K.S. Die Wintersaison begünstigt das Theater, das damals noch in
Weimar unter Dingelstedts Leitung stand. Nicht nur die Gediegenheit der
Stücke und das Geschick der Darsteller befriedigen Legrelle aufs höchste,
sondern vor allem das respectable Bürgerthum, welches mit einer Art von
ehrerbietigem Lerneifer der Vorstellung beiwohnt. Gerade hierin liegt
ein wesentlicher Unterschied zwischen deutscher und französischer Sitte, denn
in Paris ruht der Schwerpunkt des Theaters in der Geselligkeit und der
Sensation, nicht in der sittlichen bildenden Macht der Bühne. Selbst dem
Privatleben der Schauspieler theilt sich in kleinen strebsamen Städten
dieses fleißige bürgerliche Gepräge mit, denn der Nimbus des Scandals ist
nur ein Vorrecht der Weltstadt. Marquis Posa und Mephistopheles führen
ihre Kinder an der Hand durch den Park, kein Schauspieler trägt apricosen-
farbene Beinkleider auf der Promenade, keine Primadonna kutschirt im
Vierspänner bekannter Fürsten.
Die Achtung welche Legrelle vor unsern Zuständen hat, obgleich ihre
Kehrseite so oft die Enge ist, übertragen wir unwillkürlich auf ihn selbst;
ihm ist die Literatur ein Gräuel die sich nur mit „putrider Psychologie“
beschäftigt. Auch den Werth der neueren deutschen Autoren weiß der
französische Autor mit feinem Gefühl zu schätzen, und während er die
besondern Vorzüge jedes Einzelnen richtig erfaßt, lobt er den Kern der
Reinheit und Tüchtigkeit als ihr gemeinsames Erbgut. Eine Poesie die
nur das Laster auf die Bühne bringt, und sich dabei der Hoffnung hingibt
daß durch diesen Anblick die Menschen gebessert werden, geht verfehlte
Wege; denn durch das castigat ridendo ist noch niemand geändert wor-
den. Sursum corda -- das ist die wahre Moral und die wahre Poesie,
durch welche Deutschland die Franzosen geistig überwunden hat. Die
Pietät, die aus diesen Worten Legrelle's spricht, wird in Weimar durch
hundertfältige Erinnerung genährt. Bekanntlich nennt Heinrich Heine
die Stadt den Wittwensitz der Musen, und knüpft daran seine frivolen
Spöttereien; Legrelle aber ist edler gegen dieses Wittwenleid, wenn man
es so nennen will; ihn macht die Ehrfurcht vor der Vergangenheit nicht
ungerecht wider die Gegenwart. Niemals baut er das Denkmal eines gro-
ßen Mannes aus den Trümmern auf in die er andere Größen zerrissen hat;
niemals ist seine Bewunderung grausam; kein Marsyas wird neben den
Apoll gestellt, und wo er Beifall gibt, geschieht es ohne zu nehmen, ohne
jene negativen Mittel die uns ernüchtern.
Von der schönen Literatur wirft Legrelle einen Blick auf die Litera-
tur des Tages, deren Mittelpunkt das Journalzimmer in Weimar ist.
Als Fremder wird er dort eingeführt, und mißtrauisch schauen die ehrwür-
digen Stammgäste ihn an, obwohl er leisen Schrittes hereintritt. Da
liegen Gartenlaube und Kladderadatsch, „ les feuilles volantes “ und
Westermanns Monatshefte; neben ihnen die ganze Fluth politischer Zeit-
schriften. Fast jede Nummer wird in treffender Weise charakterisirt, vom
Tagblättchen bis zur „Gazette de Croix;“ auch der „Allgemeinen Zeitung“
gönnt er besondere Achtsamkeit.
Wer ein Duzend Zeitungen gelesen, hat der ist verzeihlicher Weise in
der Laune zu politisiren, und daß Legrelle sich hiezu herbeiläßt, ist vielleicht
der einzige Schritt den er auf seinem schönen Wege zu bereuen hat.
