringen unſerer
Gegner, gegen Abend den Unſrigen nur uͤbrig
blieb, ſich fechtend gegen die Stadt zuruͤckzuzie-
hen. Die drei Kanonen in der Schanze wurden
mit abgefuͤhrt und gerettet; aber der Feind ſaͤumte
nicht, ſich in dem Werke feſtzuſetzen, welches ihm
billig noch hartnaͤckiger haͤtte ſtreitig gemacht wer-
den ſollen. Jch ſelbſt war bei dem ganzen Ge-
fecht zugegen geweſen, und ſah, daß bei dem
Zuruͤckzuge Mehrere von unſern Leuten todt oder
verwundet auf dem Felde liegen blieben. Es
jammerte mich beſonders der Letztern; und ſo
wagte ich mich, mit einem weiſſen Tuche in der
Hand, gegen die feindlichen Vorpoſten, und bat,
daß mir erlaubt werden moͤchte, dieſe Gebliebenen
nach der Stadt abholen zu duͤrfen. Nach lan-
gem Hin- und Herfragen ward mir dies endlich
zugeſtanden. Jch eilte demnach in die Vorſtadt
zuruͤck; nahm drei mit Stroh belegte Wagen mit
mir, und fuhr mit ihnen, unter dem Geleite ei-
niger franzoͤſiſchen Soldaten, auf dem Felde um-
3. Baͤndchen. (5)
her, wo ich neun Verwundete und fuͤnf Todte
auflas und mit mir fuͤhrte. Die Letztern wurden
ſogleich auf dem nahen St. Georgen-Kirchhofe
beerdigt, die Erſtern aber in ein Lazareth abge-
liefert. Von dem an machte ich mir’s zu einem
beſondern und lieben Geſchaͤft, unſern Verwun-
deten auf dieſe Weiſe beizuſtehen, und habe oft
ſelbſt Wagenfuͤhrer ſeyn muͤſſen, wenn es in ein
etwas lebhaftes Feuer hineingieng und die Knechte
ſich aus Angſt verliefen.
Gleichzeitig mit der Schanze auf dem Ho-
hen-Berge, hatten unſre Belagerer auch die An-
hoͤhen der Altſtadt beſetzt, ohne dort einigen Wi-
derſtand zu finden, und waren uns dadurch in
eine bedenkliche Naͤhe geruͤckt. Beide Verluſte
machten es nun um ſo dringender, die Ueber-
ſchwemmungen, ſo wie uͤberall um die Feſtung
her, ſo beſonders nach dieſen zunaͤchſt bedroheten
Punkten hin, zu bewirken. Schon von Anfang
an hatt’ ich mir mit den Vor-Anſtalten hiezu
viele Muͤhe gegeben und theils auf eigene Koſten,
theils durch Mitwirkung der Buͤrgerſchaft, wirk-
lich auch ſo viel geleiſtet, daß ich hoffen konnte,
ſobald es die Noth erforderte, eine weite Flaͤche
umher dergeſtalt unter Waſſer zu ſetzen, daß an
kein Durchkommen zu denken waͤre. Um einen
haltbaren Damm zur Stauung aufzufuͤhren, hatt’
ich mehrere hundert leere Glaskiſten, die ich in
einem Magazine fand, mit Erde fuͤllen und ne-
ben und auf einander verſenken laſſen. Andre
Daͤmme waren gebeſſert; die Schleuſen und Waſ-
ſerlaͤufe in tuͤchtigen Stand geſetzt.
Dies gieng nun nicht ohne vieles Widerſtre-
ben von Seiten der Eigenthuͤmer der Wieſen
und Laͤndereien ab, denen das Schickſal einer ſol-
chen Ueberſchwemmung bevorſtand, und welche
zum Theil auf denſelben, trotz der Belagerung,
noch ſaͤen und erndten zu koͤnnen vermeynten.
Um dieſer Katzbalgereien uͤberhoben zu ſeyn,
wandte ich mich an Waldenfels; machte ihn an
Ort und Stelle mit der ganzen Einrichtung und
Verbindung der Schleuſen und der Aufſtauungen
bekannt, und forderte ihn auf, des jetzigen Zeit-
punktes ohne laͤngeres Zoͤgern wahrzunehmen
und von Seiten der Commandantur die Jnunda-
tion zu veranlaſſen. So ſehr er von der Nuͤtz-
lichkeit der Sache uͤberzeugt war, wagte er’s doch
nicht, ſie fuͤr ſeinen eigenen Kopf auszufuͤhren;
ich aber wollte eben ſo wenig etwas mit dem
Obriſten zu thun haben. Endlich aber uͤberredete
er mich doch, mit ihm zu demſelben zu gehen
und ihm die Sache gemeinſchaftlich vorzuſtellen.
Als wir nun vor ihn kamen, fand ſich ſo-
fort auch das vorbelobte Weibsbild ein und be-
gann, tapfer mit drein zu reden. Nun war auch
meine Geduld am Ende; und ich bedeutete ſie
kurz und gut, daß es ihr nicht zukaͤme, hier ihre
unverlangte Weisheit feil zu haben. Das Ding
aber, das ſich auf ſeinen Herrn verließ, machte
mir ein ſchnippiſch Geſicht und waͤre mir wohl
(5 *)
gern mit allen zehn Fingern in’s Geſicht gefah-
ren, wenn ich es nicht fein ſaͤuberlich beim Kra-
gen genommen und an und zur Stubenthuͤre
hinausgeſchuppt haͤtte, wie recht und billig war.
Daruͤber gerieth aber wiederum der Herr Com-
mandant in Hitze. Er griff nach dem Degen und
wuͤrde ihn ohne Zweifel gegen mich gezogen ha-
ben, waͤre ihm nicht mein Begleiter in den Arm
gefallen und haͤtte ihm zugerufen: „Beruhigen
Sie ſich! Nettelbeck hat recht gethan.‟ — Er
kam zur Beſinnung: aber mit dem Vorſchlage
zur’ Ueberſchwemmung blieb es, wie es war. Da-
gegen geſchahen einige Kanonenſchuͤſſe aus der
Feſtung — die erſten, welche gegen den Feind
geloͤſet wurden, und mit welchen alſo auch die
Geſchichte der Belagerung anheben mag.
An dem nemlichen Tage (den 14. Merz)
hatten die Franzoſen ſchon fruͤh das Doͤrfchen
Bullenwinkel — ich weiß nicht, ob aus Frevel-
muth, oder um irgend einen militairiſchen Zweck
dadurch zu erreichen — im Rauche aufgehen laſ-
ſen. War es nun, daß unſer Commandant ih-
nen in dieſer Kunſt nicht nachſtehen wollte, oder
daß er wirklich fuͤr ein Eindringen und Feſtſetzen
derſelben in der Lauenburger Vorſtadt beſorgt
war (was wenigſtens ſolange keine Noth hatte,
als unſre Ziegelſchanze am Damme ſich noch
hielt) — genug, er beſchloß, dieſe Vorſtadt gaͤnz-
lich abzubrennen, welche gleichwohl in den fruͤ-
heren Belagerungen unverſehrt hatte ſtehen blei-
ben duͤrfen. Niemand von den zahlreichen Be-
wohnern hatte ſich einer ſolchen gewaltſamen
Maaßregel verſehen; Niemand war in dieſem Au-
genblick darauf vorbereitet; — am wenigſten,
daß dem dazu ertheilten Befehl die Ausfuͤhrung
ſo unmittelbar auf dem Fuße folgen werde. Kei-
ne halbe Stunde Zeit ward den Ungluͤcklichen zur
Rettung ihrer Haabe geſtattet; Viele mußten,
wie ſie giengen und ſtanden, ihr Eigenthum ver-
laſſen. Hundert Familien wurden in wenigen
Minuten zu Bettlern, und ſuchten nun in der
ohnehin ziemlich beengten Stadt ein kuͤmmerli-
ches Unterkommen.
Man fragte ſich damals, (und zwar mit gu-
tem Rechte) warum, wenn doch einmal geſengt
und gebrannt ſeyn ſollte, dieſe Maaßregel nicht
ſchon fruͤher die Altſtadt getroffen habe, die im
unmittelbaren Bereich des Feindes lag, der ſich
zwiſchen den Gebaͤuden derſelben einniſtete und
uns durch ſeine, hinter denſelben angelegte Wurf-
Batterie in der Folge ſo nachtheilig wurde? Als
der Fehler aber einmal begangen war, blieb je-
der Verſuch zur Abhuͤlfe vergeblich. Selbſt alle
Muͤhe, die wir uns gaben, die Altſtadt durch
unſer Geſchuͤtz zu demoliren oder in Brand zu
ſtecken, leiſtete, die ganze Belagerung hindurch,
nicht, was wir davon erwarteten. — Was indeß
hier verſaͤumt war, ſuchte der Rittmeiſter v.
Schill an ſeiner Seite in der Maikuhle nach
Moͤglichkeit wieder gut zu machen, indem er ſich
in dieſem wichtigen Poſten immer feſter ſetzte,
Fleſchen anlegen ließ, Wolfsgruben grub und
Verhacke veranſtaltete. Die Beſchuͤtzung des Pla-
tzes von dieſer Seite blieb nun gaͤnzlich ſeiner
Sorgfalt uͤberlaſſen.
Der feindliche Anfuͤhrer mußte indeß ſeine,
am 13. Merz errungenen Vortheile wohl ſelbſt
fuͤr bedeutend genug halten, um zu glauben, daß
uns der Muth zu fernerem Widerſtande dadurch
gebrochen worden. Es erſchien alſo am 15. Vor-
mittags um 10 Uhr am Muͤhlenthor ein franzoͤ-
ſiſcher Parlementair in einem, mit vier Pferden
beſpannten, niedergelaſſenen Wagen. Der Kut-
ſcher fuhr vom Sattel; den Bock nahm ein Trom-
peter ein, und zwei Nobel-Gardiſten, wie die
Puppen gekleidet und mit Gewehr und voͤlliger
Ruͤſtung verſehen, giengen zu beiden Seiten des
Wagens einher. Jn dieſem ungewoͤhnlichen Auf-
zuge und unter einer ſchmetternden Tarare, raſ-
ſelte das Voͤlkchen zur Stadt herein, und hielt
dann ploͤtzlich vor dem Hauſe des Commandan-
ten, der den Parlementair in der Hausthuͤr em-
pfieng, ihm freundlich die Hand bot, und dann
ihn in ſein Zimmer fuͤhrte, welches ſofort hinter
ihnen verſchloſſen wurde.
Nach und nach verſammleten ſich viele Of-
ficiere der Garniſon auf der Flur des Hauſes,
unter welche auch ich mich miſchte. Alle waren
von jener Erſcheinung mehr oder weniger uͤber-
raſcht und auf den weiteren Erfolg geſpannt.
Alle fragten wir uns unter einander: Ob denn
ſonſt Keiner von den Officieren bei der vorſeyen-
den Unterredung in dem verriegelten Zimmer zu-
gegen ſey? Jch wandte mich an den Obriſt
v. Britzke, der auch unter dem Haufen ſtand:
„Herr, Sie ſind der Naͤchſte an Rang und Alter.
Jhnen gebuͤhrte es am erſten, mit anzuhoͤren,
was da unterhandelt wird. Sprengen Sie die
Thuͤre!‟ — Er zuckte die Schultern, und Nie-
mand von den Anweſenden ſprach ein Wort.
Mich aber uͤberfiel innerlich eine unbeſchreibliche
Angſt und Sorge. Die Erinnerungen an Stet-
tin, Cuͤſtrin und Magdeburg ſtanden mir, wie
finſtre Geſpenſter, vor der Seele. Jch konnte
nicht dauern, nicht bleiben; ſondern lief, den
Vice-Commandanten aufzuſuchen, der jetzt allein
noch Unheil verhuͤten konnte.
Vergebens irrte ich, in athemloſer Haſt,
den wackern Mann in der ganzen Stadt, verge-
bens auf den Waͤllen zu erfragen! Bald ſagte
man mir, er ſey auf der Muͤnde, beim Hafen,
und ich ſchickte Boten uͤber Boten aus, ihn ſchleu-
nigſt herbeizurufen; — bald wieder hieß es, er
ſey bei den Verſchanzungen auf dem Wolfsberge
beſchaͤftigt. Aber waͤhrend ich auch dorthin Eil-
boten abfertigte, war die Zeit bis faſt um 2 Uhr
abgelaufen; und ohne ihn erwarten zu koͤnnen,
trieb es mich wieder nach dem Commandanten-
Hauſe, wo Unheil gebruͤtet wurde.
Jn der Zwiſchenzeit aber hatten Trompeter,
Kutſcher und Nobel-Garden, die mir ſaͤmmtlich
nicht ſo ausſahen, als ob ſie in dieſe Kleider ge-
hoͤrten, ſich nach Belieben und ohne Aufſicht in
der Stadt zerſtreut; — Man moͤchte denn das
Aufſicht nennen wollen, daß ein Unterofficier von
der Garniſon, Namens Reiſchard, ein geborner
Sachſe, ſich, wie von ungefaͤhr, zu ihnen geſellte
und ſie, wie man wiſſen wollte, auch auf den
Waͤllen herumgefuͤhrt hatte. Dieſer Menſch war
uͤbrigens in den letzten Zeiten vielfaͤltig bei den
Arbeiten an den Verſchanzungen und beim Pali-
ſaden-Setzen als Aufſeher gebraucht worden. Er
konnte alſo uͤber die Lage und Beſchaffenheit der
Werke wohl einige Auskunft geben.
Endlich, nach langem peinlichen Harren,
ward von dem Commandanten aus dem Fenſter
gerufen, des Parlementairs Wagen vorfahren zu
laſſen. Beide Herren traten, Hand in Hand,
aus dem Zimmer hervor; verweilten aber noch
einige Zeit in der Hausthuͤre, weil noch Etwas
an dem Wagen in Ordnung zu bringen war.
Unter uns Umſtehenden gab es auch einen An-
ſpachiſchen Officier, auſſer Dienſten, der ſo ziem-
lich das Ausſehen eines Abentheurers hatte, ſich
ſeit einiger Zeit in der Stadt umtrieb und auch
jetzt ſich, man wußte nicht wie? und warum?
hier eingedraͤngt hatte. Dieſer nun trat, mit
einer gewiſſen Zuverſichtlichkeit, auf den franzoͤ-
ſiſchen Unterhaͤndler zu; begruͤßte ihn; Beide er-
griffen einander bei der Hand, und draͤngten ſich
durch uns Alle hindurch, um auf den Hof zu
gelangen, wo ſie lange und angelegentlich mit
einander ſprachen.
Hier wurde ich nun warm und ereifert. Jch
faßte den Commandanten an den Arm und zog
ihn dorthin nach, indem ich rief: „Herr Obriſt,
was die Beiden dort abzumachen haben, das
muͤſſen Sie auch wiſſen!‟ — Er folgte mir,
wie ein Schaaf; ſo wie wir aber naͤher kamen,
verbeugten ſie ſich Beiderſeits hoͤflichſt und gien-
gen auseinander; worauf auch der Parlementair
in den Wagen ſtieg und davon kutſchierte. Erſt
eine halbe Stunde nachher kam der Hauptmann
v. Waldenfels faſt athemlos herbeigeeilt; und ich
und Andre erzaͤhlten ihm, was hier vorgegangen.
Der Mann gerieth ganz auſſer ſich, daß ſo et-
was in ſeiner Abweſenheit hatte geſchehen koͤnnen.
Man erfuhr auch nachher, daß Loucadou und der
Vice-Commandant einen harten Wortwechſel ge-
habt und ſich foͤrmlich mit einander uͤberworfen
hatten. Wer irgend zum Nachdenken aufgelegt
war, mußte in all dieſen Vorgaͤngen ſehr viel
Unbegreifliches finden; und wollte er einigem boͤ-
ſen Argwohn Raum bei ſich geben, ſo mußte ihn
der Umſtand noch mehr darinn beſtaͤrken, daß,
nach zwei Tagen, jener Unterofficier Reiſchard
unſichtbar geworden und zum Feinde uͤbergegan-
gen war.
Gleich am 16. Merz machte der Feind Vor-
mittags den erſten Verſuch, ob und wie die Stadt
aus der eroberten Schanze auf dem Hohen-Ber-
ge mit Wurfgeſchuͤtz zu erreichen ſeyn werde. Er
ſchickte uns alſo einige Granaten zu, die aber
entweder ſchon in der Luft platzten, oder un-
ſchaͤdlich in den Stadtgraben fielen. Nichtsdeſto-
weniger ward Abends um 8 Uhr ganz unvermu-
thet Feuerlaͤrm geſchlagen, und — das Haus
des Commandanten ſtand in vollem Brande!
Alles lief zum Loͤſchen herbei; waͤhrend jedoch
manche verſtaͤndige Buͤrger, ſammt mir, ſich un-
willkuͤhrlich veranlaßt fuͤhlten, dies Ereigniß mit
dem geſtrigen Parlementair in eine ſehr bedenk-
liche Verbindung zu bringen. Lag in dieſem
Brandlaͤrm, wie wir fuͤrchteten, etwas Vorberei-
tetes, ſo ließ ſich auch wohl beſorgen, daß der
Feind dieſen Zeitpunkt zu einer naͤchtlichen Ueber-
rumpelung benutzen koͤnnte.
Voll von dieſem beaͤngſtigenden Gedanken,
entſchloſſen ſich Unſrer 13 an der Zahl, ſofort
eine Runde rings um die Stadtwaͤlle zu machen
und die Vertheidigungs-Anſtalten mit eigenen
Augen nachzuſehen. Wir traten unſern Weg,
ſogleich auf dem Platze, vom Stockhauſe an und
ſetzten ihn auf dem innern Wall bis an das letzte
Hornwerk Geldern an der Saline, und von dort
wiederum bis dahin fort, wo wir ausgegangen
waren. Ueberall auf den Batterieen, wo Kano-
nen und Pulverwagen ſtanden, riefen wir wieder-
holt und uͤberlaut die Schildwachen an: aber nur
ſelten ward uns eine Stimme zur Antwort; und
auf unſrer ganzen langen Runde trafen wir auf
dieſe Weiſe nicht mehr, als 7 — ſchreibe ſieben
Mann unter dem Gewehr!
So etwas uͤberſtieg alle unſre Gedanken und
Begriffe! Wir erachteten es fuͤr dringende Noth-
wendigkeit, dem Commandanten davon die ſchleu-
nigſte Anzeige zu machen, damit beſſere Anſtalt
getroffen und Ungluͤck verhuͤtet wuͤrde. Der aber
war laͤngſt aus ſeinem brennenden Hauſe gefluͤch-
tet und hatte ſich in das Poſthaus einquartiert.
Auch dort ſuchten wir ihn auf, und lieſſen ihm
durch ſeine Ordonnanz hineinſagen: „Die Buͤr-
ger-Patrouille wolle ihn ſprechen, um etwas
Hochwichtiges anzumelden.‟ Wir empfiengen
hierauf den Beſcheid: „Der Herr Obriſt habe
ſich bereits zur Ruhe begeben, und laſſe ſich heute
nicht mehr ſprechen.‟ — Was fuͤr eine unerhoͤrte
Seelenruhe bei einem Feſtungs-Commandanten,
der den Feind vor den Thoren hat, und deſſen
Haus in vollen Flammen ſteht! Dieſer Brand
wurde uͤbrigens gegen 3 Uhr Morgens geloͤſcht;
wir Buͤrger ſetzten unſre Umgaͤnge die ganze Nacht
fort, und der Feind hielt ſich ruhig. Leicht aber
mag man ermeſſen, wie uns bei dieſen Umſtaͤn-
den zu Muthe war und welcher traurigen Zu-
kunft wir entgegenſahen.
Allein was war hier mit unſerm ſtillen Grol-
len und Jammern, oder auch mit lautem Mur-
ren und Raiſonniren geholfen? Hier mußte ſchnel-
ler und nachdruͤcklicher Rath geſchafft werden;
und ſo bedacht’ ich mich nicht lange, ſondern gieng
noch am nemlichen Morgen an’s Werk, um, aus
der ganzen Fuͤlle meines beklommenen Herzens,
unmittelbar an den Koͤnig ſelbſt auf’s Papier
hinzuwerfen, was mir in dieſen letzten Tagen,
ſo wie manches Fruͤhere, unrecht und bedenklich
vorgekommen. Jch weiß noch, daß dieſes Schrei-
ben ſich mit den unterſtrichenen Worten endigte:
„Wenn Ew. Majeſtaͤt uns nicht bald einen an-
dern und braven Commandanten zuſchicken, ſind
wir ungluͤcklich und verloren!‟ — Dieſe Vorſtel-
lung ſchloß ich in eine Adreſſe an den Kaufmann
Wachſen zu Memel, meinen Freund und einen
gebornen Colberger, ein, und erſuchte Denſelben,
die Einlage, wo moͤglich, an den Koͤnig perſoͤn-
lich zu uͤbergeben. Es fand ſich aber zur Ab-
ſendung nicht eher eine Gelegenheit, als am 22.
Merz, da Schiffer Kamitz mit einer Anzahl Ge-
fangener nach Memel in See gieng. Dieſer lie-
ferte denn auch mein Packet richtig an ſeine Adreſſe
ab; und von Wachſen erfuhr ich, daß der Mo-
narch daſſelbe aus ſeinen Haͤnden ſelbſt empfan-
gen und gnaͤdig aufgenommen habe.
Daß am 17. Merz abermals ein Feuer in
der Commandantur hervorbrach, wiewohl es als-
bald wieder gedaͤmpft wurde, konnte Zufall ſeyn
oder eine irgendwo noch verborgen gebliebene
Glut zur Urſache haben: allein die Gemuͤther
waren einmal zum Argwohn aufgeregt, und merk-
ten nur an, daß heute ſo wenig, als geſtern,
um die Zeit, da das Feuer aufgegangen, irgend
ein feindliches Geſchoß in Thaͤtigkeit geweſen ſey.
Bis zum 19. Merz beſchaͤftigten ſich die Be-
lagerer vornehmlich mit Einrichtung ihrer Laͤger,
mit Feſtſetzung in der Altſtadt und mit Schla-
gung einer Verbindungsbruͤcke uͤber die Perſante
in der Naͤhe von Roſſentin; und je mehr ſich
Truppen hieherwaͤrts bewegten, um ſo weniger
war es zu bezweifeln, daß ihre Abſichten auf
Gewinnung der Schanze auf dem Kauzenberge
gerichtet ſeyen, die ihre Beſatzung abwechſelnd
aus der Feſtung erhielt. Am fruͤhen Morgen
jenes Tages hatte der gedrohete Angriff wirklich
ſtatt. Es gab das erſte anhaltende Feuer aus
grobem Geſchuͤtz und kleinem Gewehr in dieſer
Belagerung. Anfall und Vertheidigung waren in
gleichem Maaſſe heftig: aber nur zubald mußte
die Beſatzung der Uebermacht weichen; und auch
das weiter zuruͤckliegende Dorf Sellnow gieng
verloren, ohne daß die, aus dem Platze nach-
ruͤckende zahlreiche Verſtaͤrkung es vermochte, dem
Feinde ſeine gewonnenen Vortheile wieder zu ent-
reiſſen. Dies war fuͤr uns ein ſehr empfindlicher
Verluſt: denn nur von der Poſition von Sell-
now aus war die Stadt auf dieſer Seite angreif-
bar. Wer Sellnow inne hat, iſt gewiſſermaaßen
auch Meiſter des Siederfelds in ſeiner weiteſten
Ausdehnung, und Herr des Gradierwerks und
ſelbſt der Saline. Nicht minder eroͤffnet es den
bequemeren Zugang zum Angriff der Maikuhle.
Das Alles wußten wir; aber es ward nur erſt
in dem Augenblick, als es zu ſpaͤt war, gehoͤrig
beherzigt.
Raſch und beſonnen hingegen benutzte der
Feind auf der Stelle ſeine erlangten Vortheile;
gieng in das Siederland vor; ſetzte ſich hinter
das Gradierwerk und zeigte ſich ſelbſt vor dem
Galgenberge. Rechtshin aber griff er zugleich
unſre Schanze auf dem Strickerberge, hart an
dem Damme vor dem Gelder-Thore gelegen, mit
ſolchem Nachdruck an und ward dabei durch ſein
Flankenfeuer von der Altſtadt her ſo gut unter-
ſtuͤtzt, daß das Feuer aller unſrer Batterieen, wie
heftig es auch unterhalten wurde, dagegen kaum
ausreichte. Abends gegen 6 Uhr mußten die Gre-
nadiere, welche bis dahin die Schanze mit Ent-
ſchloſſenheit vertheidigt hatten, ſich durch eine Ab-
theilung Freiwilliger des Schillſchen Corps abloͤ-
ſen laſſen; und Dieſen gluͤckte es, ſich darinn
noch 48 Stunden zu behaupten, — ja noch gleich
in der naͤchſten Nacht eine neue Schanze, naͤchſt
dem weiſſen Kruge, (dem letzten Hauſe der Gel-
der-Vorſtadt) aufzuwerfen, wodurch der Damm
noch beſſer beſtrichen und die Feinde an der An-
naͤherung verhindert wurden.
Allerdings ſtand nun die genannte Vorſtadt
in naher und dringender Gefahr, uͤberwaͤltigt und
dann der Feſtung ſehr nachtheilig zu werden. Lou-
cadou war darum auch ſogleich mit dem Befehl
zum Abbrennen bereit. Diesmal aber fand ſeine
ruͤckſichtsloſe Haͤrte einen edelmuͤthigen Widerſtand
an dem Rittmeiſter v. Schill, welcher die Unnuͤtz-
lichkeit jeder Uebereilung bei der Ausfuͤhrung die-
ſer Maaßregel darthat, ſolange die vorliegenden
Schanzen noch von ſeinen Leuten vertheidigt wuͤr-
den, fuͤr deren Muth und Ausdauer er ſich ver-
buͤrgte. Der Commandant ſah ſich fuͤr den Au-
genblick genoͤthigt, nachzugeben; und Hunderte
von Menſchen fanden dadurch Zeit, alle beweg-
liche Truͤmmer ihres Vermoͤgens ruͤckwaͤrts in
Sicherheit zu fluͤchten. Erſt als dies geſchehen
war, trat die unabwendbare Zerſtoͤrung ein, und
die Schanzen wurden verlaſſen.
Es fehlte jedoch viel, daß Loucadou, durch
dieſen gluͤcklichen Erfolg ſelbſt, zur beſſeren Be-
finnung gekommen waͤre. Er ſah in Schill’s
Benehmen nur einen ſtraͤflichen Mangel an Sub-
ordination, und brach demnaͤchſt in muͤndliche
harte Vorwuͤrfe aus, welche einen lebhaften Wort-
wechſel nach ſich zogen und mit einem angekuͤn-
digten Zimmer-Arreſt endigten, dem der Ge-
kraͤnkte ſich geduldig unterzog, da ſein menſchen-
freundlicher Zweck nunmehr ſeine Erfuͤllung be-
reits erreicht hatte. Aber nicht ſo geduldig nah-
men Soldaten und Buͤrger es auf, als es be-
kannt wurde, was fuͤr eine Ungebuͤhrniß ihrem
Augapfel und Liebling (denn das war er!) wi-
derfahren ſey. Es entſtand ein Gemurmel, ein
Reden, ein Fragen, ein Durcheinanderlaufen, das
mit jeder Minute lauter und ſtuͤrmiſcher wurde.
Eine immer gedraͤngtere Maſſe ſammlete ſich auf
dem Markte; und es war nicht undeutlich die
Rede davon, Schill mit Gewalt zu befreien und
den Commandanten fuͤr das, was er gethan, per-
ſoͤnlich verantwortlich zu machen.
Jch erfuhr alsbald, was im Werke ſey: al-
lein war ich gleich nicht weniger entruͤſtet, als
jeder Andre, ſo entgieng es mir doch nicht, von
welchen unſeligen und ſchwer zu berechnenden
Folgen hier jede Gewaltthaͤtigkeit ſeyn wuͤrde.
Vielmehr kam Alles darauf an, dieſe Volksbewe-
gung zu ſtillen und ihren raſchen Ausbruch zu
verhindern. Jch warf mich ſchnell unter die Men-
ge; bat ſie, Vernunft anzunehmen und, vor al-
len Dingen, Schill’s eigne Meynung zu verneh-
men. Dieſe zu hoͤren, ſey ich jetzt auf dem Wege
begriffen. Sie moͤchten alſo ruhig meine Wieder-
kunft erwarten. Das ward denn auch ange-
nommen.
Als ich zu dem Gefangenen kam und ihm
ſagte, wie die Sachen ſtaͤnden, erſchrack er hef-
tig; und mich an beiden Haͤnden ergreifend, rief
er: „Freund, ich bitte Sie um Alles, ſtellen Sie
die guten Menſchen zufrieden! Aufruhr waͤre das
letzte und groͤßte Ungluͤck, das uns begegnen
koͤnnte. Sagen Sie ihnen, ich ſey nicht arretirt;
ich ſey krank — Kurz, ſagen Sie, was Sie
wollen, wenn die Leute ſich nur zur Ruhe ge-
ben.‟ — Jch gelobte ihm das, weil er es wollte,
und weil es das Beſte war, und eilte nach dem
Markte zuruͤck. Kaum konnte ich mich durch das
toſende Gedraͤnge ſchlagen. Vor dem Kuhfahl-
ſchen Hauſe trat ich auf eine Erhoͤhung und for-
derte wiederholt und mit angeſtrengteſter Stimme,
daß man mich hoͤren ſolle. Nur mit Muͤhe er-
wirkte dies ſoviel Stille, um uͤberall vernommen
zu werden. „Kinder!‟ rief ich — „Jch komme
von unſerm Freunde. Aus ſeinem eignen Mun-
de weiß ich’s: Er hat nicht Arreſt, wie ihr glaubt,
ſondern haͤlt ſich wegen Unpaͤßlichkeit in ſeinem
Zimmer. Euch insgeſammt aber bittet er durch
meinen Mund, wenn ihr ihm je Liebe bewieſen
habt, daß ihr jetzt ruhig auseinandergeht. Bin-
nen wenig Tagen hofft er ſo vollkommen herge-
ſtellt zu ſeyn, daß er ſelbſt unter euch erſcheinen
und euch fuͤr eure Anhaͤnglichkeit danken kann.
Wer alſo ein guter Buͤrger und ſein Freund iſt,
der geht nach Hauſe.‟
Dieſe Rede war nicht zierlich, aber verſtaͤnd-
lich, und machte um ſo mehr den beſten Eindruck,
da ſie von dem Superintendenten Baarz, der
neben mir ſtand, wiederholt und weiter ausge-
fuͤhrt wurde. Die guten Leute kamen gluͤcklich
zur Beſinnung; und als die Angeſeheneren ſich
ruhig wegbegeben hatten, fehlte es nicht, daß
auch der Poͤbel ſich allgemach verlief. Loucadou
verhielt ſich bei dieſem Vorgange ganz ſtill, als
haͤtte er kein Waſſer getruͤbt; was ihm auch gar
ſehr zu rathen war. Schill’s Arreſt aber blieb,
wie man wohl denken kann, ein leeres Wort, das
3. Baͤndchen. (6)
ſtillſchweigend zuruͤckgenommen wurde. Denn da
Schill ſeine Gegenwart in der Maikuhle und auf
einigen andern Orten bei den Vorpoſten noth-
wendig fand, that er, was die Umſtaͤnde erfor-
derten; und Loucadou ſtand nicht an, zu erklaͤ-
ren: „Auſſerhalb der Feſtung moͤge er ſchalten,
wie er’s fuͤr gut befinde.‟
Noch hatte die eigentliche Belagerung kaum
ihren Anfang genommen; d. h. es waren noch
keine Laufgraͤben eroͤffnet; keine Batterieen ange-
legt und die Stadt noch kaum beſchoſſen: und
dennoch hatten wir bereits durch Saumſeligkeit
und Unverſtand von unſern Vortheilen ſoviel ein-
gebuͤßt, als nur nach einem langen und hartnaͤ-
ckigen Angriff und einer eben ſolchen Gegenwehr
zu entſchuldigen geweſen waͤre. Wir hatten nur,
wenn ich ſo ſagen mag, den Jnſtinkt der Furcht;
und dieſer leitete uns ganz richtig, indem er uns
zufluͤſterte, daß wir, um unſers letzten Heils wil-
len, uns nicht vom Meere abdraͤngen laſſen muͤß-
ten. Darum wandte man von jetzt an eine ſtets
groͤßere Sorgfalt auf die Befeſtigung der Mai-
kuhle, deren zuvor noch immer mit einiger Scho-
nung behandelte Baͤume jetzt zum Theil nieder-
gehauen wurden. Aber auch oſtwaͤrts des Hafens
verließ man ſich nicht mehr allein auf das Muͤn-
der-Fort und die wohlgelegene Schanze auf dem
Muͤnder Kirchhofe, welche noch durch eine, zwi-
ſchen Beiden angelegte Redoute auf dem ſoge-
nannten „Baumgarten‟ verſtaͤrkt wurde, ſondern
richtete auch eine ganz beſondere Aufmerkſamkeit
auf den, noch oͤſtlicher gelegenen Wolfsberg, der
dem Andringen des Feindes laͤngs dem Strande
einen Damm entgegenſtellt. Dieſe wichtige An-
hoͤhe, welche auf ihrer flachen Kuppe einen Raum
von mehr als hundert Schritten im Durchmeſſer
darbietet, wurde nach und nach in ein geſchloſſe-
nes Werk von ausnehmender Staͤrke verwandelt
und darum auch fuͤr die Folge der Belagerung
uͤberaus wichtig. Von den Erhoͤhungen bei Bul-
lenwinkel kann ſie zwar beſtrichen werden, aber
die dazwiſchen liegenden Radewieſen erſchweren
gleichwohl jede Annaͤherung.
Hieherwaͤrts ſchien aber jetzt noch der Blick
des Feindes ungleich weniger, als auf den Ge-
winn der Maikuhle geheftet zu ſeyn. Nicht nur
hatte er neuerdings eine Floßbruͤcke, in noch groͤ-
ßerer Naͤhe, bei der Altſtadt uͤber den Strom ge-
ſchlagen, um ſich den Uebergang zu erleichtern
und ſeine Truppen ſchnell auf jeden Punkt zu
werfen; ſondern vom 22. bis zum 24. Merz er-
folgten auch taͤglich groͤßere oder kleinere Rekog-
noſcirungen, die ſelbſt bis gegen den Strand vor-
zudringen ſuchten und ſich endlich in Neu-Wer-
der, oder den ſogenannten „Spinnkaten,‟ feſt-
ſetzten. Dieſe leichten Angriffe gegen die Mai-
kuhle wurden den 26. und 30. Merz ohne bedeu-
tenden Erfolg wiederholt und bereiteten einen
ernſthafteren vor, zu deſſen Ausfuͤhrung man
vielleicht nur die Ankunft des Marſchalls Mortier
(6 *)
abwartete, welcher endlich am 5. April bei dem
Belagerungs-Corps eintraf und ſein Hauptquar-
tier in Zernin nahm. Ebendaſelbſt hatte weiland
auch der ruſſiſche General Romanzof das ſeinige
aufgeſchlagen.
Jndem es nun aber auf ſolche Weiſe eine
immer ernſthaftere Geſtalt bei uns annahm, er-
kannte auch die patriotiſche Buͤrgerſchaft ihre ſtei-
gende Verpflichtung, Muͤhe, Noth und Gefahr
mit der, im Ganzen ſo wackern Garniſon, zur
Erhaltung des Platzes, noch gleicher, als bisher,
zu theilen. Sie erbot daher dem Commandanten
nochmals ihre Mitwirkung zum innern Feſtungs-
dienſte; Beziehung der Hauptwache und Aus-
ſtellung der noͤthigen Poſten auf dem innern Walle,
ſo wie an den Thoren. Diesmal ward auch (da
Noth beten lehrt) ihr guter Wille beſſer anerkannt
und gerne angenommen. Sie trat alſo dieſen
Dienſt mit dem 25. Merz an, und hat ihn auch
bis an’s Ende hin mit lobenswerther Treue und
Puͤnktlichkeit verſehen.
