BILD UND LIED .
Philolog. Untersuchungen V. 1
I.
DIE ENTWICKELUNG DES GRIECHISCHEN MYTHOS
IN KUNST UND POESIE .
Vortrag , gehalten im wissenschaftlichen Verein Der Vortrag steht hier in seinem ursprünglichen ausführlichen Ent-
wurf , nicht in der abgekürzten Form , in der er gehalten wurde . in der Singakademie
am 7. Februar 1880 .
M ehr als in dem Kulturleben irgend eines anderen Volkes
stehen im griechischen Altertum Kunst und Poesie in be-
ständiger enger Wechselwirkung bald empfangend bald gebend ;
ist doch auch der Grund , aus welchem sie ihre Nahrung ziehen ,
ein und derselbe : „ Hellas ’ urväterlicher Sagen göttlich helden-
hafter Reichtum “ , die ewig junge , auch uns noch liebe und
vertraute Heldensage der Griechen . Wie diese in Bild und
Lied gestaltet wird , wie das Bild vom Liede abhängig ist und
wiederum das Lied vom Bilde , das möchte ich versuchen , in all-
gemeinen Umrissen Ihnen vorzuführen . Vorwiegend interessiert
eine solche Betrachtungsweise freilich die Altertumsforschung , da
sie für zwei groſse Disciplinen derselben die unerläſsliche Vorbedin-
gung ist — für die Archäologie : denn nur wenn die Abhängigkeit
der Kunst von der Poesie klar erkannt ist , kann eine methodische
Interpretation der Denkmäler gelingen , — für die Litteratur-
geschichte : denn nur wenn die Art und die Grenzen der von der
1*
Poesie ausgehenden Wirkung festgestellt sind , läſst sich bestimmen ,
mit welcher Berechtigung und mit welcher Beschränkung die
Darstellungen auf antiken Monumenten zur Rekonstruktion unter-
gegangener Litteraturwerke , namentlich also der verlorenen Epen
und Dramen , benützt werden dürfen . Doch will mir scheinen ,
dass die Klarstellung des Verhältnisses zwischen Kunst und
Poesie , auch wenn sich die Betrachtung zunächst nur auf ein
Volk beschränkt , über den engeren Kreis der Fachgenossen hinaus
ein allgemeines Interesse beanspruchen darf , zumal in unserer
Zeit der Illustrationen und illustrierten Ausgaben , und zumal wenn
sich herausstellen sollte , daſs dies Verhältnis keineswegs immer
dasselbe , sondern in verschiedenen Perioden verschieden , mit
einem Worte einer bestimmten historischen Entwickelung unter-
worfen ist .
Obgleich wir bei unserer Betrachtung den Nachdruck auf
ganz andere Punkte legen werden , muſs doch hier gleich der
unvergänglichen Gedanken Erwähnung geschehen , die Lessing in
seinem Laokoon niedergelegt hat . Die verschiedene Weise , in
welcher die Kunst und in welcher die Poesie denselben Gegen-
stand behandeln muſs , ist von Lessing endgültig festgestellt . Durch
Vergleichung eines der effectvollsten Werke antiker Plastik mit
der glänzenden Behandlung desselben Mythos durch Vergil kommt
Lessing zur Feststellung der Grenzen zwischen Poesie und
Malerei . Seine Resultate haben dadurch nichts von ihrer Wahr-
heit eingebüſst , daſs , wie wir seitdem gelernt haben , die antike
Kunst wiederholt gegen die von ihm erkannten Prinzipien ver-
stöſst , ja sich ihrer schwerlich auch nur dunkel , geschweige
denn in der klaren Formulierung Lessing’s , bewusst war .
Für Lessing wie für seine Zeit ist es stillschweigende Vor-
aussetzung , daſs die Künstler des Laokoon nur mit der Sage
und ihren poetischen Behandlungen , nicht aber mit früheren bild-
lichen Darstellungen desselben Stoffes zu rechnen hatten . Die Frage
nach der Richtigkeit dieser Voraussetzung ist für Lessings Be-
weisführung , bei dem mehr die philosophische als die historische
Seite der Frage in Betracht kommt , ziemlich belanglos . Ob sie
für das gerade gewählte Beispiel des Laokoon zutrifft , will ich
hier nicht untersuchen Die alte Streitfrage nach der Zeit des Laokoon kann und soll hier
nicht aufs Neue behandelt werden ; wenn ich auch bekennen muſs , daſs es
mir persönlich unmöglich ist , die litterarischen und paläographischen Zeugnisse
mit den verbreiteten Anschauungen von der Entstehung der Gruppe vor der
Kaiserzeit in Einklang zu bringen . Es soll nur bei dieser Gelegenheit konstatiert
werden , daſs es — von der Gruppe abgesehen — keine bildliche Darstellung
des Mythos giebt , die älter wäre wie die Kaiserzeit und somit wie die Vergilsche
Schilderung . Denn die jetzt im brit. Mus. befindliche etruskische Aschen-
kiste aus Chiusi , die durch Hübners Beschreibung ( Nord und Süd VIII
S. 362 ; vgl. Blümner , Lessings Laokoon , 2. Aufl. S. 716 ) bekannt geworden
ist , hat , wie ich nach einer Prüfung des Originals versichern kann , mit
Laokoon nichts zu thun ; sie stellt den kleinen schlangenwürgenden Herakles
dar , der beide Schlangen , von denen die eine zweiköpfig ist , an den Hälsen
packt ; unter ihnen sinkt Iphiklos erschreckt nieder ; von links eilt Amphitryon
in völliger Rüstung , von rechts ein Genosse herbei , der nicht der Tragödie noch
der Tradition , sondern der von den etruskischen Urnenarbeitern bis zur pein-
lichsten Ängstlichkeit beobachteten Symmetrie seine Entstehung verdankt ; vgl.
den Genossen des Achilleus auf den Troilosurnen . Daſs das Wittmersche und
das Madrider Relief , selbst wenn ihre Echtheit feststände , auf ein Original der
hellenistischen Periode zurückgehen ( Blümmer Blümner a. a. O. S. 706 ) , folgt aus der An-
wesenheit des Eros noch keineswegs ; er ist schwerlich „ eine Symbolisierung des
tiefen Mitleids , das die Schreckensscene in dem Beschauer erweckt “ , — wo
fände sich Eros so verwandt ? — sondern spielt auf die Version von Laokoons
heftiger Leidenschaft zu seiner Gattin an , die gerade aus den mythologischen
Handbüchern der Kaiserzeit bekannt ist . Daſs das pompejanische Bild einer-
seits von der Gruppe unabhängig , andererseits durch Vergils Schilderung
hervorgerufen ist — eine Überzeugung , die ich immer gehegt habe — scheint
mir jetzt durch Blümner a. a. O. S. 708 endgültig bewiesen zu sein . In
dem eben erscheinenden Heft der Arch. Zeit . 1880 S. 189 will Klein die
Laokoonsage gar auf einer attischen Vase nachweisen . Vgl. darüber unten
den Excurs : die Laokoonsage . , das aber darf unbedenklich behauptet
werden , daſs sie in weitaus den meisten Fällen nicht zutrifft .
In weitaus den meisten Fällen hat der antike Künstler nicht nur
zur Sage und ihren poetischen Bearbeitungen , sondern auch
zu ihren früheren bildlichen Darstellungen Stellung zu nehmen .
Nur der Künstler , der als der erste eine Sage bildlich gestaltet ,
steht dem Stoffe als solchem und seinen poetischen Bearbeitungen
unbefangen gegenüber ; jeder folgende Künstler steht unter dem
Banne dieser ersten künstlerischen Gestaltung . Aber weit entfernt ,
vor dem Vorwurf der Entlehnung ängstlich zurückzubeben , frei von
der nervösen Sucht nach einer um jeden Preis erkauften Origi-
nalität übernimmt der antike Künstler den überkommenen Typus
der Darstellung und sucht ihn nur zu immer gröſserer Voll-
kommenheit auszubilden , bald leise ändernd , bald gewaltsamer
und rücksichtsloser eingreifend ; aber stets bleibt er sich des
Zusammenhangs mit der Tradition bewuſst ; er weiſs , daſs der
Bann des eingebürgerten Typus der Darstellung auf ihm lastet ,
er ist zu bescheiden und zu ernst , um das Gute , was ihm die
früheren Kunstschöpfungen bieten , aus Eitelkeit und Eigensinn zu
verschmähen , zu stolz und zu ehrlich , seine Abhängigkeit zu
maskieren . Die bildliche Tradition , wie sie die Entwickelung der
griechischen Götterideale bedingt und beherrscht , ist auch für
die Gestaltung und Entwickelung der einzelnen Momente der
griechischen Heldensage in hervorragender Weise maſsgebend Vgl. Kekulé , Über die Entstehung der Götterideale der griechischen
Kunst . Ders . Über ein griechisches Vasengemälde im akademischen Kunst-
museum zu Bonn , S. 26. Löschcke , Arch . Zeit . 1876 S. 115. Ders . Über die
Reliefs der altspartanischen Basis ( Dorpat. Progr. 1879 ) . Es mag vergönnt
sein , auf die sehr verwandte , wenn auch ein scheinbar ganz verschiedenes
Gebiet , das der Sprache , betreffende Betrachtung Herders im II. Band
S. 18 ( der Ausgabe von Suphan ) hinzuweisen . „ Jede Nation spricht also ,
nach dem sie denkt , und denkt , nach dem sie spricht . So verschieden der
Gesichtspunkt war , in dem sie die Sache nahm , bezeichnete sie dieselbe .