Wir erinnern daran daß das Werk ( obwohl 1866 veröffentlicht ) doch
am Schlusse der fünfziger Jahre geschrieben wurde, und finden es demnach
begreiflich wenn wir zunächst einem Klagelied über die deutsche Klein-
staaterei begegnen. Jn keinem Punkte waren ja Frankreich und Deutsch-
land gründlicher verschieden. Ueber dem Rhein gab es nur Paris, und
das ganze Land war stets nur die Gallerie auf welcher die Bewohner als Zu-
schauer der Hauptstadt standen, mehr oder minder von der Claque unter-
mischt. Jn Deutschland aber gab es von jeder Sache sechsunddreißig
Varietäten; es gab Vaterländer die ein Morgennebel zudeckt, die man
nicht als einen Staat, sondern nur als eine Jdylle bezeichnen durfte. Und
wenn auch die Verehrung von geistigen und wirthschaftlichen Centren ihr
Gutes hatte, so hat sie doch die Gränzen ihrer Berechtigung in der Rich-
tung der Zeit, so streift sie doch so nahe an das Caricaturenhafte, daß wir
dem Talent gern einige Sarkasmen vergeben müssen.
„ Ah, quel luxe de géographie!“ ruft der entsetzte Franzose aus,
das Kind des Volkes dem Geographie von jeher eine Schwäche war!
Uns aber muß dann andrerseits auch die Frage gestattet sein: warum
der Verfasser so betroffen wird wenn er die ersten Schritte zur deutschen
Einheit betrachtet, warum so unmuthsvoll wenn er von den Bestrebungen
unseres Volkes spricht diesen Luxus zu vermindern? Es muß uns freistehen
hierin einen Mangel an Consequenz zu finden. Gern räumen wir es ein
daß auch die völkerrechtlichen Persönlichkeiten, d. h. die Nationen, ihre
Fehler haben, so gut wie das einzelne Jndividuum; allein wenn Frankreich
uns den Größenwahnsinn und die Leidenschaft alles zu besitzen zuschreibt,
dann hat es sicher unsere Fehler nach den eigenen abgemessen.
Was thun wir denn indem wir den deutschen Staat begründen, als
das was Frankreich im eigenen Hause that; was geben wir preis indem
wir die Kleinstaaterei beschränken, als das was Frankreich von jeher so
lächerlich oder schmachvoll fand? Und wenn es dennoch will daß wir da-
bei beharren, dann will es unsere Schmach, während es doch selber die
Ehre als das höchste Gut eines Volkes pflegt! Man möchte meinen daß
dieser Gedankengang einfach genug wäre, und dennoch begreift ihn nie-
mand im geistvollen Frankreich, dennoch hat selbst Prévost Paradol, der
edelste Mann den das neue Frankreich besaß, in seinem jüngsten Buche
zum Krieg geblasen! Jst das nicht eine pathologische Erscheinung, ist das
nicht partieller Wahnsinn? Frankreich selbst hat uns das Schwert in die
Hand gezwungen, um diesem Zustand, der unerträglich wurde, ein Ende
zu setzen. Wer den Gedanken nicht Folge gibt, der muß durch Thaten
berichtigt werden; wer sich den Gründen verschließt, für den bleibt nur
das fait accompli noch übrig. Von Frankreich ward diese Doctrin er-
funden, so mag es nun an seiner eigenen Lehre lernen.
Jm übrigen rühmen wir es Legrelle gerne nach daß er selbst hier sich
in würdevollen reflectiven Gränzen hält, und niemals in jenen Polterton
verfällt den seine Mitbürger für Patriotismus halten. Er ist ernstlich, ja
sogar sichtlich bemüht das Richtige zu finden; die vorzüglichen Eigenschaf-
ten welche den Menschen und den Schriftsteller auszeichnen, verlassen auch
den Politiker nicht; aber die Erbsünde dieses Grundgedankens kann er
nicht von sich abthun. Bei der Liebe die er für Deutschland hegt, beklagt
er „diesen unseren Fehler“ mehr als er ihn tadelt, ja er ist sogar mit
deutscher Gewissenhaftigkeit bemüht ihn zu entschuldigen und zu motiviren.
Er nennt unser nationales Bestreben une noble folie, aber diese Beschö-
nigung ist keine Berichtigung, und wir begehren daß unsere Handlungen
auf dem Wege der Vernunft, nicht auf dem der Narrheit interpretirt wer-
den. Jn Frankreich würde vielleicht ein Buch durch einige Sätze unwill-
kommener Politik sich um jeden Erfolg bringen; wir Deutschen ziehen ledig-
lich diesen Mangel von der Summe des Guten ab, und alle übrigen Vor-
züge bleiben dem Verfasser unverkümmert zugestanden. Ohne Zweifel ist
der größte dieser Vorzüge aber die Art und Weise wie Legrelle sich über
die deutsche Wissenschaft und über die deutsche Bildung im allgemeinen
äußert. Den nächsten Anlaß hiezu gibt ein Besuch in Leipzig, der unser
Buch mit einem werthvollen Capitel bereichert.