Mancher Leſer duͤrfte ſich vielleicht verwun-
dern, daß in meinem bisherigen Berichte immer
nur von der Buͤrgerſchaft die Rede iſt, ohne ir-
gend einiger Wirkſamkeit des Magiſtrats, die in
ſolchen kritiſchen Zeiten ganz beſonders zu erwar-
ten geweſen waͤre, auch nur mit Einem Worte
zu gedenken. Wer aber nichts thut und leiſtet,
von dem iſt freilich auch wenig oder nichts zu
melden; und das war hier leider! von Anfang an
der Fall. Auch jene Herren haͤtten ſich um das
gemeine Beſte auf vielfache Weiſe verdienſtlich
machen koͤnnen, wenn ſie ſich nur die Muͤhe haͤt-
ten nehmen wollen, aus ihrem gewohnten Schlen-
drian ein wenig herauszugehen. Und in dieſem
Schlendrian ließ auch der Commandant ſie ruhig
gehen, ſo wie er ſelbſt ſich gehen ließ. An Ener-
gie und Kraft war nicht zu denken; was ihnen
nicht gerade vor den Fuͤßen lag, huͤteten ſie ſich
wohl, aufzunehmen. Jeder hielt ſich ſtill zu
Hauſe, oder verſteckte ſich wohl gar, und ließ es
gemachſam an ſich kommen. Dadurch fiel denn
alle Laſt der oͤffentlichen Geſchaͤfte um ſo mehr
auf die, denen es ihr Feuereifer nicht zuließ, in
ſolcher Zeit der Noth ſtille zu ſitzen. Solch ein
Kernmann war der, jetzt als Senator penſionirte
Stadt-Secretair Aue, der immer und uͤberall auf
dem Platze war, wo Rath und Huͤlfe erfordert
wurde; daher er auch das Ungluͤck hatte, durch
eine Granate verwundet zu werden. Auch der
Kriegsrath Wiſſeling, der ſich des ganzen Pro-
viantirungs-Geſchaͤfts annahm, that in dieſem
Wirkungskreiſe, was einem redlichen Patrioten
zukoͤmmt und alles Lobes werth iſt.
Jch ſpreche nicht gern von dieſer dunkeln
Schattenſeite in dem Gemaͤlde unſrer Colberger
Belagerung; habe aber auch nicht Luſt, der Wahr-
heit etwas zu vergeben. Um alſo ein fuͤr alle-
mal daruͤber wegzukommen, bemerke ich, daß ſpaͤ-
terhin, als wir’s mit einem Manne zu thun hat-
ten, der den Umſtaͤnden gewachſen war, unter
Trommelſchlag oͤffentlich bekannt gemacht wurde:
Jeder Angeſtellte ſolle ſich auf ſeinem Poſten fin-
den laſſen, oder kaſſirt ſeyn. Andrerſeits gaben
viele Kaufleute und ſonſt ausgezeichnete Perſonen
(unter denen gleichwohl Hr. Dreſow, ſammt ei-
nigen Andern, eine ruͤhmliche Ausnahme machte)
das boͤſe Beiſpiel, ſich aus der Stadt, ſobald ſie
beſchoſſen wurde, nach der Muͤnde, oder wohl
gar nach Bornholm, zu fluͤchten. Da waren ſie
freilich auſſer dem Schuſſe, aber auch fuͤr das
allgemeine Beſte auſſer Wirkſamkeit; und das
iſt’s, was ich ein boͤſes Beiſpiel nenne!
Scharmuͤtzel und Plaͤnkeleien zwiſchen den
Vorpoſten, kleine Ausfaͤlle und Ueberrumpelun-
gen waren ſeither, mit abwechſelndem Gluͤcke, an
der Tagsordnung; koſteten aber doch immer ei-
nige brave Leute, deren Abgang uns noch fuͤhl-
barer geworden ſeyn wuͤrde, wenn uns nicht von
Zeit zu Zeit, nun die See wieder fahrbar ge-
worden, ſowohl auf einem daͤniſchen Schiffe, als
auf mehreren Booten von Ruͤgenwalde, kampf-
luſtige Ranzionirte zu Hunderten zugeſtroͤmt waͤ-
ren. Aber auch der Feind verſtaͤrkte ſich von Tage
zu Tage; ſein Wurfgeſchuͤtz fieng an zu ſpielen
und richtete hie und da Verheerungen an; und
inſonderheit empfanden wir die nachtheiligen Wir-
kungen ſeiner ſo nahe gelegenen Batterieen auf
der Altſtadt. Um uns vor dieſen mehr Ruhe zu
verſchaffen, hatten wir den 3. April es darauf
angelegt, die vorſtehenden Gebaͤude in Brand zu
ſchieſſen. Unſre Bomben und Granaten zuͤndeten
auch wirklich: allein da jene keine zuſammenhaͤn-
gende Maſſe bildeten, ſo griff das Feuer nicht
um ſich, und unſer Pulver war vergeblich ver-
ſchoſſen.
Auch am 5. April machten uns die franzoͤ-
ſiſchen Granaten von dort her von Zeit zu Zeit
unangenehme Beſuche, als ich mich, mit hundert
und mehr Menſchen, auf dem Markte befand,
wo der Commandant den Buͤrgern ſeine Befehle
austheilte, die mir als der Sache ſehr wenig an-
gemeſſen erſchienen. So hatte er geboten, daß
alle Hausdaͤcher hoch mit Duͤnger belegt werden
ſollten, um das Durchſchlagen der Bomben zu
verhuͤten; eben ſo wie, daß uͤberall das Straßen-
pflaſter aufgeriſſen werden ſollte, um gleichfalls
jene Art des Geſchoſſes unſchaͤdlicher zu machen.
Nun habe ich zum Ungluͤck eine Gattung von
ſchlichtem Menſchenverſtand, die zu keiner Abſur-
ditaͤt, in welcherlei Munde ſie ſich auch mag hoͤ-
ren laſſen, gutwillig ſchweigen kann. Jch war
alſo auch hier ſo vorwitzig, gegen ihn meinen
gedoppelten Zweifel zu aͤuſſern; — Einmal, ob
der anbefohlene Duͤnger auf unſern Daͤchern, die
durchgaͤngig eine Neigung von mehr, als 45 Grad
haͤtten, wohl lange haften duͤrfte; und dann, ob
die Granaten auch wohl vor ſolcherlei bedeckten
Daͤchern, nach deren bekannten leichten Conſtruc-
tion, ſonderlichen Reſpect beweiſen moͤchten? Auf
gleiche Weiſe brachte ich ihm in Erinnerung, daß
die Stadt ehedem zu Dreienmalen, und zwar
heftig genug, mit Bomben geaͤngſtigt worden,
ohne daß man gleichwohl noͤthig gefunden haͤtte,
das Pflaſter zu ruͤhren. Dies ſchiene hier, bei
unſern engen Gaſſen, ſogar ſchaͤdlich und hinder-
lich, weil dann, bei entſtandener Feuersgefahr,
weder Spruͤtzen, noch Waſſerkuͤfen, einen Weg
durch die Steinhaufen und den umgewuͤhlten Bo-
den wuͤrden finden koͤnnen. Es moͤchte alſo wohl
der beſte Rath zur Sache ſeyn, dergleichen ge-
lehrte Experimente, die vielleicht anderwaͤrts beſ-
ſer paßten, hier bei Seite zu ſetzen und uns nur
tapfer unſrer Haut zu wehren. — Jch glaube,
ich haͤtte beſſer gethan, das nicht zu ſagen: denn
es machte den alten Herrn verdruͤßlich, und ich
hatte einige Lacher auf meiner Seite.
Waͤhrend es noch hievon die Rede gab, zo-
gen einige feindliche Granaten, die von Zeit zu
Zeit geworfen wurden, ihren Bogen; ſchlugen
nicht weit von uns durch die Daͤcher der Haͤuſer,
platzten und richteten Schaden an. Faſt zu glei-
cher Zeit fuhr eine Bombe, kaum 20 oder 30
Schritte weit von unſerm zuſammengetretenen
Kreiſe nieder; zerſprang, beſchaͤdigte aber Nie-
mand. Bei dem Knall ſah ſich der Obriſte, mit
etwas verwirrten Blicken, unter uns um, und
ſtotterte: „Meine Herren, wenn das ſo fort-
geht, ſo werden wir doch noch muͤſſen zu Kreuze
kriechen!‟ … Mehr konnt’ er nicht hervorbrin-
gen.
So etwas ſehen und hoͤren, ließ mich Mei-
ner nicht laͤnger maͤchtig bleiben; und ich that
einen Schritt, den ich jetzt ſelber nicht gut heiſſe,
obwohl ich mir dabei der reinſten Abſicht bewußt
bin. Jch fuhr gegen ihn auf, und ſchrie: „Halt!
Der Erſte, wer er auch ſey, der das verdammte
Wort wieder ausſpricht von „zu Kreuze kriechen‟
und Uebergabe der Feſtung, der ſtirbt des Todes
von meiner Hand!‟ — Dabei fuhr mir der De-
gen, ich weiß nicht wie? aus der Scheide, und
mit der Spitze gegen den Feigling gerichtet, ſetzte
ich hinzu zu Allen, die es hoͤren wollten: „Laßt
uns brav und ehrlich ſeyn, oder wir verdienen,
wie die Memmen (Eigentlich braucht’ ich wohl
ein andres Wort) zu ſterben!‟
Der Landrath Dahlke, mein Nebenmann,
faßte mich von hinten und zog mich von Lou-
cadou zuruͤck; waͤhrend Dieſer vom Kaufmann
Schroͤder verhindert wurde, ſeine Haͤnde zu ge-
brauchen, die gleichfalls nach der Klinge griffen.
Seine Zornwuth kannte keine Grenzen mehr.
„Arretiren!‟ ſchrie er, mit ſchaͤumendem Munde
— „gleich arretiren! Jn Ketten und Banden!‟
— Da ſich indeß Alles um ihn zuſammendraͤngte,
der Landrath aber mich aus allen Kraͤften von
ihm entfernte: ſo mußte er wohl glauben, daß
man mich in’s Gefaͤngniß davonfuͤhre; und ſo
kamen wir einander aus dem Geſichte. Jch aber,
ein wenig zur Beſinnung gekommen und mit mir
alten Knaben nicht auf’s Beſte zufrieden, gieng
nach Hauſe, um zu erwarten, was in der tollen
Geſchichte weiter erfolgen wuͤrde.
Alles dies hatte ſich Vormittags zugetragen.
Gleich Nachmittags aber berief der Commandant
den Landrath zu ſich, und erklaͤrte ihm ſeinen
Willen, uͤber mich ein, aus dem Militair und
Civil zuſammengeſetztes Kriegsrecht halten und
mich des naͤchſten Tages auf dem Glacis der Fe-
ſtung erſchieſſen zu laſſen. Der Landrath, der es
gut mit mir meynte, erſchrack; machte Vorſtel-
lungen, und gab zu bedenken, welch einen ge-
faͤhrlichen Eindruck eine ſolche Procedur auf die
Buͤrgerſchaft machen koͤnnte; ſo daß er fuͤr den
Ausgang nicht gutſagen wolle. Loucadou beharrte
indeß auf ſeinem Sinn; und Jener entfernte ſich,
unter der Verſicherung, daß er nicht verlange,
damit zu ſchaffen zu haben.
Kaum hatte nun der Landrath auf dem
Heimwege in ſeiner Conſternation einigen ihm
begegnenden Buͤrgern eroͤffnet, was der Com-
mandant mit mir vorhabe: ſo gerieth Alles in
die groͤßte Bewegung; Alles nahm meine Parthei,
und wer mir auch ſonſt vielleicht nicht guͤnſtig
war, wollte doch einen Mitbuͤrger und Lands-
mann nicht ſo ſchmaͤhlich unterdruͤcken laſſen. Der
Haufen ſammlete ſich und ward mit jeder Mi-
nute groͤßer. Er waͤlzte ſich zu Loucadou’s Woh-
nung; umringte ihn, und die Wortfuͤhrer beſtuͤrm-
ten ihn ſo lange im Guten und im Boͤſen, bis
ſie ſeine Entruͤſtung einigermaaſſen milderten, oder
vielleicht auch ihn ahnen lieſſen, daß er hier kein
ſo leichtes Spiel haben werde. „Gut! gut!‟
rief er endlich — „So mag der alte Burſche dies-
mal laufen. Huͤt’ er ſich nur, daß ich ihn nicht
wieder faſſe!‟ — So gieng Alles friedlich aus-
einander; waͤhrend ich ſelbſt, der ich mich ruhig
inne hielt, den Tumult und das Laufen des Volks
zwar durch mein Fenſter bemerkte, aber doch wei-
ter kein Arges daraus hatte, daß es mich ſo nahe
angehen koͤnnte. Selbſt die ich fragte, blieben
mir die Antwort ſchuldig; und erſt des andern
Tages erfuhr ich aus des Landraths Munde, wie
ſchlimm es auf mich und mein Leben gemuͤnzt
geweſen.
Wie es aber auch gekommen waͤre, ſo glau-
be ich doch, daß ich unter dem Militair Freunde
genug gefunden haͤtte, die Alles, was ſich ver-
antworten ließ, angewandt haben wuͤrden, die
Sache zu meinem Vortheil in’s Gleiche zu rich-
ten. Auch meyne ich wohl, es einigermaaſſen um
ſie verdient zu haben, da ich keine Muͤhe und
Anſtrengung ſcheute, ihre Lage nach Moͤglichkeit
zu erleichtern. Zumal waren die Umſtaͤnde des
Schillſchen Corps in der Maikuhle von einer Be-
ſchaffenheit, daß ſie fuͤr wahrhaft beklagenswerth
gelten konnten. Die armen Leute waren dort
taͤglich und ſtuͤndlich auf den Beinen, weil der
Feind ſie unaufhoͤrlich neckte und in Athem er-
hielt. Tag und Nacht lagen ſie dort unter freiem
Himmel, ohne je, wie Andre doch zuweilen, von
ihrem Poſten abgeloͤst zu werden und unter Dach
und Fach zu kommen. An regelmaͤßige Loͤhnung
war gar nicht — und an Lieferung von ander-
weitigen Unterhaltungs-Mitteln nur hoͤchſt ſelten
zu denken. Gleichwohl zeigten ſich dieſe Schill-
ſchen Leute, in denen der Geiſt ihres Anfuͤhrers
lebte und wirkte, vom erſten Augenblick an, da
ſie ſich in den Platz zuruͤckgezogen, aͤuſſerſt willig
und brav. Bei jedem Trommelſchlage waren ſie
— oft nur mit Einem Schuh oder Strumpf an
den Beinen — die Erſten auf dem Sammelplatze;
und dieſen thaͤtigen Eifer kann und darf ich nicht
von einigen andern Truppen-Gattungen in glei-
chem Maaſſe ruͤhmen.
Um nun ſo brave Leute in ihrer Noth zu
unterſtuͤtzen, ſo weiß Gott, daß ich, an meinem
Theil, gethan habe, was nur moͤglich war. Ein
Tonnenkeſſel fuͤr Kartoffeln und andres Gemuͤſe
kam bei mir nie vom Feuer, und die bereitete
Speiſe ward ihnen hinausgefahren. Oftmals
habe ich den ganzen Fleiſchſcharren und alle Baͤ-
ckerladen auskaufen laſſen; oftmals bin ich Haus
bei Haus gegangen, und habe gebeten, daß fuͤr
meine Schillſchen Kinder in der Maikuhle zuge-
kocht werden moͤchte. Jn der That betrachteten
ſie mich auch als ihren Vater und nannten mich
ihren Brodt- und Trankſpender; und wenn ich
mich in der Naͤhe der Lagerpoſten zeigte, ward
ich gewoͤhnlich mit kriegeriſcher Muſik empfangen.
Nicht ſelten zuckelte ich, wenn ſie zu irgend ei-
nem Angriff in’s Freie hinausruͤckten, auf mei-
nem Pferdchen neben ihnen her und ſuchte ihnen
getroſten Muth einzuſprechen; oder ich ſtimmte,
ob ich gleich nicht von ſangreicher Natur bin,
mit meiner Rabenkehle das Liedchen an: „Halt’t
euch wohl, ihr preuß’ſchen Bruͤder!‟ — wobei
Alle luſtig und guter Dinge wurden. Auch wuß-
ten ſie, daß, wenn es Verwundete oder ſonſt ein
Ungluͤck geben ſollte, ihr alter Freund ſchon in
der Naͤhe zu finden ſeyn werde.
Jede Art von Ermunterung war aber auch
fuͤr dieſe braven Truppen um ſo nothwendiger,
da ſie in dieſem Zeitraume der Belagerung die
ſchwerſte Laſt derſelben faſt allein zu tragen hat-
ten: denn ſchon vom 5. April an hatten die Fran-
zoſen taͤgliche und immer ernſtlichere Unterneh-
mungen gegen die Maikuhle verſucht, waren aber
jedesmal mit blutigen Koͤpfen zuruͤckgewieſen wor-
den; wobei die Feſtungs-Artillerie ſie in der rech-
ten Flanke wacker mitnahm, ſo oft ſie ſich in
den Bereich derſelben verirrten. Meiſt aber gien-
gen ihre Angriffe von dem Punkte von Alt- und
Reu-Werder aus, indem ſie, wie z. B. am 9.
und 10. April, vielleicht tauſend und mehr Men-
ſchen dazu verwandten. Hier legte ihnen jedoch
das große Torfmoor, welches ſich bis zum Col-
berger Deep hinerſtreckt, und nur auf wenigen
Daͤmmen zugaͤnglich iſt, ſo große Hinderniſſe
entgegen, daß es ihnen nie gelingen wollte, mit
einer bedeutenden Macht durchzudringen.
Allein es war ſichtbar, daß der feindliche
Anfuͤhrer keinesweges aufhoͤren wolle, um den
Beſitz der Maikuhle zu jedem Preiſe mit uns zu
ringen. Schon am 11. zogen ſtarke Truppen-
Abtheilungen uͤber die Verbindungs-Bruͤcke bei
der Altſtadt nach Sellnow hinuͤber; und am
naͤchſtfolgenden Tage entwickelte ſich vor Neu-
Werder eine Macht von wenigſtens ein paar tau-
ſend Koͤpfen, die einen haͤrtern Stand, als je-
mals, befuͤrchten ließ. Schill wartete jedoch die-
ſen Angriff nicht ab; gieng dem Feinde mit ein
paar Kanonen und ſeinem geſammten Corps ent-
gegen; verwickelte ihn in den Moraſt und benutzte
die unter ihm entſtandene Unordnung ſo raſch
und gluͤcklich, daß auf dem verwirrten Ruͤckzuge
Alt- und Neu-Werder fuͤr ihn verloren giengen
und er bis an ſeine feſte Stellung bei Sellnow
zuruͤckgetrieben wurde. Es gieng dabei ſcharf her,
und unſre Leute bewieſen einen Muth, der nicht
genug zu loben iſt.
Vier Compagnieen der Beſatzung ruͤckten,
waͤhrend des Gefechts, vor das Gelder-Thor hin-
aus; und es iſt nicht zu laͤugnen, daß die Er-
ſcheinung dieſer Truppen, indem ſie dem Feinde
Beſorgniß fuͤr ſeine Flanke und ſeinen Ruͤcken
erregte, nicht wenig dazu beitrug, ſeinen Ruͤck-
zug zu beſchleunigen. Haͤtten jedoch eben dieſe
Truppen, vielleicht noch durch etwas mehr Mann-
ſchaft unterſtuͤtzt, ſich etwas weiter hervor und
einen entſchloſſenen Anfall auf Sellnow ſelbſt
und die darhinter liegende Schanze gewagt: ſo
wuͤrden die Vortheile dieſes Tages eine noch ent-
ſchiedenere Geſtalt angenommen, die gaͤnzliche
Zerſprengung des Feindes bewirkt und den Wie-
dergewinn des Kauzenberges zur Folge gehabt
haben. Das wurde auch von den Franzoſen in
Sellnow ſelbſt ſo lebhaft befuͤrchtet, daß dort be-
reits zum Abzuge eingepackt war. Das war es
aber auch, was Schill zu wiederholten Malen
und auf’s dringendſte vom Commandanten for-
derte, als er noch am Abende den Entſchluß faßte,
den Angriff ſeinerſeits, von Werder aus, fortzu-
ſetzen. Allein Loucadou hatte keine Ohren fuͤr
dieſen Vorſchlag; ſey es nun, daß er, ſeiner al-
ten Anſicht getreu, auſſerhalb den Waͤllen nichts
auf’s Spiel ſetzen wollte, oder daß ſein tief ge-
wurzelter Widerwille gegen Schill’s Perſon und
uͤberlegenen Geiſt ihm nicht geſtattete, zu irgend
einer Jdee, die von Dieſem ausgieng, die Haͤn-
de zu bieten. Genug, der guͤnſtige Augenblick
ward verſaͤumt, und kehrte nie wieder!
Drei Tage nachher, den 15. April, ſchiffte
der Rittmeiſter v. Schill, fuͤr ſeine Perſon, ſich
auf einem Fahrzeuge ein, das nach Schwediſch-
Pommern abgieng. Das neuerlichſte Mißver-
ſtaͤndniß mit dem engherzigen Commandanten
trug wohl vornehmlich die Schuld, daß jener
wackere Mann in einer ſo ſchwuͤlen Stickluft nicht
laͤnger auszudauern vermochte. Ohnehin war ſein
in’s Große und Freie ſtrebender Geiſt nicht fuͤr
die engen Verhaͤltniſſe eines belagerten Platzes
gemacht: aber dennoch wuͤrde er auch hier, wie
bisher, ſeinen Platz auf eine ehrenvoll ausge-
zeichnete Weiſe ausgefuͤllt haben, wenn man ſei-
nem Kraftgefuͤhl nicht von mehr als Einer Seite
Hemmketten angelegt haͤtte. Selbſt aber indem
er ſich jetzt von uns entfernte, geſchah es nur,
um uns aus der Ferne deſto wirkſamere Huͤlfe
zu gewaͤhren. Von Anfang an waren ſeine Ent-
wuͤrfe dahin gerichtet geweſen, ſich in Pommern
ein Kriegs-Theater zu errichten, von wo aus
Stralſund und Colberg ſich zu wechſelſeitiger
Unterſtuͤtzung die Haͤnde boͤten. Nun waren aber
in den letzten Tagen auf allerlei Wegen die guͤn-
ſtigſten Nachrichten bei uns eingekommen, wie
nicht nur der Koͤnig von Schweden das gegen
ihn operirende franzoͤſiſche Corps uͤber die Peene
zuruͤckgedraͤngt habe, ſondern auch mit einem Theil
ſeiner Macht auf Swinemuͤnde vordringe und im
Begriffe ſey, auch Wollin von den Feinden zu
ſaͤubern; alſo wohl gar unſerm Platze wieder
Luft zu verſchaffen. Nun erwieſen ſich dieſe
Nachrichten zwar in der Folge zu einem Theile
ganz anders: aber doch waren ſie ermunternd ge-
nug, um einen Mann von Schill’s feuriger Seele
zu neuen großen Hoffnungen, aber auch zu dem
Entſchluſſe zu begeiſtern, den guten Willen der
Schweden an Ort und Stelle gegen den gemein-
ſchaftlichen Widerſacher in Bewegung zu ſetzen.
Um dieſe Abſichten konnten und durften indeß
nur Wenige wiſſen; und jemehr dadurch ſeine
Entfernung als die Folge ſeiner Zwiſtigkeiten mit
Loucadou erſchien, um ſo ſchmerzlicher und un-
muthiger war das allgemeine Bedauern, womit
die Zeitung von derſelben das ganze Publikum
in unſerm Orte erfuͤllte.
Jn dieſen Tagen war es auch, wo ich mit
dem bekannten Heinrich v. Buͤlow einen, in ſei-
ner Art ſonderbaren Auftritt erlebte. Man weiß,
daß es bei’m Ausbruch des Krieges fuͤr angemeſ-
ſen befunden wurde, dieſen in ſeiner Originalitaͤt
verkommenen Mann zu uns nach Colberg zu
ſchaffen, wo er einige Zeit verblieb; von Vielen
als ein Wunderthier angeſtaunt, von Andern mit
unbilliger Geringſchaͤtzung behandelt, aber immer
noch im Genuß einer leidlichen Freiheit, wie
Staatsgefangene ſie genieſſen koͤnnen. Leider
ſuchte er nun in dieſer letzten Zeit, und ſo auch
bei uns, ſeine Grillen in der Flaſche zu erſaͤu-
fen; und ſo war er eines Abends, im trunknen
Muthe, auf der Straße in Verdrießlichkeiten ge-
rathen, woruͤber eine Buͤrger-Patrouille hinzu-
kam und ihn, auf geleiſteten Widerſtand, auf
der Hauptwache in einſtweiligen Verwahrſam
brachte.
Man kann denken, daß er gegen eine ſolche
Maaßregel viel und mancherlei dreinzureden hatte.
Jch kam zufaͤllig daruͤber zu; hoͤrte ſein Toben
3. Bändchen. (7)
und ermahnte ihn, ſich in ſeinen Ausdruͤcken zu
maͤßigen und in die Umſtaͤnde guͤtlich zu fuͤgen.
Jn eben dem Maaſſe aber mehrte ſich ſeine Er-
eiferung; und ploͤtzlich hub er an, in gutem Eng-
liſch ſeinem verbitterten Herzen auf eine Weiſe
Luft zu machen, wobei Koͤnig und Alles, was
Preuſſiſch war, gar uͤbel wegkam. Hatt’ er ſich
aber vielleicht darauf verlaſſen, daß ſeine Zuhoͤrer,
aus Mangel an Verſtaͤndniß, ihm nicht das Wi-
derpart halten wuͤrden, ſo war er um ſo mehr
verwundert, als ich, der ich dieſe Laͤſterung nicht
laͤnger geduldig anhoͤren konnte, ihn in gleicher
Sprache bedeutete: daß, wenn er jene Worte zu
Deutſch uͤber ſeine Lippen gehen laſſen, ich ihm
nicht dafuͤr buͤrgen moͤchte, ob ſie ihm nicht Kopf
und Kragen koſten ſollten. Er werde alſo wohl-
thun, ſich Zaum und Gebiß anzulegen.
Kaum hoͤrte der Wuͤthende die erſten engli-
ſchen Sylben aus meinem Munde, ſo ward er
urploͤtzlich ein ganz andrer Mann. Er fiel mir
entzuͤckt um den Hals; kuͤßte mich, und be-
theuerte, fuͤr Alles, was nur einen engliſchen
Klang habe, laſſe er Leib und Leben. Sofort
auch waren und blieben wir die beſten Freunde;
da ihm indeß ſein Unmuth immer wieder von
neuem aufſtieg, ſo forderte er Feder und Papier,
um an den Commandanten zu ſchreiben und Be-
ſchwerde uͤber die ihm widerfahrne Behandlung
zu fuͤhren. Beides ward ihm gereicht, um ſeine
Lebensgeiſter zu beruhigen. Die Feder tanzte
auch luſtig auf dem Papiere hin, und man ſah
wohl, es war ſein Handwerk. Jndem ich aber
von Zeit zu Zeit, uͤber ſeine Schulter hin, in
das Geſchreibſel ſchielte, nahm ich bald wahr,
daß der Jnhalt, voll Schmaͤhungen und harter
Vorwuͤrfe, nicht dazu gemacht war, ihm an Lou-
cadou einen Patron und Goͤnner zu erwerben.
Um alſo ferneres Unheil zu verhuͤten, und da die
Blattſeite eben voll war, ſagte ich: „Nun iſt’s
wohl Zeit, auch Sand darauf zu ſtreuen;‟ —
nahm das volle Dintenfaß und goß es uͤber die
Paſtete her. Er ſtutzte; Alles lachte. Endlich
lachte er mit; ſchuͤttelte mir die Hand, und ſein
Aerger war vergeſſen.
Seit dem letzten mißlungenen Verſuch auf
die Maikuhle ließ es der Feind dabei bewenden,
und es geſchahen nur hie und da einige Angriffe
auf unſre Vorpoſtenkette, um unſre Aufmerkſam-
keit zu beſchaͤftigen. Dagegen wagte er ſich,
ohne daß wir einige Kunde davon erhielten, in
dieſen Tagen an ein Unternehmen, das kuͤhn und
groß genug aufgefaßt war, um, wenn die Aus-
fuͤhrung gluͤckte, uns mit all unſern bisherigen
Vertheidigungs-Anſtalten, im eigentlichſten Wort-
verſtande, auf’s Trockne zu bringen. Es ſollte
nemlich darauf ankommen, der Perſante ein an-
dres Bette zu graben und ſie in den Campſchen
See abzuleiten. Dies ſollte in der Niederung
zwiſchen Sellnow und dem Kauzenberge, durch
die Buͤrgerwieſen und den Prinzendamm, laͤngs
(7 *)
dem Graben, der ſich auf Alt- und Neu-Bork
nach Naugard und Papenhagen hinzieht, durch
gehoͤrige Vertiefung deſſelben geſchehen. Das
Werk wurde groß und kraͤftig angefangen: aber
bald ſtieß man auf Schwierigkeiten, die man
nicht erwartet hatte; ſo wie denn auch die Sache
an ſich unmoͤglich iſt. Darum ward auch die
Sache bald wieder aufgegeben; und wir ſahen
uns von einer Sorge befreit, ehe ſie uns noch
hatte beunruhigen koͤnnen: denn freilich ſtand hier
die Wirkſamkeit unſers ganzen Ueberſchwemmungs-
Syſtems auf dem Spiele; und ſelbſt unſer Ha-
fen waͤre, wenn auch nicht bis auf den Grund
ausgetrocknet, doch durch den naͤchſten See-
ſturm, bis zur voͤlligen Unbrauchbarkeit, verſan-
det worden.
Jn der Beſchieſſung der Feſtung ſchien es
dem Feinde bis gegen Ende Aprils immer noch
kein recht lebendiger Ernſt zu ſeyn; was ohne
Zweifel ſeinen Grund im Mangel von hinreichen-
dem Schießbedarf hatte. Sowohl Haubitzen, als
Moͤrſer, waren nur von kleinem Kaliber, und
erreichten darum auch nicht immer ihr Ziel, oder
thaten doch, nach Verhaͤltniß, nur geringen Scha-
den. Ein paar Mal ward es von der Schanze
des Hohen-Berges her verſucht, ob das Feldge-
ſchuͤtz bis in die Stadt hinein zu tragen vermoͤge:
aber nur vier Kanonenkugeln gelangten bis dahin
und beſchaͤdigten einige Daͤcher. Auch ward dies
fruchtloſe Feuer von dem ſchwereren Geſchuͤtz
unſrer Waͤlle bald zum Schweigen gebracht.
Haͤtte ſich das Letztere doch nur eben ſo
wirkſam gegen die feindlichen Wurfbatterieen auf
der Altſtadt bewieſen, deren zerſtoͤrende Wirkun-
gen uns mit jedem Tage empfindlicher fielen und
uns nicht nur den Ruin unſrer Haͤuſer, ſondern
auch Manchen Geſundheit und Leben koſteten.
Zwar vereinigte ſich unſre Artillerie am 23. April,
nach dieſer Seite hin, zu einer neuen lebhaften
Anſtrengung, die Einaͤſcherung der dortigen Ge-
baͤude, die uns ſoviel Herzeleid machten, zu voll-
enden: aber es war nicht zu bewerkſtelligen; und
dies ſchlug den Muth der Menge merklich nieder.
Die Geringſchaͤtzung gegen unſern unfaͤhigen Com-
mandanten gieng allmaͤhlig in wirklichen Haß und
Feindſeligkeit uͤber; und das nur um ſo mehr,
da es ſo manchen wuͤrdigen Officier unter der
Beſatzung gab, die das Herz auf dem rechten
Fleck und viel Einſicht und Ueberlegung hatten,
aber ihr Licht unter den Scheffel ſtellen mußten.
Jch nenne hier nur den Jngenieur-Lieutenant
Wolf, der ſpaͤter nach Glogau verſetzt wurde,
den Platz-Major Zimmermann, jetzt Comman-
dant von Wolgaſt, und den in ſeinem Fache
uͤberaus geſchickten und thaͤtigen Artillerie-Lieu-
tenant Poſt, jetzigen Major und Poſtmeiſter zu
Treptow. Sie Alle, und nicht wenige Andre
mit ihnen, thaten, was in ihren Kraͤften ſtand,
und was Loucadou’s Eigenſinn und Duͤnkel ih-
nen nur irgend geſtattete. Wenn mir im ver-
traulichen Geſpraͤch mit ihnen uͤber unſre Ange-
legenheiten die Geduld oft ausgieng und ich im
Eifer herausfuhr: „Wir muͤſſen den Loucadou,
der uns alles Gute queerbaͤumt, bei Seite ja-
gen!‟ — ſo laͤchelten ſie wohl, und mochten mir
innerlich Recht geben: aber zugleich ſchuͤttelten
ſie auch den Kopf und beſchwichtigten mich:
„Nein, Nettelbeck; ſo geht es doch nicht!‟
Deſto ſehnſuͤchtiger waren meine Blicke und
meine Hoffnungen auf Memel gerichtet: denn in
meiner Seele lebte ein unuͤberwindliches Ver-
trauen, daß der Klageſchrei, den ich bereits vor
einem Monat dahin hatte ertoͤnen laſſen, das
Ohr unſers guͤtigen Monarchen erreicht und ge-
ruͤhrt haben werde. Unſre Verbindung nach je-
nem Platze hin war nun nach und nach immer
lebendiger geworden. Der Kaufmann Schroͤder
hatte vier oder fuͤnf Schiffe, groß und klein, von
280 bis 60 Laſt, in unſerm Hafen muͤßig liegen;
und dieſe waren nunmehr und ſpaͤterhin unauf-
hoͤrlich zwiſchen Colberg und Memel unterweges;
bald mit Kriegsgefangenen, deren wir uns dort-
hin entledigten, bald auch wohl nur mit einem
einzigen Briefe, wenn es eine beſonders wichtige
Angelegenheit betraf. Fuͤr eine jede ſolche Fahrt,
die jezuweilen, bei guͤnſtigem Winde, in fuͤnf bis
ſechs Tagen hin und zuruͤck gethan wurde, ward
dem Eigenthuͤmer die Laſt mit acht bis neun
Thalern bezahlt (nachdem er 15 bis 16 gefordert)
und Proviant fuͤr drei Wochen unentgeltlich mit-
gegeben. Es wurden auf ſolche Weiſe 72,000
Thaler verdient. Bei der Liquidation dieſer Forderungen (zur Zeit
von Napoleons Continental-Sperre) nahm der Rhee-
der zwei in Colberg confiſcirte portugieſiſche (eigent-
lich hamburgiſche) Schiffe mit Colonial-Waaren als
Aequivalent an. Er legte dadurch den Grund zu
einem bedeutenden Reichthum.
Und nun ruͤckten allmaͤhlig auch unſre lang-
genaͤhrten Wuͤnſche ihrer Erfuͤllung immer naͤher.