Und da dies niemals der Anblick des Schöpfers war , der diese Sache in
ihrem Innern nicht bloſs werden sah , auch werden hieſs , sondern ein äuſserer
einseitiger Gesichtspunkt , so ward derselbe zugleich mit in die Sprache ein-
getragen . Eben damit konnte also das Auge aller Nachfolger an diesen
Gesichtspunkt gleichsam gewöhnt , gebunden , in ihn eingeschränkt oder ihm
mindestens genähert werden . So wurden Wahrheiten und Irrtümer auf-
bewahrt und fortgepflanzt , wie vorteilhafte oder nachteilige Vorurteile ;
zum Vorteil oder Nachteil hingen sich Nebenideen an , die oft stärker
wirken als der Hauptbegriff , zum Vorteil oder Nachteil wurden zufällige
Ideen mit wesentlichen verwechselt : Fächer gefüllet oder leer gelassen ,
Felder bearbeitet oder in Wüsteneien verwandelt . “ Dies gilt mit geringer
Modifikation auch von den bildlichen Typen und ihrer Entwickelung . .
Längst werden Ihnen , hochverehrte Anwesende , die analogen
Erscheinungen in der Kunstentwickelung anderer Völker , nament-
lich in der älteren italienischen Malerei , in den Sinn gekommen
sein . Auch dort finden wir ja das einmal geschaffene Schema der
Darstellung von Geschlecht zu Geschlecht , von Schule zu Schule
vererbt , umgebildet , vervollkommnet . Und doch besteht ein sehr
bedeutsamer Unterschied zwischen der bildlichen Tradition der
älteren italienischen und der der antiken Kunst . Die Stoffe der
italienischen Kunst , mögen es nun die Geschichten der heiligen
Schrift sein oder die Legenden von Benedictus und Franciscus ,
haben eine feste kanonische Form , an der sich Nichts ändert und
Nichts ändern darf , die dieselbe bleibt Jahrhunderte lang und
fest eingeprägt ist dem schaffenden Künstler wie dem an-
dächtigen Beschauer . Ganz anders steht der antike Künstler
da , seine Stoffe sind in beständigem lebhaftem Fluſs . Der antike
Künstler teilt seine Ansprüche auf den Stoff mit dem Dichter .
Der Dichter aber , namentlich der dramatische , bildet mit mäch-
tiger Hand den Stoff um , während gleichzeitig der Geschichts-
schreiber ihn mühselig und nicht ohne gewaltsame Änderungen
seinem genealogischen System einordnet und der Philosoph
an ihm herumkritisiert und interpretiert . In mannigfaltigen
Brechungen liegen die einzelnen Sagen vor dem antiken Künstler ;
er hat die Wahl , welcher der vielfachen litterarischen Be-
handlungen er sich anschlieſsen will .
Er hat die Wahl ? hat er sie wirklich ? wird nicht die An-
schauung seiner Zeitgenossen auch sein Urteil wesentlich be-
stimmen ? wird er nicht derjenigen Version der Sage folgen
müssen , welche seinen Zeitgenossen besonders geläufig ist ? und
welche ist es ? wie verhalten sich die Vorstellungen des Volkes
zu den poetischen Bearbeitungen der Sage ?
Aus dem Volksbewusstsein ist die Sage entsprungen , aus
dem Volksbewuſstsein schöpft der Dichter ; aber bleibt wirklich
die Volksvorstellung unverändert Jahrhunderte lang ? Ist sie die
klare Quelle , aus der Poesie und Kunst schöpfen , ohne daſs von
Poesie und Kunst jemals ein Spiegelbild in sie zurückfällt , um
ihr neue Farben und neuen Glanz zu verleihen ? Nein , der Quell
der Sage hat die Zauberkraft , das Bild des ächten Sängers , des
ächten Bildners , der aus ihm schöpft , in sich aufzunehmen und
festzuhalten , so lange festzuhalten , bis ein gröſserer naht , der
das alte Bild verdrängt und sein eigenes an dessen Stelle setzt .
Auch die Sage , wie sie im Volksbewuſstsein lebt , hat ihre
Entwickelung und ihre Geschichte . So fest sie auch in den
verborgensten Tiefen des Volkslebens zu wurzeln scheint , so alt
und ehrwürdig sie uns oft entgegentritt , gleich als ob die Jahr-
hunderte , die Staaten umwälzen und die Weltanschauung ver-
wandeln , nur sie gänzlich unberührt gelassen hätten , als ob sie
dieselbe sei zur Zeit Cäsars , die sie in den Tagen des Perikles
war , auch die Sage befindet sich in ewigem Fluſs , und die beiden
mächtigen Faktoren der Kulturentwickelung , die aus der Sage
ihre erste , kräftigste , gesundeste Nahrung ziehen , Bild und Lied ,
üben auf das Volksbewuſstsein einen viel gewaltigeren Rückschlag
aus , als man in der Regel erkennen und zugeben will . Eine
wirklich schöpferische Dichterkraft setzt die Form , welche sie der
Sage giebt , an Stelle der lokalen Tradition ; die dichterische Um-
bildung des Stoffes wird selbst zur Volksvorstellung , und es ent-
wickelt sich an Stelle der Volkstradition eine noch viel mächtigere
poetische Tradition . Unserer Zeit , in der keine Volkssage mehr
wahrhaft lebendig ist , fällt es schwer , eine klare Vorstellung von
diesem Vorgang zu gewinnen . Vergleichen lieſse sich etwa die
Art , wie die von unsern groſsen dramatischen Dichtern behandel-
ten historischen Stoffe und historischen Persönlichkeiten in unserer
Volksvorstellung leben . Auch hier hat die Allgewalt der dich-
terischen Gestaltung sowohl die historische Wahrheit wie die
volkstümliche Legende verdrängt ; bei den Namen Wallenstein
und Egmont denkt gewiſs weitaus der gröſste Teil unseres
Volkes an die Gestalten unserer Dichter und überträgt die Züge
derselben unwillkürlich auf die historischen Persönlichkeiten .
Je allmählicher sich dieser Prozess in der Volksvorstellung
vollzieht , um so stärker und nachhaltiger ist seine Wirkung .
Eine mehr als tausendjährige Entwickelung ist es , welche die
Heldensage der Hellenen auf diese Weise durchgemacht hat , und
wenn wir auch diese Entwickelung nur bei einigen wenigen
Mythen beobachten und verfolgen können , so dürfen wir doch
nie vergessen , daſs sie bei allen antiken Sagen stattgefunden
hat , und daſs die Formen , in welchen uns die einzelnen
antiken Mythen lieb und vertraut sind , die Karakterbilder ,
in denen die einzelnen Gestalten der griechischen Heldensage
für uns typisch geworden sind , keineswegs in allen Epochen
des klassischen Altertums gegolten haben , daſs vielmehr in be-
stimmter Zeit ein bestimmter Dichter diese Sage in diese Form
gegossen , jenem Heros jene Karakterzüge verliehen hat . Der
uns geläufige Gesamtschatz antiker Mythen geht auf sehr ver-
schiedene Zeiten zurück : die troischen Mythen , soweit sie die
Kämpfe um Ilion selbst angehen , sind uns in der altehrwürdigen
Form vertraut , in welcher der Heldensang der kleinasiatischen
Colonien sie zuerst dichterisch fixiert hat , aber einzelne Züge ,
namentlich aus der Vorgeschichte , wie der Apfel der Eris beim
Parisurteil oder die Unverwundbarkeit des Achilleus , entstammen
einer viel späteren Periode ; sie gehören der alexandrinischen , viel-
leicht sogar erst der römischen Sagenbildung an . Die Sage vom
Schicksal des Orestes , die Mythen von Andromeda , Medeia , Iphi-
geneia kennen wir in der Form , die ihnen das attische Drama des
fünften Jahrhunderts , die Argonautensage in derjenigen , welche ihr
ein alexandrinischer Dichter des dritten Jahrhunderts gegeben hat ;
und den Zug der Sieben gegen Theben lernen wir sogar einzig in
der aus sehr heterogenen Elementen kompilierten Form kennen ,
welche in den mythologischen Handbüchern der römischen Kaiser-
zeit stand . Wir vergessen das zu leicht ; es ist gut , sich zu-
weilen ins Gedächtniss zu rufen , daſs dem Griechen vor Euripides
die Medeia keineswegs das war , was sie uns ist , daſs ihm bei
diesem Namen nicht das Bild der düsteren grauenhaften Zauberin
aus Kolchis , des leidenschaftlichen Weibes , der Mörderin ihrer
eigenen Kinder aufstieg , sondern daſs sie ihm die hohe Sprossin
und berechtigte Erbin des alten ehrwürdigen Königsgeschlechts
von Korinth war , die Enkelin des Sonnengottes . So ist den Griechen
dieselbe Sage in anderer Fassung zur Zeit des Peisistratos , in
anderer zur Zeit des Perikles , in anderer zur Zeit der römischen
Herrschaft lieb und wert . Ich will hier nicht untersuchen ,
welche Berechtigung der fromme Glaube hat , daſs in einigen
Thälern der Peloponnes sich die alte Volkssage in ursprünglicher
Reinheit bis zu den Tagen des Kaisers Antoninus erhalten habe
und damals von einem eifrigen und pflichtgetreuen Reisenden —
er heiſst Pausanias — aus dem Munde eisgrauer Männlein und
Weiblein aufgezeichnet worden sei ; allein daſs die groſse Masse
des Volkes in der Kaiserzeit die antiken Sagen nur in der Form
kennt , welche ihnen das attische Drama und die alexandrinische
Poesie gegeben hat , kann keinem aufmerksamen Leser der Lit-
teratur jener Zeit entgehen .