Jn allen Hörsälen der Universität begegnen wir dem Verfasser; die
Einfachheit des Vortrages und die Gediegenheit dieses Lernens entzückte
ihn, wenn er an die effectvollen Causerien der Sorbonne zurückdenkt, an
denen die Feder so emsig feilte, und die nun der Mund so vornehm zu
improvisiren scheint. Hier aber stehen Namen von europäischem Ruf und
dennoch -- quel dédain pour la pompe!
Der deutsche Professor ist Legrelle's Jdeal. Kein Loos dünkt ihm
schöner als das eines solchen Gelehrten, bei welchem die Kraft des Geistes mit
den Eigenschaften des Herzens wetteifert, der sich ebenso glücklich fühlt in
seinem engen Familienkreise, wie im weiten Reiche der Wissenschaft.
L'activité dans l'indépendance, das ist die Lebensweisheit dieser
Männer, deren Büste man an jeder Straßenecke kaufen kann, auch ohne
daß sie Minister waren. Jn der Lehrfreiheit der deutschen Hochschulen
und in der Bildung des Mittelstandes wurzelt der Ruhm und „das Ueber-
gewicht das Deutschland in Europa besitzt.“ Einem Franzosen der also
spricht, sehen wir gern eine politische Tirade nach; einem Pariser der für
das Dasein eines deutschen Privatdocenten schwärmt, dem dieser wissen-
schaftliche Heroismus mehr imponirt als jedes gallonirte Heldenthum,
dem muß auch mehr vergeben werden als manchem anderen.
Möchten doch die Franzosen zur Einsicht gelangen daß selbst die Wur-
zeln unserer Wehrkraft nur in diesem Grunde ruhen. Nicht 7 deutsche
Streiter, aber 7 Deutsche die lesen und schreiben können, stehen einem
Franzosen gegenüber. Die Wildheit ist im Kriege verbraucht seit die
Hunnen und die Lanzknechte mit derselben siegten, seit Hannibal seine
Turcos nach Rom führte; in unseren Zeiten ist die stärkste Waffe der
Charakter, und auch im Kriege gilt das Friedenswort: Bildung ist
Macht.
Minder erbaut, als von den Lehrern, ist Legrelle von dem Studenten-
wesen der deutschen Universitäten. Er findet den Ton zu burschikos, und
diese Gesichter, qui sont à moitié lunettes et à moitié cicatrices, allzu-
sehr herausfordernd. Nicht etwa als ob er ein Feind der Freude wäre,
sondern weil er mit richtigem Gefühl erkennt daß wir hier vor Formen stehen
aus denen der Geist gewichen ist. Jn großen Städten ist der Nimbus
der bunten Mütze ohnehin verbleicht, und eine große Zeit wird das übrige
thun um seine Bedeutung zu erschöpfen.
Zur Zeit daunser Verfasser in Leipzig war, hatte die Messe ihre Zelte
dort aufgeschlagen, und ein wahrhaft betäubender Lärm tönte uns aus allen
Straßen entgegen. Da man nirgends geneigter ist sein Geld auszugeben
als dort wo man es einnimmt, so sind alle Schaubuden und öffentlichen
Locale überfüllt, deßgleichen „ les cryptes dédiées à Bacchus.“
Mehr jedoch als für solchen Lärm und für den Anblick der vielen Mil-
lionäre interessirt sich Legrelle für die Verhältnisse des deutschen Bücher-
marktes, die in den Tagen der Messe ans Licht treten. Mit der Freigebigkeit
der Verleger ist er keineswegs zufrieden, denn diese fördern nach seiner
Meinung den Schriftsteller nur insofern als das Talent durch die Noth
gefördert wird. Ueberall erscheint ihm das Honorar zu niedrig und der
Preis der Bücher zu hoch gegriffen, und während hiedurch der Verfasser
zum Hunger gezwungen wird, sieht sich das Publicum genöthigt, seinen
Wissensdurst aus jenen „schmutzigen Pfützen zu stillen die man Leihbiblio-
theken nennt.“ Welches Entsetzen befällt den vornehmen Franzosen vor die-
ser ästhetischen Table d'hôte!
Jn wenigen Stunden erreichen wir Dresden, das Jdeal einer deut-
schen Stadt, das Musterbild wohlthuender Proportionen. Es ist Sonntag
Morgen, und die Schloßkirche öffnet ihre Thore, um die elegante Welt zur
Andacht zu empfangen; allein dem Verfasser will diese Andacht nicht recht
gefallen -- er nennt sie einen religiösen Dilettantismus, der in Sammet
und Seide zur Kirche kommt um schöne Musik zu hören und schöne Toi-
letten zu zeigen. Durch die Reichthümer des grünen Gewölbes und durch
den Reichthum der Gallerie werden wir nun von kundiger Hand geleitet;
hier wohnt die echte Muse, hier herrscht wahrhaftige Andacht, wenn wir
vor dem Bilde der Sixtinischen Madonna stehen demüthig und doch er-
hoben, ergriffen und gesegnet in einem Gefühle.