Am 26. April erſchienen zwei jener Schiffe auf
der Rheede, welche das zweite Pommerſche Re-
ſerve-Bataillon, 700 Koͤpfe ſtark, in Memel ein-
geſchifft hatten und unſrer ſeither auf allerlei
Weiſe verringerten Beſatzung als eine willkomm-
ne Verſtaͤrkung zufuͤhrten. Unſrer war alſo kei-
nesweges vergeſſen worden: ſondern es geſchah
zur Huͤlfe fuͤr unſer Bedraͤngniß, was die Noth
des Augenblicks zuließ. Als die Truppen des
naͤchſten Tages an’s Land geſetzt wurden, erſchien
auch, von der andern Seite her, ein Schiff von
Schwediſch-Pommern mit einer guten Anzahl
Ranzionirter, welche der von hier dorthin abge-
ſchickte Hauptmann von Buͤlow in Stralſund ge-
ſammlet und organiſirt hatte. Und warlich! ſol-
cher ermunternden Erſcheinungen bedurften wir
auch in dieſem Augenblicke mehr, als jemals, da
eben kurz zuvor (den 25. April) die ſichre Kunde
bei uns eingegangen war, daß das laͤngſt erwar-
tete ſchwere Belagerungs-Geſchuͤtz im feindlichen
Lager eingetroffen ſey. Jetzt erſt drohte alſo der
Kampf um Colbergs Beſitz ſeinen vollen Ernſt
zu gewinnen!
Dieſen Ernſt zeigten die Franzoſen Jhrer-
ſeits ſofort am 29. April auch dadurch, daß ſie
unter dem Schutz der Hohen-Bergſchanze, halben
Weges von dort gegen die Stadt, auf dem ſo-
genannten „Sandwege,‟ gleich hinter dem Zin-
gel, eine Schanze aufwarfen, und eben ſo eine
zweite, in der Richtung von Bullenwinkel her,
am „Matzen-Teiche‟ zu errichten begannen. Sie
in dieſer Naͤhe zu dulden, waͤre hochgefaͤhrlich ge-
weſen: allein es ſchien nicht, als ob unſer, nach
beiden Punkten hin gerichtetes Geſchuͤtz die Ar-
beiten ſonderlich hinderte. Da nun zu jeder
kraͤftigeren Maaßregel Loucadou der Mann nicht
war, und ich auch, meiner perſoͤnlichen Verhaͤlt-
niſſe wegen, mir weiter mit ihm nichts zu ſchaf-
fen machen wollte, ſo eilte ich, den Vice-Com-
mandanten aufzuſuchen und ihm meine neuen
Beſorgniſſe an’s Herz zu legen: denn durch ihn
und andre wohldenkende Officiere war jetzt nur
allein noch jedes Gute zu erwirken, das die Um-
ſtaͤnde erheiſchten.
Jn der Stadt fand ich meinen Mann nicht:
aber es wurde mir geſagt, er befinde ſich, we-
gen eines von Danzig angekommenen Schiffes,
am Hafen; und ich war im Begriffe, ihm dahin
zu folgen, als er mir bereits auf der Bruͤcke des
Muͤnder-Thors begegnete. Neben ihm gieng ein
Mann, den ich nicht kannte und der mit dem
Schiffe gekommen zu ſeyn ſchien. Dieſer Frem-
de, ein junger ruͤſtiger Mann, von edler Hal-
tung, gefiel mir auf den erſten Blick, ohne daß
ich wußte und ſagen konnte, warum? Da in-
deß mein Anbringen an den Vice-Commandan-
ten eilig war, zog ich ihn bei der Hand etwas
abwaͤrts, um es ihm, des fremden Mannes we-
gen, in’s Ohr zu fluͤſtern. Waldenfels aber laͤ-
chelte zu meiner Vorſicht und ſagte: „Kommen
Sie nur; in meinem Quartier wird ein beque-
merer Ort dazu ſeyn.‟
Als wir dort angekommen und unter ſechs
Augen waren, wandte ſich der Hauptmann zu
mir, mit den Worten: „Freuen Sie ſich, alter
Freund! Dieſer Herr hier — Major von Gnei-
ſenau — iſt der neue Commandant, den uns der
Koͤnig geſchickt hat;‟ — und zu ſeinem Gaſte:
„Dies iſt der alte Nettelbeck!‟ — Ein freudiges
Erſchrecken fuhr mir durch alle Glieder; mein
Herz ſchlug mir hoch im Buſen, und die Thraͤ-
nen ſtuͤrzten mir unaufhaltſam aus den alten
Augen. Zugleich zitterten mir die Kniee unter’m
Leibe; ich fiel vor unſerm neuen Schutzgeiſt in
hoher Ruͤhrung auf die Kniee, umklammerte ihn
und rief aus: „Jch bitte Sie um Gottes wil-
len! Verlaſſen Sie uns nicht: wir wollen Sie
auch nicht verlaſſen, ſolange wir noch einen war-
men Blutstropfen in uns haben; ſollten auch all
unſre Haͤuſer zu Schutthaufen werden! So denke
ich nicht allein; in uns Allen lebt nur Ein Sinn
und Gedanke: Die Stadt darf und ſoll dem
Feinde nicht uͤbergeben werden!‟
Der Commandant hob mich freundlich auf
und troͤſtete mich: „Nein, Kinder! Jch werde
euch nicht verlaſſen. Gott wird uns helfen!‟ —
Und nun wurden ſofort einige Angelegenheiten
beſprochen, die weſentlich zur Sache gehoͤrten,
und wobei ſich ſofort der helle umfaſſende Blick
unſers neuen Befehlshabers zu Tage legte; ſo
daß mein Herz in Freude und Jubel ſchwamm.
Dann wandte er ſich zu mir, und ſagte: „Noch
kennt mich hier Niemand. Sie gehen mit mir
auf die Waͤlle, daß ich mich etwas orientire.‟ —
Das geſchah. Jch fuͤhrte ihn auf dem Wall und
den Baſtionen herum, und zeigte ihm von hier
aus die feindlichen Stellungen und Schanzen.
Was auf den Waͤllen war und vorgieng, ſah er
ſelbſt. Zuletzt kamen wir auch an die Jnunda-
tions-Schleuſe. Jch zeigte ihm den ganzen Zu-
ſammenhang und Umfang dieſer Einrichtung, und
wieviel dadurch noch fuͤr die Sicherſtellung des
Platzes geſchehen koͤnne: denn was bis jetzt da-
durch bewirkt worden, war noch nichts, was zur
Sache fuͤhrte, und meiſt heimlich von mir ge-
ſchehen, weil der Einſpruch der Grund-Eigen-
thuͤmer bisher nicht zu beſiegen geweſen war.
Jetzt aber ſah ich mir freiere Hand gegeben, und
ward ſogar foͤrmlich beauftragt, mich dieſes Ge-
ſchaͤfts mit beſonderer Sorgfalt anzunehmen.
Gleich des naͤchſten Tages ſtellte der neue
Commandant ſich ſelbſt, auf dem Baſtion Preuſ-
ſen, der Garniſon als ihren jetzigen Anfuͤhrer
vor; und dieſe Feierlichkeit begleitete er mit einer
Anrede, die ſo eindrucksvoll und ruͤhrend war,
wie wenn ein guter Vater mit ſeinen lieben Kin-
dern ſpraͤche. Alles ward auch dadurch dergeſtalt
erſchuͤttert, daß die alten baͤrtigen Krieger wie
die Kinder weinten und mit ſchluchzender Stim-
me ausriefen: Sie wollten mit ihm fuͤr Koͤnig
und Vaterland leben und ſterben. Darauf machte
er ſie mit den Grundſaͤtzen bekannt, nach welchen
er ſie befehligen werde; weſſen ſie ſich von ihm
zu verſehen haͤtten, und was er von ihnen er-
warte u. ſ. w. Tauſend Stimmen jauchzten ihm
im freudigen Tumult entgegen.
Am 1. Mai ließ er ſich hiernaͤchſt die Civil-
Behoͤrden und Buͤrger-Repraͤſentanten vorſtellen;
hielt auch an uns eine nachdrucksvolle Rede,
worin er uns verſchiedene zweckmaͤßige Anord-
nungen vorſchlug und wodurch ihm Aller Herzen
ſo gewonnen wurden, daß ſie begeiſtert und mit
Handſchlag erklaͤrten, ſie wollten Leben und Ver-
moͤgen willig in ſeine Haͤnde legen. — Und fuͤr-
wahr, ein neues Leben und ein neuer Geiſt kam
nunmehr, wie vom Himmel herab, in Alles, was
um und mit uns vorgieng.
Jn welcherlei Weiſe das erſte Zuſammentref-
fen des alten und des neuen Commandanten ſtatt
gefunden, davon konnte freilich im Publikum
nichts Gewiſſes verlauten; nur ließ ſich als un-
bezweifelt vorausſetzen, daß der edle Sinn des
Neuangekommenen ſeinem Vorgaͤnger jedes un-
angenehme Gefuͤhl, das in dieſer Veraͤnderung
lag, nach Moͤglichkeit erſpart haben werde. Zwar
wohnte er die erſten paar Tage noch mit Louca-
dou in dem nemlichen Hauſe, aber ohne weitere
Gemeinſchaft mit ihm zu pflegen. Auch blieb
Letzterer noch die ganze Zeit der Belagerung hin-
durch in Colberg; doch ohne weiter oͤffentlich zum
Vorſchein zu kommen, und die Spoͤtter meinten,
er habe dieſe Zeit benutzt, um nun geruhig aus-
zuſchlafen. Des Koͤnigs Gnade hatte ihn uͤbri-
gens ſeines Dienſtes mit dem Charakter als Ge-
neral-Major und mit einer hinlaͤnglichen Penſion
entlaſſen. Er ſetzte ſich demnaͤchſt in Coeslin zur
Ruhe, und iſt dort einige Jahre nachher ver-
ſtorben.
Da der Feind fortfuhr, an der neuen Schanze
am Sandwege mit angeſtrengtem Eifer zu arbei-
ten, ſo hatte unſer neuer Commandant gleich in
der naͤchſten Nacht ſeines Hierſeyns einen Ausfall
gegen dieſelbe angeordnet, der von einem Trupp
Grenadiere und Jaͤger, etwa hundert Mann ſtark,
in moͤglichſter Stille, von der Lauenburger Vor-
ſtadt aus, unternommen wurde. Jch ſchloß mich
dem Zuge mit zwei, in der Vorſtadt aufgegriffe-
nen Wagen an, um, erforderlichen Falls, unſre
Todten und Verwundeten aufnehmen zu koͤnnen.
Die Ueberrumpelung erfolgte mit gefaͤlltem Ba-
jonet im Sturmſchritt; und es lag nur daran,
daß die Schanze noch nicht geſchloſſen war, wenn
es der darinn befindlichen Beſatzung gelang, bis
auf wenige Gefangene, zu entkommen. Wir
ſelbſt hatten ebenſowenig einigen Verluſt; erbeu-
teten aber vieles Arbeitszeug, welches, nachdem
es dazu benutzt worden, um den Aufwurf moͤg-
lichſt wieder zu zerſtoͤren, auf meine Wagen ge-
laden und in die Feſtung geſchafft wurde.
Unter unſern Gefangenen befand ſich ein
Menſch, den anfaͤnglich Niemand in ſeinem ver-
aͤnderten Rocke erkannte, bis ich mich endlich auf
ſeine, mir nur zuwohl bekannten Geſichtszuͤge
beſann. Es war der nemliche Unterofficier Rei-
ſchard, der vor etwa ſechs Wochen, als eines
heimlichen Einverſtaͤndniſſes hoͤchſt verdaͤchtig,
zum Feinde uͤbergelaufen war. Jch muß geſte-
hen, daß mir wegen dieſes ehrloſen Buben ſeit-
her nicht wenig bange geweſen war. Er kannte
jeden Zugang zu unſrer Feſtung und verſtand
Einiges vom Fortifications-Weſen; daher er nicht
nur bei uns zu dergleichen Arbeiten gebraucht
worden war, ſondern auch, als beſonders orts-
kundig, jetzt bei den Franzoſen die Aufſicht bei
Erbauung dieſer Schanze am Sandwege gefuͤhrt
hatte.
Der ploͤtzliche Anblick des Verraͤthers ſetzte
mich in Wuth. Jch ſchrie den Grenadieren zu,
ſie ſollten den Schaͤndlichen, wie einen tollen
Hund, niederſtoßen; und erzuͤrnte mich noch hef-
tiger, als ſie mir dies weigerten, weil ſie ihm
einmal Pardon gegeben. Jetzt wollte ich ſelbſt
ihm an’s Leben, und griff hie und dort hin nach
einem Bajonet, das mir aber mit Glimpf vor-
enthalten wurde. Jch mußte es mit anſehen,
daß man ihn lebendig zur Stadt brachte. Je
unwerther er mir aber erſchien, daß ihn die Erde
truͤge, deſto eifriger waren nun auch meine Vor-
ſtellungen bei dem Commandanten, dem Boͤſe-
wicht ſeinen verdienten Lohn am Galgen auszu-
wirken, und ihn zu einem abſchreckenden Beiſpiel
fuͤr alle Seinesgleichen zu machen. Allein auch
hier uͤberwog das menſchliche Gefuͤhl die ſtrenge
Gerechtigkeit. Von einem mitleidigeren Geſichts-
punkt ausgehend, begnuͤgte ſich ſein edler Rich-
ter, ihn zu Kettenſtrafe und Aufbewahrung im
Stockhauſe zu verurtheilen. Dort blieb er noch
vier oder fuͤnf Jahre gefangen; worauf man ihn
laufen ließ; und noch dieſe Stunde bettelt er in
der Gegend umher.
Je enger die Stadt ſeither eingeſchloſſen
worden, um ſo weniger blieb auch der Cavallerie
des Schillſchen Corps der erforderliche Spiel-
raum, ſich mit der ſonſt gewohnten Thaͤtigkeit zu
tummeln. Loucadou, dem uͤberhaupt das ganze
Corps ein Dorn im Auge war, hatte ſchon fruͤ-
her auf die Entfernung jener Reiterei, nach
Schill’s Abzuge, gedrungen; und es war von
derſelben ein Verſuch gemacht worden, ſich nach
Preuſſen durchzuſchlagen. Da jedoch alle Moͤg-
lichkeit dazu verſchwand, war ſie aus der Gegend
von Stolpe wieder nach Colberg zuruͤckgekehrt
und zehrte ſich nun in ſich ſelber auf. So fand
es denn Gneiſenau am angemeſſenſten, den Reſt
dieſes Corps, der etwa noch 130 Mann betrug,
zu Schiffe nach Schwediſch-Pommern uͤberfuͤhren
zu laſſen, wo es auf’s neue in Wirkſamkeit tre-
ten konnte. Die nemlichen hoͤheren Befehle, wel-
che ihn dazu beſtimmten, hatten auch den Abzug
der uͤbrigen Schillſchen Truppen angeordnet: al-
lein der Commandant ſelbſt ſowohl, als die Buͤr-
gerſchaft, hatten ſich zu lebendig von dem Nu-
tzen uͤberzeugt, den ihre Gegenwart dem Platze
gewaͤhrte, um nicht gegen dieſe neue Beſtimmung
gemeinſchaftlich einzukommen. Sie blieben alſo
noch und behaupteten ihren Poſten nach wie vor
in der Maikuhle. Ohnehin hatten die Operatio-
nen des Schwediſchen Corps in Vorpommern
ſeither eine minder guͤnſtige Wendung genommen.
Anſtatt uͤber Swinemuͤnde und Wollin unſern
Belagerern in den Ruͤcken zu fallen und uns
Luft zu machen, waren dieſe unſre Verbuͤndeten
wieder bis unter die Kanonen von Stralſund zu-
ruͤckgedraͤngt worden; und wir ſahen nunmehr
jede in ſie geſetzte Hoffnung verſchwunden.
Als einiger Erſatz jedoch fuͤr dieſe ſchmerzlich
empfundene Vereitelung erſchien in dieſen Tagen
eine ſchwediſche Fregatte von 46 Kanonen, „der
Faͤhrmann‟ genannt, und legte ſich auf unſrer
Rheede vor Anker. Sie war angewieſen, uns in
unſrer Vertheidigung von der Seeſeite zu unter-
ſtuͤtzen. Dies that ſie in der Folge auch wirklich,
indem ſie die Arbeiten des Feindes an der Oſt-
ſeite in ſeiner rechten Flanke beunruhigte und
aufhielt. Sie wuͤrde dies indeß noch oͤfter und
wirkſamer vermocht haben, wenn entweder Wind
und Witterung ihr zu allen Zeiten zugelaſſen
haͤtten, ſich dem Strande genugſam zu naͤhern,
oder wenn ihr Feuer weiter landeinwaͤrts getra-
gen haͤtte, als es bei den kurzen Kanonaden, die
ſie in ihrer untern Batterie fuͤhrte, zu bewerk-
ſtelligen war. Ueberhaupt war ſie zu groß und
gieng zu tief, um an dieſer Kuͤſte von gleichem
Nutzen zu ſeyn, wie eine ungleich kleinere eng-
liſche Brigg von 18 Kanonen, die ſich ihr nach
einiger Zeit zugeſellte und mit ihr gemeinſchaft-
lich manoͤuvrirte.
Anderweitige dankenswerthe Huͤlfe kam uns
am 7. Mai durch ein Schiff von Koͤnigsberg,
welches uns das dritte Neumaͤrkiſche Reſerve-Ba-
taillon, zur Ergaͤnzung der Beſatzungs-Truppen,
herbeifuͤhrte; ſo wie ſchon kurz zuvor 460 Ran-
zionirte, die in Vorpommern wieder bewaffnet
worden, auf ſchwediſchen Schiffen anlangten. Die
Garniſon wurde durch dies Alles auf eine Zahl
von 6,000 dienſtfaͤhigen Koͤpfen gebracht, und
hat auch dieſen Belauf nie uͤberſchritten; woge-
gen mit Sicherheit anzunehmen iſt, daß, gegen
das Ende der Belagerung, 20 bis 24,000 Fran-
zoſen vor unſerm Platze unter den Waffen ſtan-
den. Die Deſertion unter unſern Truppen war
im Ganzen geringe; nur im Anfange giengen be-
ſonders mehrere Polen zum Feinde uͤber. Da-
gegen fanden ſich wenigſtens eben ſo viele, wenn
nicht noch mehrere, Ausreiſſer, zumal von den
deutſchen Bundestruppen, bei unſern Vorpoſten
ein.
Unſer Auſſenwerk auf dem Wolfsberge, eine
irregulaire Sternſchanze, an welche der Haupt-
mann Waldenfels und der Lieutenant Wolf einen
ſo ausgezeichneten Fleiß gewendet, und deren Ver-
ſtaͤrkung unſerm jetzigen Commandanten, vom
erſten Augenblick an, der Gegenſtand einer nicht
minderen Sorgfalt geworden, war noch nicht
vollendet, als ſie vom Feinde, der jetzt erſt ihre
Wichtigkeit zu begreifen ſchien, am 7. Mai mit
Heftigkeit angegriffen wurde. Allein die Beſa-
tzung in derſelben bewies keinen geringeren Muth
in ihrer Vertheidigung; und da auch ein ſehr
großer Theil der Garniſon zu ihrer Unterſtuͤtzung
ausruͤckte, ſo blieb, vor einer ſolchen Uebermacht,
den Belagerern nur ein ſchleuniger Ruͤckzug uͤbrig.
Es ſchien dies auch nur um ſo mehr ein kuͤhner
Handſtreich geweſen zu ſeyn, als bis zum 17.
hin Jhrerſeits keine weiteren Unternehmungen
von einiger Wichtigkeit ſtatt fanden.
Jn der That beſchraͤnkten ſich fortan die
Feindſeligkeiten meiſt nur auf unbedeutende Vor-
3. Baͤndchen. (8)
poſten-Gefechte und auf einzelne Granaten-Wuͤr-
fe, beſonders von der Altſtadt her. Noch am 7.
Mai zuͤndete Eine der letzteren in einem Hauſe,
auf deſſen Hofe wir eine Batterie gegen jene
Vorſtadt errichtet hatten. Es gieng dadurch das
erſte, waͤhrend dieſer Belagerung durch feindliches
Geſchuͤtz verurſachte Feuer auf, das unſre recht
guten Loͤſch-Anſtalten dennoch erſt zu unterdruͤ-
cken vermochten, nachdem es noch einige Hinter-
gebaͤude ergriffen und verzehrt hatte. Sobald der
Feind die Wirkung jenes Wurfes bemerkte, un-
terließ er nicht, zur Verhinderung des Loͤſchens,
immer mehrere Schuͤſſe nach dieſem Punkte zu
richten; ſo daß bis ſpaͤt in die Nacht gegen 84
geworfene und geplatzte Granaten gezaͤhlt wur-
den. Unſre Artillerie beantwortete ſie mit einer
mehr als gedoppelten Anzahl von Schuͤſſen. Am
15. Mai gelangte die ſchwediſche Fregatte zum
Erſtenmale zu einiger Thaͤtigkeit, indem ſie dem
Feinde, der ſich noͤrdlich am Stadtwalde zeigte,
42 Kugeln zuſchickte.
Daß indeß die Unthaͤtigkeit der Belagerer
nur ſcheinbar war, und neue wichtigere Entwuͤrfe
von ihnen vorbereitet wurden, gieng genugſam
aus den lebhaften Bewegungen hervor, welche
von Zeit zu Zeit in ihren Stellungen bemerkt
wurden. Das Hauptquartier des Generals Teul-
lié, welcher nach dem Abgang des Marſchalls
Mortier zur großen Armee den Oberbefehl wie-
der uͤbernahm, war naͤher von Zernin nach Tramm
verlegt worden, wohin große Zuͤge beladener Wa-
gen von Treptow ihre Richtung nahmen. Fa-
ſchinen wurden nach allen Seiten hin gefahren;
man erblickte haͤufig die feindlichen Officiere auf
Recognoſcirungen begriffen, und von Tramm aus
ward Geſchuͤtz von großem Kaliber in die Ver-
ſchanzungen gefuͤhrt.
Um dieſe Bewegungen noch genauer zu be-
obachten, verlangte der Commandant einen Buͤr-
ger, der des Terrains um die Stadt vollkommen
kundig waͤre und auch einige militairiſche Kennt-
niſſe beſaͤße, und hatte die Abſicht, denſelben auf
den großen Kirchthurm zu poſtiren. Jch ſchlug
hiezu den Brauer Roland vor, welcher ſich auch
gerne willig finden ließ und von ſeinen gemach-
ten Bemerkungen, nach Erforderniß, Bericht ab-
ſtattete; waͤhrend der Schiffer Buſch es uͤber-
nahm, von dort aus ein gleich wachſames Auge
auf den Hafen und die See zu haben und gleich-
falls Meldungen zu machen. Zu dem Ende brachte
ich an dem Thurm eine Winde mit einem Kaͤſt-
chen an, worinn Fragen und Antworten auf-
und nieder befoͤrdert wurden; und eine Schild-
wache unten erhielt die Maſchine im Gange.
Bald aber blieb dieſer Poſten nicht ohne Gefahr,
da der Feind jene Spaͤher gewahr geworden war
und nun haͤufig die Thurmſpitze zum Zielpunkt
ſeiner Artillerie machte.
Endlich am 17. Mai geſchahen von der
Schanze auf dem Hohen-Berge die erſten ſieben
(8 *)
Probeſchuͤſſe aus dem dort aufgefuͤhrten ſchweren
Wurfgeſchuͤtz. Trotz der anſehnlichen Entfernung,
aus welcher die feindlichen Granaten uns bisher
unſchaͤdlich geblieben waren, verfehlten doch dieſe
Bomben ihres Zieles nicht: denn Eine derſelben
toͤdtete einen Grenadier mitten in der Stadt vor
der Hauptwache. Die Wirkſamkeit des nunmehr
zu erwartenden Bombardements ſtand uns alſo
klar vor Augen; und war bei dem bisherigen
Beſchieſſen nicht nur manches Haus zertruͤmmert,
ſondern auch manches Menſchenleben gefaͤhrdet
worden: ſo ließ ſich, nicht ohne heimliches Grau-
ſen, ahnen, wieviel Schreckliches uns noch in der
naͤchſten Zukunft bevorſtehen moͤchte.
Allein Schlimmeres noch, als wir ahneten,
ſtand uns von des Feindes Thaͤtigkeit bereits in
der naͤchſten Nacht auf den 18. Mai bevor, in-
dem er die Schanze auf dem Wolfsberge uͤber-
fiel und ſtuͤrmte. Die Gegenwehr der Unſrigen,
ſo brav ſie war, blieb dennoch der Ueberzahl und
dem wohlgeleiteten Angriff nicht gewachſen. Ein
Theil fiel, ein Theil ward gefangen, und das
Auſſenwerk gieng verloren! Auf jede Weiſe aber
war dieſer Verluſt zu bedeutend und der Nach-
theil, wenn ein ſo wichtiger Punkt in Feindes
Haͤnden bleiben ſollte, zu empfindlich, als daß
unſer Commandant nicht ſchnell und mit Anſtren-
gung jeder Kraft darauf geſonnen haͤtte, ſich wie-
derum Meiſter davon zu machen. Die groͤßere
Haͤlfte der Beſatzung ward aufgeboten, in Ko-
lonnen gebildet und zum Angriff gefuͤhrt. Einem
ſolchen Anfall widerſtanden die Franzoſen eben ſo
wenig. Die Schanze kam wieder in unſre Haͤn-
de! Gewiß war der feindliche Verluſt an Tod-
ten und Verwundeten nicht geringer, als der
unſrige, der ſich auf 160 Mann belief. Beſſerer
Sicherheit wegen ward aber fortan dieſer ſo blu-
tig behauptete Poſten mit 300 Grenadieren und
6 Kanonen beſetzt.
Warum die Belagerer jenen Ueberfall ver-
ſucht hatten, offenbarte ſich gleich am naͤchſten
Tage, wo ſie anfiengen, einen Damm vor dem
Stadtwalde aufzuwerfen, der ſie, durch die Suͤm-
pfe hindurch, der Feſtung naͤher fuͤhren ſollte.
Sie hatten gefuͤrchtet, daß ihnen bei dieſer Ar-
beit das Feuer der Wolfsſchanze in der Seite
ſehr laͤſtig werden koͤnnte; wie denn dies heute
auch wirklich geſchah. Zwar verſuchten ſie es,
unſer Geſchuͤtz durch eine Menge nach der Schanze
geworfener Granaten, aus der Gegend von Bul-
lenwinkel, zum Schweigen zu bringen: allein die
Entfernung war nicht gut berechnet, indem dieſe
Granaten ſchon halben Weges niederfielen und
zerplatzten.
Am 19. Mai geleitete jene engliſche Brigg,
deren bereits Erwaͤhnung geſchehen, drei Schiffe
ihrer Nation in unſern Hafen, deren Erſcheinung
wir ſchon laͤngſt mit heiſſer Sehnſucht erwarte-
ten und eine faſt ungeduldige Hoffnung auf ſie
ſetzten. Es war eben ein ſtuͤrmiſches Wetter,
als ihre Segel am Horizonte ſichtbar wurden.
Sie kreuzten hin und wieder und thaten verſchie-
dene Signal-Schuͤſſe, ebenſowohl um die noͤthi-
gen Lootſen zu erlangen, als um zu erfahren,
ob ſie mit Sicherheit in den Hafen einlaufen,
oder wo ſie ſonſt vor Anker gehen koͤnnten. Dieſe
Signal-Schuͤſſe hoͤrte ich in der Stadt, warf mich
zu Pferde und eilte nach der Muͤnde, um zu er-
fahren, was vorgienge. Dort fand ich bereits
Hunderte von Menſchen, welche zuſammengelau-
fen waren, ſich an dem willkommnen Anblick zu
ergoͤtzen.
„Gut und ſchoͤn, Kinder, daß ſie endlich da
ſind:‟ erwiederte ich Einigen, die am lauteſten
jubelten. — „Allein woran liegt’s, daß die Loot-
ſen noch nicht in See ſind, ſie hier vor Anker
zu bringen?‟ — Einige Schiffer, denen ich dieſe
Frage zunaͤchſt wiederholte, zuckten die Schultern,
wieſen auf die hohe See und die ſchaͤumende
Brandung hinaus, und verſicherten: Es ſey nicht
moͤglich, daß ein Boot ſich in ſolchem Wetter
hinauswagen koͤnnte. „Moͤglich oder nicht!‟ rief
ich mit Feuer — „Es muß verſucht werden!
Allein ich ſehe auch nicht einmal, daß das Ding
ſo gar halsbrechend waͤre. Jch will ſelbſt hin-
fahren.‟ Zugleich drang ich in einen Kreis von
Seefahrern ein, die mir zur Linken ſtanden; ergriff
die Erſten die Beſten an den Haͤnden und ſagte:
„Jch weiß, daß ihr brave Kerls ſeyd — Kommt;
wir wollen zu den Englaͤndern an Bord!‟ —
Wirklich auch ſchoͤpften Einige gleich Muth.
Wir eilten nach dem Lootſen-Boote und ſtiegen
ein. Jndem ich mich ſo ſelbſt beſah, nahm ich
wahr, daß ich nur mit einer kurzen Reitjacke be-
kleidet war, und wuͤnſchte, etwas Tuͤchtigeres
auf den Leib zu ziehen. Neben mir ſtand der
Superintendent Baarz, mit einem Ueberrocke an-
gethan. Den bat ich, mir damit auszuhelfen.
Er warf ihn mir freudig zu; ich trat an’s Steuer,
und wir ſchaukelten uns gleich darauf auf den
Wellen, die es freilich etwas unfreundlich mit
uns meynten. Dennoch kamen wir wohlbehalten
von Einem Schiffe zum Andern; ertheilten jede
noͤthige Auskunft; brachten die Brigg vor dem
Hafen zu Anker und die Convoy vollends hinein
in Sicherheit. Das gethan, ließ ich mir von
ihnen Allen ein Verzeichniß ihrer mitgebrachten
Ladung behaͤndigen, und ſprengte im Fluge nach
der Stadt zuruͤck, dem Commandanten meinen
freudigen Bericht zu erſtatten.
Dieſe Ladungen waren ein Geſchenk der eng-
liſchen Regierung fuͤr die dringendſten Beduͤrfniſſe
der Feſtung, und mochten zunaͤchſt als eine Wir-
kung der unermuͤdlichen Beſtrebungen angeſehen
werden, womit der brave Schill, auch aus der
Ferne, fuͤr unſre Erhaltung ſorgte. Er hatte
nemlich ſchon in fruͤherer Zeit Einen ſeiner Offi-
ciere nach London abgeſchickt, um die engliſche
Nation um ſo Mancherlei, was uns zur Ver-
theidigung fehlte (und es fehlte uns anfaͤnglich
faſt Alles) anzuſprechen. Dieſe Anforderungen
an die brittiſche Großmuth blieben auch um ſo
weniger unbeachtet, als es die Bekaͤmpfung des
gemeinſchaftlichen Feindes galt. Jn ſchnellſter
Eile, wie es die Umſtaͤnde erheiſchten, ward da-
her durch Abſendung jener Schiffe fuͤr uns ge-
ſorgt, indem ſie uns Kriegsbeduͤrfniſſe der man-
nichfaltigſten Art, Munition und Montirungen
zufuͤhrten, welche Letztere zunaͤchſt fuͤr Schill’s
Truppen beſtimmt waren. Es konnte mit Recht
Huͤlfe in der Noth heiſſen; und ſo erklaͤrt ſich
auch unſer Jubel bei dem Empfang dieſer koſt-
baren Gaben.
Waͤhrend nun die Belagerer, inſonderheit in
der Gegend des Wolfsbergs, ihre Thaͤtigkeit an
Errichtung von Daͤmmen und Schanzen fortſetz-
ten, benutzte ſogleich auch am 20. Mai die an-
gekommene engliſche Brigg, in Verbindung mit
der ſchwediſchen Fregatte, eine guͤnſtige Witte-
rung, um ſich ihnen am Oſtſtrande gegenuͤber zu
legen und ſie dort mit Heftigkeit zu beſchieſſen.
Ein Gleiches geſchah, unter aͤhnlichen Umſtaͤnden,
auch am 26.; und vom Thurme herab ließ ſich
deutlich wahrnehmen, wie moͤrderiſch ihr Geſchuͤtz
gewirkt haben mußte, da eine Menge Todter und
Verwundeter hinweg getragen oder gefahren wur-
de. Auch das Feuer unſrer Wolfsſchanze ruhete
nicht, jene Arbeiten in ihrer Naͤhe nach Moͤglich-
keit zu hindern; wodurch ſie hinwiederum die
feindliche Artillerie auf ſich zog, ohne jedoch von
derſelben zum Schweigen gebracht zu werden.
Je weniger ich mich indeß im Stande fuͤhle,
eine kunſtgerechte Beſchreibung der Operationen
zu geben, wodurch Angriff und Vertheidigung,
nach dem Urtheil aller Kenner, mit gleichem Auf-
wande an Genie, Wiſſenſchaft, Muth und Be-
harrlichkeit fortgefuͤhrt wurden, deſto gerathener
iſt es wohl, die Einzelheiten, in welchen Ein
Tag dem Andern ſich hierinn immer mehr oder
weniger aͤhnlich ſah, zu uͤbergehen. Des Feindes
bewundernswuͤrdige Thaͤtigkeit hatte, am Ende
des Mai-Monats, an der Oſt- wie an der Weſt-
ſeite der Feſtung — dort bis hart an den Strand,
um ſich gegen die Angriffe von der Seeſeite beſ-
ſer zu ſchuͤtzen; hier bis uͤber Sellnow hinaus
— in einem großen Halbmonde umher nicht we-
niger als 25 große und kleine Schanzen, Batte-
rieen und Fleſchen zu Stande gebracht und unter
einander in Verbindung geſetzt; hatte kuͤnſtliche
Daͤmme auf mehr als Einem Punkte begonnen
und die Laufgraͤben an verſchiedenen Orten, zu-
naͤchſt aber gegen die Wolfsbergs-Schanze, er-
oͤffnet.
Unſrer Seits bot man die groͤßte Wachſam-
keit auf, unſern Gegnern jeden kleinen Vortheil,
um den ſie rangen, auf’s hartnaͤckigſte ſtreitig zu
machen. Die Ueberſchwemmungen wurden nach
und nach in ihrem weiteſten Umfange in’s Werk
gerichtet, und dienten trefflich dazu, uns den
Feind in einer ehrerbietigen Ferne zu halten und
die Fortſuͤhrung ſeiner Laufgraͤben, wenn er ſie
nicht voll Waſſer haben wollte, zu zuͤgeln. Fragte
mich der Commandant: „Wie ſteht’s, Nettel-
beck? Koͤnnen wir nicht noch einen halben Fuß
hoͤher ſtauen?‟ — ſo fehlte es nicht an einem
bereitwilligen: „Ei nun, wir wollen ſehen!‟ und
ich ſorgte und kuͤnſtelte ſo lange, bis ich den
Waſſerſtand noch um ſo viel hoͤher brachte. Die
meiſte Noth machte mir der Muͤller Fiſcher, der
ſtets mehr Waſſer verbrauchte, als mir lieb war;
bis ich mich endlich genoͤthigt ſah, ihm vier ſtarke
eiſerne Bolzen uͤber den Aufzugs-Schuͤtzen in
ſolcher Hoͤhe einzuſchlagen, als ihm ohne Nach-
theil fuͤr die Jnundationen eingeraͤumt werden
konnte. Jndem ich aber dies Werk allmaͤhlig
immer hoͤher und hoͤher trieb, mußt’ es denn frei-
lich wohl ſeinen letzten Zielpunkt erreichen; und
ſo war mir’s ein betruͤbender Anblick, als ich
eines Tages wahrnehmen mußte, daß an der
Stauſchleuſe die mittlere Schuͤtte bedenklich auf
die Seite zu weichen begann. Die Gefahr war
groß; und zugleich regnete es Vorwuͤrfe von al-
len Seiten! — Was war zu thun, als flugs
Hand an ein neues Bollwerk und Schuͤtte, et-
was weiter oberwaͤrts, zu legen und ſo den An-
drang an die beſchaͤdigten Waſſerwerke zu brechen?
— Es geſchah, und leiſtete wenigſtens nothduͤrf-
tig, was es ſollte: denn freilich blieb es ein un-
vollkommnes Werk, da ihm der feſte Grund man-
gelte und das Waſſer unten durchſickerte.