Von dieser wechselnden Volksvorstellung hängt nun der
Künstler ebenso sehr wie von der bildlichen Tradition ab ; denn
es ist für den antiken Künstler bezeichnend , daſs er äuſserst
selten , ja fast nie in unserem heutigen Sinne Illustrationen
schafft Dies betont richtig auch Luckenbach in seiner verdienstlichen Arbeit
„ Das Verhältnis der griechischen Vasenbilder zu den Gedichten des epischen
Kyklos “ im XI. Supplementband des Jahrb. für classische Philologie S. 493 f.
Die Anschauungen des Verfassers freue ich mich in allen wesentlichen Punk-
ten teilen zu können , wenn ich auch die Erscheinungen etwas anders for-
mulieren und meist auf andere Weise erklären zu müssen glaube , wie es in
der angeführten Schrift geschehen ist . . Selten nur steht er dem Dichtwerk als solchem gegen-
über , meist der von diesem beeinfluſsten Volksvorstellung ; er
wahrt sich seine völlige künstlerische Freiheit nicht nur im
Hinzufügen und Weglassen einzelner Personen oder einzelner
Umstände , sondern auch in der Neuschöpfung von Scenen und
Situationen , die dem Dichtwerk fremd sind , aber sich aus den
Elementen desselben entwickeln lassen , für die also nichts-
destoweniger das Dichtwerk die eigentliche litterarische Quelle
ist . Es kann dabei vorkommen , daſs dem Künstler selbst diese
Abhängigkeit von der Dichtung gar nicht zum Bewuſstsein kommt ;
sie bleibt deshalb doch in voller Kraft bestehen Ein Beispiel aus der unmittelbaren Gegenwart mag das erläutern .
Pilotys Wallenstein auf der Reise von Pilsen nach Eger , Defreggers Hofer
auf seinem letzten Gang sind gewiſs keine Illustrationen zu Schillers Wallen-
stein und Mosens Hofer ; denn nirgend findet sich dort eine entsprechende
Situation . Dennoch muſs behauptet werden , daſs beide Maler ihre Bilder
gewiſs nicht so gemalt hätten , wenn jene beiden Gedichte nicht existiert hät-
ten . Die Künstler schaffen aus der Anschauung heraus , die durch die Werke . Der an-
tike Künstler steht also nicht in solcher sklavischen Abhängigkeit
von dem Wortlaut des Dichtwerks , wie der moderne Illustrator ,
er steht selbstbildend , selbstschöpferisch da , und es ist daher sehr
wohl denkbar , daſs auch durch ein Bildwerk , wie durch eine
Dichtung , die Sage umgewandelt und weitergebildet wird .
Der Weg , den ein antiker Mythos an der Hand von Poesie
und Kunst wandelt , führt zu Verschlingungen mannigfacher Art .
Wie leicht kann es geschehen , daſs die bildliche Tradition mit
der Sagenvorstellung der Zeitgenossen in Widerspruch gerät ;
wie wird sich in diesem Fall der bildende Künstler verhalten ?
wird er der einen oder der anderen rücksichtslos folgen , oder
wird er einen Ausgleich versuchen ? es wird sich zeigen , daſs
hier in verschiedenen Perioden anders verfahren wird . Meine
Absicht ist , in Kürze die wichtigsten Perioden antiker Kunst
und Poesie an unserem Auge vorüberziehen zu lassen und
auf die Art hin , wie sich in ihnen Kunst und Poesie verhalten ,
zu untersuchen .
Dabei ist aber noch ein weiterer Gesichtspunkt in Betracht
zu ziehen ; nicht nur in der befolgten Sagenform , dem dar-
gestellten Gegenstand , zeigt sich der mehr oder minder direkte
Einfluſs der Poesie auf die Kunst , sondern auch in der Art , wie
der Gegenstand behandelt wird , in der Vortragsweise . Es ist
eine meines Wissens zuerst von O. Jahn gemachte Beobachtung ,
daſs im Altertum die Poesie nicht nur der Kunst den Stoff
giebt , sondern auch formell die Art der Behandlung bestimmt ,
daſs in den ältesten Darstellungen der Heroensage ein epischer
Grundton , in den Bildwerken des fünften und vierten Jahrhuuderts Jahrhunderts
ein dramatisches Leben , in anderen Werken eine lyrische Stim-
mung vorherrscht . Die historische Betrachtungsweise wird auch
nach dieser Seite hin die Erscheinungen der einzelnen Perioden
zu prüfen haben .
Wir beginnen mit der Periode des Volksliedes und des
Volksepos ; eine ganze Fülle heroischer Sagen finden in dem
der Dichter hervorgerufen ist , und insofern ist allerdings für jenen Schillers
Drama , für diesen Mosens Gedicht die litterarische Quelle .
ionischen Epos ihre dichterische Gestaltung , wahrscheinlich be-
deutend mehr , als die , von denen wir es heute konstatieren
können . So die Sage vom Raub der Helena und dem Kampf um
Troia , an welche die Sage von den Irrfahrten des Odysseus angeschlos-
sen wird , die Sage von dem Zug der Sieben gegen Theben , deren
notwendige Voraussetzung wieder die Oidipussage , die Sage von
der Fahrt der Argo , deren Voraussetzung die Phrixossage bildet .
Wie sich diese Gestaltung vollzogen , wie sich aus der Fülle von
Sagen und Sagenformen einzelne ausgesondert , die andern ver-
drängt und zuletzt kanonische Geltung gewonnen haben , wie
in jener Epoche , da die Unterschiede der einzelnen Stämme
noch schroffer hervortraten , die Sage von Stamm zu Stamm ge-
wandert , wie Heros auf Heros und Sage auf Sage gepfropft
worden ist , dies zu untersuchen gehört zu den anziehendsten ,
aber auch schwierigsten Aufgaben der Sagenforschung ; und wenn
auch durch die epochemachenden Forschungen Adolf Kirchhoff’s
über die Entstehung der homerischen Odyssee auf einen Teil
dieses dunklen Gebietes ein heller Lichtstreif gefallen ist , so
vermissen wir um so schmerzlicher eine klare Einsicht in die
Entwickelungsgeschichte der übrigen Sagen . Ich muſs es mir
hier versagen , auch nur ein annäherndes Bild von diesen Vor-
gängen zu entwerfen und insbesondere auf die interessante Er-
scheinung des Eindringens dorischer Elemente in das ionische
Heldenepos näher einzugehen . Eine Entwickelungsgeschichte voll
des mannigfachsten Wechsels muſste sich vollziehen , ehe das ,
was wir jetzt als den Sagenstoff des Epos zusammenfassen , feste
kanonische Form erhielt , ehe die unter dem Namen Hesiods
gehenden Gedichte in ihren Heroengenealogieen gleichsam das
Facit dieser ganzen Epoche zogen und den Boden bereiteten ,
auf welchem die erste griechische Geschichtsschreibung , die , so-
weit sie die Heldensage behandelt , ja selbst wesentlich genealo-
gisch ist , erwachsen konnte .