Sehr treffend sind die Bemerkungen die Legrelle bei diesem Anlaß
über die moderne französische Malerei und vor allem über ihre Stoffe macht,
wenn er die letzteren als „vivisections“ bezeichnet. Er kann nicht begreifen
warum die Kunst den Menschen stets in jener Stunde aufsucht wo er ge-
quält wird, wo er ein tête à tête mit dem Henker hält.
Um sich von den Mühen der großen Stadt zu erholen, macht Legrelle
einen kurzen Besuch in der sächsischen Schweiz, von dort begibt er sich über
Magdeburg nach Hause. Da er einen Theil des Weges im Postwagen zu-
rücklegt, so ergibt sich Zeit und Gelegenheit über mancherlei Anstalten des
äußeren Lebens und der Bequemlichkeit zu philosophiren, über die wir
selber uns längst resignirt haben. Wer wüßte es nicht von uns allen daß
der Hausknecht, „ l'esclave de l'hôtel,“ im Durchschnitt ein Grobian ist --
wie reizend ist das Erstaunen das den correcten Franzosen überkommt da
plötzlich einer der angesehensten Passagiere den Postillon als „Schwager“
begrüßt! Am schlimmsten aber ist es um die deutschen Betten bestellt, die
fast alle aus der Fabrik „Procrustes u. Comp.“ zu stammen scheinen, die schon
im Alterthum so berüchtigt war. Sie sind schmal wie ein Sarg, und dazu
kommt eine Decke die nicht größer ist als eine Serviette! Nur die Tugend
der Deutschen und ihr gutes Gewissen können auf solchem Lager Ruhe finden,
„ un Français ne peut pas dormir dans ces fosses de bois.“ Und obwohl
er wochenlang in solchen Gräben gebettet lag, schwärmt der Verfasser den-
noch für unser Land, dennoch ist es ihm hier so wohl daß er mit einer Art
von Wehmuth von uns scheidet. Auch wir verlieren ungern sein Geleite.
Denn in seinem Wesen sind jene Eigenschaften vereinigt die uns in inner-
ster Seele ansprechen; die Gabe sie auszusprechen besitzt Legrelle
wie wenige seiner Landsleute vor ihm. Es gibt eine Darstellungsweise die
ohne leichtfertig zu sein, doch so lebendig und beweglich ist, daß sie dem ge-
schriebenen Worte fast eine gewisse Mimik verleiht; daß wir den Autor reden
hören, indem er schreibt.
Die Zeit der wir entgegengehen ist dem Verständniß zwischen Deutsch-
land und Frankreich nicht eben förderlich; denn auf Jahre und vielleicht Genera-
tionen hinaus wird der Hader sich fortspinnen. Solange der Krieg noch
währte mußte natürlich jeder Deutsche darauf beharren daß die volle Kraft
unseres Schwertes walte, wie es der Uebermuth des Gegners verdient; allein
wie der Kampf ehrlich war, so soll auch der Friede ehrlich sein,
nachdem er nun wirklich geschlossen ist. Es liegt nicht im deut-
schen Wesen auch dann noch die Streitpunkte anzufachen, sondern vielmehr
die Berührungspunkte die uns übrig bleiben aufzusuchen; es liegt uns
nicht bloß am Herzen den Feind zu besiegen, sondern auch ihn ohne Bitter-
keit zu überzeugen warum er besiegt ward. Erst darin werden wir un-
sere volle Genugthuung und die moralische Macht unseres Sieges finden.
Dieser Sinn der Gerechtigkeit war von jeher die größte politische
Tugend des deutschen Volkes, und in diesem Sinn heißen wir die Männer
beider Nationen willkommen welche die Gaben eines edlen Verstandes der
Verständigung widmen, wenn die Stunde derselben gekommen ist.
Zu diesen Männern aber zählen wir Legrelle ohne Bedenken. Wir
werden uns freuen wenn er nun nach Ablauf eines Decenniums wieder in
unser Vaterland kommt; denn vielleicht wird er manche Anregung und
manche neue Einsicht gewinnen. Daß auch wir bei seinem Besuche nur
gewinnen können, das zeigt uns sein erstes meisterhaftes Buch.