Noch zwar konnte die faſt taͤgliche und oft
ziemlich lebhafte Beſchieſſung der Stadt fuͤr kein
eigentliches Bombardement gelten: aber doch
fuͤhrte ſie den Ruin gar vieler Haͤuſer herbei und
die Beiſpiele von aufgehenden Brandflammen, ſo
wie von verungluͤckten oder entſetzlich verſtuͤmmel-
ten Menſchen in Haͤuſern und auf den Gaſſen
wurden immer haͤufiger. Man durfte ſich nir-
gends mehr in den Wohnungen und im Freien
fuͤr ganz ſicher halten; und jemehr Gebaͤude durch
Bomben und Granaten unwohnlich gemacht wor-
den waren, um ſo hoͤher ſtieg auch die Zahl der
Ungluͤcklichen, denen es an Obdach, wie an Mit-
teln zum Unterhalt fehlte. Schon zu Anfang
Aprils hatte Loucadou einige, wiewohl unzurei-
chende Veranſtaltungen getroffen, eine Anzahl
unnuͤtzer Menſchen, Arme und die fuͤr ihren Un-
terhalt auf keine Weiſe ſorgen konnten, aus der
Feſtung und auf Boͤten nach Ruͤgenwalde zu
ſchaffen: aber noch immer waren viel zu viel
Leute dieſer Art vorhanden, die dem Ganzen zur
Laſt fielen und denen des Commandanten Men-
ſchenfreundlichkeit ihr ungluͤckliches Loos durch eine
gezwungene Auswanderung nicht noch mehr er-
ſchweren mochte.
Dieſe bedaurenswerthen Menſchen irrten nun
haͤufig in den Straßen umher, waͤhrend die feind-
lichen Kugeln immerdar uͤber ihren Koͤpfen weg-
zogen; und alte Maͤnner und Frauen, Kinder,
Verlaſſene und Kranke fuͤllten die Luft mit ihrem
Geſchrei und Wimmern. Mich jammerte dies
Elend, und ich gieng zu Gneiſenau, ihn auf-
merkſam darauf zu machen. Mein Vorſchlag zu
einſtweiliger Unterbringung dieſes Menſchenhaͤuf-
leins fand auch ſofort das freundlichſte Gehoͤr.
Es gab nemlich eine Kaſematte unter dem Walle,
links des Stockhauſes, worinn zwar einige Ge-
fangene aufbehalten wurden, die aber leicht im
Stockhauſe ſelbſt untergebracht werden konnten.
Froh uͤber die Erlaubniß, meine irrenden Schaͤf-
lein in dieſe ſichre Zuflucht einweiſen zu duͤrfen,
mußt’ ich nun zunaͤchſt bemuͤht ſeyn, dieſen Auf-
enthalt von einem, mit nichts zu vergleichenden
Schmutz zu ſaͤubern und zu einem ertraͤglich ge-
ſunden Wohnort fuͤr Menſchen wieder herzuſtel-
len. Dies geſchah, indem ich die feuerfeſte Kaſe-
matte mit zwei Schock Stroh anfuͤllen und dieſes
anzuͤnden ließ; ſo daß Waͤnde und Gewoͤlbe rein
ausgegluͤht wurden und die dumpfe Feuchtigkeit
ſich verzehrte. Jn dieſe ſchwarze Hoͤhle konnten
nunmehr gegen 200 Heimloſe aller Art und Ge-
ſchlechts einquartiert werden; und bis zum Ende
der Belagerung begehrte auch kein Einziger von
dannen zu weichen.
Eine andre Noth that ſich uns auf in dem
Mangel klingender Scheidemuͤnze, wodurch das
taͤgliche Verkehr, beſonders des gemeinen Solda-
ten mit der Buͤrgerſchaft, ſehr erſchwert und die
regelmaͤßige Zahlung der Loͤhnungen beinahe un-
moͤglich gemacht wurde. Das Gouvernement,
nachdem es die Buͤrger vergeblich zu einer baaren
Anleihe aufgefordert (wozu zwar die Armen ihr
Scherflein willig darbrachten, waͤhrend die gro-
ßen Kapitaliſten dermalen nicht zu Hauſe waren)
dachte auf einige Abhuͤlfe durch Einfuͤhrung einer
eigenen Noth- und Belagerungs-Muͤnze, wozu
das Metall einer zerſprungenen großen metalle-
nen Kanone angewandt werden ſollte. Allein es
verſtand ſich Niemand in der Stadt auf’s Praͤ-
gen, und es war auch nicht die geringſte Vor-
richtung dazu vorhanden. Da erinnerte ich mich,
daß ich vormals im hollaͤndiſchen Amerika eine
Art von Papiergeld, zur Erleichterung des klei-
nen Verkehrs unter den Pflanzern, im Gange
gefunden hatte; und ich fand es zweckmaͤßig, die
Einfuͤhrung aͤhnlicher, obrigkeitlich geſtempelter
Muͤnzzettel zu einem beſtimmten Werthe zu em-
pfehlen. Der Vorſchlag wurde beachtet und durch
eine, aus Seglerhaus-Verwandten und Buͤrger-
Repraͤſentanten zuſammengeſetzte Commiſſion wirk-
lich ausgefuͤhrt. Die Billets, von zwei, vier und
acht Groſchen im Werthe, und auf der Ruͤckſeite
durch den Stempel des Koͤnigl. Gouvernements-
Siegels authoriſirt, fanden willigen Eingang,
wurden in der Folge eingeloͤst und viele, als
Denkzeichen der uͤberſtandenen Drangſale, inne
behalten oder, ſelbſt uͤber ihren Nennwerth, als
Seltenheiten an zu uns hereingekommene ſaͤchſi-
ſche Officiere und andre Fremde verkauft.
Vom 5. Junius an ward es immer unver-
kennbarer, daß dem Wolfsberge ein regelmaͤßiger
Angriff drohte, indem die feindlichen Laufgraͤben
ſich dieſem Auſſenwerke allnaͤchtlich mehr zu naͤ-
hern ſuchten. Schon mit dem Abend dieſes Ta-
ges begann dieſe fortgeſetzte Arbeit mit einem
ſolchen Eifer, daß Unſrer Seits die volle Kraft
aufgeboten werden mußte, dies Vorruͤcken zu ver-
hindern. Es kam daher von allen Werken und
Schanzen im Bereich jenes Poſtens zu einer ge-
genſeitigen Kanonade, welche die ganze Nacht
durch anhielt, ſtaͤrker war, als wir ſie in aller
Zeit bisher gehoͤrt hatten, und ſowohl uns, als
dem Feinde, viele Menſchen koſtete.
Dennoch ſchien man franzoͤſiſcher Seits nur
die Vollendung einer neuen, uns ziemlich auf
den Leib geruͤckten Batterie am ſogenannten
„Haſenwied‟ erwartet zu haben, (welche, trotz
dem ſchrecklichſten Regenwetter, am 10. Junius
zu Stande kam) als auch ſofort in aller Fruͤhe
des naͤchſten Morgens das gefuͤrchtete Ungewitter
gegen die Wolfsſchanze wirklich losbrach. Jn
Zeit von einer Stunde zaͤhlte man 361 Schuͤſſe,
die gegen dieſen einzigen Punkt gerichtet waren.
Dann aber begannen auch alle uͤbrige Batterieen,
der Reihe nach, bis zur Altſtadt hinauf, ein
moͤrderiſches Kanonen- und Bomben-Feuer ge-
gen die Stadt und ihre Waͤlle auszuſpruͤhen.
Ueberall regnete es Kugeln und Granaten; Scha-
den und Ungluͤck waren betraͤchtlich. Dreimal
ſchlug das Feuer Vormittags, und Einmal Nach-
mittags, in lichten Flammen bei uns auf, die
jedoch immer bald wieder unterdruͤckt wurden.
Bei dieſem Ernſt des Feindes wurden denn auch
neue Maaßregeln der Vorſicht noͤthig; und durch
Trommelſchlag ergieng der Befehl an die Haus-
beſitzer, vor den Thuͤren und auf den Boͤden ge-
fuͤllte Waſſerfaͤſſer zum Loͤſchen bereit zu halten.
Jndem nun die Belagerer uns auf ſolche
Weiſe im Platze ſelbſt uͤberfluͤſſig zu thun gaben,
erreichten ſie ihre Abſicht, uns, wiewohl wir un-
aufhoͤrlich mit Kanonenkugeln in ihre Kolonnen
ſchoſſen, eine kraͤftigere Unterſtuͤtzung der Wolfs-
ſchanze zu wehren. Die Beſatzung mußte ihrer
eigenen Tapferkeit und dem, freilich nicht zurei-
chenden Schutze der ſchwediſchen Fregatte, welche
ſich dem Strande wieder naͤher gelegt hatte, uͤber-
laſſen bleiben. Bis um 5 Uhr Nachmittags hielt
ſie ſich mit ruͤhmlicher Entſchloſſenheit: dann aber
waren ihre Vertheidigungs-Mittel erſchoͤpft; und
mit harter Betruͤbniß ſahen wir ſie die weiſſe
Fahne aufſtecken, nachdem bereits eine ſtarke
Breſche geſchoſſen worden und der Ausgang ei-
nes Sturmes nicht mehr zweifelhaft war. Ein
15ſtuͤndiger Waffenſtillſtand, und demnaͤchſt eine
Capitulation fuͤr dies Werk, ward abgeſchloſſen,
vermoͤge deren daſſelbe dem Feinde eingeraͤumt
werden ſollte, die preuſſiſche Beſatzung aber, zu-
ſammt ihrem Geſchuͤtze, freien Abzug in die Fe-
ſtung erhielt.
Der Verluſt dieſes Poſtens konnte von ent-
ſcheidenden Folgen fuͤr unſer Schickſal werden;
weshalb der Commandant fuͤr nothwendig hielt,
von dieſem Ereigniß den ſchleunigſten Bericht an
den Koͤnig zu erſtatten. Der Schiffer Stechow
lag eben auf der Rheede zum Abſegeln nach Me-
mel fertig; und ich erhielt den Auftrag, ſeine
Abfahrt ſolange zu verzoͤgern, bis die neuen De-
peſchen fuͤr ihn fertig geworden. Nachdem ich
ausgerichtet, was mir befohlen worden, und mich
eben auf dem Ruͤckwege zur Stadt befand, erhob
ſich, mir zur Seite, ploͤtzlich ein furchtbares Ka-
nonen- und Bombenfeuer von unſern Waͤllen
herab, das ſaͤmmtlich gegen die kaum verlaſſene
Wolfsſchanze gerichtet war; und wenige Minuten
ſpaͤter ward es auch aus den feindlichen Werken
jener Gegend mit einem Ungeſtuͤm erwiedert, daß
mir Hoͤren und Sehen vergieng und ich mich
wacker zu ſputen hatte, um nicht in die Schuß-
linie zu gerathen. Der Erdboden unter mir bebte,
und die Schuͤſſe fielen mit einer Schnelle, daß
ſie kaum mehr zu zaͤhlen waren.
Was konnte dies zu bedeuten haben? War
doch bis zum naͤchſten Morgen ein Waffenſtill-
ſtand in Kraft! — Doch eben dieſen hatte der
Feind, wie ich nun erſt vom Commandanten er-
fuhr, gebrochen, indem er augenblicklich die Aus-
beſſerung der eroberten Schanze, vertragswidrig,
begonnen und darum in dieſem Vornehmen durch
unſer Geſchuͤtz hatte geſtoͤrt werden muͤſſen; was
indeß auch 8 unſrer Mitbuͤrger, die ſich zuver-
ſichtlich hervorgewagt hatten, das Leben koſtete.
Mich ſelbſt erwartete daheim ein unlieblicher An-
blick. Eine Bombe war in der Naͤhe meines
Hauſes niedergefahren, und, beim Zerſpringen
derſelben, nicht nur meine Hausthuͤre in Truͤm-
mern gegangen, ſondern auch dicht darhinter, auf
der Flur, eine Bauerfrau getoͤdtet worden.
Jndeß fuhren die Belagerer fort, ſich in der
Wolfsſchanze immer feſter zu ſetzen, ja ſie gaͤnz-
lich umzuwandeln, und Schießſcharten nach unſrer
Seite hin zu eroͤffnen; waͤhrend ſie ſich auch and-
rer Orten in ihren Schanzarbeiten nicht minder
fleiſſig erwieſen. Sie unterſtuͤtzten dieſe Opera-
tionen durch ein anhaltendes Feuer auf unſre
Waͤlle, die denn auch nicht ſaͤumig waren, dieſe
Gruͤße nach Kraͤften zu erwiedern. Leider aber
offenbarte ſich ſeither, und noch mehr bei den ge-
genwaͤrtigen verdoppelten Anſtrengungen, der gro-
ße Nachtheil, an welchem unſre ganze Feſtungs-
Artillerie krankte; ſo daß es eigentlich als ein
Wunder gelten muß, daß noch ſoviel damit aus-
gerichtet, und ein gewiſſer Reſpect beim Feinde
erhalten werden konnte. Ein Tranſport neuen
und guten Geſchuͤtzes aus dem Berliner Zeug-
hauſe, war fuͤr Colberg beſtimmt geweſen und im
vorigen Sommer auch wirklich nach Stettin ge-
langt. Bevor aber die Seefracht von dort nach
3. Baͤndchen. (9)
unſerm Platze bedungen, und die Genehmigung
des damaligen Kriegs-Collegii in allen herkoͤmm-
lichen Formalitaͤten erlangt werden konnte, war
Monat auf Monat verſtrichen; bis endlich die
Franzoſen ſich unverſehens Stettins und zugleich
des, uns zugedacht geweſenen Geſchuͤtzes bemaͤch-
tigten; und ſo geſchah es, daß wir nunmehr
zum Theil mit dieſen unſern eigenen Stuͤcken, ſo
wie mit unſrer eigenen Ammunition, beſchoſſen
wurden.
Was wir alſo an Kanonen und Moͤrſern
beſaßen, war reiner Ausſchuß, und zudem das
Eiſen derſelben von einer ſo ſproͤden Gußmaſſe,
daß gewoͤhnlich nach 9 oder 10 ſchnellen Schuͤſ-
ſen das Springen des Stuͤcks befuͤrchtet werden
mußte. Wirklich traf nur zu viele derſelben dies
Schickſal, welches zugleich einer groͤßern Menge
von Artilleriſten auf den Waͤllen das Leben ko-
ſtete, als durch feindliche Kugeln hingerafft wur-
den. Ohnehin beſtand die Zahl derſelben, von
Anfang an, nur aus Einer Compagnie, deren
Dienſt allmaͤhlig ſo ſchwer und anſtrengend wur-
de, daß die armen Leute ſich zuletzt kaum mehr
auf ihren geſchwollenen Fuͤßen zu erhalten ver-
mochten. Eine erwuͤnſchte Erleichterung erhielten
ſie indeß durch den freiwilligen Hinzutritt einer
Anzahl von Buͤrgerſoͤhnen, welche ſich in der
Bedienung des Geſchuͤtzes bald eben ſo anſtellig,
als eifrig, bewieſen.
Wenn aber der zunehmende Mangel an
brauchbaren Stuͤcken, in einem Augenblicke, wo
wir deren mehr, als jemals bedurften, uns mit
nicht unbilliger Sorge erfuͤllte; ſo mag man ſich
auch unſre freudige Ueberraſchung vorſtellen, als
am 14. Junius die Meldung eingieng, daß ein
engliſches Schiff ſich der Rheede naͤhere, welches
uns eine Anzahl neuen Geſchuͤtzes, ſammt dazu
gehoͤriger Munition, zufuͤhre. Doch eben ſo
ſchnell auch ward uns dieſe Freude wieder getruͤbt
durch den Zuſatz: Das Schiff ſey in dem ſtuͤr-
miſchen Wetter unter den Wind gerathen und
habe die Rheede nicht mehr gewinnen koͤnnen,
ſondern ſich oſtwaͤrts wenden muͤſſen; wobei es,
ohnweit Henkenhagen, der Kuͤſte ſich zuſehr ge-
naͤhert, und nun in Gefahr ſtehe, entweder zu
ſtranden und ſo den Franzoſen in die Haͤnde zu
fallen, oder doch von ihnen auf Boͤten geentert
zu werden.
Jch flog mehr, als ich gieng, um nach der
Muͤnde zu kommen und Rath zu ſchaffen, daß
das Schiff gerettet wuͤrde. Als ich ankam, war
es die alte Geſchichte! Viel Mundaufſperrens,
viel Fragens, viel Berathens: und dennoch kein
Entſchluß! Die Lootſen ſchoben’s auf die ſtuͤr-
miſche See, und wollten’s nicht wagen, ſich naͤ-
her nach dem Schiffe umzuſehen: allein es mochte
ihnen, wie ich leicht ſpuͤrte, wohl noch mehr vor
den Franzoſen, als vor dem empoͤrten Elemente,
grauen. Nun ſchalt ich; und das nicht wenig!
Als aber nichts bei den Memmen anſchlug, fiel
(9 *)
mir kein beſſer Mittel ein, ſie zu beſchaͤmen, als
mich auf der Stelle an vier ihrer Weiber zu
wenden, die, nach hieſigem Brauche, des Ruderns
beim Prahmen (d. h. Beladen und Entlaſten der
Schiffe auf der Rheede) wohl erfahren und hand-
feſt ſind. „Trine, und ihr Andern!‟ rief ich —
„Wollt ihr mit?‟ — „Flugs und gern, Herr;
wenn Er geht!‟ — Dann packt’ ich noch einen
Lootſen am Arm, dem ich noch die meiſte Cou-
rage zutraute; zog ihn, gern oder ungern, in’s
Boot; und heidi! gieng es auf Henkenhagen zu.
Freilich ließ es das boͤſe Wetter, nachdem
ich gluͤcklich an Bord des Schiffes gekommen war,
noch eine Zeitlang unentſchieden, ob ich es gegen
den Wind wuͤrde in den Hafen bringen koͤnnen,
oder mich begnuͤgen muͤſſen, es nur weiter in
See und den Franzoſen aus den Krallen zu ent-
fuͤhren. Endlich gelang mir das Erſtere dennoch;
und das neue Geſchuͤtz ward nun im Triumphe
nach der Feſtung abgefuͤhrt. Es waren 45 Ka-
nonen und Haubitzen; zwar eiſern, aber vom
ſchoͤnſten Guſſe; meiſt kurze Karonaden, ſechs-
acht- und zwoͤlfpfuͤndig. Der dazu gehoͤrigen
Kugeln und Granaten war nicht minder eine an-
ſehnliche Menge. Nur Eines haͤtte uns leicht
unſre ganze Freude daran verderben koͤnnen!
Kanonen hatten unſre Verbuͤndeten uns zwar
geſchickt: aber nicht die dazu gehoͤrigen Lavet-
ten, fuͤr welche es vielleicht an hinreichendem
Raum in dem Fahrzeuge fehlte, oder die ſonſt
in der Eile vergeſſen worden. Man weiß, wie
ſchlecht wir ſelbſt damit verſehen waren; oder
was wir etwa noch vorraͤthig hatten, paßte nicht
zu dem Kaliber. Doch unſre Artilleriſten mach-
ten aus der Noth eine Tugend und wußten ſich
zu helfen. Wo die Schildzapfen fuͤr unſre Ge-
ſtelle zu duͤnne waren, fuͤtterten ſie die Pfannen
ſolange mit Lumpen und altem Hutfilz aus, bis
die Roͤhre ein feſtes Lager fanden und mit eini-
ger Sicherheit gerichtet werden konnten. Unſre
Gegner aber blieben, den Wirkungen dieſes Ge-
ſchuͤtzes nach, weit entfernt, zu ahnen, wie kuͤm-
merlich es um daſſelbe ſtaͤnde.
Noch hielt der Sturm, toſend und unter dem
heftigſten Regen, an; die Nacht auf den 15. Junius
ward finſtrer, als ſie in dieſer Jahrszeit bei uns zu
ſeyn pflegt: und alles Dies beguͤnſtigte ein Un-
ternehmen, an welches, wie gewagt es auch ſchei-
nen mochte, ſich dennoch große Hoffnungen knuͤpf-
ten. Es galt einen Ausfall, der uns die Wolfs-
ſchanze zuruͤckgeben ſollte. Das Grenadier-Ba-
taillon v. Waldenfels, welches ſie ſich hatte muͤſ-
ſen nehmen laſſen, wollte ſie auch wieder gewin-
nen; und der uͤber Alles brave Befehlshaber deſ-
ſelben, zu dieſem naͤchtlichen Sturme vom Com-
mandanten auserſehen, ſetzte ſich mit hohem En-
thuſiasmus an die Spitze ſeiner Leute. Jhm
von ferne nachzueifern, konnt’ ich wohl nicht we-
niger thun, als, nach gewohnter Weiſe, dem
Bataillon mit ein paar Wagen zu folgen und
mir die Sorge fuͤr die zu erwartenden zahlreichen
Verwundeten angelegen ſeyn zu laſſen.
Jn tiefſter Stille zogen wir aus, und, uns
den feindlichen Poſten naͤhernd, hatten wir das
Gluͤck, faſt den Graben deſſelben unbemerkt zu
erreichen. Jetzt aber ward ploͤtzlich Laͤrm; das
Feuern begann von beiden Seiten; uͤberall kam
es zum Handgemenge, und uͤberall floß Blut.
Unſre Leute ſtuͤrmten, wie begeiſtert; ihnen voran
flog ihr edler Fuͤhrer und war im raſchen Anlauf
der Erſte auf der Hoͤhe der feindlichen Bruſt-
wehr. Jndem er ſich umkehrt, indem er ſeine
Grenadiere aufmuntert, ihm zu folgen, trifft ihn
eine Flintenkugel in die Schulter, die ihn ent-
ſeelt zu Boden ſtreckt. Allein des Fuͤhrers Fall,
anſtatt die Seinen zu entmuthigen, ſteigert ihre
Tapferkeit zur Erbitterung; ſie dringen unwider-
ſtehlich nach, und die Schanze iſt erobert. Ein
Obriſt, mehrere andre Officiere und zwiſchen 2
und 300 Franzoſen werden zu Gefangenen ge-
macht.
Ein noch empfindlicherer Verluſt aber traf
das Belagerungsheer, dem bei dieſem Kampfe
ſein Anfuͤhrer, der Diviſions-General Teullié,
getoͤdtet wurde, und der darauf in Tramm ſein
einſtweiliges Begraͤbniß fand. Uns aber reichte
dies nicht hin, die Einbuße unſers eben ſo wohl-
denkenden als heldenmuͤthigen Vice-Commandan-
ten zu verſchmerzen, der ſtets mit ſeinem edlen
Vorgeſetzten Ein Herz und Eine Seele war, und
dem wir nichts vorzuwerfen hatten, als daß er
fruͤherhin, bei all ſeinem uͤberbrauſenden Muthe,
den ſchwachen Loucadou nicht beſſer in Athem zu
ſetzen verſucht hatte. Oft genug tadelte ich, ihm
in’s Angeſicht, dieſe unzeitige Nachgiebigkeit:
aber er wußte mich immer wieder zu beguͤtigen,
indem er mich fragte: Was denn, bei fortbe-
ſtehendem Subordinations-Verhaͤltniß, durch offne
Fehde des Guten nicht noch viel mehr gehindert
als gefoͤrdert worden waͤre?
Erobert war die Schanze allerdings: haͤtte
ſie nur auch laͤnger, als wenige Augenblicke, be-
hauptet werden koͤnnen! Eine neue feindliche
Colonne, entſchloſſen, ihres Heerfuͤhrers Tod zu
raͤchen und des verlornen Poſtens um jeden Preis
wieder Herr zu werden, ruͤckte unverzuͤglich her-
an. Das Gefecht begann wiederum und ward,
bei der uͤberlegenen Zahl der Angreifenden, bald
ſo ungleich, daß keine andre Wahl uͤbrig blieb,
als uns fechtend in die Stadt zuruͤckzuziehen. —
Vorhin und jetzt hatten wir an Officieren und
Gemeinen mehr als 20 Todte und Verwundete
gehabt; und nur mit harter Muͤhe war mir’s ge-
lungen, die Letzteren aufzunehmen. Am Morgen
zeigte ich mich, mit einem weiſſen Tuche an mei-
nen Stock befeſtigt, als Parlementair den feind-
lichen Vorpoſten naͤchſt jener Schanze und bat
um die Verguͤnſtigung, unſre noch umherliegende
Todte aufſammlen zu duͤrfen. Das bedurfte, wie
gewoͤhnlich, endloſer Formalitaͤten; doch erreichte
ich zuletzt meinen Wunſch; und ſo brachte ich
unſre tapfern Gefallenen nach der Stadt und zu
Grabe.
Jch uͤbergehe hier wiederum eine Menge
kleinerer Vorfaͤlle, Angriffe, gegluͤckter und miß-
lungener Ausfalle, welche keinen bedeutenden Ein-
fluß auf die Verbeſſerung oder Verſchlimmerung
unſers Zuſtandes auſſerten. Selbſt die gluͤckli-
cheren Unternehmungen, wo einzelne feindliche
Poſten uͤberwaͤltigt, Kanonen vernagelt und andre
Vortheile gewonnen wurden, mußten doch immer,
wegen der nachdringenden Uebermacht des Geg-
ners, ſchnell wieder aufgegeben werden. Ueber-
haupt concentrirte ſich der erbitterte Kampf jetzt
mehr auf der Oſtſeite: aber auch nach Sellnow
hin zeigte ſich das Schillſche Corps unermuͤdet,
den Feind, von der Maikuhle aus, zu beunruhi-
gen und ſeine Arbeiten zu ſtoͤren.
Wie unendlich viel uns jedoch, zur Behaup-
tung des Platzes, am Beſitz der Wolfsſchanze
gelegen ſeyn muͤſſe: das ſtand nicht nur unſerm
einſichtsvollen Commandanten und allen Verſtaͤn-
digeren klar vor Augen, ſondern auch der große
Haufe fuͤhlte es inſtinct-artig; und es war ſelbſt
unter dem gemeinen Soldaten von nichts, als
der Nothwendigkeit die Rede, dieſelbe um jeden
Preis zuruͤck zu gewinnen. Am 19. Jun. erklaͤrte
das brave Bataillon v. Waldenfels, unaufgefor-
dert und aus eignem Antriebe, ſich bereit zu ei-
nem ſolchen Unternehmen. Es habe ſich den Po-
ſten nehmen laſſen, und ſeine Ehre gebiete ihm,
dieſe Scharte blutig wieder auszuwetzen. Eine
gleiche Forderung ließ das Fuͤſelier-Bataillon v.
Moͤller an den Befehlshaber ergehen, weil der
Zufall es gewollt, daß daſſelbe bisher im Feſtungs-
dienſt noch nie zu einer wichtigeren Gelegenheit
in’s Feuer gefuͤhrt worden. Wer haͤtte der ta-
pfern Doppelſchaar nicht freudigen Beifall zuge-
winkt? — Der Ausfall ward beſchloſſen und noch
des nemlichen Tages, vor Abends, in’s Werk
gerichtet, weil man gerade in dieſer Zeit den
Feind am unvorbereitetſten zu finden hoffte.
Dieſer Ausfall ſollte wiederum von der
ſchwediſchen Fregatte unterſtuͤtzt werden; und da
ſich’s bei fruͤheren Gelegenheiten gezeigt hatte,
daß dieſelbe, aus Unkenntniß der Rheede, die
rechte Stellung zu einem kraͤftigen Feuer nicht
finden koͤnnen: ſo entſchloß ich mich gerne, an
Bord des Schiffes zu gehen und ihm fuͤr dies-
mal als Pilot zu dienen. Jch fuͤhrte die Fre-
gatte, ſoweit es irgend die Tiefe erlaubte, der
feindlichen Schanze nahe. Jhr Geſchuͤtz begann
zu donnern; und nicht weniger, als 157 Schuͤſſe,
wurden in Zeit von einer Stunde gegen dieſen
Punkt gerichtet; waͤhrend auf der andern Seite
die Artillerie der Feſtung gegen denſelben ein
gleich lebhaftes Feuer unterhielt. Unter dem
Schutze Beider ruͤckten unſre Bataillone entſchloſ-
ſen zum Sturme an; und immer noch herrſchte
in der Schanze eine Todtenſtille. Erſt als Jene
faſt unter die Paliſaden vorgedrungen waren,
wurden ſie mit einem Kartaͤtſchen-Feuer empfan-
gen, deſſen Wirkungen graͤßlich waren. Dennoch
verloren die Angreifenden den Muth eben ſo we-
nig, als die Angegriffenen die Beſonnenheit zur
nachdruͤcklichſten Gegenwehr. Man kam auf der
Bruſtwehr ſelbſt zum lebhaften Handgemenge,
und Wunder der Tapferkeit geſchahen von beiden
Seiten. Allein den Feind in ſeinem vortheilhaf-
ten Poſten zu uͤberwaͤltigen, ward, trotz den bei-
ſpielloſeſten Anſtrengungen, mit jedem Augen-
blicke des verlaͤngerten Gefechts unmoͤglicher be-
funden. Mehr als 400 unſrer Gefallenen lagen
auf dem Platze; und von den Grenadieren, de-
ren Zahl bereits durch fruͤhere Verluſte anſehnlich
geſchmolzen war, ſtand nur noch ein geringes
Haͤuflein uͤbrig. Mit bitterm Schmerze mußte
man ſich entſchlieſſen, den Ruͤckzug anzutreten;
und das edelſte Blut war fruchtlos vergoſſen!
Nicht geringer war unſre Betruͤbniß, die
wir am Bord der Fregatte waren, und unſre
Leute endlich weichen ſahen. Sobald ſie ſich in-
deß eine kleine Strecke, unverfolgt, entfernt hat-
ten, erneuerte, auf mein Zuthun, unſer Schiff
ſein Feuer; und ſo wurden noch faſt an 200
Kugeln auf die Schanze geſchleudert. Waͤhrend
dieſer Kanonade verhielten ſich die Franzoſen
wiederum maͤuschenſtille. Wir empfiengen nicht
einen einzigen Schuß zuruͤck; bis ich endlich, da
nichts weiter auszurichten war, die Fregatte auf
ihre alte Ankerſtelle vor dem Hafen zuruͤck-
brachte.
Am andern Tage gab es ein vielfaͤltiges
Parlementiren um die Verguͤnſtigung, unſre Tod-
ten abzuholen und zu begraben: allein man mu-
the mir nicht zu, eine Beſchreibung von dieſem,
uͤber Alles erbarmenswuͤrdigen Anblick zu geben.
Denke ſich vielmehr ein Jeder ſelbſt, wie es auf
einem Platze von kaum 200 Schritten ausſehen
mußte, wo zwiſchen 4 und 500 Leichname neben
und auf einander, und zum Theil auf’s graͤßlich-
ſte verſtuͤmmelt und zerriſſen, umher lagen; ſo
daß ſelbſt der Freund oft des Freundes blutige
und zerſchmetterte Geſtalt nicht mehr zu erkennen
vermochte, und auch die roheſten Seelen ſich von
den hie und da noch zuckenden Gliedmaaſſen mit
Entſetzen abwandten. Es war fuͤrwahr eine trau-
rige Pflicht, die wir als Todtengraͤber der Unſri-
gen erfuͤllten!
So blieb denn leider! der Wolfsberg fortan
fuͤr uns verloren: denn jeder neue Verſuch wuͤrde
die Zahl unſrer Streiter in einem Maaſſe ver-
mindert haben, daß wir uns ſelbſt zur nothduͤrf-
tigſten Abwehr unfaͤhig gemacht haͤtten: aber je-
der neue Verſuch, ſelbſt wenn wir keine Opfer
haͤtten ſparen wollen, bot von Tage zu Tage
auch immer mindere Hoffnung des Gelingens
dar, da das Werk, unter den geſchaͤftigen Haͤn-
den der Belagerer, trotz unſrer Artillerie und ih-
ren zerſtoͤrenden Wirkungen, taͤglich eine verſtaͤrkte
Feſtigkeit erhielt. Sie nannten es jetzt „das Fort
Loiſon,‟ zu Ehren des franzoͤſiſchen Diviſions-
Generals, der, als Oberbefehlshaber, in Teullié’s
Stelle getreten war; und ihre Kerntruppen ruͤck-
ten dort zur Beſatzung ein. Wir, an unſrer
Seite, waren jedoch nicht minder befliſſen, dem
Platz und dem Hafen gegen dieſe Seite eine neue
Deckung zu geben, indem wir die Ziegelſchanze
(dicht hinter der Vorſtadt Stubbenhagen nord-
oͤſtlich gelegen) moͤglichſt verſtaͤrkten und darinn
auch, obwohl in unſern Arbeiten durch jenes
feindliche Werk nicht wenig belaͤſtigt, gluͤcklich zu
Stande kamen.
Von hier ab, bis zum 30. Junius, nahm
unſer Geſchick und unſer Bedraͤngniß eine immer
ernſtlichere Wendung. Friſche Truppen-Abthei-
lungen verſtaͤrkten das Belagerungs-Heer und
errichteten neue Laͤger unter unſern Augen. Jn
eben dem Maaſſe auch wurden die Schanzen
rings umher an Mannſchaften lebendiger; neue
Werke ſtiegen empor; die Laufgraͤben naͤherten
ſich und ſchnuͤrten uns auf einen immer engeren
Raum zuſammen. Die Beſchieſſung des Platzes,
taͤglich und mit Eifer fortgeſetzt, zeigte ſich auch
taͤglich zerſtoͤrender in ihren Wirkungen. Beſon-
ders diente die große Marien-Kirche, bei ihrer
Lage mitten in der Stadt und als der hervor-
ragendſte Gegenſtand, allen feindlichen Geſchuͤtzen
gleichſam zum Zielpunkte, und litt auſſerordent-
lich. Loucadou hatte dieſe, wie andre Kirchen,
zu Stroh- und Heu-Magazinen ausgezeichnet,
bis ſein Nachfolger, von einem beſſern Geiſte be-
ſeelt, das Gebaͤude ſofort der oͤffentlichen Gottes-
verehrung zuruͤckgab und jene gefaͤhrlichen Brenn-
ſtoffe am Glacis vor dem Muͤnder-Thore in ab-
geſonderte Haufen aufſchichten ließ. Nunmehr
aber war eine dringendere Nothwendigkeit einge-
treten, dieſen weiten und luftigen Raum der taͤg-
lich wachſenden Zahl der Kranken und Verwun-
deten von der Garniſon einzuraͤumen. Da nun
die Kirche vollgeſtopft von ſolchen Ungluͤcklichen
lag, ſo mag man ſich das Elend vorſtellen, wel-
ches hier herrſchte, indem die Kugeln durch alle
Theile des Gebaͤudes hindurchfuhren. Ein Fluͤ-
gel deſſelben bewahrte nahe an hundert franzoͤſi-
ſche Kriegsgefangene auf: allein ihre Landsleute
nahmen hierauf, unſrer Hoffnung entgegen, keine
Ruͤckſicht und beharrten auf ihrem Werke der
Zerſtoͤrung.
Jn der Nacht vom 27. auf den 28. Jun.
ſtand ich auf dem Walle an der Bruſtwehr des
Baſtions Preuſſen und in einer Unterredung mit
dem Commandanten begriffen, als eine feindliche
Bombe kaum 15 oder 20 Schritt von uns nie-
derfuhr, in der Erde wuͤhlte und brummte. Ha-
ſtig ergriff ich meinen Nachbar bei der Hand,
zog ihn etwas ſeitabwaͤrts und rief: „Fort! fort!
Hier iſt nicht gut ſeyn!‟ — Gneiſenau aber,
kaltbluͤtig ſtehen bleibend, erwiederte: „Nicht doch,
die thut uns nichts!‟ — Jn dem nemlichen Au-
genblick auch platzte die Bombe, ohne uns wei-
teren Schaden zuzufuͤgen, als daß ſie uns uͤber
und uͤber mit der aufgewuͤhlten Erde bedeckte.