Die vom Volkslied und Volksepos poetisch behandelten
Sagen sind in sehr früher Zeit künstlerisch gestaltet worden ;
diese erste bildliche Darstellung einer Sage ist bestimmend für
alle folgenden ; aus ihr erwächst die allgewaltige bildliche Tra-
dition . Wohl dürfen wir hoffen , daſs einst die Zeit kommen wird ,
in welcher die Forschung auch hier schärfer scheiden und die
Entstehungszeit und den Entstehungsort der einzelnen Typen wird
bestimmen können ; es wird sich dann vielleicht konstatieren lassen ,
daſs die verschiedenen griechischen Stämme , wie ihren eigen-
artigen Dialekt und ihr eigenartiges Alphabet , ihre eigenen
Sagen und ihre eigenen Lieder , so auch ihre eigenartigen bild-
lichen Typen hatten . Heute ist diese Zeit noch nicht gekom-
men Das Eigentum des dorischen und des ionischen Stammes zu scheiden
hat namentlich Georg Löschcke mit Glück versucht ( Über die Reliefs der
altspartan . Basis S. 10 . ) . Ich muſs mich daher damit begnügen , die karakteristi-
schen Eigentümlichkeiten der aus jener Periode erhaltenen oder
auf Schöpfungen jener Periode zurückgehenden Darstellungen im
allgemeinen ohne Rücksicht auf die feineren Unterschiede der
Stämme zu schildern . Die Vorstellung von dieser Kunstperiode
beruht teils auf den ausführlichen Beschreibungen zweier unter-
gegangener Kunstwerke , teils auf den in spärlicher Anzahl erhal-
tenen Reliefs und den in überwältigender Anzahl erhaltenen bemalten
Vasen schwarzfiguriger Technik und , der groſsen Masse nach ,
korinthischer chalkidischer attischer Fabrik , welche die erwähnten
Beschreibungen ergänzen , indem sie den überlieferten Typus pietät-
voll reproducieren .
Aus allen diesen Produkten des archaischen Kunsthandwerks
blickt uns die helle Freude am Darstellen und am Dargestellten
gar treuherzig an ; die helle Freude , daſs das , was bisher nur
im Liede von Mund zu Mund ging , leibhaftig im Bilde vor Augen
steht ; daſs sie alle dastehen die wohlbekannten Gestalten des
troianischen und thebanischen Krieges , die Männer in derselben
Rüstung , die Frauen in derselben Tracht , wie sie die Beschauer
selbst tragen , denn , wie jede echte Kunst und jede echte Poesie , „ lebt
und athmet “ die Antike „ in lauter Anachronismen “ . Der Grund-
ton aber , den diese archaische Kunstperiode anschlägt , ist der-
selbe , der das Epos beherrscht , der Ton der mit breiter Behag-
lichkeit ausgeführten Erzählung . Das erzählt und plaudert , wie
der alte Nestor bei Homer , und kann des Erzählens und Plau-
derns kein Ende finden , und überstürzt sich im Erzählen ; denn
diese Kunstperiode möchte gern gleich Alles erzählen , und es
will ihr nicht in den Sinn , daſs sie nicht , wie die Poesie , den
ganzen Verlauf der Handlung , sondern nur einen Abschnitt be-
handeln darf .
Wenn sie den Auszug des Amphiaraos darstellen will , des
groſsen Königs und Sehers , der durch den Verrat seines
Weibes Eriphyle gezwungen ist , den unheilvollen Zug gegen
Theben mitzumachen , der in der ersten Aufwallung des Zornes
das verräterische Weib töten will , aber bezwungen durch die
Bitten seiner Kinder sie verschont und das Rächeramt seinem
Sohn Alkmaion überträgt , so möchte sie gern dem Beschauer
alle Umstände dieser Sage auf einmal vor Augen stellen . Sie
zeigt Von den erhaltenen Darstellungen ist die wichtigste der korinthische
Krater des Berliner Museums ( M. d. I. X tav. IV. V. ) ; mit ihm muſs die Dar-
stellung der Scene auf dem Kypseloskasten in allen wesentlichen Punkten
übereingestimmt haben . Als ich das Monument A. d. I. 1874 S. 82 f. besprach ,
hielt ich noch fälschlich an der Forderung einer einheitlichen Handlung und
eines klar erfaſsten Momentes fest ; ein Irrtum , der an vielen Verkehrtheiten
jenes Artikels schuld ist . Amphiaraos , wie er kampfgerüstet den Wagen besteigen
will , auf dem bereits sein Wagenlenker , der sagenberühmte Baton ,
steht ; einen Fuſs hat Amphiaraos schon auf den Wagen gesetzt ,
der andere berührt noch den Boden ; in der Hand hält er das
gezückte Schwert , der Blick ist zornig auf Eriphyle gerichtet .
Vor ihm stehen seine Kinder , die beiden halbwüchsigen Töchter ,
der Knabe Alkmaion , der berufen ist , den Vater zu rächen , der
kleine Amphilochos , den die Amme noch auf der Schulter trägt ;
alle , auch dieser jüngste , strecken flehend beide Hände zum Vater
empor ; sie bitten für das Leben der Mutter . Diese steht im
Hintergrund , das groſse Perlenhalsband der Harmonia , den Preis
des Verrates , in der Hand . Unterdessen empfängt Baton aus
der Hand der Schaffnerin den Abschiedstrunk ; vor den Pferden
steht ein Diener , ein zweiter sitzt trauernd am Boden .
Dieser Darstellung fehlt das klare Erfassen und scharfe
Wiedergeben eines ganz bestimmten Momentes der Handlung ,
einer ganz bestimmten Situation , in welcher oder in Beziehung
auf welche alle dargestellten Figuren gedacht sein müſsten .
Sollte der Moment dargestellt werden , in dem Amphiaraos sein
Weib töten will , so durfte er nicht schon mit einem Fuſs auf
dem Wagen stehen und nur noch den Kopf nach Eriphyle hin-
wenden ; sollte er aber in dem Augenblick dargestellt werden ,
als er dem Rachegedanken entsagt hat und sich zur Abfahrt an-
schickt , so durfte er nicht das gezückte Schwert mehr tragen
— er müſste wenigstens im Begriff sein , es in die Scheide zu-
rückzustoſsen Dies ist vielleicht auf der , doch wohl chalkidischen , Münchener Vase
( Micali Storia 95 = Overbeck Her. Gall . III 5 ) der Fall ; oder will er dort , was
noch unangemessener wäre , das Schwert erst ziehen ? — und die flehend erhobenen Arme der Kinder
sind gleichfalls nicht mehr am Platz . Unter beiden Voraus-
setzungen gleich unpassend ist die ruhige Haltung der Eriphyle ;
wir würden erwarten , daſs sie vor dem Schwert des Gatten
sich zur Flucht wenden oder um Erbarmen flehen , daſs sie
entweder Angst vor der drohenden Gefahr oder Freude über die
unverhoffte Rettung zeigen würde . Sie aber steht ohne irgend
welche Bewegung , ohne irgend eine Gefühlsäuſserung , ruhig , fast
teilnamlos da , das auffallend groſse Halsband in der Hand
offenbar mehr für den Beschauer , als für die anwesenden Per-
sonen . Ebensowenig ist Baton und die übrigen Diener in einer
der Situation entsprechenden Haltung dargestellt . Man würde er-
warten , daſs in einem Augenblick , wo ihr Herr im höchsten Zorn
sein Weib töten will oder töten wollte , die Diener voll Entsetzen
und Grausen ihre ganze Aufmerksamkeit auf diese schreckliche
Scene richten würden . Statt dessen empfängt Baton ruhig aus
der Hand der Schaffnerin den Abschiedstrunk , und Niemand auf
der rechten Seite des Bildes scheint den Vorgang auf der linken
Seite zu bemerken oder zu beachten . Es ist klar , daſs , was wir
hier mit einem Blicke übersehen , nicht gleichzeitig sich ereignet
haben kann ; es fehlt eine alle Figuren gleichmäſsig umfassende
bestimmte Situation , es fehlt die Einheit der Handlung : alle
Figuren sind mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigt , jede
ist eigentlich in einem andern Moment der Handlung aufgefaſst ,
oder richtiger , der eigentliche Moment der Handlung ist vom
Künstler unbestimmt gelassen . Der Grund dieser Unbestimmtheit
liegt aber darin , daſs diese archaische Kunst von keiner Be-
schränkung wissen will , daſs sie sich und dem Beschauer nicht
genugthun zu können glaubt und gleich Alles erzählen möchte .
Oder ein anderes Beispiel ; sehr beliebt ist die Darstellung
vom Tode des schönen Troilos , des jüngsten Priamossohnes , der
im Anfang des Krieges ausgeritten ist , seine Schwester Polyxena
zum Brunnen vor der Stadt zu begleiten und selbst seine
Rosse zu tränken , und dort von Achilleus überrascht wird .