Geſicht und Augen waren voll, und wir hatten
genug damit zu thun, uns Beide einander den
Sand und Mulm vom Leibe zu klopfen.
Des folgenden Tages gelang es mir aber-
mals, mit Huͤlfe des Lootſen Faßholz, ein eng-
liſches Schiff, das uns neue Vorraͤthe von Ka-
nonen, Bombenkeſſeln, Bomben u. ſ. w. zufuͤhrte,
aus dem Bereich des feindlichen Geſchuͤtzes am
Strande, unter welches es gerathen war, ſicher
in den Hafen zu fuͤhren. Am naͤchſten Morgen
wiederum verſuchte ich, aber mit minderem Gluͤ-
cke, die Gegend des Frauenmarkts, hart an den
oͤſtlichen Umgebungen der Feſtung, wohin unſre
groͤßere Jnundation keinen Zugang hatte, ver-
mittelſt einer kuͤnſtlichen Waſſerleitung gleichfalls
unter Waſſer zu ſetzen. Dies ſollte durch die
große Waſſerkunſt und fortgefuͤhrte hoͤlzerne Rin-
nen geſchehen: allein hatte gleich der Waſſerlauf
ſein gehoͤriges Gefaͤlle, ſo gieng es doch damit
viel zu langſam fuͤr meine Wuͤnſche; denn nach
zwei Tagen waren erſt die niedrigſten Punkte
jener Gegend uͤberſchwemmt.
An dieſem Tage war es auch, daß unſer
Commandant mich mit einer Sendung in das
feindliche Hauptquartier nach Tramm beauftragte.
Er gab mir dazu ſein Pferd, und zugleich ein
offnes Schreiben an den General Loiſon, worinn
nur mit wenig Worten bemerkt war, daß mir
fuͤr mein Anbringen voller Glauben beizumeſſen
ſeyn werde. Als ich damit bei den franzoͤſiſchen
Vorpoſten anlangte, wurden mir die Augen ver-
bunden und das Pferd von zwei Begleitern am
Zuͤgel gefuͤhrt; waͤhrend zwei Andre, mit Gewehr
verſehen, mir zur Seite giengen. So kam ich
endlich in Tramm an, und hier ward mir auch
das Tuch wieder von den Augen genommen.
Der Erſte, den ich hier, zu meiner nicht
geringen Verwunderung, erblickte, war ein, auſ-
ſerhalb der Stadt wohnhafter, mir wohlbekann-
ter Officiant, deſſen Haus der Feind vor einigen
Wochen, bei einem Vorpoſten-Gefecht, zerſtoͤrt
hatte, und der es, wie ich glauben muß, der
mitleidigen Nachſicht der Officiere vom General-
Stab zu danken hatte, wenn er ſich frei in ih-
rer Mitte aufhalten und hier uͤberall ungehindert
umherſpazieren durfte. Da der Mann, wie ich
wußte, ganz gelaͤufig franzoͤſiſch ſprach, waͤhrend
ich mir auf meine Fertigkeit hierinn nur wenig
zu gute thue, ſo rief ich ihn heran, und bat,
mir beim General als Dolmetſcher zu dienen.
Dazu hatte jedoch der Herr, der uͤberhaupt durch
meinen Anblick wenig erfreut ſchien, keine Ohren,
ſondern wandte den Ruͤcken und ließ mich ſtehen.
Was er doch ſonſt wohl dort ſo Noͤthiges zu
thun gehabt haben mag?
Gleich darauf ward ich zum General Loiſon
gefuͤhrt und brachte meinen Auftrag zur Sprache,
der darinn beſtand, daß das feindliche Geſchuͤtz
fernerhin nicht mehr auf denjenigen Theil der
großen Kirche gerichtet werden moͤchte, wo die
Verwundeten und gefangenen Franzoſen unter-
gebracht worden. Das Verlangen fand nicht nur
eine willige Aufnahme, ſondern ein Officier be-
gleitete mich auch auf eine Anhoͤhe, damit ich
ihm von dort den Fluͤgel des Gebaͤudes noch
naͤher bezeichnete, wo ſeine Landsleute laͤgen.
Moͤchten ſie immer, ſetzte ich hinzu, den Waͤllen
nach Belieben zuſetzen; nur ſollten ſie das Got-
teshaus ſchonen und ihren eigenen Leuten nicht
hart fallen.
Nachdem noch einige Hoͤflichkeiten gegenſeitig
gewechſelt worden, begab ich mich auf gleiche
Weiſe, als ich gekommen war, nach der Stadt
zuruͤck. Wovon ich im Hauptquartier hatte Zeu-
ge ſeyn duͤrfen, das deutete auf Vorbereitungen,
welche an dem Ernſt der Belagerung nicht zwei-
feln lieſſen. Weniger gluͤcklich war ich indeß,
irgend ein Wort zu erhaſchen, welches uns uͤber
die Lage der Dinge in Preuſſen einigen naͤheren
Aufſchluß haͤtte geben koͤnnen, waͤhrend uns von
den dortigen neueſten Ereigniſſen ſchon ſeit laͤn-
gerer Zeit alle Nachrichten fehlten. Daß der
Friede zu Tilſit in dem Augenblicke ſchon wirk-
lich abgeſchloſſen worden, ahneten wir damals
nicht auf das Entfernteſte. Allein unſre Bela-
gerer waren nur zuwohl davon unterrichtet und
boten darum von jetzt an auch um ſo mehr alle
ihre Kraͤfte auf, ſich Colbergs zu bemaͤchtigen,
bevor die Friedensnachricht uns erreichte und ih-
nen die Waffen aus den Haͤnden ſchluͤge.
Dieſen Plan verfolgten ſie auch um ſo eif-
riger, da ſich ihr Corps am 30. Jun. noch um
4000 friſche Truppen verſtaͤrkt hatte. Augen-
blicklich dehnten ſie nun ihre Poſten-Linie, uͤber
Sellnow hinaus, bis an die Dorfſchaften Alt-
und Neu-Werder, Alt- und Neu-Bork und
Colberger Deep; ſetzten ſich hier uͤberall feſt und
legten hie und da, bis hart am Strande, meh-
rere Schanzen an, ohne daß die Bewegungen
des Schillſchen Corps aus der Maikuhle hervor,
und ſelbſt die Unterſtuͤtzung von drei Kanonen-
Boͤten, welche aus dem Hafen liefen und ſich
ihnen in die linke Flanke legten, ſie daran zu
hindern vermochten. Es iſt wahr: die Leute tha-
ten brav, wie immer; aber Schill ſelbſt war
leider! nicht zugegen; und ſo fehlte dem Ganzen
die eigentliche Seele!
Alles, was, von Anbeginn der Belagerung
bis jetzt, vom Feinde unternommen worden, moch-
te indeß nur als ein leichtes Vorſpiel von dem-
jenigen gelten, wozu die dritte Morgenſtunde des
1. Julius die Looſung gab. Denn mit derſelben
eroͤffnete er aus all ſeinen zahlreichen Batterieen
ein Feuer gegen die Stadt, ſo ununterbrochen,
ſo von allen Seiten kreuzend und ſo moͤrderiſch
und zerſtoͤrend, wie wir es noch nimmer erlebt
hatten. Die Erde droͤhnte davon unter unſern
3. Baͤndchen. (10)
Fuͤßen; und man kann ohne Uebertreibung ſagen,
daß es rings um uns war, als ob die Welt ver-
gehen ſollte. Sichtbarlich legten unſre Gegner
es darauf an, uns durch ihr Bombardement zwi-
ſchen dem engen Raume unſrer Waͤlle dergeſtalt
zu aͤngſtigen, daß wir, nirgends mehr unſers
Bleibens wiſſend, die weiſſe Fahne zur Ergebung
aufſtecken muͤßten.
Jch befand mich in dieſer entſetzlichen Nacht
neben unſerm Commandanten auf dem Baſtion
Preuſſen, als dem hoͤchſten Punkte, den unſre
Waͤlle zum Umherſchauen darboten. Von hier
aus konnten wir beinahe alle feindliche Schanzen
uͤberſehen; und ebenſo lag die Stadt vor uns.
Es iſt nicht auszuſprechen, wie hoͤllenmaͤßig das
Aufblitzen und Donnern des Geſchuͤtzes Schlag
auf Schlag und Zuck auf Zuck um uns her wuͤ-
thete; waͤhrend auch das Feuer unſrer Feſtung
in ſeiner Antwort nichts ſchuldig blieb. Jn der
Luft ſchwaͤrmte es lichterloh von Granaten und
Bomben; wir ſahen ſie hie und da und uͤberall
ihren lichten Bogen nach der Stadt hinein waͤl-
zen; hoͤrten das Krachen ihres Zerſpringens, ſo
wie das Einſtuͤrzen der Giebel und Haͤuſer; ver-
nahmen den wuͤſten Laͤrm, der drinnen wogte
und toſ’te, und waren Zeuge, wie bald hier bald
dort, wo es gezuͤndet hatte, eine Feuerflamme
emporloderte. Von dem Allen war die Nacht ſo
hell, als ob tauſend Fackeln brennten; und das
graͤßliche Schauſpiel ſchien nicht ein Menſchen-
werk zu ſeyn, ſondern als ob alle Elemente ge-
gen einander in Aufruhr gerathen waͤren, um ſich
zu zerſtoͤren.
Was aber drinnen in der Stadt unter dem
armen wehrloſen Haufen vorgieng, iſt vollends
ſo jammervoll, daß meine Feder nicht vermag,
es zu beſchreiben. Da gab es bald nirgends ein
Plaͤtzchen mehr, wo die zagende Menge vor dem
drohenden Verderben ſich haͤtte bergen moͤgen.
Ueberall zerſchmetterte Gewoͤlbe, einſtuͤrzende Boͤ-
den, krachende Waͤnde und aufwirbelnde Saͤulen
von Dampf und Feuer. Ueberall die Gaſſen
wimmelnd von rathlos umher irrenden Fluͤchtlin-
gen, die ihr Eigenthum preisgegeben hatten und
die, unter dem Geziſch der feindlichen umherkrei-
ſenden Feuerbaͤlle, ſich verfolgt ſahen von Tod
und Verſtuͤmmelung. Geſchrei von Wehklagen-
den; Geſchrei von Saͤuglingen und Kindern;
Geſchrei von Verirrten, die ihre Angehoͤrigen in
dem Gedraͤnge und der allgemeinen Verwirrung
verloren hatten; Geſchrei der Menſchen, die mit
Loͤſchung der Flammen beſchaͤftigt waren; Laͤrm
der Trommeln, Geklirr der Waffen, Raſſeln der
Fuhrwerke — Nein, es iſt nicht moͤglich, das
furchtbare Bild in ſeiner ganzen Lebendigkeit auch
nur von ferne zu ſchildern!
Jndem ich ſelbſt mich in dieſem allgemeinen
Tumult veranlaßt fand, einmal nach meinem ei-
genen Hauſe zu ſehen, erwartete mich dort ein
Anblick, der auch nicht dazu geeignet war, mich
(10 *)
ſonderlich zu erfreuen. Eine Bombe war, durch
den Giebel einſchlagend, durch zwei Boͤden bis
in den Keller hinabgefahren und hatte, indem ſie
dort platzte, ſieben Oxhoft voll Brandtwein zer-
ſprengt, deren Jnhalt nun gaͤnzlich fuͤr mich ver-
loren gieng. Auſſerdem waren uͤberall im Hauſe
die groͤßten Berwuͤſtungen angerichtet; die ganze
Eingangsflur aufgeriſſen und eben ſo wenig ir-
gend eine Fenſterſcheibe, als ein Ziegel auf dem
Dache, unbeſchaͤdigt geblieben. All meine Leute
hatten, wie leicht begreiflich, das Weite geſucht;
und ſo ſtand es nicht bloß bei mir, ſondern auch
links und rechts und in vielen Nachbarhaͤuſern.
Wie gerne aber haͤtte man jede eigene Noth
verſchmerzt und vergeſſen, gegen die tief nieder-
ſchlagende Zeitung, daß um 4 Uhr Morgens die
Maikuhle an den Feind verloren gegangen! Mit-
ten unter dem heftigſten Bombardement, wodurch
unſre Aufmerkſamkeit von dieſer Seite hatte ab-
gezogen werden ſollen, war auf dieſen Poſten
von der aͤuſſerſten weſtlichen Spitze, ſo wie von
der Seeſeite her, ein Angriff geſchehen, der wohl
fuͤr einen Ueberfall gelten konnte, da der dortige
interimiſtiſche Befehlshaber der Schillſchen Trup-
pen, Lieut. v. Gruben I., auf ein ſolches Ereig-
niß durchaus nicht gefaßt geweſen zu ſeyn ſcheint;
— Eine Sorgloſigkeit, die um ſo unbegreiflicher
und tadelnswerther erſcheint, da die Bewegungen
des Feindes Tages zuvor nur zu deutlich die Ab-
ſicht verriethen, von neuem etwas auf dieſer Seite
zu unternehmen
Auf ſolche Weiſe war die Erſtuͤrmung der
Maikuhle das Werk weniger Augenblicke geweſen,
da auch die Richtung des Angriffs weder dem
Muͤnderfort, noch der Moraſtſchanze, geſtattet
hatte, die Behauptung dieſes Poſtens durch ihr
Feuer zu unterſtuͤtzen. Nur die ſchwediſche Fre-
gatte konnte es, und verfehlte auch nicht, dem
Feinde wohl gegen 400 Kugeln zuzuſenden: allein
wenn Dieſer auch dadurch fuͤr Augenblicke auf-
gehalten oder zuruͤckgeſcheucht wurde, ſo ſahen die
Stuͤrmenden ſich alſobald durch ihr eignes Feuer
im Ruͤcken und durch den Druck der nachfolgen-
den Maſſen wieder vorwaͤrts getrieben. Jede noch
ſo verzweifelte Gegenwehr von unſrer Seite ward
auf dieſe Weiſe fruchtlos; und genoͤthigt zum
uͤbereilten Ruͤckzuge auf das rechte Stromufer,
blieb dem Schillſchen Corps kaum noch ſo viel
Zeit und Raum, die Verbindungsbruͤcke hinter
ſich abzuhauen.
Den ferneren Ruͤckzug nach der Stadt ſuchte
daſſelbe ſich durch Anzuͤndung der Muͤnder-Vor-
ſtadt und der Pfannſchmieden zu decken; eine
Maaßregel, die um ſo unzweckmaͤßiger und uͤber-
eilter ſcheint, da der Feind es weder verſuchte,
zu weiterer Verfolgung uͤber den Strom nachzu-
dringen, noch das Geſchuͤtz des Muͤnderforts und
der Moraſtſchanze ihm einen ſolchen Verſuch ge-
ſtattet haben wuͤrde. Schutzloſer hingegen ſtand
von dem Augenblick an das ohnlaͤngſt erſt mit
großem Koſten-Aufwande erbaute, 6000 Fuß
lange Gradirwerk, zur Saline gehoͤrig, das au-
genblicklich vom Feinde angezuͤndet wurde und
zum Theil in hellen Flammen aufloderte.
Mit dem Verluſt der Maikuhle war unſrer
Vertheidigung ſo gut als der rechte Arm abge-
hauen: denn nun war auch das Muͤnderfort zur
Beſchuͤtzung des Hafens nicht mehr hinreichend;
und dies offenbarte ſich auf der Stelle, als das
engliſche Schiff, welches ich kaum zwei Tage zu-
vor mit Muͤhe hineingefuͤhrt, und welches ſeine
Ladung an Munition u. ſ. w. kaum erſt zur
Haͤlfte geloͤſcht hatte, beim Vordringen der Fran-
zoſen die Ankertaue kappte, um wieder die offne
See zu gewinnen. Es gelang ihm nur mit har-
ter Noth und unter einem dichten feindlichen Ku-
gelregen, wodurch ihm zwei Mann auf dem Deck
erſchoſſen wurden. Und ſo waren wir denn, vom
Meere und aller von dort her zu erwartenden
Huͤlfe abgeſchnitten, fortan einzig unſern eigenen
Kraͤften und Huͤlfsquellen uͤberlaſſen, die ſich von
Stunde zu Stunde immer mehr erſchoͤpften!
Mit wenig verminderter Staͤrke hielt den
ganzen Tag des 1. Julius das Bombardement
an und haͤufte Verwuͤſtung auf Verwuͤſtung. Den-
noch waren unſre Loͤſch-Anſtalten wirkſam genug,
um immer noch des hie und da aufgehenden
Feuers Meiſter zu bleiben. Erſt am ſpaͤten Abend
zuͤndete es wieder im Gouvernements-Bauhofe;
und da hier Alles voll von brennbaren Materia-
lien lag, mußte man es geſchehen laſſen, daß
das Gebaͤude bis in den Grund niederbrannte.
Gluͤcklicher war man jedoch bei Rettung eines
Koͤnigl. Korn-Magazins, wo das Feuer noch er-
ſtickt wurde; obwohl auf dem Dachboden, wo
die Bombe aufſchlug, eine große Menge von
Baſtmatten aufgeſchichtet lag: aber die Entſchloſ-
ſenheit und Thaͤtigkeit der Magazin-Bedienten
wußte dieſen gefaͤhrlichen Brennſtoff ſchnell hin-
wegzuraͤumen.
Solchergeſtalt von Schrecken umgeben, und
auf noch Schrecklicheres gefaßt, ſahen wir der
naͤchſten Nacht entgegen. Das feindliche Geſchuͤtz
vereinigte ſich zu neuen, noch hoͤheren Anſtren-
gungen; und die zerſtoͤrenden Wirkungen deſſel-
ben, im anhaltenden Gepraſſel einſtuͤrzender Haͤu-
ſer, fallender Ziegel und klirrender Fenſterſcheiben,
betaͤubten das Ohr dergeſtalt, daß auch der Don-
ner des Feuerns nicht ſelten dabei uͤberhoͤrt wurde.
Alle jammervolle Scenen der vorigen Nacht er-
neuerten ſich in noch weiterem Umfange. Aber
auch mitten in der ringsum drohenden Gefahr
erzeugte ſich allmaͤhlig eine Gleichguͤltigkeit bei
Vielen, die nichts mehr zu Herzen nahm. War
auch nicht der Muth, ſo war doch die Natur er-
ſchoͤpft; Anſtrengung, Schlafloſigkeit, immerwaͤh-
rende Anſpannung des Gemuͤths und Sorge fuͤr
Weib und Kind und Eigenthum fielen auf die
Meiſten mit einem ſolchen Gewichte, daß ſie ſelbſt
in den Truͤmmern ihrer Wohnungen ſich ein noch
irgend erhaltenes Plaͤtzchen erſahen, um den, bis
in den Tod ermatteten Gliedern einige Ruhe zu
goͤnnen.
Da geſchah es, daß eine Bombe, verderb-
licher, als alle uͤbrige, in denjenigen Theil des
Rathhauſes niederfuhr, wo ſich die Rathswaage
befand; und ein hell aufflackerndes Feuer war die
unmittelbare Folge ihres Zerſpringens. Als na-
her Nachbar ſprang ich auf, um, was ohnehin
mein angewieſener Beruf war, ſchnelle Anſtalten
zur Brandloͤſchung zu betreiben: denn an der
Erhaltung des anſehnlichen Gebaͤudes, in welchem
unſre Stadt-Archive und ſoviel andre Sachen
von Werth aufbewahrt lagen, mußte uns Allen
vorzuͤglich gelegen ſeyn. Aber rund um in mei-
ner Nachbarſchaft regte ſich keine menſchliche
Seele zum Loͤſchen und Retten. Jch rannte hie-
hin und dorthin zu den naͤchſten Bekannten, bra-
ven und wackern Maͤnnern, um ſie zu Huͤlfe
aufzurufen: aber ſchlaftrunken und ohne Gefuͤhl
fuͤr die drohende Gefahr, war mein Bitten und
Ermuntern eben ſo umſonſt, wie mein Toben
und Schelten. Sie ſchlummerten fort und lieſ-
ſen es brennen.
Jn ſteigender Angſt lief ich auf die Brand-
ſtaͤtte zuruͤck, um Anordnungen zu treffen, die,
zu noch moͤglicher Gewaͤltigung des Feuers, mit
jedem Augenblick dringender wurden. Was mir
begegnete, packte ich an, um Hand anzulegen:
aber kaum Einer oder der Andre ſchien auf mein
flehentliches Ermahnen zu achten. Ein vierſchroͤ-
tiger Kerl, den ich nicht kannte, und dem ich
auf dieſe Weiſe einen gefuͤllten Loͤſcheimer auf-
drang, nahm ihn und ſchlug ihn mir, ſammt
ſeinem nicht gar ſaubern Jnhalt, geradezu um
die Ohren; ſo daß ich faſt die Beſinnung verlor
und, verbunden mit dem uͤbrigen Schmutz und
Ruß, womit ich bedeckt war, wohl eine ſehr jaͤm-
merliche Figur machen mochte.
Alles dies achtete ich jedoch weniger, als das
Ungluͤck, das dem Rathhaufe bevorſtand; und da
ich wohl einſah, daß unter den gegenwaͤrtigen
Umſtaͤnden eine wirkſame Huͤlfe allein vom Mi-
litair ausgehen koͤnne: ſo haſtete ich mich, das
naͤchſte Wachhaus auf dem Walle zu erreichen
und den dort commandirenden Officier um ſchleu-
nigen Beiſtand zu bitten. Wild ſtuͤrme ich in
das halbdunkle Wachzimmer hinein. Jch ſehe auf
der hoͤlzernen Pritſche ſich eine Geſtalt regen, die
ich zwar nicht erkenne, aber ſie fuͤr den Mann
haltend, den ich ſuche, von ihrem Lager auf-
ſchreie, indem ich rufe: „Beſter Mann, zu Huͤlfe!
Das Rathhaus ſteht in Flammen!‟
Aber weniger meinen Schrei, als mich ſelbſt
und mein Jammerbild beachtend, erhebt ſich der
Officier mir gegenuͤber; ſchlaͤgt die Haͤnde zuſam-
men und ſpricht: „Ach, du armer Nettelbeck!‟
— Jetzt erſt an der Stimme erkenne ich ihn —
Es iſt Gneiſenau! Er hoͤrt; er erfaͤhrt; er giebt
mir einen Adjutanten ſammt einem Tambour mit;
die Laͤrmtrommel wird geruͤhrt; Soldaten erſchei-
nen; Patrouillen durchziehen die Straßen; kraͤf-
tigere Loͤſchanſtalten kommen in Bewegung, die
zwar den Brand nicht mehr zu unterdruͤcken ver-
moͤgen, aber ihm doch dergeſtalt ein Ziel ſetzen,
daß wenigſtens doch zwei Seiten des, ein großes
Viereck bildenden Gebaͤudes erhalten werden;
waͤhrend der ſchon ergriffene Theil deſſelben noch
bis zum Abend des folgenden Tages in ſich ſelbſt
niederbrennt und fortglimmt. Zu gleicher Zeit
war, in der allgemeinen Verwirrung, auch eine
Anzahl Baugefangener aus dem Stockhauſe los-
gebrochen und begann, hie und da in den Haͤu-
ſern zu pluͤndern; wie denn auch das meinige
von dieſem Schickſal getroffen wurde: bis der
thaͤtige Eifer des Militairs die verſprengte Rotte
wieder einfieng und fuͤr die allgemeine Sicherheit
unſchaͤdlich machte.
So beſonnen, wo es Handeln galt; ſo all-
gegenwaͤrtig gleichſam, wo eine Gefahr nahte,
und ſo beharrlich, wo nur die unabgeſpannte
Kraft zum Ziele fuͤhren konnte, wie der Com-
mandant in dieſer furchtbaren Nacht ſich zeigte,
hatt’ er immer und uͤberall, ſeit dem erſten Au-
genblick ſeines Auftretens, ſich erwieſen. Seit
Wochen ſchon war er ſo wenig in ein Bett, als
aus den Kleidern gekommen. Nur einzelne Stun-
den, die er ungern der Thaͤtigkeit auf den Waͤl-
len, |unter dem heftigſten Kugelregen, abbrach,
ruhte er auf einer aͤhnlichen Pritſche, als jene,
deren ich eben erwaͤhnte, und in einem armſeli-
gen Gemach uͤber dem Lauenburger Thore: aber
jeden Augenblick bereit, mich oder Andre anzu-
hoͤren, wenn wir ihm etwas von Wichtigkeit zu
melden hatten. Vater und Freund des Soldaten,
wie des Buͤrgers, hielt er Beider Herzen durch
den milden Ernſt ſeines Weſens, wie durch theil-
nehmende Freundlichkeit, gefeſſelt. Jeder ſeiner
Anordnungen folgte das unbedingteſte Zutrauen.
Es ſchien unmoͤglich, daß ſein gepruͤfter Wille
und Befehl ſich nicht ſtracks auch in den allge-
meinen Willen verwandelte. Selbſt die Unfaͤlle,
die uns trafen, konnten in dieſem treuen Glau-
ben an ſeine hohe Trefflichkeit nichts mindern:
denn nur zu klar erkannten wir darinn die her-
ben Fruͤchte nicht ſeines, ſondern eines fruͤheren
Verſaͤumniſſes.
Der Morgen des 2. Julius brach an: aber
auch das feindliche Bombardement, ſowenig es
die Nacht geruht hatte, ſchien mit dem Morgen
wieder neue Kraͤfte zu gewinnen. Noth und
Elend, Jammergeſchrei und Auftritte der blutig-
ſten Art, einſtuͤrzende Gebaͤude und praſſelnde
Flammen: — das war faſt das Einzige, was
bei jedem Schritte den entſetzten Sinnen ſich dar-
ſtellte. Muth und beſonnene Faſſung waren mehr,
als jemals, vonnoͤthen: aber nur Wenigen war
es gegeben, ſie in dieſem entſcheidenden Zeitpunkt
zu behaupten; noch Wenigere vielleicht erhielten
die Hoffnung eines gluͤcklichen Ausgangs in ſich
lebendig: aber Alle ohne Ausnahme gaben das
Beiſpiel einer willigen Ergebung in das unver-
meidliche Schickſal. Sie hatten es in Gneiſenau’s
Hand gelegt; mit Jhm ſtanden, mit Jhm fielen
ſie! Vertrauenvoll lieſſen ſie Jhn walten!
Hoͤher aber und hoͤher ſtiegen Gefahr und
Noth von Stunde zu Stunde. Um 9 Uhr Mor-
gens, waͤhrend noch das Rathhaus loderte, ge-
rieth, durch eine andre Bombe entzuͤndet, auch
das Gebaͤude des Stadthofs in Flammen und
pflanzte ſich fort auf drei angrenzende Haͤuſer.
Die ſchwachen Verſuche zum Loͤſchen blieben aber
bald dem Feuer nicht mehr gewachſen. Man ſah
ſich genoͤthigt, brennen zu laſſen, was brennen
wollte. Die gleiche traurige Nothwendigkeit trat
wiederum ein, als auch Nachmittags um 2 Uhr
ein Speicher in vollem Brande ſtand und Nie-
mand mehr wußte, ob es dringender ſey, dem
Feinde von auſſen zu wehren, oder die Flammen
zu loͤſchen, oder das eigne kuͤmmerliche Leben vor
den rings umher ſauſenden Feuerbaͤllen zu wah-
ren. Des Feindes Muth und Anſtrengung aber
wuchs in eben dem Maaſſe, als die Werkzeuge
ſeiner Zerſtoͤrung ſich in ihrer furchtbaren Wirk-
ſamkeit offenbarten.
Gneiſenau’s ſcharfes Auge aber, das mitten
in dieſem graͤßlichen Tumulte jede Bewegung ſei-
nes Gegners huͤtete, ließ es nicht unbeachtet, daß
Dieſer bereits Vorbereitungen traf, ſich von der
Wolfsſchanze aus auch uͤber das Muͤnderfort her-
zuſtuͤrzen, und ſo auch die oͤſtliche Seite des Ha-
fens zu uͤberwaͤltigen. Gegenanſtalten wurden
auf der Stelle getroffen, den bedrohten Punkt
auf’s kraͤftigſte zu unterſtuͤtzen; Befehle flogen;
Alles war in der lebendigſten Anſpannung, und
ein neuer Kampf von blutigſter Entſcheidung
ſollte losbrechen. Es war 3 Uhr Nachmittags …
Da, ploͤtzlich, ſchwieg das feindliche Geſchuͤtz auf
allen Batterieen. Auf das Krachen eines Don-
ners, wie am Tage des Weltgerichts, folgte eine
lange oͤde Stille. Jeder Athem bei uns ſtockte;
Niemand begriff dieſen ſchnellen Wechſel, dies
ſchauerliche Erſtarren ſo gewaltiger losgelaſſener
Kraͤfte.
Da nahte ein feindlicher Parlementair, und
neben ihm ein Mann, den man in der Ferne als
eine Militair-Perſon — dann aber, ſo wie die
Umriſſe der Geſtalt ſich immer deutlicher ausbil-
deten, unter Zweifel und Verwunderung, ſogar als
einen Preuſſiſchen Officier erkannte. Schaͤr-
fere Augen verſicherten ſogar, ſie unterſchieden
die Zuͤge ihres Freundes, des Lieutenant v. Hol-
leben, vom 3. Neumaͤrkiſchen Reſerve-Bataillon,
der erſt vor einigen Wochen mit einer Abtheilung
Kriegsgefangener uͤber See nach Memel abgegan-
gen war. Das ſchien unmoͤglich, und doch war
dem alſo! Das erſte Wort, als er ſich faſt
athemlos in den Kreis ſeiner Bekannten ſtuͤrzte,
war der Ausruf: „Friede! Colberg iſt gerettet!‟
O des Freudenboten! O der willkommnen
Botſchaft! der zur rechten rechten Zeit gekom-
menen! Er war unmittelbar aus dem Haupt-
Quartier des Koͤnigs zu Pilkupoͤnen bei Tilſit
als Courier abgefertigt und der Ueberbringer der
officiellen Nachricht von einem, mit Napoleon ab-
geſchloſſenen vierwoͤchentlichen Waffenſtillſtande,
welchem unverzuͤglich der Friede folgen ſollte.
Eilend, wie es ſeine wichtige Zeitung erheiſchte,
aber ſchon in weiter Ferne noch mehr befluͤgelt
durch den dumpfen Donner des Geſchuͤtzes, der
ihm unſern noch ausharrenden Muth verkuͤndigte,
war er vor wenig Augenblicken erſt in Tramm
angelangt; ſchwerlich gern geſehen, aber auch
ſchwerlich wohl mit noch neuer oder unerwarteter
Botſchaft. Jndeß — er war da; und die Feind-
ſeligkeiten mußten eingeſtellt werden! — Zwar
meyne ich nicht, daß Colbergs Fall an ſeiner ver-
ſpaͤteten Erſcheinung gehangen haben wuͤrde:
denn noch mußte der Platz ſich wenigſtens ſechs
Wochen halten koͤnnen, bevor alle und jede Mit-
tel zum Widerſtande erſchoͤpft waren, oder bevor
der Hunger uns die letzten Waffen aus der Hand
ſchlug: aber Dank ſeiner Eile wegen des geſpar-
ten Menſchenlebens und des fruͤher geſchwunde-
nen Elends, das mit unſrer beharrlichen Pflicht-
Erfuͤllung unumgaͤnglich verknuͤpft geweſen waͤre!
Alſogleich auch ward die froͤhliche Kunde den
Buͤrgern durch die ganze Stadt unter Trommel-
ſchlag bekannt gemacht; ſammt der hinzu gefuͤg-
ten Ermahnung, nunmehr mit verdoppelter Thaͤ-
tigkeit zur Loͤſchung der immer noch brennenden
Gebaͤude zu eilen. Es geſchah, und die Flam-
men wurden, nach wenig Stunden, durch ver-
einte Anſtrengung gluͤcklich bezwungen.
Aber welche Feder, auch viel geuͤbter, als
die meinige, reichte wohl hin, den trunknen Ju-
bel zu ſchildern, der, in ſo uͤberraſchendem Wech-
ſel, alle Gemuͤther ergriff und aus ſich ſelber hin-
wegruͤckte! Man muß warlich ſelbſt in der Lage
geweſen ſeyn, ſich und die Seinigen, ſammt Le-
ben und Wohlfahrt, gaͤnzlich aufgegeben zu ha-
ben, um dies neue, kaum glaubhafte Gefuͤhl von
Ruhe und Sicherheit nachzuempfinden, wobei ſich,
auf Augenblicke wenigſtens, Alles verſchmerzt
und vergißt, was man Drangvolles gelitten hat.
Es iſt, wie ein boͤſer Traum, den man endlich
abgeſchuͤttelt hat, und aus dem man nun zu vol-
lem freudigen Bewußtſeyn zuruͤckkehrt.
Allein naͤchſt dem erfreuenden Gedanken an
ſich ſelbſt, heftete ſich wohl bei Jedem von uns
Allen der Zweite, deſſen wir faͤhig waren, un-
willkuͤhrlich auf unſern edlen Gneiſenau, dem wir
es, naͤchſt Gott, ſchuldig waren, wenn wir uns
dieſer Stunde und eines ſo ehrenvollen Triumphs
erfreuten. Dies Gefuͤhl, auch wo es, ſtumm in
der Bruſt, ſich nur in einem dankbaren Blick
auf ihn hin offenbarte, hat ihm auch ſicherlich
als der ſchoͤnſte Lohn ſeiner Anſtrengungen ge-
nuͤgt. Sein Koͤnig lohnte ihm auf der Stelle,
indem er ihm, durch den Friedensboten ſelbſt,
ſeine Ernennung zu einem hoͤheren Militair-Grad
uͤberſandte; bis ſich ihm, in ſchneller, aber ver-
dienter Stufenfolge, der hohe Standpunkt oͤffnete,
von welchem der Gefeierte zum Heil des gerette-
ten Vaterlandes erfolgreich zu wirken vor Vielen
berufen war.
Die Belagerung war geendigt; eine voͤllige
Waffenruhe trat in unſern Umgebungen ein, und
ſchier alle Bilder des Krieges verſchwanden. Zu-
naͤchſt ward zwiſchen dem Commandanten und
dem franzoͤſiſchen General eine Uebereinkunft ge-
troffen, welcher zufolge den Einwohnern, mit
welchen die Stadt noch immer uͤberfuͤllt war,
und wo ſie ſich zum Theil ohne Obdach und eigne
Mittel der Erhaltung befanden, geſtattet wurde,
ſich uͤber die franzoͤſiſche Poſten-Linie hinaus in
die umliegende Gegend zu begeben. Nach einem
anderweitigen Vertrage blieb zwar die Maikuhle
noch von den jenſeitigen Truppen beſetzt: doch
ſollten Schiffe mit Lebensmitteln (mit Ausnahme
der noch feindlichen ſchwediſchen Flagge) frei in
den Hafen zugelaſſen werden. Unſre thaͤtige
Freundin aber, die ſchwediſche Fregatte, deren
Station auf unſrer Rheede nunmehr zwecklos ge-
worden, verließ uns am 12. Julius; und fortan,
bis zu Ende des Monats, raͤumten auch nach
und nach die Belagerungstruppen ihre Schanzen
und Laͤger, um etwas entferntere Cantonnirun-
gen in der Provinz zu beziehen.
Wenige Tage nach Einſtellung der Feindſelig-
keiten trieb es auch mich hinaus auf die Lauen-
burger Vorſtadt, wo mein liebes Gaͤrtchen gele-
gen war, um den Greuel der Verwuͤſtung, den
es hier gab, mit Muße und in ſtiller Wehmuth
zu betrachten. Faſt erkannt’ ich die Stelle mei-
nes Eigenthums, auf der ich ſo manchen ſuͤßen
Schweiß vergoſſen hatte, nicht wieder. Alles war
aufgewuͤhlt und verheert, (denn gerade auf dieſem
Fleck hatten wir eine Batterie von 5 Kanonen
errichtet,) oder es war dem frei und uͤppig wu-
chernden Unkraut preißgegeben! Meine ſchoͤnen
edlen Obſtſtaͤmme, die Genoſſen meiner Jugend
— Sie ſtarrten mich an in ihren abgehauenen
Stuͤmpfen … Doch, da gab es nichts zu kla-
gen: denn ich ſelbſt hatte ja, als es Noth that,
die Art an ſie gelegt! Aber es war mir doch
wunderlich und weh um’s Herz, und ich mußte
dem veroͤdeten Plaͤtzchen den Ruͤcken wenden, um
nicht noch weicher zu werden.
Da blickt’ ich nun zufaͤllig in der naͤchſten
Nachbarſchaft umher, und ſah bald, daß ich es
nicht allein war, der Troſt und Ermuthigung
bedurfte. Auf der ganzen weiten Brandſtaͤtte
umher ſchlichen die ungluͤcklichen Bewohner, zum
Theil mit ihren Saͤuglingen auf den Armen, zwi-
ſchen den Schutthaufen ihres vernichteten Eigen-
thums; ſcharrten hie und da etwas aus der Aſche
hervor, das der Gluth widerſtanden, aber nun
doch keinen Nutzen mehr fuͤr ſie hatte; jammerten
3. Baͤndchen. (11)
und weinten ſchmerzliche Thraͤnen, daß ſie nun
nirgend eine bleibende Staͤtte faͤnden. Das ſchnitt
mir je laͤnger, je tiefer durch’s Herz; mir ſelber
giengen nunmehr die Augen vor Mitleid uͤber,
und ich verfiel in ein tiefes Nachdenken, wie doch
dieſen Ungluͤcklichen, wenn auch nur vor der Hand,
zu helfen ſeyn moͤchte? Jndem ich aber uͤber
einige verkohlte Balken und andre halb verbrannte
Truͤmmer, die mir im Wege lagen, dahinſtol-
perte, fiel mir’s ploͤtzlich bei, daß ſich eben davon
wohl einige Nothhuͤtten wuͤrden errichten laſſen,
um den armen Leuten, zumal jetzt in den Som-
mermonaten, einſtweilen ein leidliches Obdach zu
verſchaffen.
Voll von dieſem Gedanken, machte ich mich
ſogleich auf den Weg zu unſerm Commandanten,
um ihm die Noth der Heimloſen, zuſammt mei-
nem Einfall, vorzutragen, und die Erlaubniß
von ihm zu erbitten, daß ſie ſich auf den ver-
wuͤſteten Stellen nothduͤrftig anſiedeln koͤnnten.
Jch langte an, und ſtieß unten im Hauſe auf
ein großes Gewuͤhl von Menſchen: denn der Com-
mandant hatte an dieſem nemlichen Tage den
General Loiſon, zuſammt ſeinem ganzen General-
Stabe, zu ſich eingeladen; und eben ſaß die Ge-
ſellſchaft zur Tafel. Jndeß ſtieß mir doch unter
den Kommenden und Gehenden alsbald unſer
Vice-Commandant, der Major v. S., auf, der
mich wegen meines etwannigen Anbringens be-
fragte. Obwohl nun gerade Er nicht allemal
mein Mann war, ſo trug ich doch kein Beden-
ken, mich in meinen Wuͤnſchen gegen ihn aus-
zuſprechen. Seine kurze Antwort war: „Daraus
kann nichts werden. Und wenn ich ſelbſt der
Commandant waͤre, wuͤrd’ ich es nimmermehr
zugeben.‟ — Nun, das war kurz und deutlich;
und ſo verließ er mich auch und gieng die Treppe
hinauf.
Aber ich blieb auch nicht dahinten, und folgte
ihm auf der Ferſe, bis er in den Geſellſchafts-
Saal eintrat und die Thuͤre hart hinter ſich zu-
zog. Deß war ich nicht gewohnt an dieſem Orte;
ich bedachte mich alſo, im Vertrauen auf meine
gute Sache, auch nicht, fein ſaͤuberlich anzu-
klopfen und unmittelbar darauf einzutreten. Mei-
ne Augen ſuchten den Commandanten; er ſaß,
dem General Loiſon zur Seite, an der Tafel.
Kaum ward er Meiner anſichtig, ſo ſtand er auf
und trat mir einige Schritte entgegen. Mit lei-
ſer Stimme trug ich ihm kurz vor, was zur
Sache gehoͤrte und was ſichtbar ſeine volle Auf-
merkſamkeit beſchaͤftigte. „Die armen Leute!‟
rief er dann — „Ja, Nettelbeck! Laß ſie in Got-
tes Namen bauen!‟ — Zugleich fuͤllte er mir
ein Glas Wein; ich dankte; und nahm mir, im
Davoneilen, nur noch die Zeit, dem Hrn. v. S.,
der gleichfalls zu Tiſche ſaß, eine laͤchelnde Ver-
beugung zu machen.
Aber nicht um dieſen kleinen Triumph war
mir’s zu thun, ſondern, um dem kummervollen
(11 *)
Haͤuflein dort drauſſen unverzuͤglich Troſt und
Freude zu bringen. Mit Jauchzen ward ich an-
gehoͤrt und empfangen, als ich ihnen, in Gnei-
ſenau’s Namen, verkuͤndigte, daß ihnen geſtattet
ſeyn ſolle, ſich auf ihren Brandſtaͤtten in leichten
Baracken wieder anzuſiedeln. Wirklich auch ver-
liefen nicht drei oder vier Tage: ſo ſtand dort
eine neue Anlage fertig, die mich in ihren aͤuſſe-
ren Umriſſen auf das lebhafteſte an ein fruͤher
geſehenes indianiſches Dorf erinnerte. Sicher
aber war es den Bewohnern, ſelbſt unter dieſem
armſeligen Obdach, leichter und wohler um’s
Herz, als damals, da ich ſie hoffnungslos unter
den Truͤmmern ihres fruͤheren Wohlſtandes um-
herkriechen ſah.
Jndem ich jedoch nun ſelbſt wieder zu eini-
ger Ruhe kam, konnt’ ich nicht umhin, den Blick
auch auf meine eigene Lage zu richten und mir
zu geſtehen, daß dieſe Zeit der Belagerung mich
leicht zum armen Manne gemacht haben koͤnne.
Mein kleines baares Vermoͤgen war gaͤnzlich drauf
gegangen; theils an Arbeiter, die ich aus meiner
Taſche bezahlte, theils durch Spenden an unſer
braves Militair, das jede Art der Erquickung,
die wir Buͤrger ihm zu bereiten vermochten, ſo
wohl verdient hatte. Mir aber war es das ſuͤ-
ßeſte Geſchaͤft, wenn ich den wackern Leuten, bei
ihrem harten Dienſt, dann und wann einen war-
men Mundbiſſen, oder was es ſonſt gab, ſelbſt
auf die Waͤlle, vor die Thore, in die Blockhaͤu-
ſer hinbringen und ihnen Troſt und guten Muth
einſprechen konnte.
Es iſt wahr; meine guten Freunde haben
mir deshalb oftmals Vorſtellungen gethan, daß
mich mein guter Wille zuweit fuͤhre und zum
Verſchwender mache: aber nie verließ mich der
frohe Muth, ihnen zu antworten: „Jch bin ein
alter Mann ohne Kind oder Kegel: wem ſollt’
ich es ſparen? Aber waͤr’ ich auch der Juͤngſte
unter euch: wie leicht kann man in dieſen Zeiten
den Tod haben! Mir liegen Koͤnig und Vater-
ſtadt allein am Herzen; und uͤberleb’ ich dieſe
Zeit: — nun, ſo werden ja ſie mich auch nicht
darben laſſen.‟
Feſt hielt ich, und halte noch, an dieſem
ſchoͤnen Glauben: aber freilich war das auch um
ſo nothwendiger, wenn ich nun auf den geringen,
mir jetzt uͤbrig gebliebenen Reſt meiner Haabe
blickte. Mein Haus hatte durch das Bombarde-
ment in allen ſeinen Theilen bedeutend gelitten;
meine Scheune vor dem Thore war niederge-
brannt, mein Gartenhaͤuschen abgebrochen wor-
den, mein Garten verwuͤſtet. Von den Vorraͤ-
then meines Gewerbes war nichts mehr uͤbrig,
um es neu wiederherzuſtellen; und das beſchaͤdigte
Eigenthum zu beſſern, haͤtt’ es Huͤlfsmittel be-
durft, die mir jetzt kaum mehr zu Gebote ſtan-
den. Meine Lage war keinesweges erfreulich!
Aber war ich auch wohl berechtigt, uͤber er-
littene Einbuße zu klagen? Meine Mitbuͤrger
hat all dies Ungluͤck ja auch — den Einen mehr,
den Andern weniger — getroffen. Nein, ich habe
auch nicht klagen, ſondern mir’s nur vom Her-
zen wegreden wollen. Er, der mir’s gab, hat’s
auch genommen: ſein Name ſey gelobet! Aber
daß Gott meine liebe Vaterſtadt ſo wunderbar
erhalten hat, deß bin ich froh; und daß er un-
ſerm guten Koͤnige Geſundheit, Muth und Staͤrke
verliehen, ſich in ſeinem großen Ungluͤck ſo herr-
lich wieder aufzurichten. — Wer, der Jhm ange-
hoͤrt, haͤtte ein ſolches Heil nicht gerne mit noch
groͤßeren Opfern erkaufen moͤgen?
Mir ward indeß in dieſen nemlichen Tagen
von dieſes gnaͤdigen Monarchen Hand eine Aus-
zeichnung zu Theil, die ich ſowenig erwartet
hatte, als vor Andern, die mit mir auch nur
ihre Pflicht gethan, verdient zu haben glaube; —
eine Auszeichnung, die mich ſogar beſchaͤmen
wuͤrde, wenn ich nicht in der Meynung ſtaͤnde,
daß dieſe Koͤnigliche Hand in mir eigentlich die
geſammte Colberger Buͤrgerſchaft habe ehren und
ihren bewieſenen Pflicht-Eifer anerkennen wollen.
Jch erhielt nemlich folgendes Koͤnigliche Kabinets-
Schreiben:
„Seine Koͤnigliche Majeſtaͤt von Preuſſen ꝛc.
„haben aus dem Berichte des Obriſtlieutenants
„v. Gneiſenau, worinn er Hoͤchſtdenenſelben die-
„jenigen Perſonen anzeigt, welche ſich waͤhrend
„der Belagerung der Veſtung Colberg ausgezeich-
„net haben, mit beſonderem Wohlgefallen erſehen,
„daß der Vorſteher der Buͤrgerſchaft, Nettelbeck,
„die ganze Belagerung hindurch mit ruͤhmlichem
„Eifer und raſtloſer Thaͤtigkeit zur Abwehrung
„des Feindes und zur Erhaltung der Stadt mit-
„gewirkt hat. Seine Majeſtaͤt wollen daher dem
„Nettelbeck fuͤr den ſolchergeſtalt zu Tage geleg-
„ten loͤblichen Patriotismus hierdurch Dero Er-
„kenntlichkeit bezeigen und ihm, als ein oͤffent-
„liches Merkmal der Anerkennung ſeiner ſich um
„das Beſte der Stadt erworbenen Verdienſte, die
„hierneben erfolgende goldene Verdienſt-Medaille
„verleihen.
Memel den 31. July 1807.
„Friedrich Wilhelm.‟
„An den Vorſteher der Buͤrger-
ſchaft zu Colberg, Nettelbeck.‟
Gleichzeitig erhielt unſer verehrter Comman-
dant, nach dem gnaͤdigen Willen des Koͤnigs,
ſeine Abberufung von dem ſo ehrenvoll bekleide-
ten Poſten, um, unmittelbar unter den Augen
des Monarchen, an die Re-Organiſation des
preuſſiſchen Heeres mit Hand anzulegen. Das
war fuͤr uns ein ſchmerzlicher Verluſt; ein bittrer
Wermuthtropfen in den Freudenkelch, den uns
unſre Erloͤſung dargeboten hatte! Allein unſer
Liebling eilte einer hoͤheren Beſtimmung entgegen;
und unſer Eigennutz, wie verzeihlich er hier auch
war, mußte ſchweigen! Schon am 8. Auguſt
ſchied Gneiſenau von uns: doch wie er ſchied,
moͤge nachſtehendes Schreiben documentiren, wel-
ches er im Augenblick ſeiner Abreiſe an uns erließ:
„Meine Herren Repraͤſentanten der patrio-
„tiſchen Buͤrgerſchaft zu Colberg!
„Da ich auf unſers Monarchen Befehl mich
„eine Zeitlang von dem mir ſo lieb gewordenen
„Colberg trenne, ſo trage ich Jhnen, meine Her-
„ren Repraͤſentanten, auf, den hieſigen Buͤrgern
„mein Lebewohl zu ſagen. Sagen Sie denſelben,
„daß ich ihnen ſehr dankbar bin fuͤr das Ver-
„trauen, das ſie mir, von meinem erſten Ein-
„tritt in die hieſige Feſtung an, geſchenkt haben.
„Jch mußte manche harte Verfuͤgungen treffen,
„Manchen hart anlaſſen: — Dies gehoͤrte zu den
„traurigen Pflichten meines Poſtens. Dennoch
„wurde dies Vertrauen nicht geſchwaͤcht. Viele
„dieſer wackern Buͤrger haben uns freiwillig ihre
„Erſparniſſe dargebracht; und ohne dieſe Huͤlfe
„waͤren wir in bedeutender Noth geweſen. Viele
„haben ſich durch Unterſtuͤtzung unſrer Kranken
„und Verwundeten hochverdient gemacht. Dieſe
„ſchoͤnen Erinnerungen von Colberger Muth,
„Patriotismus, Wohlthaͤtigkeit und Aufopferung
„werden mich ewig begleiten. Jch ſcheide mit
„geruͤhrtem Herzen von hier. Meine Wuͤnſche
„und Bemuͤhungen werden immer rege fuͤr eine
„Stadt ſeyn, wo noch Tugenden wohnen, die
„anderwaͤrts ſeltener geworden ſind. Vererben
„Sie dieſelben auf Jhre Nachkommenſchaft. Dies
„iſt das ſchoͤnſte Vermaͤchtniß, das Sie ihnen
„geben koͤnnen. Leben Sie wohl und erinnern
„ſich mit Wohlwollen
„Jhres
„treu ergebenen Commandanten
„N. v. Gneiſenau.‟
Ein ſo herzlicher Abſchied durfte nicht ohne
Erwiederung bleiben. Wir verſammleten uns,
und machten unſerm vollen Herzen in folgender
Bekanntmachung an unſre Buͤrgerſchaft Luft:
„Colberg, den 16. Auguſt 1807.
„Am 9. d. M. entruͤckten hoͤhere Befehle un-
„ſern wuͤrdigen Herrn Commandanten aus unſrer
„Mitte; und mit dem Verluſte dieſes, mit ſelte-
„nen Tugenden geſchmuͤckten Mannes ſchwanden
„unſre ſtolzen Traͤume dahin. Gerne waͤren wir
„im Beſitz des unverzagten Beſchuͤtzers unſrer
„Waͤlle fuͤr immer geblieben; und gerne haͤtten
„wir nach den vollbrachten verhaͤngnißvollen Ta-
„gen die ſeligen Fruͤchte des Friedens nur mit
„Jhm getheilt: aber nicht beſtimmt, dieſe in un-
„ſern ſichern Mauern zu genieſſen, hatte Jhm
„unſer Monarch, ganz uͤberzeugt von dem Wer-
„the dieſes großen Mannes, einen andern Kreis
„vorgezeichnet, in welchem ſein raſtloſer und thaͤ-
„tiger Geiſt ſich ein neues Denkmal ſtiften ſollte.
„Jſt jedoch dieſer, unſern Herzen ſo theuer
„gewordne Held nicht mehr unter uns, und hat
„er uns verlaſſen, um vielleicht nie den Ort wie-
„derzuſehen, deſſen beneidenswerthes Schickſal,
„in den mißlichſten Augenblicken, ſeinen einſichts-
„vollen Befehlen untergeordnet war: ſo wird
„gleichwohl das Andenken an Jhn, der bei den
„Tugenden des Kriegers nie die Pflichten des
„Menſchen vergaß, der, von der erſten Minute
„ſeines Erſcheinens an, Vater eines jeden Ein-
„zelnen wurde und es auch noch im Moment des
„Scheidens blieb, nie in unſerer, von Dank ge-
„gen ihn erfuͤllten Seele erloͤſchen. Wir Alle
„haben ihm ja Alles — die Erhaltung unſrer
„Ehre und unſrer Haabe, die Zufriedenheit un-
„ſers Landesherrn und die Achtung unſrer ehe-
„maligen Gegner zu verdanken.
„Moͤge es erſt nur unſrer ſpaͤteſten Nach-
„kommenſchaft vorbehalten ſeyn, die Aſche unſers
„Vertheidigers zu ſegnen!
„Von ſeiner Abreiſe wurden wir Tages zu-
„vor durch das hier woͤrtlich eingeruͤckte Schrei-
„ben benachrichtigt.‟ (Folgt nun das oben be-
reits mitgetheilte Abſchiedsſchreiben des Hrn. v.
Gneiſenau.)
„Wir haben ſeinen Auftrag mit frohem Her-
„zen erfuͤllt; und zur Steuer der Wahrheit ver-
„einige ſich die Buͤrgerſchaft in dem oͤffentlichen
„Geſtaͤndniß:
„„Wir haben nie einen Zwang empfunden;
„„uns haben keine harte Verfuͤgungen gedruͤckt,
„„und das, was wir thaten, geſchah aus reiner
„„Vaterlandsliebe. Das hoͤchſte Weſen nehme
„„Jhn dafuͤr in ſeine beſondre Obhut, laſſe Jhn,
„„nach ſeinem thatenvollen Leben, auch bald die
„„Fruͤchte des Friedens im Schooße der theuern
„„Seinigen genieſſen, und wenn uns neue Stuͤr-
„„me und Gefahren drohen: ſo kehre Er zuruͤck
„„in unſre nicht uͤberwundene Mauern und finde
„„auch in uns noch das Voͤlkchen wieder, von
„„dem Er ſo liebevoll ſchied!‟
„Dreſow. Hentſch. Zimmermann. Hoͤpner.
„Nettelbeck. Darckow. Ziemcke. Gibſon.‟
Wenige Tage vor der Abreiſe des ſo allge-
mein verehrten Mannes fuͤhrte mich das Geſpraͤch
mit ihm auf meinen verſtorbenen Vater, wie der
in den drei ruſſiſchen Belagerungen dem damali-
gen Commandanten, Obriſt von der Heyden,
ebenſo mit ſeinen guten und willigen Dienſten
habe zur Hand gehen koͤnnen, als es, durch ein
ſonderbares Verhaͤngniß, nach ſo langen Jahren
nun auch mir, dem Sohne, ſo gut geworden ſey,
dem zweiten preißwuͤrdigen Vertheidiger meiner
Vaterſtadt mich in gleicher Weiſe nutzbar zu ma-
chen. Zum Andenken eines ſo ehrenden Verhaͤlt-
niſſes — ſetzte ich hinzu — habe ſich damals
mein Vater Heydens Bildniß von ihm erbeten,
es auch erhalten, und darnach unſerm Schuͤtzen-
hauſe geſchenkt, wo es noch zu dieſer Stunde
aufgeſtellt ſey und der Stadt zu einer dankbaren
Erinnerung diene. So bewege mich’s nun auch
zu dem herzlichen Wunſche, daß unſer ſcheiden-
der Freund und Wohlthaͤter mir ein aͤhnliches
Unterpfand ſeiner geneigten Geſinnung hinterlaſ-
ſen moͤge, das ſein Ehren-Gedaͤchtniß fuͤr alle
kuͤnftige Zeiten unter uns bewahre. Gneiſenau
verſprach es mit freundlichem Laͤcheln.
Und dieſer Zuſage hatt’ er auch nicht vergeſ-
ſen! Vielmehr damit dies Geſchenk einen neuen,
noch hoͤheren Werth erhielte, veranſtaltete er es,
daß mir daſſelbe, mittelſt einer uͤberaus guͤtigen
Zuſchrift, durch ſeine Frau Gemahlinn, ein Jahr
ſpaͤter von Schleſien aus zugeſchickt wurde. Mei-
ne Freude kannte, wie man ſich leicht denken
kann, keine Grenzen. Jch beſorgte dem theuern
Bildniſſe einen Rahmen, ſo ſchoͤn, als er nur
immer bei uns aufzubringen war; und auf der
Ruͤckſeite ließ ich den Namen des Gebers und die
Umſtaͤnde, welche dies Geſchenk begleitet hatten,
verzeichnen. Zugleich aber ſtand ich in Sorge,
daß ein ſolches Denkmal in den Haͤnden eines
Privatmannes, zumal in meinen hohen Jahren,
leicht das Loos einer unruͤhmlichen Vergeſſenheit
treffen koͤnne; und ſo hielt ich es fuͤr wohlgethan,
meinen Schatz dem Commandantur-Hauſe als
ein Vermaͤchtniß zuzuweiſen, bei deſſen Anblick
einſt noch unſern Ur-Enkeln das Herz vor Stolz
und Freude hoͤher aufgehen moͤchte.
Aber bald wechſelten unſre Commandanten
in ſchneller Folge; und auch Einer, deſſen Name
hier zur Sache nichts thut, war eben abgegan-
gen, waͤhrend ſeine Gemahlinn, die noch einige
Zeit bei uns verweilte, bereits ein andres Haus
bezogen hatte. Zufaͤllig kam ich in das Com-
mandantur-Gebaͤude; meine Augen ſuchen und
— vermiſſen das von mir geſtiftete Bildniß. Nach
langem und vielem Fragen erfahre ich endlich, es
habe neuerdings, ſammt andern Mobilien, den
Umzug mitgemacht. Jch eile hin zu der Dame,
und bitte hoͤflichſt um Wiedererſtattung. Die
Dame weiß von keinem Bildniß, und verweiſt
mich zuletzt an ihre Domeſtiken, die es aus Un-
kunde mitgenommen haben koͤnnten. Nun frage,
nun forſche ich ſelbſt in allen Winkeln des Hau-
ſes umher; — und — ſiehe da! das mir ſo
theure Gemaͤlde findet ſich endlich wieder — im
Huͤhnerſtall; beſchmutzt auf eine Art, die keiner
naͤheren Andeutung bedarf! Mein ganzes Herz
war empoͤrt. Jch mag mich auch wohl ein we-
nig deutſch und kraͤftig uͤber dieſe ſchmaͤhliche Ent-
weihung ausgelaſſen haben, indem ich mein wie-
der erobertes Kleinod heimtrug, es von allem
Makel ſaͤubern ließ und dann, mit freudigem
Gefuͤhl, an die Staͤtte zuruͤckbrachte, die ihm ge-
widmet worden. Moͤge es da fortan und immer
die ihm gebuͤhrende Achtung und beſſere Aufſicht
finden!
Allein mit dem Andenken an verdiente Maͤn-
ner iſt es ein Ding, das Einen wohl traurig
und niedergeſchlagen machen koͤnnte, wenn man
ſieht und erlebt, wie ſchwer es dem ſelbſtſuͤchti-
gen Menſchenherzen eingeht, ſeine Liebe und
Dankbarkeit fuͤr die Davongeſchiedenen treu zu
bewahren. Das ſollt’ ich auch noch anderweitig
mit Leidweſen erfahren! Es kam nemlich, bald
nach der Belagerung, der Herr Groß-Kanzler
v. Beyme, auf ſeinem Wege aus Preuſſen nach
Berlin, hieher zu uns und nahm, waͤhrend ſei-
nes Verweilens, bei dem Kaufmann Schroͤder
ein Mittagsmahl ein, wobei ich die Ehre hatte,
von ihm an ſeine Seite gezogen zu werden. Auch
mehrere angeſehene Maͤnner vom Handelsſtande
waren gegenwaͤrtig. Daß die Unterhaltung, de-
ren mich der Miniſter wuͤrdigte, ſich meiſt auf
die naͤchſtverlebte Zeit bezog, war wohl ſehr na-
tuͤrlich; ſo wie nicht minder, daß dabei unſers
wackern Vice-Commandanten v. Waldenfels und
ſeines Heldentodes mit ruͤhmlichſter Erwaͤhnung
gedacht wurde. „Einem ſo braven Manne‟ —
aͤuſſerte dabei unſer hoher Gaſt, — „einem ſo
braven Manne ſollte der Denkſtein auf ſeinem
Grabe nicht fehlen!‟
Der Gedanke elektriſirte mich. Jch ſtand auf
von meinem Stuhle, ſah Tafel auf und Tafel ab
rings meine anweſenden Mitbuͤrger an, und ſprach:
„Ein Wort zur guten Stunde! — Ja, meine
Herren, wir erfuͤllen es, und ſetzen unſerm Wal-
denfels ein Ehrenmal, wie er’s verdient?‟ —
Niemand antwortete mir. Jch aber erhob
meine Stimme noch hoͤher und rief: „Wie? Kein
Denkmal auf eines ſolchen Mannes Grabe? —
Meine Herren, das iſt eine Ehrenſache fuͤr Jeden
unter uns!‟ —
So herausgepreßt, erklang denn freilich hie
und da ein zoͤgerndes „Ja!‟ — aber es fiel in
die Augen, daß es nicht von aufgeregtem freu-
digen Herzen hervorgieng. Meine funkelnden
Augen ſpiegelten ſich nur in denen des Groß-
Kanzlers wieder, der zu mir ſagte: „Sie ge-
ſtatten mir doch, daß ich meinen Beitrag hier
ſofort in Jhre Haͤnde lege?‟ — Das verbat ich
mir nun, wie billig, und hatte Muͤhe, meinen
Willen darinn durchzuſetzen. Deſto leichter ward
mir’s in den naͤchſtfolgenden Tagen, mit den
Jaja-Stammlern, die ich an ihr Wort erinnerte,
fertig zu werden: denn da fand ſich’s, daß es
nur in die verhallende Luft geſprochne Worte ge-
weſen waren!
Mocht’ es ſeyn! Jch aber habe mir ſelber
Wort gehalten und auf eigene Koſten einen ſchoͤ-
nen achteckigen geglaͤtteten Grabſtein, ſieben Fuß
hoch, beſorgt, worauf der Name „Waldenfels,‟
ſammt Angabe ſeiner Militairwuͤrden und des
Tages, da er fuͤr Koͤnig und Vaterland gefallen,
verzeichnet ſteht. Dies einfache Monument be-
zeichnet ſeine Grabſtaͤtte. Zu gleicher Zeit ließ
ich auch mir die meinige hart neben derſelben mit
Steinen ausſetzen, wo ich denn endlich auch ru-
hen werde. —
Ehre den braven Maͤnnern, die, gleich Wal-
denfels, in und fuͤr Colberg geblutet und ihr
Beſtes gethan haben! Wo 21 Officiere auf dem
Bette der Ehre das Leben verhauchten und eine
gleiche Anzahl ſchwere todesgefaͤhrliche Wunden
aufzuweiſen hatte: da bedarf es keines weiteren
Zeugniſſes, daß die Beſatzung in allen ihren Gra-
den ihre volle Schuldigkeit gethan. Wie der Mo-
narch ſelbſt dieſe heldenmuͤthige Dahingebung ge-
wuͤrdigt und anerkannt habe, ſpricht ſich vollguͤl-
tig in der Auszeichnung aus, die er dem Zwei-
ten Pommerſchen Jnfanterie-Regimente gewaͤhrte,
welches ſeit jenen Tagen die Ehren-Namen des
Regimentes „Colberg‟ und „v. Gneiſenau‟ mit
einander vereinigt.
Zwar — die Ausnahmen ſind es, welche die
Regel beſtaͤrken; und ſo gab es denn freilich auch
unter Colbergs Braven einzelne Feiglinge, die
es nicht werth waren, in den ehrenvollen Reihen
Jener zu fechten: aber billig ſollte ihr Andenken
der Vergeſſenheit uͤbergeben bleiben; und auch ich
wuͤrde mich ſcheuen, es in dieſer Schrift wieder
aus dieſem ſchimpflichen Grabe hervorzuziehen,
wenn nicht eine anderweitige zwiefache Betrach-
tung mir das Gegentheil zu gebieten ſchiene.
Einmal geſchieht ſelbſt jenen Braven, die in ſo
glaͤnzendem Lichte daſtehen, nach meinem Gefuͤhl,
eine Ungebuͤhr, wenn hier die Schattenſeite des
Gemaͤldes gaͤnzlich verhuͤllt wuͤrde. Dann aber
iſt von dem unwuͤrdigen Betragen dieſer Finſter-
linge ſchon fruͤher ſo Manches, und mit Einmi-
ſchung meines Namens, zur Kunde des Publi-
kums gekommen, was jetzt als luͤgenhafte Auf-
buͤrdung des damaligen unſeligen Partheigeiſtes
ausgeſchrieen werden koͤnnte, wenn ich es hier
ganz uͤbergienge und dadurch gleichſam ſtillſchwei-
gend zuruͤcknaͤhme. Daß ich nicht gerne davon
ſpreche, wird man mir glauben; indeß ſtehe hier
meine treue und einfaͤltige Erzaͤhlung!
Jn einer Nacht, wo es ſcharf uͤber die Stadt
hergieng, (es war zwiſchen dem 1. und 2. Jul.)
befand ich mich auf dem Markte, neben dem
Spruͤtzenhauſe, um ſofort bei der Hand zu ſeyn,
wenn irgend etwa eine Bombe zuͤndete. Hier
eilte nun ein Mann im grauen Regenmantel und
die weiſſe Schlafmuͤtze in’s Angeſicht gezogen,
mit weiten Schritten an mir voruͤber, und verlor
ſich in einen Weinkeller, den man fuͤr bomben-
feſt hielt und wohin ſich deswegen bereits meh-
rere alte Maͤnner, Frauen und Kinder, zuſammt
einigen furchtſamen Buͤrgern, vor dem feindlichen
Geſchoß gefluͤchtet hatten. Gleich nachher aber
ſtuͤrmte aus eben dieſem Keller der Haufe in
groͤßter Verwirrung hervor; und indem ich mich
nach der Veranlaſſung erkundige, erfahre ich: Es
ſey eine Granate durch das Gewoͤlbe hineinge-
drungen. Jch ſteige hinunter, um mich zu uͤber-
zeugen, ob Schaden geſchehen und Huͤlfe noͤthig
ſey. Davon zeigt ſich indeß nirgend eine Spur;
man faßt nun wieder Muth, kehrt in den ver-
laſſenen Zufluchtsort zuruͤck, und drei meiner Be-
kannten, rechtliche Maͤnner, fordern mich auf,
noch einige Augenblicke zu verweilen und ein Glas
Wein mit ihnen zu trinken.
Jndem ich mir nun hierbei die bunte Ver-
3. Baͤndchen. (12)
ſammlung mit etwas beſſerer Muße anſehe, be-
merke ich auch ſeitabwaͤrts den Mann in der
Schlafmuͤtze, der mir bereits durch ſeine langen
Beine merkwuͤrdig geworden. Halb kommen mir
ſeine Geſichtszuͤge bekannt vor: aber die Dun-
kelheit des Winkels laͤßt mich nichts mit Gewiß-
heit erkennen. Jch greife nach einer Kerze; leuchte
ihm naͤher unter die Augen und — ſiehe! Es iſt
der Hauptmann ***, von unſrer Garniſon. Hoch-
verwundert frage ich: „Ei tauſend, Herr Haupt-
mann! Wie gerathen Sie hieher? Jſt dies Loch
ein Aufenthalt fuͤr Sie? Ein Officier — und
verkriecht ſich unter alte Weiber und Wiegenkin-
der! Der Koͤnig hat Jhnen gewiß vierzig Jahre
Brodt gegeben: und nun es in ſeinem Dienſte
gilt, verthun Sie ſich abſeits?‟ — Er ſtotterte
etwas daher: „Sehen Sie nicht, daß ich krank
bin? Jch habe das Fieber.‟ — „Daß Sie eine
Schlafmuͤtze ſind, ſehe ich; und das Bombenfieber
ſehe ich auch;‟ war meine Antwort. — „Hier
heraus mit Jhnen; und fort, wohin Sie gehoͤ-
ren!‟ — Jch waͤre in meiner Ereiferung vielleicht
noch tiefer in den Text hineingerathen, wenn
meine vorgedachten Bekannten mich nicht von ihm
abgezogen und beguͤtigt haͤtten. Unterdeſſen ließ
der Fieber-Patient ſich ein gutes Gericht Eſſen
und ein Viertel Wein auftragen, und ſpeiſete mit
einem Appetit, der auch dem Geſundeſten Ehre
gemacht haben wuͤrde.
Aber es ſollte hier gleich noch ein zweites
aͤhnliches Abentheuer geben. Denn indem ich
mich von dem Jammerbilde nach einer andern
Seite wende, fiel mir ein Feldbette in die Augen,
und auf daſſelbe hingeſtreckt ein Menſch, der noth-
wendig auch eine Militair-Perſon ſeyn mußte,
da unter der Bettdecke hervor ein Degen mit dem
Portepee niederhieng. Mein Geſicht mochte bei
dieſem Anblicke wohl wie ein großes Fragzeichen
ausſehen: denn unaufgefordert, erklaͤrten mir
meine Freunde, die hier Beſcheid wußten: Es
ſey der Lieutenant ***, der ſich zu guͤtlich gethan
und in dieſem, ihm gewoͤhnlichen Zuſtande ſo ſei-
nen Aus- und Eingang im Weinkeller habe.
Das war mir ein Greuel mit anzuhoͤren! Jch
riß ihm die Bettdecke vom Leibe, und rief: „Herr,
plagt Sie … Was haben Sie hier zu ſchaf-
fen? Heraus, und auf Jhren Poſten! Hoͤren
Sie den Geſchuͤtzdonner nicht?‟
Brummend taumelte er empor, und ſich mit
Muͤhe auf den Fuͤßen haltend, tobte der Jaͤmmer-
liche: „Warum wird das verfluchte Loch nicht
uͤbergeben, damit man nur Einmal aus dem mi-
ſerablen Neſte herauskaͤme!‟ — Jch traute mei-
nen eignen Ohren nicht, und haͤtte mich warlich
an dem Elenden thaͤtlich vergriffen, wenn meine
gelaſſeneren Freunde mir nicht in den Arm ge-
fallen waͤren; waͤhrend Jener wieder auf ſein
Lager niedertorkelte und prahlte, wieviel Wein-
flaſchen er heute ſchon den Hals gebrochen.
Beide Auftritte waren indeß zu oͤffentlich und
(12 *)
vor zu vielen Zeugen vorgefallen, als daß ſie
ganz mit dem Mantel der Liebe zu bedecken ge-
weſen waͤren. Der Hauptmann rechtfertigte ſich
muͤhſam durch ein, ſey wie es wolle, beigebrach-
tes aͤrztliches Atteſt, das ſeine Krankheit bekraͤf-
tigte, aber es unermittelt ließ, warum ſich der
Patient nicht lieber ruhig in ſeinem Quartier
verhalten und eine genauere Diaͤt befolgt habe?
Gegen den Lieutenant aber ſprachen die Zeugniſſe
ſo entſcheidend, daß er einem dreimonatlichen Ar-
reſt und demnaͤchſt ſeiner Dienſt-Entlaſſung ſich
nicht entziehen konnte.