Polyxena entkommt , aber den Knaben , so sehr er seine Rosse zur
Eile antreibt , holt Achilleus ein und tötet ihn ; zu spät eilt Hek-
tor , zu spät die übrigen Brüder dem Knaben zu Hülfe . Hier
begnügt sich die Kunst nur selten damit , Polyxena , die im
Schrecken den Wasserkrug fallen läſst , Troilos auf den flüch-
tigen Rossen dahinsprengend , Achilleus mit mächtigen Schritten
dem Fliehenden nacheilend darzustellen ; bald erweitert sie den
Typus Vgl. Cap. II , Erweiterung und Verschmelzung der Typen . und stellt auch den Brunnen dar Das Beispiel ist entnommen von der François-Vase ( M. d. I. IV tav.
LIV. LV ; Arch . Zeit . 1850 Taf. XXIII. XXIV ; Wiener Vorlegeblätter , Ser. II.
Taf. I. II. ) , und als ob nichts
geschehen als ob nicht eben Achilleus hier hervorgebrochen wäre
und als ob nicht die Königskinder in tötlicher Gefahr schwebten ,
ist ein Trojanerknabe ruhig beschäftigt , seinen Krug zu füllen ,
ohne auf den fliehenden Troilos einen Blick zu werfen , ohne
Angst zu verraten , daſs auch ihm der Rückweg zur Stadt ab-
geschnitten und Verderben bereitet werde . Das Treiben am
Brunnen vor der Stadt will der Künstler darstellen , aber er
schildert es , wie es sich in ruhigen Tagen abspielt , nicht wie es
in dem Augenblick sein müſste , da die drohende Kriegsgefahr
sich der Stadt naht . Derselbe Mangel an einheitlicher Auffassung
begegnet uns an der anderen Seite der Darstellung , wo das Ziel
der Flucht , die Stadtmauer von Troia dargestellt ist . Vor der
Mauer sitzt auf einem Steinsitz Priamos , dem Antenor eben die
Gefahr , in der seine Kinder schweben , mitteilt ; aus dem Stadt-
thor eilen Hektor und Polites Polites ist in der Ilias Β 792 der Späher , der auf dem Grabhügel
des Aisyetes Wache hält , um das Nahen der Achaeer von den Schiffen her
zu beobachten .
εἴρατο δὲ φϑογγὴν υἶι Πριάμοιο Πολίτῃ ,
ὃς Τρώων σκοπὸς ἶζε , ποδωκείῃσι πεποιϑώς ,
τύμβῳ ἐπ̕ ἀκροτάτῳ Αἰσυήταο γέροντος ,
δέγμενος ὁππότε ναῦφιν ἀφορμηϑεῖεν Ἀχαιοί .
Hiezu stimmt vortrefflich , daſs als zum ersten Mal ein Achäer — Achilleus
— sich der Stadtmauer nähert , Polites unter den ersten ist , die zu Hilfe
eilen ; er hat Hektor die Kunde von Achilleus ’ Nahen gebracht . Von diesem
Späheramt des Polites weiſs sonst die Ilias nichts . Es ist daher in hohem
Grade wahrscheinlich , daſs dieser Zug , wie so manches andere in Β , aus den
Kyprien eingesetzt ist ; möglich sogar , daſs Polites dort in der Troilosepisode
dieselbe Rolle spielte , wie auf der Françoisvase . dem bedrohten Bruder zu Hilfe .
Es ist klar , daſs hier Ereignisse dargestellt sind , welche unmög-
lich gleichzeitig stattgefunden haben können ; in dem Augenblick ,
wo Antenor dem Priamos die erste Kunde bringt , können Hektor
und Polites sich wohl rüsten , aber sie können noch nicht kampf-
bereit aus dem Thor dringen . Was wir hier mit einem Blick
als gleichzeitig übersehen , war in der Dichtung , welche dieser
Sage poetische Form gegeben hat , den Kyprien , eine Folge von
Ereignissen . Allein man würde irren , wenn man etwa glaubte ,
der Maler habe hier drei zeitlich verschiedene Scenen darstellen
wollen . Die Erzählung in einer Folge von Scenen ist der archai-
schen Kunst durchaus fremd Im Gegensatz zur orientalischen Kunst , die diesen Chroniken-Stil liebt .
Neben den assyrischen Skulpturen liefert jetzt ein treffliches Beispiel die
phönikische , in Palestrina gefundene Silberschale , ( M. d. I. X 31 ) auf welcher in
einer Reihenfolge von Scenen das Jagdabenteuer eines Königs dargestellt ist , wie
kürzlich Clermont-Ganeau ( la coupe phénicienne de Palestrine ) dargethan hat . ; in eine Scene preſst sie alles
zusammen , aber es ist eben eine Scene ohne scharf präzisierten
Moment . Als Prolepsis , wie es meistens geschieht , läſst sich
diese Eigentümlichkeit nur uneigentlich und mit starker Ein-
schränkung bezeichnen , die Darstellung greift nicht bloſs vor ,
sondern auch zurück , und gerade die Verlegenheit , in der wir
uns befinden würden , wenn wir z. B. dieser Troilosdarstellung
Philolog. Untersuchungen V. 2
gegenüber angeben sollten , was zur Charakteristik des Momentes
gehört und was der Künstler vor- und zurückgreifend zufügt ,
zeigt , daſs wir mit dieser Frage einen dieser Kunstepoche frem-
den Maſsstab anlegen Diese Unbestimmtheit kommt bei ausgedehnteren Kompositionen der
Kunst sogar sehr zu statten , und sie behält dieselbe daher in einzelnen
Fällen auch noch bei in Zeiten , wo die primitive Stufe im allgemeinen
überwunden ist . So Mikon bei der Marathonschlacht , Pheidias beim Parthenon-
fries . In dem Gemälde war — das lehren die Berichte deutlich — an der
einen Seite der Kampf noch unentschieden ( kommen doch die Plataier erst
eilenden Laufes heran ) , in der Mitte fliehen die Perser , an der anderen
Seite war der Kampf bei den Schiffen ; allein es ist ein schwerer Irr-
tum , sich dabei drei äuſserlich streng geschiedene Scenen oder gar die
Gestalt des Miltiades und der übrigen Feldherren — den Gesetzen dieser
Kunstperiode zuwider — mehrere Male dargestellt zu denken . Wie der
Beschauer an dem ausgedehnten Gemälde vorbeischritt , nahm in gleichem
Maſse die Entwickelung der Handlung ihren Fortgang . Es ist also an
Stelle der zeitlichen Unbestimmtheit der Darstellung ein zeitlicher Fortschritt
getreten . Dasselbe haben wir am Parthenonfries deutlich vor Augen ; indem wir
von der Nordwestecke bis zur Mitte des Ostfrieses fortschreiten , sehen wir
die Reiter sich rüsten , aufsitzen , sich zu Gliedern ordnen , wir gehen an den
Wagen , den Opfertieren , den Mädchen vorbei , bis wir zuletzt den Peplos —
denn das ist er trotz Brunns und seiner Schüler Widerspruch — in der Hand
des Priesters sehen . Gewiſs ist das nicht gleichzeitig zu denken , sondern
unmerklich ist die Zeit fortgeschritten ; aber meisterhaft hat uns Pheidias
über den Verlauf hinweggetäuscht : wir sind in demselben Falle , wie einer ,
der vom Kerameikos aus neben dem sich stets bewegenden Zuge hereilt .
Erwägungen , wie die von Flasch ( Über den Parthenonfries S. 94 ) , erledigen sich
hierdurch von selbst ; die Athener würden ihm , wenn sie überhaupt auf solche
Fragen sich einlieſsen , entgegnet haben : „ die Reiter , die wir vorhin noch mit Vor-
bereitungen beschäftigt sahen , sind unterdessen längst aufgesessen und auf der
Akropolis angelangt und haben die Peplosübergabe mit angesehen “ . — Man darf
sogar fragen , ob bei Kompositionen , die nicht mit einem Blick zu übersehen
sind , sondern im Weiterwandeln betrachtet sein wollen , ein solcher unmerk-
licher zeitlicher Fortschritt nicht künstlerisch geboten erscheint . .
In dieser Hinsicht ist mir auch die Art , wie die archaische
Kunst die schöne Erzählung von Hektors Lösung im letzten Buche der
Ilias bildlich gestaltet , immer besonders merkwürdig erschienen Von den archaischen Darstellungen dieses Typus ist leider nur eine
sehr flüchtige schwarzfigurige Lekythos publiziert ( Arch. Zeit . 1854 , Taf. 72 ) .
Derselbe Typus liegt den strengen rothfigurigen Vasen ( M. d. I. VIII 27 u. .