Zu einer andern Zeit ſtanden unſre Vorpo-
ſten ringsum des Abends in einem lebhaften
Feuer gegen den Feind, der allmaͤhlig immer
mehr Truppen ins Gefecht brachte. Der Com-
mandant, in deſſen Gefolge ich war, befand ſich
auf dem Baſtion Pommern, von wo auch das
Feld zu beiden Seiten des Platzes am bequem-
ſten uͤberſehen werden konnte. Um die Unſrigen
gegen Sellnow hin zu unterſtuͤtzen, war der
Obriſt *** mit drei Compagnieen ſeines Batail-
lons abgeſchickt worden, mit dem Auftrage, ſich
den Schillſchen Truppen anzuſchlieſſen und das
Gefecht zum Stehen zu bringen. Anſtatt aber
hier vor dem Gelder-Thore nunmehr eine neue
Regſamkeit zu bemerken, hoͤrte das Feuer dort-
hin, zu des Commandanten nicht geringer Ver-
wunderung, bald gaͤnzlich auf; und die Verwun-
derung ſtieg zur Unruhe, da immer noch kein
Rapport von der entſandten Verſtaͤrkung ein-
gieng. Jch erbot mich, Nachricht an Ort und
Stelle einzuziehen, und eilte von dannen, den
Wall hinunter.
Von einem Pulverwagen, der mir in den
Weg kam, ſtraͤngte ich ein Zugpferd ab, warf
mich hinauf und trabte zum Gelder-Thore hin-
aus. Die Nacht war ſtockfinſter geworden. Als
ich uͤber die ſogenannte Kuhbruͤcke kam, ſtutzte
mein Gaul, hob ſich und wollte, trotz all mei-
nem Treiben, nicht von der Stelle. Endlich ward
ich gewahr, daß er ſich vor einem Soldaten
ſcheute, der ſich, dicht vor ſeinen Fuͤßen, queer
uͤber den Weg gelagert hatte. Der Burſche hatte
geſchlafen; und mit ihm ward es auf Einmal
rund um mich her wach und laut, und ein Du-
tzend Baßkehlen rief: „Holla! holla! Nur ſachte!‟
— Mit Einem Blicke uͤberſah ich nun die ſaubre
Schlaf-Compagnie, die ſich hier meiſt in’s Gras
geſtreckt hatte, anſtatt den bedraͤngten Cameraden
weiter vorwaͤrts Luft zu machen.
Jm bittern Unmuth meines Herzens ſtuͤrmte
ich auf ſie ein, und rief: „Jhr ſeyd mir ſchoͤne
Helden! Pfui euch an, daß ihr hier liegen koͤnnt
und ſchnarchen!‟ — Beſchaͤmt wichen ſie mir zu
beiden Seiten aus, bis ich weiterhin kam und
nun auch auf ihren edlen Anfuͤhrer ſtieß, der ſich
ſein Ruheplaͤtzchen hart am Heckenzaune ausge-
ſucht hatte, den Kopf nur ſo eben aus dem
Mantel hervorſtreckte und mir einen guten Mor-
gen bot. Drei Schritte hinter ihm zeigte ſich
mir der Hauptmann *** in gleicher Poſitur, der
jedoch aufſtand und mir ſeinen guten Morgen bis
dicht an’s Pferd entgegenbrachte. Mich noch we-
niger haltend, als vorhin, tobte ich: „Den T …
und ſeinen Dank fuͤr euern guten Morgen! Jſt
das recht? Jſt das erhoͤrt, daß ihr hier auf der
Baͤrenhaut liegt? Ob eure beſſeren Cameraden
indeß in’s Gras beiſſen, das kuͤmmert euch nicht!
— Da! da ſeht!‟
Jn dem Augenblick nemlich kamen einige
Schillſche Leute vom Felde daherwaͤrts, die zwei
Erſchoſſene auf einer Art von Tragbahre aus
dem Gefechte trugen und mehrere Verwundete
leiteten. Jch ſchloß mich nun an dieſe wackern
Leute an und erfuhr von ihnen noch beſtimmter,
daß die ganze Zeit her von einem ſolchen Unter-
ſtuͤtzungs-Trupp bei ihnen im Felde weder etwas
zu ſehen noch zu hoͤren geweſen. Dem gemaͤß
fiel nun auch mein Rapport an den Comman-
danten aus, der mit Achſelzucken verſetzte:
„Nun, nun — Jch werde den Herren die Epiſtel
leſen!‟
Jch, meines Orts, hatte kein Geluͤbde ge-
than, aus den mancherlei Erlebniſſen dieſer Art
vor meinen taͤglichen Bekannten ein Geheimniß
zu machen, und ſo hatten denn, durch mehr als
Einen Mund, jene Anekdoten auch ihren Weg
in des Hrn. v. Coͤlln damals vielgeleſene „Feuer-
braͤnde‟ und einige andre politiſche Tagesſchriften
gefunden und bei manchem, noch altglaͤubigen
Militair mitunter Anſtoß erregt. Wer aber haͤtte
es glauben ſollen, daß es irgend einſt einem Sol-
chen einfallen koͤnnte, mich, den Unſchuldigſten
bei dem geſammten Handel, deshalb feierlichſt in
Anſpruch zu nehmen? Dennoch geſchah es alſo;
und auch hieruͤber gehoͤrt ja wohl ein kurzer Be-
richt in meine Lebensgeſchichte.
Von Seiten Eines der Commandanten, die
auf Gneiſenau folgten, ward ich eines Tages
durch eine Ordonnanz beſchickt, mich zu einer
beſtimmten Stunde in ſeiner Amtswohnung bei
ihm einzufinden. Jch gieng, und ward in einen
großen Saal eingefuͤhrt, den ich ganz von den
ſaͤmmtlichen, in einem Zirkel herumſtehenden,
Officieren unſrer Beſatzung gefuͤllt fand. Mitten
unter ihnen ſaß der Garniſon-Auditeur L*, hin-
ter einem Tiſche, den viele Schriften und Schreib-
Materialien bedeckten. Alles hatte ſo ziemlich die
Miene eines großen gerichtlichen Acts; und ohne
noch zu wiſſen, wozu dieſe Vorbereitungen fuͤh-
ren ſollten, wurden doch Verwunderung und Neu-
gier bei mir in gleichem Maaſſe rege.
Sofort nach meinem Eintritt, kam mir der
zeitige Commandant mit einem gedruckten Buche
in Quarto entgegen, und bedeutete mich: Er
habe mir etwas vorzuleſen, auf das ich ihm ſo-
dann antworten werde. — Jch hatte nichts dar-
wider; und er ſetzte hinzu: „Sollten die Worte
und Beſchuldigungen erlogen ſeyn, ſo verdiene
der Schriftſteller, daß ihm der Proceß gemacht
werde; und man werde bei Sr. Majeſtaͤt, des
Koͤnigs, hoͤchſter Perſon darauf antragen, den-
ſelben exemplariſch beſtrafen zu laſſen.‟ — Und
nun zu dem ganzen Zirkel: „Meine Herren! Jch
werde leſen: Sie werden hoͤren!‟ Jetzt las er
mir das Geſchichtchen von der Nachtmuͤtze im
Rathskeller, und verlangte daruͤber eine weitere
Erklaͤrung. „Die wird am leichteſten zu geben
ſeyn,‟ — verſetzte ich, — „wenn, wie ich glau-
be, der Herr Hauptmann *** hier in der Ver-
ſammlung gleichfalls zugegen iſt.‟ — Zu gleicher
Zeit ſchaute ich ein wenig umher und erblickte ein
Stuͤckchen von ihm hinter und zwiſchen einer
Gruppe von Cameraden, die mich jedoch nicht
verhinderten, mich durch ſie hinzudraͤngen und
meinen Mann, gern oder ungern, hervor an das
Tageslicht zu ziehen. Nun kam es denn zu ei-
nem Katechismus-Examen, wo es auch von ihm
hieß: „Und er bekannte und laͤugnete nicht‟ —
daß ſich Alles ſo verhalte, als dort im Buche
ſtaͤnde: denn ich fuͤhrte ihm die drei unverwerf-
lichen Zeugen zu Gemuͤthe, welche damals neben
uns geſtanden.
„Allein‟ — nahm nun der Commandant
auf’s neue das Wort — „Wie ſteht es um dies
zweite Geſchichtchen, das ich Jhnen vorzuleſen
habe — von einer ſchlaftrunkenen Wegelagerung
u. ſ. w., wobei der Obriſt *** in ein ſo nach-
theiliges Licht geſtellt iſt?‟ — Er las, und mei-
ne Gegenfrage war: „Haͤtte der Herr Obriſte in
der That etwas dagegen?‟ — Jch ſah mich nach
ihm um in dem Gedraͤnge, fand ihn auf, und
wiederholte nun Wort fuͤr Wort, was damals
zwiſchen ihm, ſeinen Begleitern und mir verhan-
delt worden. Der Mann, zum Laͤugnen zu ehr-
lich, ſpielte hiebei eine etwas einfaͤltige Rolle;
waͤhrend der Auditeur friſchweg protokollirte und
ſich faſt die Finger lahm ſchrieb. — Nun endlich
noch die Gewiſſensfrage: „Ob ich dieſe Erzaͤh-
lungen dem Verfaſſer der Feuerbraͤnde mitgetheilt
haͤtte?‟ — Das konnt’ ich mit Wahrheit ver-
neinen; und ſo nahm das geſtrenge Jnquiſitions-
Gericht ein Ende, ohne daß weiter Gutes oder
Boͤſes dabei herausgekommen waͤre. Auch hab’
ich mich ferner nicht darum gekuͤmmert.
Ueberhaupt muß geſagt werden, daß, ſeit
Gneiſenau’s Abſchiede, zwiſchen dem Militair
und der Buͤrgerſchaft in meiner Vaterſtadt ſich
ein Verhaͤltniß gebildet hatte, welches mit der
juͤngſt verfloſſenen Zeit gemeinſchaftlichen Be-
draͤngniſſes in einem traurigen Gegenſatz ſtand
und mir, wie jedem patriotiſch geſinnten Herzen,
unendlich viel Unmuth, Kummer und Sorge er-
weckt hat, wenn wir bedachten, wie wir unſern
Feinden und Neidern dadurch das empoͤrende
Schauſpiel gaͤben, daß wir, nachdem wir Gefahr
und Ungemach mit einander getragen, nun in
der Ruhe des Friedens — oder Halb-Friedens
wenigſtens — einander nicht mehr ertragen koͤnn-
ten. Man koͤnnte freilich ſagen, wir Colberger
ſeyen verwoͤhnt geweſen und haͤtten unſre Forde-
rungen zu hoch geſpannt: allein die Wahrheit
lag hier, wie faſt immer, in der Mitte, und es
ward, mehr oder weniger, auf beiden Seiten ge-
ſuͤndigt.
Colbergs militairiſche Wichtigkeit, zumal in
jenem ſchwierigen Zeitverlauf, der auf den Frie-
den von Tilſit folgte, war lebhaft anerkannt wor-
den: aber ebendadurch fuͤhlte ſich auch die Beſa-
tzung des Platzes in ihrer Bedeutung gehoben
und zu Anſpruͤchen von mancherlei Art berechtigt.
Daruͤber, und weil dies bald einigen Widerſtand
erzeugte, hatte ſich in allen Beruͤhrungen mit
den buͤrgerlichen Behoͤrden ein gewiſſer unfreund-
licher Ton eingeſchlichen, der immer ſchmerzlicher
empfunden wurde. Es ſollte Alles martialiſch
und gewaltig bei uns zugehen, als wenn es noch
mitten im Kriege waͤre; wogegen der Buͤrger
nur durch die milden buͤrgerlichen Geſetze des
Friedens beherrſcht ſeyn und von auſſerordentli-
chem Kriegszwange nichts mehr wiſſen wollte.
Die Laſten der Einquartierung, bei einer noch
immer ſehr ſtarken Garniſon, die an ſich ſchon
laͤſtig genug waren, wurden es noch mehr da-
durch, daß die Vertheilung derſelben ſich, unge-
ſetzlich, in den Haͤnden einer auſſerordentlichen
Commiſſion befand, die von raͤnkeſuͤchtigen Koͤpfen
nach Gunſt oder Ungunſt geleitet ward. Boͤſe
Rathgeber der nemlichen Art belagerten das Ohr
der Machthaber und freuten ſich des geſtifteten
Unheils; uͤberall Neckerei, Reibung und abge-
neigter Wille, und — zum Uebermaaß dieſes
Nothſtandes — eine vielleicht nicht hinlaͤnglich
beſchaͤftigte Anzahl alter und junger Militairs,
deren Ueberſchwang an Lebendigkeit ſich in man-
cherlei Stoͤrungen des friedlichen buͤrgerlichen Ver-
kehrs, in Pruͤgel-Scenen, in gewaltſamen An-
griffen und Verwundungen rechtlicher Maͤnner
kund that.
Wiederum auf der andern Seite iſt eben ſo
wenig in Abrede zu ſtellen, daß unſern Einwoh-
nern durch die Belagerung das Herz ein wenig
groß geworden. Sie hatten in ungewoͤhnlichen
Anſtrengungen auch ungewoͤhnliche Kraͤfte in ſich
erwecken muͤſſen; und ſo wie ſie ſich dadurch ſelbſt
im Werthe gehoben fuͤhlten, wollten ſie ſich auch
von Andern beſſer geachtet wiſſen; waͤhrend man-
ches andre Verdienſt, das ſich neben ihnen ſpreizte,
entweder hie und da noch einige naͤhere Unter-
ſuchung zuließ, oder doch, ihres Ermeſſens, mit
dem angefochtenen eigenen auf gleicher Linie ſtand.
Aber vielfach hatten ſie auch, in der Zeit der
Noth und Gefahr, nicht bloß redlich mit ihrer
Perſon bezahlt, ſondern auch bedeutende Opfer
an Eigenthum und Vermoͤgen dargebracht; hat-
ten gehofft, nach des Feindes Abzuge durch man-
cherlei Erleichterungen ſich fuͤr ſoviel Einbußen
und Entbehrungen entſchaͤdigt zu ſehen, und
fuͤhlten ſich nun doppelt getaͤuſcht, da ſtatt der
gehofften goldenen Zeit nur neue herbe Fruͤchte
fuͤr ſie reiften. Zwar was das allgemeine Miß-
geſchick der Zeit damals uͤber unſer armes be-
druͤcktes Vaterland ſchwer genug verhaͤngte, haͤt-
ten ſie gern und freudig, ihrem guten Koͤnige
zu Liebe, auch ferner getroſt und willig mit ertra-
gen: aber ſo manche oͤrtliche und beſondre Be-
laſtung, die der Monarch nicht wollte und wußte,
waͤre ihnen fuͤglich zu erſparen geweſen, und
konnte nicht verfehlen, einen dumpfen Mißmuth
zu erregen. Dennoch blieben ihre Klagen ſtumm
und ſcheuten ſich, ein Koͤnigsherz, dem das
Schickſal bereits ſo große Pruͤfungen auferlegt,
noch tiefer zu bekuͤmmern.
Wie aber mußte denn nicht jedes wackre
Buͤrgerherz ſich um ſo tiefer von Dank und Freu-
de ergriffen fuͤhlen, als ein Koͤnigl. Cabinets-
Schreiben vom 21. October 1807 an die verord-
neten Stadt-Aelteſten Dreſow, Zimmermann u.
ſ. w. uns den ſprechenden Beweis fuͤhrte, daß
Colberg in ſeines guͤtigen Herrſchers Beachtung
und Fuͤrſorge unvergeſſen geblieben, indem uns
darinn, unter den huldvollſten Ausdruͤcken, der
Erlaß unſers Antheils an der allgemeinen fran-
zoͤſiſchen Kriegs-Contribution, im Belauf von
180,216 Thlr. 23 ggr. 10 pf. angekuͤndigt wurde.
Wir betrachteten dieſe Anordnung weniger als
einen Act der Koͤniglichen Gerechtigkeit, inſofern
Colberg nicht in feindlicher Macht und Gewalt
geweſen war, als einen Ausfluß ſeiner Gnade,
die uns ehren und unſern geſunkenen Wohlſtand
ſtuͤtzen wollte.
Jndeß zeigten ſich auch die truͤben Wolken,
welche am Horizont unſers friedlichen Buͤrger-
lebens ſo drohend aufgeſtiegen waren, nur als
eine voruͤbergehende Erſcheinung. Es bedurfte
nur, daß ein geringer Wechſel in Perſonen und
Verhaͤltniſſen eintrat, um auch ſofort einen an-
dern und freundlicheren Geiſt hinauf zu beſchwoͤ-
ren, der uns, die wir ſo Hartes mit einander
ertragen hatten, auch bereitwilliger machte,
uns mit einander zu vertragen. Eintracht,
Achtung, Vertrauen und Liebe kehrten in die
bisher entfremdeten Gemuͤther zuruͤck; und wir
lernten uns je mehr und mehr als Kinder Eines
Vaterlandes betrachten, die ein Rock, ſo oder ſo
gefaͤrbt, nicht laͤnger ſcheiden duͤrfe.
Schade nur, daß ich an dieſem Lobe unſers
zum Beſſern erwachten Buͤrgerſinns ſofort wie-
der Einiges kuͤrzen muß, inſofern er uns auch
in unſern eigenen inneren Angelegenheiten billig
haͤtte beſſer leiten und berathen ſollen. Als nem-
lich im Jahr 1809 durch die, in der Preuſſiſchen
Monarchie eingefuͤhrte neue Staͤdte-Ordnung
uͤberall die bisherige Magiſtrats-Verfaſſung ab-
geſchafft und den Buͤrgerſchaften ein erweiterter
Einfluß auf die Verwaltung der ſtaͤdtiſchen An-
gelegenheiten zugeſtanden wurde, wußte ſich, ſo
wie an vielen andern Orten, ſo auch bei uns in
Colberg, die Menge in die verbeſſerten Einrich-
tungen nicht ſogleich zu finden; die Raͤnkeſchmiede
und Selbſtlinge aber waren nur um deſto eifri-
ger darauf bedacht, ihr Schaͤfchen dabei zu ſchee-
ren und den blinden Unverſtand nach ihren ge-
heimen Abſichten zu bearbeiten. Als es daher
zur erſten Wahl der Stadt-Verordneten und ei-
nes neuen Magiſtrats kam, gieng es dabei ſo
ſtuͤrmiſch, unmoraliſch und ordnungswidrig zu,
daß ein jeder rechtſchaffner Mann, der es wohl
mit der Stadt meynte, ſein aͤuſſerſtes Mißfallen
daran haben mußte.
Es kann mir alſo auch nicht als Lobſpruch
gelten ſollen, wenn ich, obwohl als erſter Stadt-
Verordneter gewaͤhlt, mich dieſer Ehre bedankte und
mit einer Verſammlung nichts zu ſchaffen haben
wollte, von deren gleich im erſten Beginnen kund-
gegebenen Geſinnungen ich nichts, als Unheil fuͤr
die Stadt erwarten konnte. Zwar fehlte es nicht
an dringendem Zureden meiner Freunde, welche
in der Meynung ſtanden, daß ich durch Ueber-
nahme jenes Poſtens, wenn auch nicht Gutes
ſonderlich zu foͤrdern, doch manches Boͤſe durch
meinen Einfluß zu verhuͤten im Stande ſeyn wuͤr-
de: allein das ganze Weſen, ſo wie es ſich da
geſtaltet hatte, war mir ein Greuel, und ich
lehnte es ſtandhaft ab, mich damit zu bemengen.
Noch aͤrger ward das Ding, als nun demnaͤchſt
zur Raths-Wahl ſelbſt geſchritten werden ſollte.
Kabalen kreuzten ſich mit Kabalen; einige recht-
liche Maͤnner, welche die geſetzliche Stimmen-
Mehrheit fuͤr ſich gehabt, wurden tumultuariſch
wieder ausgeſtoßen, und ich hoͤrte ſogar von thaͤt-
lichem Handgemenge, worinn die Anhaͤnger der
verſchiedenen Parteien ſich beſtritten hatten.
So wie ich mir nun, in ſtiller Klage mit
andern Biedermaͤnnern, dies ſchaͤndliche Unweſen
tief zu Herzen nahm, und taͤglich Zeuge ſeyn
mußte, wie es immer weiter um ſich griff, und
Eine widerrechtliche Anordnung auf die Andre
folgte: ſo konnt’ ich es nicht laͤnger uͤber’s Herz
bringen, ſondern ſetzte mich hin und ſchilderte
Sr. Majeſtaͤt, dem Koͤnige, unmittelbar und um-
ſtaͤndlich, mit Gewiſſenhaftigkeit und Wahrheit,
wie alle dieſe Sachen bei uns ihren Verlauf ge-
habt. Jch nahm mir dabei den Muth, hinzuzu-
fuͤgen, daß, wenn Se. Maj. die jetzt beſtehende
Stadt-Verordneten-Verſammlung nicht gaͤnzlich
caſſirte und zur Wahl einer neuen, mittelſt einer
unparteiiſchen Commiſſion, ſchreiten ließe, der
Wirrwarr immer groͤßer werden und nur mit dem
Untergange unſrer geſammten ſtaͤdtiſchen Wohl-
fahrt endigen werde.
Es geſchah auch, was ich vertrauensvoll ge-
hofft hatte. Der Monarch beſchied mich in einer
gnaͤdigen Antwort, daß, meinem Antrage gemaͤß,
die dermalige Stadt-Verordneten-Verſammlung
von Stund’ an ſuſpendirt und dem Miniſter v.
Domhardt die Ernennung einer Commiſſion auf-
getragen ſey, um die ſtattgefundenen Vorfaͤlle
genau unterſuchen zu laſſen und, erforderlichen
Falls, neue rechtmaͤßigere Wahlen zu verfuͤgen.
Einen gleichen Beſcheid erhielt ich, faſt unmittel-
bar darauf, von dem benannten Miniſter, zu-
ſammt der Benachrichtigung, daß er den Polizei-
Director Struenſee zu Stargard zum Commiſſa-
rius in dieſer Sache ernannt habe; und auch
Dieſer meldete mir binnen kurzem ſeine neue Be-
ſtimmung, indem er mir zugleich den Zeitpunkt
ſeines Eintreffens in Colberg anzeigte und mir
aufgab, bis dahin meine verſchiedenen Klage-
punkte gehoͤrig zu ordnen.
Von allen dieſen Schritten, die ich lediglich
mit mir ſelbſt berathen und ausgefuͤhrt hatte,
wußte Niemand ein leiſes Wort; und ich huͤtete
mich auch wohl, ſie voreilig unter die Leute zu
bringen. Weniger zuruͤckhaltend war ich in mei-
nem freimuͤthigen — oft wohl etwas derben Ur-
theil uͤber all den Unfug, der taͤglich unter mei-
nen Augen vorgieng, geweſen: denn Schaͤndliches
ſehen und im gerechten Eifer entbrennen — das
iſt von jeher ein Ueberwallen bei mir geweſen,
wovon ich weder etwas hinzuthun noch laſſen
konnte. Natuͤrlich waren nun dergleichen Aeuſ-
ſerungen, die zudem nicht im Winkel geſprochen
worden, den Leuten, die es galt, fleiſſiglich zu
Ohren gekommen. Die ganze Corporation kam
daruͤber in Harniſch und ernannte eine Deputa-
tion aus ihrem Mittel, mit dem Kaufmann S**
an der Spitze, um eine Klage wider mich, we-
gen ehrenruͤhriger Beſchuldigungen, bei’m Stadt-
gericht anzubringen. Die Sache war bereits an-
haͤngig geworden und mir ein Termin angeſetzt,
wo ich erſcheinen und mich verantworten ſollte.
Es iſt ein wunderlich Ding, daß all meine
Haͤndel vor der Obrigkeit Anfangs immer ein
hochgefaͤhrliches Anſehen hatten, und zuletzt doch
ein laͤcherliches Ende nahmen. Das begab ſich
auch hier. Jch trat zur beſtimmten Stunde vor
die Schranken; und der Stadtgerichts-Director
Harder deutete mir an: Jch ſey in Dieſem und
Jenem durch vorlautes Abſprechen und Urtheilen
uͤber eine loͤbl. Stadt-Verordneten-Verſammlung,
wofern die deshalb erhobene Klage gegruͤndet,
gar ſehr ſtraffaͤllig geworden. Letztere ſolle mir
jetzt vorgeleſen und meine rechtliche Verantwor-
tung gewaͤrtigt werden.
„Das moͤchte ſeyn,‟ erwiederte ich, indem
ich mich zugleich gegen die anweſenden drei geg-
neriſchen Deputirten wandte, — „wenn ich nur
dieſe Herren noch fuͤr wahre und wirkliche Stadt-
Verordnete anerkennen koͤnnte, nachdem des Koͤ-
nigs Majeſtaͤt ſie ſaͤmmtlich von ihren Aemtern
ſuſpendirt hat.‟ — Ohne mich auch weiter an
die großen Augen zu kehren, welche eine ſo fre-
vele Rede hervorbrachte, zog ich das Koͤnigl.
Handſchreiben aus der Taſche und gab es ſtill-
ſchweigend in des Directors Haͤnde. Der nahm
und las; erſt fuͤr ſich allein, dann laut und ver-
nehmlich vor allen Anweſenden, was der ſchon
angefuͤhrte Jnhalt beſagte. Jch aber, nachdem
3. Baͤndchen. (13)
ich mich einige Augenblicke an den verlaͤngerten
Geſichtern geweidet, erklaͤrte dem Gerichte weiter:
„Solchergeſtalt faͤnde ich auch keinen Beruf in
mir, jetzt auf die erhobene Klage weiter zu ant-
worten, wozu ſich vielmehr wohl eine andre und
beſſere Gelegenheit finden werde.
„Recht gut!‟ ſagte der Director, mit eini-
ger Verlegenheit, indem er mir das Schreiben
zuruͤckgab, und ich mich zum Fortgehen anſchickte.
— „Aber wir haben einen Termin abgehalten,
und hier ſind Koſten aufgelaufen. Wer wird die
bezahlen?‟
„Nun, das werden die Herren, die ſie ver-
urſacht haben, ſich ja wohl nicht nehmen laſſen;‟
erwiederte ich lachend; und ich hatte recht gera-
then. Denn ſogleich auch erbat ſich Herr S**
die Erlaubniß, mit ſeinen Begleitern auf wenige
Augenblicke ſeinen Abtritt nehmen zu duͤrfen; und
nachdem ſie ſich drauſſen berathen, zog Jener
großmuͤthig ſeinen Beutel und zahlte der Juſtiz
ihre Gebuͤhren.
Wenige Tage ſpaͤter trat auch der Koͤnigl.
Commiſſarius Struenſee in dieſer Eigenſchaft bei
uns auf; und meine Anklage gegen die Stadt-
Verordneten und den von ihnen erwaͤhlten Ma-
giſtrat ward in ſeine Haͤnde uͤbergeben. Jch hatte
reichen Stoff gefunden, ſie, ſeit meiner erſten
Anzeige im Cabinet, noch um manches himmel-
ſchreiende Factum zu vermehren; ſo daß es denn
kein kleines Suͤnden-Regiſter gab, welches ich
nach und nach bei der Commiſſſon zu Protokoll
dictirte, und woruͤber ich die erforderlichen Be-
weiſe beibrachte. Andrerſeits wurden auch die
Angeſchuldigten vorgeladen; und nach gefuͤhrter
genaueſter Unterſuchung fiel die Entſcheidung da-
hin aus, daß Einige der Schuldigſten foͤrmlich
von ihrem Poſten entſetzt und zur Bekleidung
ſtaͤdtiſcher Amts- und Ehrenſtellen auf immer fuͤr
unzulaͤſſig erklaͤrt wurden.
Nach dieſer Reinigung leitete der Commiſ-
ſarius eine neue ordnungsmaͤßige Wahl beider
Collegien ein, wodurch das ſtaͤdtiſche Jntereſſe
beſſer berathen und allen Gutgeſinnten der Anlaß
gegeben war, ſich zu beſſeren Hoffnungen fuͤr die
Zukunft zu erheben. Jhre Stimmen erkohren
mich nunmehr zum erſten unbeſoldeten Raths-
herrn; und zu dieſem Stadt-Amte bin ich ſeit-
dem auch bei jeder wiederholten Wahl auf’s neue
beſtaͤtigt worden; — ein Beweis von dem Zu-
trauen meiner Mitbuͤrger, der meinem Herzen
immer ſehr wohl gethan hat, wiewohl mein ſeit-
her ſo ſehr viel hoͤher geſtiegnes Alter und damit
verbundene Schwachheit mich dringend mahnt,
mich nunmehr von allen oͤffentlichen Geſchaͤften
vollends zuruͤckzuziehen.
Um die nemliche Zeit etwa, oder kurz vor-
her, da es jenen kleinen Krieg im Jnnern bei
uns gab, ward mir durch des Koͤnigs Gnade
eine Auszeichnung zu Theil, deren ich mir auf
keine Weiſe hatte gewaͤrtig ſeyn koͤnnen. Es war
(13 *)
Sr. Majeſtaͤt, ich weiß ſelbſt nicht, auf welche
Weiſe, zur Kenntniß gekommen, daß ich einſt
vor langen Jahren in wirklichem Koͤnigl. See-
Dienſt geſtanden; Vergl. B. I. S. 238. und demzufolge ward mir
jetzt die foͤrmliche Erlaubniß ertheilt, die Koͤnigl.
See-Uniform zu tragen. Warum ſollte ich auch
laͤugnen, daß gerade dieſe Verguͤnſtigung einen
tiefen und ruͤhrenden Eindruck auf den alten See-
mann in mir machte, deſſen Patriotismus ſich
immer und unter allen Himmelsgegenden mit ei-
nigem Stolz zur Preuſſiſchen Farbe bekannt hatte?
Zudem fuͤhlte ich mich auch damals noch ruͤſtig
genug, meinem Landesherrn, auch auf meinem
eigenthuͤmlichen Elemente, in Krieg und Frieden
einige nutzbare Dienſte leiſten zu koͤnnen; und
nur des leiſeſten Winkes haͤtt’ es bedurft, um
Alles zu verlaſſen und unter jeder Zone fuͤr Preuſ-
ſens Nutzen und Ehre zu leben und zu ſterben!
Die Ruͤckkehr unſers gefeierten Koͤnigs-Paa-
res von Preuſſen nach Berlin, im December des
Jahres 1809, war ein Ereigniß, das meine Seele
mit hoher freudiger Theilnahme beſchaͤftigte. Ei-
nem fruͤheren Geruͤchte zufolge ſollte der Weg
Daſſelbe auch zu uns nach Colberg fuͤhren: aber
der Anblick unſrer faſt noch rauchenden Truͤmmer
konnte kein erfreulicher, und uns ſelbſt es daher
kaum wuͤnſchenswerth ſeyn, das landesvaͤterliche
Herz damit zu betruͤben. Auch erfuhren wir bald,
daß die Strenge der Jahrszeit die naͤchſte und
kuͤrzeſte Richtung geboten habe, und der Koͤnig-
liche Reiſezug am 21. in Stargard eintreffen
werde, um dort einen Raſttag zu halten. Es
war alſo auch zu erwarten, daß die Pommerſchen
Staͤnde und andre Behoͤrden der Provinz ſich
dort dem Koͤnige vorſtellen wuͤrden.
Dieſe Nachricht traf mich am 19. Abends
in einer Geſellſchaft, wo viele wuͤrdige Maͤnner
unſrer Stadt beiſammen waren; und ſchnell und
ploͤtzlich flog mir ein Gedanke feurig durch’s Herz.
„Wie?‟ rief ich aus, — „ſo Viele unſrer Lands-
leute ſollten dort vor dem Koͤnige ſtehen, ihm
ihre frohen Gluͤckwuͤnſche darzubringen: und nur
aus unſrer Vaterſtadt ſollte ſich Niemand zu ei-
ner ſolchen freiwilligen Huldigung eingefunden
haben? Das hat weder der Koͤnig um Colberg,
noch wir um Jhn verdient! Seine Gnade hat
uns erſt ohnlaͤngſt eine Kriegsſteuer von nahe
an Zweimalhunderttauſend Thalern erlaſſen: bei
welcher ſchicklicheren Gelegenheit koͤnnten wir ihm
dafuͤr unſern Dank bringen, als wenn eine De-
putation der Buͤrgerſchaft ſich jetzt dazu auf den
Weg machte? — Vollmacht? Die wuͤrden wir
von unſern verkehrten Stadt-Obrigkeiten, wenn
es auch noch Zeit zur Berathung und Ausferti-
gung waͤre, umſonſt erwarten! Und wozu auch
Vollmacht? Traͤgt ſie nicht jeder mit ſeinem Ge-
fuͤhl der Dankbarkeit im eignen Herzen? Wird
dort auch nach Vollmacht gefragt werden, wo
wir nichts bitten, nichts verlangen, und wo nur
allein unſre Gluͤck- und Segenswuͤnſche aus ei-
nem begeiſterten Herzen hervorquellen werden?‟
Alles war meiner Meynung: aber Alles
glaubte auch, es ſey nicht mehr an der Zeit,
dieſen Gedanken weiter zu verfolgen: denn um
ihn zur Ausfuͤhrung zu bringen und zu rechter
Zeit zur Stelle zu ſeyn, wuͤrde man noch den
naͤmlichen Abend ſich auf den Weg machen muͤſ-
ſen. — „Nun, und wenn es ſeyn muͤßte,‟ un-
terbrach ich die kuͤhlen Zweifler — „warum nicht
auch ſchon in der naͤchſten Stunde? Jch bin
dazu bereit: aber ich bedarf noch eines Gefaͤhrten.
Wer begleitet mich?‟
Ringsherum nichts, als Schweigen und
Kopfſchuͤtteln; und ſchon wollt’ ich im feurigen
Unmuth auflodern, als der Kaufmann, Hr. Goͤl-
ckel, mir die Hand reichte, ſich mir zum Gefaͤhr-
ten erbot, in einer Stunde reiſefertig zu ſeyn
verſprach, und nun ſelber zur Eile trieb, damit
wir noch vor voͤlligem Thorſchluß die Feſtung im
Ruͤcken haͤtten. Jch ſelbſt uͤbernahm es, die Poſt-
pferde fuͤr uns zu beſtellen.
Gluͤcklich auf den Weg gelangt, bemerkten
wir erſt drauſſen auf dem Felde, daß es eine
ſtockdunkle Nacht gab, und daß es ſchwer halten
werde, des rechten Weges nicht zu verfehlen.
Wirklich auch hatten wir noch nicht Spie erreicht,
als wir mit Unluſt inne wurden, daß wir uns
ſeitabwaͤrts nach Garrin verirrt, und genoͤthigt
waren, auf einem weiten Umwege wieder auf die
Poſtſtraße zuruͤckzukehren. Dies machte mich ſo
ungeduldig, daß ich dem Poſtillon Zuͤgel und
Peitſche aus den Haͤnden riß, um ſelbſt zu kut-
ſchieren; und es koͤnnte wohl ſeyn, daß ich ihm
nebenher einige fuͤhlbare Denkzettel auf den Ruͤ-
cken zugemeſſen haͤtte. So gieng es langſam
weiter, von Station zu Station, ohne daß mein
ſtetes Treiben ſonderlich fruchtete, oder daß ich
auf die Vorſtellung meines gleichmuͤthigern Reiſe-
gefaͤhrten viel gegeben haͤtte, der mir bemerklich
machte, daß wir auf dieſe Weiſe mitten in der
naͤchſtfolgenden Nacht in Stargard anlangen und
dann um ſo weniger in dem uͤberfuͤllten Orte ein
Quartier fuͤr uns auffinden wuͤrden. Dieſe Sor-
ge kuͤmmerte mich, aus guten Urſachen, ungleich
weniger.
Jn der That war es auch, als wir an Ort
und Stelle kamen, noch ſo fruͤh am Morgen,
daß wir noch Alles in Finſterniß und Schlaf be-
graben fanden. Dies hinderte jedoch nicht, daß
ich, gleich zunaͤchſt dem Thore, mir ein Haus
drauf anſah, vor welchem ich zu halten befahl.