Achilleus liegt auf der Kline , vor ihm steht der Tisch mit Speisen ,
wie ja auch in der Ilias Priamos den Peliden nach eben voll-
endeter Mahlzeit findet ; unter der Kline liegt die geschändete
Leiche Hektors — denn diese , um die sich die ganze Handlung
dreht , muſs natürlich der Beschauer wirklich auf dem Bilde dar-
gestellt sehen . Indem nun aber der Künstler zum Anbringen von
Hektors Leichnam in höchst sinnreicher Weise den leeren Raum
unter der Kline benutzt , entsteht gleichsam ganz von selbst , jeden-
falls ohne Vorgang der Dichtung , der zu Achills hartem Charakter
vortrefflich passende Zug , daſs er über der Leiche seines Feindes
liegend die Freuden des Mahles genieſst . Dem Achill naht sich
eiligen Schrittes — wie ja in der archaischen Kunst jedes Ge-
hen zu einem hastigen Laufen wird — Priamos , die Arme flehend
erhoben . Und wie empfängt ihn Achilleus ? Er reicht ihm die
Schale . In der Ilias bietet bekanntlich zuletzt Achilleus , als er ,
durch die Erinnerung an seinen eigenen greisen Vater gerührt ,
in die Auslieferung der Leiche gewilligt hat , dem tiefgebeugten
Troerkönig Speise und Trank an mit den schönen Worten , daſs
alles menschliche Leid seine Gränzen habe und daſs auch einst
Niobe die schwergeprüfte zuletzt die Gaben der Demeter nicht
verschmäht habe . Was dort den Abschluſs der Begegnung zwischen
Achill und Priamos bildet , ist hier in den Anfang derselben ver-
legt , oder richtiger : es ist gleich der ganze Verlauf dem Be-
schauer vor Augen gestellt .
Wenn dies Bild in seiner Naivität etwas Ergreifendes hat ,
so führt dasselbe Verfahren doch auch zu Darstellungen , welche
auf uns mit unwiderstehlicher Komik wirken , so wenig eine
solche Wirkung von dem antiken Künstler beabsichtigt war .
Ein recht drastisches Beispiel sind die Darstellungen des Aben-
teuers des Odysseus in der Höhle des Polyphem Ich habe hier vor Allem den aus derselben Fabrik wie die Arkesilas- . Der Kyklop
sitzt aufrecht auf einem Felssitz , in jeder Hand einen mensch-
Overbeck XX 3 ) zu Grunde ; doch ist hier dem Geschmack des fünften Jahr-
hunderts entsprechend versucht , den Moment scharf zu präcisieren . Die Er-
klärung , daſs Achill dem Priamos den Becher zu Spott und Hohn hinreiche ,
( Luckenbach a. a. O. S. 509 ) wäre besser nicht aufgestellt worden .
2*
lichen Unterschenkel haltend ; er ist also damit beschäftigt , einen
der Gefährten des Odysseus zu verzehren . Dieser selbst steht vor
ihm , mit der rechten Hand ihm den Becher reichend , aber gleich-
zeitig faſst seine linke Hand einen gewaltigen Pfahl , der auf seiner
und der drei hinter ihm herschreitenden Genossen Schultern ruht ;
er will das spitze Ende desselben in das Stirnauge des Kyklopen
bohren . Auch hier also hat der Verfertiger sämmtliche Momente
des Abenteuers auf einmal dargestellt und dadurch eine ebenso
unmögliche wie lächerliche Scene uns vorgeführt ; der Kyklop
kann weder den Becher ergreifen , den ihm Odysseus bietet , da
seine beiden Hände beschäftigt sind , noch ist es denkbar , daſs
er in wachem und nüchternem Zustand sich geduldig den Pfahl
in die Stirn bohren lassen würde S. Luckenbach a. a. O. S. 505 . .
Dieselbe Unbestimmtheit , wie hinsichtlich der Zeit , herrscht
in dieser ersten Kunstperiode auch hinsichtlich des Ortes der
Handlung . Dies zeigt sich , da eine Andeutung der Lokalität
in der Regel fehlt , namentlich in der Anwesenheit von Personen ,
welche an dem Ort der Haupthandlung unmöglich anwesend sein
können . So finden wir bei dem Kampf des Theseus mit dem
Minotauros , dessen Schauplatz selbstverständlich das Innere
des Labyrinthes ist Z. B. auf der attischen Vase des Archikles und Glaukytes ( M. d. I.
IV tav. LIX Gerhard A. V. 235. 236 ) , auf der chalkidischen Vase ( M. d. I.
VI tav. XV ) u. öfter . , nicht nur die dem Tod geweihten
athenischen Knaben und Mädchen , sondern auch Minos und
Ariadne , ja auch die Amme der letzteren gegenwärtig ; so ist bei
der Scene , wo Achilleus die beiden trojanischen Königskinder
Troilos und Polyxena beim Brunnen vor der Stadt überfällt ,
Priamos selbst zugegen Auf der korinthischen Vase Arch. Zeit . 1863 T. 175 . , so ist endlich bei der Ermordung der
Ismene durch Tydeus , die im Gemach der thebanischen Königs-
tochter erfolgt , der Knappe des Tydeus , Klytios , hoch zu Roſs ,
anwesend M. d. I. VI tav. XIV. Wiener Vorlegeblätter Ser. III T. I 2. Welcker , .
Vase stammenden Teller ( M. d. I. I tav. VII , 1. Overbeck her . Gall. XXXI 4 )
im Auge .
Diese Freiheit und Ungebundenheit von Ort und Zeit auf der
einen , der Wunsch die Vorgänge möglichst vollständig darzustellen
auf der andern Seite verführen diese in ihrer jungen Schöpferlust
Alte Denkm. V T. 14 S. 253 . Es ist gewiſs schon oft bemerkt , aber meines
Wissens noch nicht ausgesprochen worden , daſs Welcker in der Auffassung
dieser korinthischen Vase geirrt hat und daſs sich die richtige Deutung aus
der Salustischen Hypothesis der Sophokleischen Antigone ergiebt . Dort heiſst
es : Μίμνερμος δέ φησι τὴν μὲν Ἰσμήνην προσομιλοῦσαν Θεοκλυμένῳ ὑπὸ Τυδέως
κατὰ Ἀϑηνᾶς ἐγκέλευσιν τελευτῆσαι . Es bedarf wohl kaum eines ausdrücklichen
Hinweises , daſs auf der genannten Vase dieser Vorgang dargestellt ist und daſs
auf diese Weise auch die Nacktheit der Ismene ihre Erklärung findet .
Salust nennt den Liebhaber der Ismene Theoklymenos , ein Name , der in
thebanischen Sagen sonst nicht vorkommt ; und daſs an den gleichnamigen Seher
der Odyssee hier nicht gedacht werden kann , bedarf keines ausdrücklichen Be-
weises . Auf der Vase hingegen heiſst er Periklymenos , das ist der berühmte
Sohn des Neleus oder nach andern des Poseidon , der Argonaut , der durch Posei-
dons Gunst jede beliebige Gestalt annehmen kann und später von Herakles getötet
wird . Im Krieg der Sieben steht er auf Seiten des Eteokles . In der Thebais
( Paus. IX 18 , 4 ) tötet er den Parthenopaios , und darin sind Euripides ( Phoen.
1156 ) und Aristodemos in den Thebaika ( schol. Eur. Phoen . 1156 fr. 4 F. H. G.
III S. 309 Müller ) dem Epos gefolgt ; Apollodor hingegen III 6 , 8 führt zwar
auch die Euripideische Version als Variante an , erzählt aber in seinem Haupt-
bericht , der wahrscheinlich in allen seinen Teilen dem Pherekydes entlehnt
ist ( vgl . de Apollodori bibliotheca p. 67 s. ) , daſs es vielmehr Amphiaraos war ,
der von Periklymenos verfolgt und getötet ward . Ich bin absichtlich aus-
führlich gewesen , um zu zeigen , daſs dem antiken Kenner der theba-
nischen Sagen die Figur des Periklymenos ebenso vertraut gewesen sein
muſs , wie dem heutigen Leser der Ilias ein Aineias oder Deiphobos . So
häufig nun doppelte Namensformen bei weniger bekannten Heroen sind , so
bekenne ich doch , daſs mir diese Annahme bei einer so ausgebildeten Figur
der Sage sehr bedenklich scheint und daſs ich daher geneigt bin , in der
Form Θεοκλύμενος , wie sie die Hypothesis hat , nicht eine Variante , sondern
eine Korruptel des wirklichen Namens Περικλύμενος zu sehen . — Die auf der
Vase dargestellte Sagenversion vom Tod der Ismene wird in der Hypothesis dem
Mimnermos zugeschrieben ; abweichend davon erzählte Pherekydes ( schol. Eurip.
Phoen . 53 , fr. 48 Müller ) , daſs Tydeus die Ismene an der Quelle tötete , die später
ihren Namen trug , und diese Version hat man sich nach Welckers Vorgang
gewöhnt , auch für die Thebais vorauszusetzen . Allein die unter Mimnermos
Namen überlieferte Version hat mindestens den gleichen Anspruch , auf die
Thebais zurückgeführt zu werden , um so mehr , als gerade Kolophon , die
Heimat des Mimnermos , auf die abschlieſsende Gestaltung , die der theba-
schwelgende Kunst , die keine Schranke fesselt und kein Gesetz
bindet , zu dem Versuch , Vorgänge , die nur für die Poesie , nicht
aber für die Kunst darstellbar sind , bildlich zu gestalten , so z. B.
Verwandlungsscenen . Ein charakteristisches Beispiel dafür ist
des Peleus Werbung um Thetis . Scheu und flüchtig , wie alle
Meermädchen , jede Gestalt anzunehmen fähig , wie alle Wassergott-
heiten , sucht sich Thetis der Umarmung des Sterblichen zu ent-
ziehen , indem sie in stets wechselnder Gestalt ihn bedroht , als
Feuer ihn umlodert , als Schlange sich um seine Glieder schlingt ,
als Löwe oder Panther auf ihn eindringt : so berichtete die Sage ,
so sang das Volkslied . Das Bild faſst alle diese verschiedenen
Momente in einen zusammen . Thetis in menschlicher Gestalt
wird von Peleus um die Hüften gepackt und festgehalten , aber
gleichzeitig sind alle Gestalten , welche Thetis der Reihe nach
annimmt , angegeben und nicht ohne Geschick künstlerisch ver-
wertet . Flammen schlagen hinter den Schultern der Thetis empor ,
Schlangen umwinden die Hände und Füſse des Peleus und züngeln
gierig nach seinem Gesicht , ein Löwe ist ihm auf den Rücken
gesprungen und hat die Zähne in seine Schulter eingeschlagen Sollte es nicht mit Panther und Schlange , die wir in den Darstel-
lungen der Gigantomachie neben Dionysos erblicken , ursprünglich eine ähn-
liche Bewandtnis haben ? Man nimmt gewöhnlich an , daſs es die heiligen
Tiere des Dionysos seien , die für ihn kämpfen , allein wie kommt es , daſs
die Tiere der übrigen Götter , vor allem der Adler des Zeus , nicht auch schon in
früherer Zeit , sondern erst auf dem pergamenischen Altar in den Kampf ein-
greifen ? Andererseits ist es bekannt genug , welche groſse Rolle in den ver-
schiedenen Dionysos-Mythen gerade die Verwandlung spielt . Im homerischen
Hymnus verwandelt er sich beim Abenteuer mit den tyrrhenischen Seeräubern
in einen Löwen ( hymn. hom. VII 44 ) ; und daſs er im Gigantenkampf den
Rhoitos leonis unguibus terribilique mala niederwarf , wuſste noch Horaz
( carm. II 19 , 23 ) . So scheint mir , daſs auf den älteren Darstellungen Panther .
nische Sagenstoff schlieſslich im Epos gefunden hat , sehr wesentlich einge-
wirkt zu haben scheint , wie namentlich die Manto-Episode zeigt ( schol.
Apoll . Α 308 ) . Unter diesen Umständen wird man denn bei einem kolopho-
nischen Dichter gerade am ehesten die Version der Thebais zu erwarten be-
rechtigt sein . Daſs die Vasen , die auf Tydeus und Ismene am Brunnen ge-
deutet sind , in Wahrheit Achill und Polyxena darstellen , ist längst richtig
gesehen .
Niemals würde ein Künstler des fünften oder vierten Jahrhunderts
gewagt haben , solche in ihrer Naivität unglaublich verwegene
Darstellung zu schaffen ; da ihm dieselbe aber aus dieser frühesten
Kunstperiode überliefert wird , behält er sie unbedenklich bei .
Besitzen doch gerade die in dieser frühesten Zeit geschaffenen
bildlichen Typen eine ungemein zähe Lebenskraft .
Wie sehr sich diese archaische Kunst ihrer Selbständigkeit
der Poesie gegenüber bewuſst war , geht aus der bisherigen
Schilderung genugsam hervor . Aber sie geht noch weiter . Aus
den von der Sage gebotenen und von der Poesie geformten Ele-
menten schafft sie neue Scenen , neue Situationen , die in der
Poesie nicht vorgebildet sind oder wenigstens nicht vorgebildet
zu sein brauchen . Den Abschied des Hektor z. B. schildert die
archaische Kunst , obgleich ihr gewiſs das berühmte Lied der Ilias
vorschwebt , ganz abweichend von dem Wortlaut jenes Liedes .
Es fehlen Astyanax und die Amme . Dafür sind Priamos und
Hekabe , Polyxena und Kassandra , Kebriones Vgl. Mon. e. Ann. d. Inst. 1855 , T. XX. Wiener Vorlegeblätter Ser.
III Taf. I , 1 . Auf dieser korinthischen Vase erscheint Kebriones als Wagen-
lenker , auf der chalkidischen Vase ( Gerh. A. V. IV 322 ) als Rossehalter des Hek-
tor . Kebriones , der Heros eponymos der troischen Stadt Kebrene ( Strabo
XIII 596 ) , ist bekanntlich in der Ilias ein Bastard des Priamos , der später
Π 738 von Patroklos getötet wird . In Θ 318 befiehlt ihm Hektor , dem
nach einander zwei Wagenlenker getötet sind , die Zügel zu fassen , und
so lenkt er Hektors Wagen bis zu seinem Tod . Es ist also doch klar ,
daſs sein Auftreten in der Kunst als Wagenlenker des Hektor ursprünglich
auf einer undeutlichen Reminiscenz an die Schilderung der Ilias beruht , aber
in der bildlichen Tradition festgehalten und weiter ausgebildet wird , so daſs er
zuletzt als der eigentliche Wagenlenker des Hektor erscheint , ein Amt , das
er in der Ilias nur zur Aushilfe versieht ; wieder ein deutliches Beispiel ,
meine ich , wie die Kunst gleichsam unwillkürlich weiter dichtet . und viele andere
und Schlange die verschiedenen Verwandlungen des Dionysos selbst darstel-
len ; später mochte man das immerhin vergessen haben und nur die heiligen
Tiere des Gottes darin sehen . Aber wissen wir denn so sicher , ob nicht
bei den späteren Darstellungen von dem Ringkampf des Peleus und der
Thetis ein Gleiches stattfand und , ob die attischen Maler der zierlichen Le-
kythos , ( Overbeck her . Gall. VIII 1 ) und der aus Kameiros stammenden Pelike
( Wiener Vorlegebl. II. 6 , 2 ) unter den Tieren sich noch Thetis selbst und
nicht Wassertiere , die der Nereide zu Hilfe kommen , vorstellen ?
gegenwärtig . Wie frei die archaische Kunst im Hinzufügen sol-
cher zuschauenden Personen schaltet , zeigt sich noch deutlicher ,
wenn bei der Wappnung des Achilleus mit den von Thetis über-
brachten Waffen Peleus und Neoptolemos gegenwärtig sind Rhangabé Aux amis de l’antiquité hommage du comité des antiquairs
d’ Athènes . Paris 1869 . Heydemann Vasenbilder VI 4. Wiener Vorlege-
blätter Ser. II 6 , 1 . oder
wenn an dem Kampf um die Leiche des Achilleus Neoptolemos
teilnimmt Gerhard A. V. III 227 , 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2 . , beides in vollständigem Widerspruch mit Sage und
Poesie . Neoptolemos weilt , so lange sein Vater lebt , auf seiner
Geburtsinsel Skyros , Peleus war niemals vor Troia . Aber der
Künstler denkt : wer kann sich herzlicher an der Heldengröſse
des Achilleus freuen als sein Vater Peleus und sein Sohn Neopto-
tolemos , und wem ziemt es mehr für die Leiche des Vaters zu
kämpfen , als dem Sohn .
Mit ihrer ganzen Freiheit im Gestalten , mit ihrer vollen ,
frischen Erzählungslust hat diese älteste Kunst einer Fülle von
Sagenstoffen bildliche Form geliehen , die in diesen festgestellten
Typen , wie ein köstlicher Schatz , von Generation zu Generation
vererbt werden und die zähesten und unveräuſserlichsten Be-
standtheile der bildlichen Tradition ausmachen .
In den Entwickelungsgang der Sage greift indessen bald ein
neuer Faktor , die Lyrik , namentlich die der Dorer , mächtig um-
gestaltend ein ; ihr sehr nachhaltiger Einfluſs auf die Sagen-
bildung und demgemäſs auf die Kunst wird in der Regel zu
gering angeschlagen So noch neuerdings von Luckenbach a. a. O. S. 563 , dem freilich
die durch die Natur seiner Aufgabe gebotene Beschränkung zur ausreichen-
den Entschuldigung dient . Hätte er die Nosten in den Kreis seiner Betrach-
tung gezogen , so wäre er zu anderen Resultaten gekommen . . Wir können ihre Macht namentlich an
der Wirkung eines Dichters abmessen , des Stesichoros von Himera .