Es wurde abgeſtiegen, angeklopft und, nachdem
es drinnen munter geworden, mit lauter Stimme
Herberge begehrt. Die Antwort war, wie ſie zu
erwarten ſtand, — eben nicht ſehr troͤſtlich: Al-
les ſey dicht beſetzt, und kein Unterkommen mehr
moͤglich. — „Aber, lieben Leute,‟ rief ich dage-
gen — „den alten Nettelbeck werdet ihr doch nicht
auf der Straße ſtehen laſſen?‟ — „Nein, wahr-
haftig nicht!‟ ſcholl eine weibliche Stimme da-
gegen — „Tauſendmal willkommen! Da muß
ſich ſchon ein Winkelchen finden.‟ — Und es
fand ſich auch ſo bequem und wohnlich, daß wir
noch in guter Ruhe einige Stunden ausſchlafen
konnten. Mein Reiſegefaͤhrte hatte große Luſt,
ſich uͤber dieſen gluͤcklichen Zauber meines bloßen
Namens zu verwundern: allein ich entzauberte
ihn ſchnell, indem ich ihm erklaͤrte, daß ich bloß
meinen alten freundlichen Wirth wieder aufge-
ſucht, bei welchem ich vor nicht gar langer Zeit
gehauſet haͤtte, als ich hier das Kind meines
Freundes, des Regierungsraths Wiſſeling, aus
der Taufe gehoben.
Noch Vormittags ward die Ankunft des koͤ-
niglichen Paares erwartet, deſſen Zug vor un-
ſerm Hauſe voruͤber mußte. Wir warfen uns
alſo in unſre Staatskleider — ich in meine Ad-
miralitaͤts-Uniform, mein Gefaͤhrte in das Co-
ſtume der Buͤrger-Garde, und erwarteten, auf
einer erhoͤheten Treppe, den fuͤr unſer Herz ſo
theuren Anblick, deſſen Hoffnung bereits uͤberall
eine unzaͤhlbare Menge um und neben uns ver-
ſammlet hatte. Wagen auf Wagen, mit dem
Koͤnigl. Gefolge erfuͤllt, rollten voruͤber. End-
lich, um 10 Uhr, nahte ſich der Koͤnig ſelbſt,
neben ihm die Koͤniginn ſitzend, langſamen Schrit-
tes, in einem offenen Wagen. Es klopfte uns
hoch in der Bruſt, und wir verbeugten uns ehr-
erbietig, ſammt allen Uebrigen, ohne jedoch dar-
auf rechnen zu koͤnnen, ob wir bemerkt worden
ſeyn wuͤrden.
Jetzt aber forderte ich meinen Begleiter auf,
dem Zuge mit moͤglichſter Eile zu folgen, oder
lieber noch zuvorzukommen, um die Gelegenheit
zu unſrer perſoͤnlichen Vorſtellung nicht zu ver-
ſaͤumen, bevor der Monarch noch dicht und im-
mer dichter umzingelt wuͤrde. Denn was fuͤr ein
Eulenſpiegel-Streich waͤre es geweſen, uns, im
Namen einer ganzen Stadt, auf den fernen Weg
gemacht und dennoch unſer Wort nicht angebracht
zu haben! Allerdings war das Gedraͤnge um
des Koͤnigs Quartier unbeſchreiblich groß und le-
bendig: aber mein treuherziges: „Kinder, maakt
en betken Platz!‟ und auch wohl die paar Strei-
fen Gold auf unſern Roͤcken, halfen uns zuletzt
gluͤcklich durch das Gewuͤhl, bis wir durch das
Spalier des Militairs vorgedrungen waren; uns
unter die bunten Gruppen der Officiere und dienſt-
thuenden Adjutanten miſchten, und ſo zuletzt die
Flur des Hauſes erreichten.
Noch kam es darauf an, uns mit unſerm
Wunſche, vorgelaſſen zu werden, an den rechten
Mann zu wenden, als wir von des Koͤnigs Ge-
maͤchern einen Stabsofficier die Treppe hernieder-
ſteigen ſahen, der auf uns zugieng und mich
freundlich fragte: „Gelt, Nettelbeck, Sie wollen
den Koͤnig ſprechen? Dann iſt’s gerade an der rech-
ten Zeit. Kommen Sie!‟ — Zugleich faßte er mich
und meinen Freund an der Hand und ſtieg in
unſrer Mitte die Treppe hinauf. Nicht ohne ſelt-
ſame Verwunderung fragte ich ihn: „Wie koͤmmt
mir das Gluͤck, daß Sie mich bei Namen ken-
nen?‟ — „Und daruͤber wundern Sie ſich?‟
war die Antwort — „Bin ich nicht in Colberg
bei Jhnen in Jhrem Hauſe geweſen?‟ — Es
war der General v. Borſtell.
Jndem wir oben kamen, fanden wir zwei
ſchwarz gekleidete Maͤnner, Deputirte von der
Kaufmannſchaft einer benachbarten Stadt, vor
der offenen Fluͤgelthuͤre, die zu des Koͤnigs Au-
dienz-Zimmer fuͤhrte. Der General wies ſie vor
uns hinein, und wir folgten dann nach. Das
ganze große Zimmer war erfuͤllt von Generalen,
Damen und andern Standesperſonen, worunter
mir die Prinzeſſinn Eliſabeth, die von Stettin
gekommen war, der General v. Bluͤcher und Andre
bemerkbar wurden. Alles blitzte von Ordenszei-
chen jeder Art und Gattung; und es gab eine
feierliche Stille, bis der Koͤnig hereintrat, ſammt
ſeiner koͤniglichen Gemahlinn, und die Anweſen-
den ihnen nach der Reihe vorgeſtellt wurden.
Vor uns traten die genannten beiden De-
putirten vor, die etwas beklommen ſchienen und
uͤberaus leiſe ſprachen; ſo daß uns davon, ſo
wie von des Koͤnigs Antwort, wenig oder nichts
hoͤrbar wurde, und was auch hier zur Sache nicht
gehoͤrt. Als ſie ſich darauf zuruͤckgezogen hatten
wandten beide hohe Perſonen ſich zu uns; und
mich anblickend, fragte der Koͤnig: „Nicht wahr?
Der alte Nettelbeck aus Colberg?‟ — und dann,
waͤhrend wir unſre Verbeugung machten, zu mei-
nem Gefaͤhrten gekehrt: „Die Colberger ſind mir
willkommen.‟
Wir hatten im voraus verabredet, uns, wenn
es dahin kaͤme, in unſern Vortrag zu theilen,
damit wir nicht Beide durch einander ſpraͤchen.
Jch hub demnach an: „Ew. Majeſtaͤt geruhen
gnaͤdigſt, uns zu erlauben, daß wir, im Namen
unſrer Mitbuͤrger, Jhnen fußfaͤllig unſern Dank
bringen fuͤr die große Gnade und Wohlthaten,
die Sie unſrer guten Vaterſtadt haben angedei-
hen laſſen. Wir haben dafuͤr kein anderes Opfer,
als die abermalige Verſicherung unſrer unerſchuͤt-
terlichen Treue; nicht allein fuͤr uns, ſondern
auch fuͤr unſre ſpaͤteſten Nachkommen, denen wir
mit gutem Beiſpiel vorangegangen ſind. Stets
ſoll es ihnen in Herz und Seele geſchrieben blei-
ben: Liebt Gott und euern Koͤnig, und ſeyd ge-
treu dem Vaterlande!‟
Hierauf wandte ſich der Koͤnig, halb gegen
uns und halb gegen die hinter ihm ſtehende glaͤn-
zende Verſammlung, und ſprach in lebendiger
Bewegung die Worte: „Colberg hat ſich bereits
im ſiebenjaͤhrigen Kriege treu gehalten und da-
durch die Liebe meines Großoheims erworben.
Auch jetzt hat es das Seinige gethan; und wenn
ein Jeder ſo ſeine Pflicht erfuͤllt haͤtte, ſo waͤre
es nicht ſo ungluͤcklich ergangen.‟
Jetzt nahm mein Freund das Wort, und
aͤuſſerte, wie nahe es uns gehen wuͤrde, wenn
unſre Gegenwart bei Sr. Maj. eine unangenehme
Erinnerung aufregte: allein die Gefuͤhle unſrer
dankbarſten Verehrung haͤtten uns nicht zuruͤck-
bleiben laſſen wollen; und ganz Colberg theile
unſre Geſinnungen. Der Koͤnig erwiederte dar-
auf: „Jch weiß es; wenn fruͤh oder ſpaͤt ein-
mal es die Umſtaͤnde gebieten, werden die Col-
berger auch gerne wieder fuͤr mich auftreten.‟
Hier fieng ich Feuer und brach begeiſtert aus,
indem ich mit der Hand auf mein Herz ſchlug:
„Ew. Majeſtaͤt, dazu lebt der freudige Muth in
uns und unſern Kindern; und verflucht ſey, wer
ſeinem Koͤnige und Vaterlande nicht treu iſt!‟
— „Das iſt recht! das iſt brav!‟ verſetzte der
Monarch; und als er darauf fragte: Wie wir
ſonſt in Colberg lebten? — gab ich zur Antwort:
„Gut, Ew. Majeſtaͤt! Kleinigkeiten machen wir
unter uns ab; und iſt es was Bedeutendes, und
wir koͤnnen nicht durchkommen, da wenden wir
uns geradezu an Ew. Majeſtaͤt. Wir hoffen,
Sie werden uns nicht ſinken laſſen.‟
„Nein, nicht ſinken laſſen — nicht ſinken
laß’ ich euch!‟ rief der Koͤnig, wobei er mir die
Hand entgegenbot. — „Wendet euch nur an mich;
und was zu erfuͤllen moͤglich iſt, ſoll geſchehen.‟
— Dann fragte er, ob wir eigentlich dieſerhalb
gekommen waͤren, oder ob uns andre Geſchaͤfte
nach Stargard fuͤhrten? — „Kein andres Geſchaͤft,
als der Auftrag der Unſrigen;‟ entgegnete ich —
„und eben dadurch wird dieſer Tag der gluͤcklichſte
unſers Lebens.‟
Jetzt beurlaubte uns der Koͤnig mit den
Worten: „Jch danke euch! Gruͤßt eure guten
und braven Mitbuͤrger, und ſagt ihnen: auch
ihnen dankte ich fuͤr die Treue und Anhaͤnglich-
keit, die ſie mir erwieſen haben. Haltet immer
auf Religion und Moralitaͤt.‟ — Als wir uns
darauf verbeugten und Miene zum Abtreten mach-
ten, ſagte der Koͤnig: „Sie bleiben noch hier!‟
— worauf auch bald hernach die Koͤniginn ſich
uns naͤherte, neben ihren Gemahl trat und ſich
mit guͤtigem Laͤcheln und der Bemerkung zu uns
wandte: „Wir haben uns heute ſchon geſehen;‟
— und der Monarch fiel ihr ein: „Nicht wahr?
Jch hatte doch recht gerathen?‟ — So ergab
ſich’s denn, daß ich oder meine Uniform dem
koͤniglichen Paare bereits im Vorbeifahren aufge-
fallen ſeyn mußte. Sie aber fuhr zu mir fort:
„Jch bin gewiß recht froh, Sie hier zu ſehen
und perſoͤnlich kennen zu lernen.‟ — „Und ich‟
— war meine Antwort — „ich danke Gott da-
fuͤr, daß er mich den Tag hat erleben laſſen, wo
meine Augen den guten Koͤnig und unſre allge-
liebte Koͤniginn in ſolchem Wohlſeyn erblicken.
Der Name des Herrn ſey dafuͤr gelobet!‟ —
So erhielten wir nunmehr unſre gnaͤdige Entlaſ-
ſung; eilten nach unſerm Gaſthofe zuruͤck, und
waren von Herzen froh, unſer Geſchaͤft ſo woh
und mit ſolchen Ehren abgethan zu haben.
Jndeß hatte mein Freund ſich entfernt, um
einige Beſuche in der Stadt bei ſeinen Bekann-
ten abzulegen, als, etwa nach einer Stunde,
ein koͤniglicher Page, der uns lange vergeblich
geſucht und erſt durch den Polizei-Director Struen-
ſee hatte ausfindig machen koͤnnen, zu mir ein-
trat, um uns zur koͤniglichen Tafel einzuladen.
Es war ſpaͤt; mein Gefaͤhrte war abweſend, und
ich mußte mich entſchlieſſen, ohne ihn zu gehen.
Jm Tafelzimmer hatte auch ſchon Alles ſeine
Plaͤtze eingenommen. Als ich dann mich dem
Koͤnige praͤſentirte, fragte er nach meinem Mit-
Deputirten; und als ich darauf nichts Genuͤgen-
des zu erwiedern wußte, fiel ein ungnaͤdiger Blick
auf den Pagen, der noch naͤchſt der Thuͤre ſtand,
daß er ſeinen Auftrag ſo unvollſtaͤndig ausge-
richtet.
Ein Kammerherr fuͤhrte mich zu meinem
Sitze hin, wo rechts der General v. Pirch und
links der General-Chirurgus Goͤrke meine Tiſch-
nachbarn waren. Beide unterhielten ſich mit mir
waͤhrend der Tafel auf’s freundlichſte; und Er-
ſterer erbot mir, heute Abend zu dem großen
Ball, der von der Stadt veranſtaltet worden,
ſeinen Wagen zu meiner Abholung bei mir vor-
fahren zu laſſen; was mit herzlichem Dank an-
genommen wurde.
Nach aufgehobener Tafel machte ich, wie ich
es die Andern thun ſah, dem koͤniglichen Paare
das ſtumme Zeichen meiner Verehrung und war
im Begriff, gleich Jenen, mich zu entfernen, als
der Koͤnig mich noch bleiben hieß, und dann der
Koͤniginn einen Wink gab. Hierauf kam Die-
ſelbe herbei und fuͤhrte mich in ein beſonderes
Nebengemach, wo ich nun, mit einer freudigen
Ueberraſchung, mich ohne Zeugen dem hohen
Paare gegenuͤber geſtellt fand. Beide thaten eine
Reihe von Fragen an mich, die ich nach beſtem
Vermoͤgen beantwortete, deren Jnhalt aber nicht
in dieſe Blaͤtter gehoͤrt. Mein Herz gerieth da-
bei je mehr und mehr in eine hohe Bewegung.
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Auf dem Balle, zu dem wir, nach des Koͤ-
nigs ausdruͤcklicher Beſtimmung, eingeladen wor-
den, verweilten wir, des ſtarken Gedraͤnges we-
gen, nur kurze Zeit. Des naͤchſten Morgens
reiſten wir ab, und, zufolge den Wuͤnſchen mei-
nes Freundes, begleitete ich ihn nach Stettin,
wohin ihn Geſchaͤfte fuͤhrten und wo uns eine
ſehr freundliche Aufnahme zu Theil ward; ſo daß
wir mehrere uns zugedachte Guͤte und Auszeich-
nung von uns ablehnen mußten, weil ich mich
noch zum Feſte wieder nach Hauſe ſehnte und
mich uͤberdem ein wenig kraͤnklich fuͤhlte. Mein
Geiſt aber war frei und froh; und es mag auch
wohl ſeyn, (was mein Reiſegefaͤhrte behauptet,
und weſſen ich mich gleichwohl wenig mehr ent-
ſinne,) daß ich manches hollaͤndiſche Liedchen fuͤr
mich geſungen habe. Das aber koͤmmt nur an
mich, wenn meine Seele im innern geiſtigen
Wohlbehagen ſchwelgt.
Das war alſo mein kurzes, aber erfreuli-
ches Leben am Hofe! Jn ein laͤngeres haͤtt’ ich
mich freilich ſchlecht zu ſchicken gewußt; und uͤber-
dem waͤre mir dadurch meine gute ehrliche Pfahl-
buͤrgerei vielleicht verleidet worden, zu welcher ich
nun mit zwiefachem Behagen zuruͤckkehrte, und
wobei ich mich ohne Zweifel auch beſſer befand.
Jch hatte meine fruͤhere Handthierung, ſoviel
meine verminderten Vermoͤgens-Umſtaͤnde es zu-
ließen, klein und beſcheiden wieder angefangen,
und fand dabei, als ein einzelner Mann von
wenig Wuͤnſchen und Anforderungen, auch mein
nothduͤrftiges Auskommen. Jch wuͤrde ſogar ſa-
3. Baͤndchen. (14)
gen koͤnnen, daß ich gluͤcklich und zufrieden lebte,
wenn ich irgend bei meinen Hausgenoſſen, durch
die ich meine Geſchaͤfte betreiben mußte, nur
etwas von der Treue und Anhaͤnglichkeit gefun-
den haͤtte, auf die ich rechnete und die ich be-
durfte. Wenn aber das Geſinde, gegen fruͤhere
Zeiten gehalten, ſchon vor dem Kriege ziemlich
aus der Art geſchlagen ſchien, ſo hatte es nun-
mehr der Krieg ſelbſt, und das Beiſpiel der lo-
ckern franzoͤſiſchen Sitten, vollends verdorben;
und wenn ich auch zugeben wollte, daß ich, mit
meinen vorgeruͤckten Jahren, in meinen Forde-
rungen an die junge Welt etwas ſtrenger, und
mitunter auch wohl wunderlicher geworden, als
jene gutheiſſen wollte; ſo iſt’s darum nicht min-
der wahr, daß die, ſo mich zunaͤchſt umgaben,
nur ihrem eignen unerlaubten Nutzen nachgien-
gen und mich in meinem Haushalt auf jede moͤg-
liche Weiſe uͤbervortheilten.
Da fiel mir’s denn ſchwer und immer ſchwe-
rer auf’s Herz, daß ich ſo ganz abgeſondert und
verlaſſen in der Welt daſtand. Jch zaͤhlte bereits
75 Jahre; und in meinen Gedanken hatt’ ich
meine Lebensrechnung ſehr viel fruͤher abgeſchloſ-
ſen. Was ſollte mit mir werden, wenn Gott
mich noch nicht wollte? wenn nun die unver-
meidlichen Schwachheiten des Alters naͤher herzu-
traten? wenn Kraͤnklichkeit und koͤrperliche Lei-
den bei mir uͤberhand nahmen? wenn meine ed-
leren Sinne mich verlieſſen? wenn ich unver-
nehmlich und kindiſch wuͤrde? — Mir grauſete,
wenn ich auf dieſe Weiſe in die Zukunft blickte!
Meine Freunde, denen ich aus dieſen Betrachtun-
gen kein Geheimniß machte, riethen mir lachend,
aber bald auch im guten und wohlgemeynten
Ernſte, zuverſichtlich noch einmal in den Gluͤcks-
topf des Eheſtandes zu greifen. Jch hingegen
ſchuͤttelte maͤchtig den Kopf; — Ein Braͤutigam
mit Dreivierteln eines Seculums auf dem Na-
cken! Ueberdem: wer, der, wie ich, bereits zwei
ſo boͤſe Nieten aus jenem Topfe gezogen, haͤtte
ſich’s wohl zugetraut, das Drittemal mit dem
großen Looſe davonzugehen?
Dennoch war der Gedanke ein Feuerfunke
in meine Seele, der unablaͤſſig darinn fortglimmte
und all mein Sinnen und Streben beſchaͤftigte.
Es ließ ſich nicht laͤugnen, daß der Ruhe und
dem Wohlſeyn meines Lebens-Abendes nicht fuͤg-
licher gerathen werden konnte, als durch eine
Gefaͤhrtinn, die mir, aus Guͤte und Wohlwollen,
die Pflege, welche ich aus bezahlter Hand nur
widerwillig erhalten haben wuͤrde, mit unendlich
treuerer Sorgfalt erwieſe. Allein wie konnt’ und
durft’ ich Greis irgendwo erwarten, daß ein
Frauenherz, zu ſolchen Geſinnungen faͤhig, den
eignen Anſpruch an’s Leben dergeſtalt verlaͤugnen
ſollte, um es mit mir zu wagen? — Jch fieng
wiederum an, den Kopf noch maͤchtiger zu
ſchuͤtteln.
Da traten nun endlich meine Freunde im
(14 *)
Ernſte zu; und ihrem Rathe, wie ihren Vor-
ſchlaͤgen, danke ich’s, daß nicht nur meine tau-
ſend Bedenklichkeiten beſiegt, ſondern auch die
Einleitungen zur Verwirklichung meines Ent-
ſchluſſes auf’s gluͤcklichſte getroffen wurden. Jhre
Bemuͤhungen fuͤhrten mir eine wuͤrdige und er-
wuͤnſchte Gattinn zu, die nicht nur den Pflichten
einer Hausfrau im vollen Umfange zu genuͤgen
verſtand, ſondern die auch durch eine gute Er-
ziehung, Milde der Geſinnung und reine Guͤte
des Herzens mir in Wahrheit ein großes Loos,
wie ich es nimmer gehofft haͤtte, geworden iſt.
Tochter eines wuͤrdigen Landpredigers in der
Uckermark, war ſie zwar fruͤhe zur Waiſe gewor-
den, aber unter der Fuͤrſorge liebreicher Verwand-
ten hatten ſich Herz und Geiſt bei ihr trefflich
gebildet, und es fehlte ihr an keinem Bedingniß
fuͤr die Beſtimmung zu einem ſtillen buͤrgerlichen
Leben und Wirken. Was ich damals ſchon mit
voͤlligſter Ueberzeugung ausſprach, das hat ſich
mir jetzt, nach beinahe zehn Jahren, noch wahr-
hafter erwieſen: Gerade ſo und nicht anders,
mußte mir der gnaͤdige Gott eine Gefaͤhrtin zu-
weiſen, wenn ſie der Troſt und die Stuͤtze mei-
nes Alters ſeyn ſollte!
So ward ich denn im Jahre 1814 der gluͤck-
lichſte Ehegatte, und bin es noch: allein was
den Leſer dieſer Blaͤtter vielleicht noch weit mehr
uͤberraſchen wird — Jch ward gleich im naͤchſten
Jahre auch Vater. Ein liebes Toͤchterchen ward
mir gebohren, und lebt, waͤchſt und gedeiht zu
unſrer herzinnigen Freude. Gleicht es einſt der
Mutter, wie ich mir das verſpreche, an Sinn
und Gemuͤth, ſo bleibt mir kaum noch etwas zu
wuͤnſchen uͤbrig. Was vom Vater auf ſie ver-
erben kann und auch vererben ſoll, iſt freilich
nicht viel; doch habe und hege ſie nur meine
Scheu vor Unrecht und meyne es gut und red-
lich mit allen Menſchen, ſo wird auch dieſes ge-
ringe Erbtheil ihr reichlich wuchern! — Jch nahm
mir das Herz, Se. Majeſtaͤt um die Uebernahme
der Pathenſtelle bei meinem Kinde zu erſuchen.
Des Koͤnigs Gnade bewilligte mir nicht nur dieſe
Bitte, ſondern erlaubte dem Taͤufling auch, in
einer theuren Erinnerung, den Namen Louiſe
zu fuͤhren.
Noch fuͤhrte ich mein Gewerbe einige Jahre
mit guͤnſtigem Erfolge fort; als aber in den
Jahren 1817 und 1818 die Gewerbſcheine zum
freien Betrieb aller Handthierungen im Staat
immer allgemeiner verbreitet wurden, ſah ich mei-
nen Nahrungsverkehr faſt gaͤnzlich eingehen: denn
belaſtet mit allen ſtaͤdtiſchen Abgaben, war es
laͤnger nicht moͤglich, mit dem, vom platten Lande
hereingefuͤhrten Brandtwein Preis zu halten. Mir
blieb auf dieſe Weiſe nichts uͤbrig, als dieſe Fa-
brication ganz aufzugeben; wie wenig ich auch
in meinem hohen Alter eine Ausſicht gewann,
mich in eine andre Beſchaͤftigung zu werfen und
dadurch meinen taͤglichen Unterhalt zu ſichern.
So begann denn meine haͤusliche Lage in Wahr-
heit bedenklich zu werden.
Gleich nach geendigter Belagerung hatte der
edle Gneiſenau, der um die mancherlei Einbußen
wußte, denen ich waͤhrend derſelben ausgeſetzt ge-
weſen, ſich gegen mich erboten, mir zur Schad-
loshaltung eine Koͤnigl. Penſion zu erwirken.
Mein Ehrgefuͤhl lehnte ſich dagegen auf; und mit
thraͤnenden Augen bat ich ihn, von dieſem Ge-
danken abzuſtehen: denn damals waren meine
Umſtaͤnde noch immer leidlich, und ich hatte Nie-
mand zu verſorgen. Gegenwaͤrtig aber, wo mei-
ner Lebenslaſt noch zehn Jahre mehr zugewach-
ſen waren, ſtanden meine Sachen um Vieles an-
ders; die einſt ſo laute Stimme in meinem Her-
zen mußte verſtummen, und ich erkannte es, mit
dankbarer Ruͤhrung, als die Huld meines guten
und gnaͤdigen Koͤnigs hier in’s Mittel trat und
mir ein jaͤhrliches Gnadengehalt von 200 Thalern
ausſetzte, wovon, auch nach meinem Tode, die
Haͤlfte auf meine Wittwe uͤbergehen wird. Nicht
minder ward meiner kleinen Tochter zu ihrer Er-
ziehung eine Stelle in dem Louiſen-Stifte zu-
geſichert, oder, nach meinem und der Mutter
beſtem Befinden, eine Novizen-Stelle in dem
hieſigen Jungfern-Stifte vorbehalten. Gottlob!
Nun werden meine Lieben nicht ganz verlaſſen
ſeyn, und ich werde mein Haupt ruhig nieder-
legen!
Solchergeſtalt haͤtte ich, allem menſchlichen
Abſehen nach, nunmehr mit Welt und Leben ſo
ziemlich abgeſchloſſen; und ich duͤrfte hier wohl
die Feder niederlegen, wenn ich nicht noch ein
paar Schwachheiten zu beichten haͤtte, die mich
noch in ſo ſpaͤten Jahren verſucht haben, mich
dennoch mit Welt und Leben wieder zu be-
mengen.
Was fuͤr ein ſonderbares Ding es um das
Projectmachen ſey, das hab’ ich im lebendigen
Beiſpiel an mir ſelbſt erfahren. Der freundliche
Leſer erinnert ſich ohne Zweifel noch, was fuͤr
ein feines Plaͤnchen zu einer Preuſſiſchen Colonie
am Kormantin ich ſchon ſeit den Siebenziger
Jahren auf dem Herzen trug; und wie ich, nach
unſers großen Friedrichs Tode, einen neuen herz-
haften, aber vergeblichen Anlauf nahm, denſelben
zur Wirklichkeit zu bringen. Seitdem hatt’ ich
nun noch von engliſchen Seeleuten hier im Ha-
fen wiederholt vernommen, daß ihre Landsleute
laͤngſt zugegriffen und jene wuͤſten Landſtriche mit
Gluͤck angebaut haͤtten. Wer ſollte nun nicht
gemeynt haben, daß endlich jeder Gedanke ſol-
cher Art aus meinem Hirne gewichen ſey? Jch
glaubte es ſelbſt, und ſchalt mich oft einen Thoren,
daß ich ſo etwas hatte traͤumen koͤnnen.
Allein das bunte Traumbild war nicht ent-
wichen, ſondern hatte ſich nur in den dunkelſten
Hintergrund meiner Gehirnkammern, bis auf ge-
legnere Zeit, zuruͤckgeſchoben. Wunderbare Din-
ge waren, vom Jahr 1812 an, vor den Augen
der erſtaunten Zeitgenoſſen, wie vor den meini-
gen, voruͤbergegangen; die Welt war ploͤtzlich
eine andre geworden; Frankreichs Uebermacht
lag zu Boden, und unſer geliebtes Vaterland
hatte ſich von ſeinem tiefen Falle glorreich wieder
aufgerichtet. Mein altes Herz ſchlug mir jugend-
lich freudig bei jeder neuen Großthat, welche die
Preuſſiſchen Waffen verrichtet; ich ſah den Staat
auf dem Wege, eine immer glaͤnzendere und eh-
renvolle Stelle unter den europaͤiſchen Maͤchten
einzunehmen. Da erwachte ploͤtzlich auch mein
alter langgenaͤhrter Lieblingswunſch in der Seele;
ich wollte Preuſſen auch jenſeits der Weltmeere
groß, bluͤhend und geachtet ſehen; es ſollte ſeine
Colonieen, gleich Andern, beſitzen!
Bald ließ es mir bei Tag und Nacht keinen
Frieden mehr. Waͤhrend die verbuͤndeten Heere
im Jahr 1814 den Kampf der Entſcheidung auf
franzoͤſiſchem Boden vollends ausfochten, (ich
ſelbſt hatte damals noch keine Eheſtandsgedanken,
die mir ſonſt wohl den Kopf zurechtgeſetzt haben
wuͤrden,) mußt’ ich, um es nur vom Herzen los-
zuwerden, mich hinſetzen, und an meinen hoch-
verehrten Goͤnner, dem ſeine glaͤnzenden Erfolge
im Felde eine eben ſo gerechte als vielfache Be-
deutſamkeit im Staate erworben hatten, etwa in
folgenden Worten ſchreiben:
„Bereits ſeit vielen Jahren hat mir in mei-
„nem Herzen ein Wunſch fuͤr Koͤnig und Vater-
„land gebrannt; und ich glaube, die Vorſehung
„hat gerade jetzt Zeit und Umſtaͤnde zu deſſen
„moͤglicher Erfuͤllung herbeigefuͤhrt. Dieſer Ge-
„danke druͤckt und draͤngt mich auch dermaaſſen,
„daß ich mich nicht enthalten kann, ihn hier vor
„Ew. ꝛc. auszuſchuͤtten. Moͤgen Sie dann auch
„von mir denken, wie Sie wollen, oder mich
„auch gar damit auslachen! Gott weiß, ich
„meyne es dennoch von Grund des Herzens gut.
„Aber zur Sache!
„Frankreich iſt an unſern Preuſſiſchen Staat
„mehr ſchuldig, als es uns jemals wird erſetzen
„koͤnnen. Sollte aber ein ſolcher Erſatz nicht
„auf andre Weiſe zu leiſten ſeyn, indem es uns
„in dem bevorſtehenden Frieden, (der hoffentlich
„von Preuſſen und den verbundenen Maͤchten
„dictirt werden wird,) und unter Englands Ge-
„nehmigung, eine bereits in Cultur ſtehende fran-
„zoͤſiſche Colonie in Amerika abtraͤte? — z. B.
„Cayenne mit ihrem Zubehoͤr auf dem feſten
„Lande, oder eine andre, in guter Cultur ſtehen-
„de Jnſel unter den Antillen, wie Grenada mit
„den dazu gehoͤrigen Grenadillen, oder Dominica.
„So wuͤrden wir die Colonial-Waaren, die uns
„nun einmal ein Beduͤrfniß geworden ſind und
„wofuͤr ſo große Summen aus unſerm Lande
„gehen, fuͤr unſre ſelbſt erzeugten einheimiſchen
„Producte aus jenen Colonieen, unter eigner
„Flagge und Wimpel, eintauſchen koͤnnen. Schwe-
„den und Daͤnemark ſind ungleich aͤrmer an ein-
„laͤndiſchen Erzeugniſſen, und finden dennoch ih-
3. Baͤndchen. (15)
„ren Vortheil dabei, ihre weſtindiſchen Beſitzun-
„gen in St. Thomas und St. Barthelemy zu
„unterhalten.
„Daß dieſer Handel nicht durch Actien leicht
„zu Stande kommen ſollte, leidet wohl keinen
„Zweifel, da unſre Capitaliſten gerne ihre Fonds
„darinn anlegen wuͤrden. Nicht nur koͤnnten die
„Capitalien aſſecurirt werden, ſondern auch die
„Aſſecuranz-Praͤmien im Lande ſeibſt verbleiben.
„— Auch fehlt es uns jetzt nicht an gruͤndlich
„unterrichteten Seeleuten. Jch ſelbſt, an mei-
„nem geringen Theile, habe dazu, wie bekannt,
„ſeit 30 Jahren mitgewirkt, indem es mein Lieb-
„lingsgeſchaͤft geweſen iſt, eine Steuermanns-
„Schule zu unterhalten, worinn mehrere tuͤchtige
„Seemaͤnner gebildet worden, welche auch jene
„entferntere Meere und Gewaͤſſer zu befahren
„wohl im Stande ſeyn wuͤrden.
„Jch habe mich hiermit unterwunden, nur
„ein kleines ſchwaches Bild aus meiner Gedan-
„ken-Werkſtatt zu entwerfen: Zeit und Umſtaͤn-
„de moͤgen lehren, ob es von den Weiſeren und
„Machthabern nicht lebendiger auszumalen ſeyn
„moͤchte. Meines Theils ſchreibe und urtheile ich
„nur als alter Seemann, der ich in meinen juͤn-
„geren Jahren, und wiederum von 1770 ab
„laͤngere Zeit, in hollaͤndiſchen und engliſchen
„Dienſten jene amerikaniſchen Kuͤſten und Ge-
„waͤſſer in allen Richtungen befahren habe. Jetzt
„bin ich 76 Jahr alt: ſollte es aber noch ge-
„lingen, daß meine Vorſchlaͤge irgend zu ihrem
„Zwecke fuͤhrten, ſo wuͤrde ich mir die Gnade er-
„bitten, das Erſte Preuſſiſche Schiff ſelbſt dort-
„hin fuͤhren zu duͤrfen.‟
Zweifle Niemand, daß ich mir in dieſem letz-
tern Erbieten nicht treulich Wort gehalten haͤtte!
Jch fuͤhlte damals meine Kraͤfte im Ganzen noch
ungeſchmaͤlert; und was haͤtte nicht vollends der
Feuereifer’ vermocht, womit die Erfuͤllung meines
Lieblingsgedankens mich beſeelt haben wuͤrde!
Allein dieſe Erfuͤllung ſtand nun Einmal nicht
im Buche des Schickſals geſchrieben; und ich gab
mich endlich gerne in den Gruͤnden zufrieden,
welche mir, in der wohlwollendſten Geſinnung,
als gegen meinen Vorſchlag ſtreitend, aufgeſtellt
wurden; z. B. daß es das Syſtem unſers Staa-
tes ſey, keine Colonieen in auswaͤrtigen Welt-
theilen zu haben; daß, wie vortheilhaft es ſonſt
auch ſeyn moͤge, durch Abſatz der Producte des
Mutterlandes die Colonial-Waaren einzutauſchen,
uns hingegen ein ſolcher Beſitz nur abhaͤngig von
den Seemaͤchten machen wuͤrde u. ſ. w. Das ließ
ſich hoͤren, und dem war denn auch weiter nichts
zu entgegnen, wenn gleich mein ſchoͤnes Project
daruͤber in den Brunnen fiel.
Und doch iſt es das Einzige nicht, was mir
in meinen alten Greiſentagen den Herzensfrieden
ſtoͤrt und mitunter die ſchlafloſen Naͤchte wohl
noch unruhiger macht; obwohl man mich eben ſo
gut um des Einen, wie um des Andern willen
tadeln moͤchte, daß ich mir Dinge zu Herzen
nehme, die mich nicht kuͤmmern ſollten. Und doch
duͤrfte ich wohl fragen: Warum nicht kuͤmmern?
Jn Jenem war mir’s lediglich um die Ehre und
den Vortheil meines lieben Vaterlandes zu thun,
die mir bis zum letzten Hauche meines Lebens
theuer ſeyn werden. Jn dem Andern, das ich
noch nennen will, (ob zwar ich es am Ende auch
fuͤr eine Schwachheit meines, von jeder Mißhand-
lung, welche Menſchen gegen Jhresgleichen uͤben,
tief verwundbaren Herzens halte,) ſorge und be-
kuͤmmere ich mich als Menſch und fuͤr die Ehre
und den Vortheil der Menſchheit. Wann will
und wird bei uns der ernſtliche Wille
erwachen, den afrikaniſchen Raubſtaa-
ten ihr ſchaͤndliches Gewerbe zu legen,
damit dem friedſamen Schiffer, der die
ſuͤd-europaͤiſchen Meere unter Angſt
und Schrecken befaͤhrt, keine Sklaven-
Feſſeln mehr drohen?
Wenn ich das noch heute oder morgen ver-
kuͤndigen hoͤre: dann will ich mit Freuden mein
lebensſattes Haupt zur Ruhe niederlegen!