Dieser merkwürdige Mann , dessen Sagengestaltungen von Aischy-
los und Euripides , von Theokrit und Alexander Aitolos vielfach
übernommen wurden , dessen Gedichte im 5. Jahrhundert in Athen
so populär waren , daſs die Komödiendichter Verse daraus ohne
Nennung des Autors parodieren und doch bei dem Publikum auf
Verständnis rechnen konnten , trat der überlieferten Volkssage
und dem ausgebildeten Volksepos mit der ganzen Macht und dem
ganzen Eigensinn einer schöpferischen Dichter-Individualität gegen-
über , mit keckem Griff neugestaltend , mit beispiellosem Erfolg .
Οὐκ ἔστ̕ ἔτυμος λόγος οὗτος ·
οὐδ̕ ἔβας ἐν ναυσὶν εὐσέλμοις
οὐδ̕ ἵκεο πέργαμα Τροίας .
So keck ist wohl selten ein Dichter der Volksvorstellung gegen-
über getreten , wie Stesichoros in dieser seiner berühmten Apo-
strophe an Helena , mittels welcher er seine Umgestaltung des
Helena-Mythos einleitet ; denn nur ein Scheinbild , so dichtete er ,
war es , das Paris geraubt hatte , nur ein Scheinbild , um das
Troer und Achäer zehn Jahre lang gekämpft haben . Die wirk-
liche Helena hatte Hermes auf das Geheiſs des Zeus nach
Ägypten entführt , wo sie Menelaos auf seiner Irrfahrt wieder-
findet . Für die Zähigkeit , mit welcher die Volksvorstellung an
der Sagenform des Epos hängt , ist es bezeichnend , daſs , um eine
solch unerhörte subjective Willkür zu erklären , alsbald die litterar-
historische Sagenbildung geschäftig war und die Legende erfand ,
daſs Helena durch ein früheres Gedicht des Stesichoros erzürnt
über den Sänger Blindheit verhängt habe und daſs er , um
sich von dieser zu erlösen , jenes Gedicht zu Helenas Ehren-
rettung gemacht habe , eine Legende , die schon zu Platons
Zeit in Athen allgemein bekannt war ; aber ebenso bezeichnend
ist es für den gewaltigen Einfluſs des Stesichoros , daſs seine
Fassung neben der der Ilias gekannt war , daſs sie sogar von
Herodot adoptiert und von Euripides bei der Abfassung seiner
Helena befolgt wurde . Daſs bei dieser Umgestaltung für Stesi-
choros neben dem Anschluſs an gewisse tendenziöse Sagenformen
der Dorer S. Cap. V Der Tod des Aigisthos . auch rationalistische Gesichtspunkte maſsgebend
waren , können wir wenigstens an einem Beispiel darthun , an
seiner Behandlung der Sage von Aktaion . Zwar an der Vor-
stellung , daſs die Götter menschlichen Leidenschaften unterworfen
seien und Liebe und Haſs gegen die Sterblichen empfinden ,
nahm Stesichoros keinen Anstoſs und behielt daher unbedenklich
die ältere Fassung der Sage bei , nach welcher Zeus , in Liebe
zu Semele entbrannt und eifersüchtig auf Aktaion , der auch um
Semele wirbt , der Artemis befiehlt , den unbequemen Neben-
buhler aus dem Weg zu räumen . Aber den weiteren Bericht
der Sage , daſs Artemis den Aktaion in einen Hirsch verwandelt ,
den seine eigenen Jagdhunde zerreiſsen , verwarf Stesichoros .
Denn ganz unglaublich schien es ihm , daſs ein Mensch in ein
Tier verwandelt werden könne . Daher erzählte er , Artemis hätte
dem Aktaion nur das Fell eines Hirsches um die Schulter ge-
worfen , und die Hunde , hierdurch getäuscht , hätten den Aktaion
für einen Hirsch gehalten und zerrissen Paus . IX 2. 3 = Stesichoros fr. 68 Bergk . .
Daſs nun diese Stesichoreischen Neubildungen der Sagen
auch auf die Kunstdarstellungen eingewirkt haben , läſst sich ge-
rade an dem eben besprochenen Beispiel zeigen . Eine Metope
des jüngsten Tempels von Selinunt , dessen Erbauung sicher in
die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts fällt , stellt Aktaion
dar , der das Hirschfell um die Schultern , das Hirschhaupt
über den Hinterkopf gezogen , sich vergebens der an ihm
emporspringenden Hunde zu erwehren sucht Dies hat Serradifalco erkannt Antichità della Sicilia II T. XXXII p. 65.
Vgl. Benndorf Metopen v. Selinunt. Taf. IX S. 57 . Auch auf einer roth-
figurigen attischen Vase begegnen wir derselben Stesichoreischen Sagenversion.
S. Micali Storia C 1 . . Hier haben
wir die Aktaionsage in der Fassung des Stesichoros , denn bei
der ganz eigentümlichen Natur derselben wird niemand be-
zweifeln wollen , daſs das Gedicht des Stesichoros im ganz
eigentlichen Sinne die Quelle für diese Darstellung ist ; da
aber dem Verfertiger einer dekorativen Tempelskulptur gewiſs
nichts ferner liegt , als die Absicht , ein bestimmtes Gedicht illustrie-
ren zu wollen , da vielmehr an solchen Stellen nur wirklich volks-
tümliche Sagen und zwar in volkstümlicher Fassung dargestellt zu
werden pflegen , so haben wir ein eklatantes Beispiel von dem
gewaltigen Einfluſs der Stesichoreischen Gedichte auf die Volks-
vorstellung , — allerdings in diesem Fall auf die Volksvorstellung
in seinem Vaterland Sicilien , — ein Beispiel , das um so schwerer
ins Gewicht fällt , als es sich dabei um das Verdrängen des
märchenhaft Wunderbaren , das doch seiner ganzen Natur nach
ungleich populärer ist , und das Ersetzen desselben durch eine
ziemlich frostige pragmatische Interpretation , die dem Volke eigent-
lich antipathisch ist , handelt . Ebenso war die von Stesichoros
geschaffene Oresteia von dem gewaltigsten Einfluſs auf die spätere
Kunst S. Cap. V Der Tod des Aigisthos . .
Das Gesagte muſs genügen zum Beweis , daſs überhaupt von der
Lyrik ein Einfluſs auf die bildende Kunst ausgegangen ist .
Stärke und Ausdehnung desselben lassen sich aber bis jetzt ebenso
wenig bestimmen , wie der Zeitpunkt , wo er begann und wo
er aufhörte ; nur das mag noch ausdrücklich hervorgehoben wer-
den , daſs natürlich auch andere Lyriker gleichen Einfluſs geübt
haben werden , nur daſs uns der Nachweis nicht möglich ist .
Namentlich möchte man es von Ibykos von Rhegion voraussetzen .
Wir kommen nun zu der weitaus bedeutendsten und ein-
greifendsten Epoche antiker Sagenentwickelung , der Umgestaltung
der alten durch Epos und Lyrik geformten Stoffe im attischen
Drama . Wie gewaltig der Rückschlag gerade dieser Dichtungs-
form auf die Sagenvorstellung selbst ist , wie mächtig der Zwang ,
einerseits die Handlung in einer Folge charakteristischer Scenen
sich abspielen und in einer bestimmten Situation gipfeln zu lassen ,
andererseits die einzelnen Figuren scharf zu charakterisieren ,
auf die Sagenform einwirken muſs , bedarf keiner besonderen
Auseinandersetzung . Sehr bedeutend ist hier der Einfluſs des
Aischylos , verhältnismäſsig gering der des Sophokles , am ein-
schneidendsten der des Euripides , eines Dichters , bei dessen Be-
urteilung man doch auch gerade den gewaltigen Einfluſs auf die
Sagenentwickelung in Betracht ziehen sollte , wenn man ihm ge-
recht werden will . Eine ganze Fülle von Sagen werden von nun
an einzig noch in Euripideischer Fassung gekannt und geschätzt ,
und kaum giebt es einen Dichter , dessen Sagenbehandlung eine
solche epochemachende Wirkung gehabt hat ; sie beherrscht
nicht nur das ganze spätere Altertum , auch die klassische Tra-
gödie der Franzosen und Italiener , auch unsere eigene Sagen-
anschauung steht unter ihrem Bann .
Für die bildende Kunst bereitet das Drama den Sagenstoff
in einer Weise vor , wie keine zweite Dichtungsgattung ; auch in
ihm werden ja schon die Vorgänge leibhaftig dem Zuschauer vor
Augen gestellt , auch in ihm wird der Stoff in einzelne charak-
teristische Scenen zerlegt vorgeführt . Diese ungemeinen Vorteile
der dramatischen Sagenform konnten der bildenden Kunst nicht
lange verborgen bleiben , aber es bedurfte Zeit , bis sie sich die-
selbe zu Nutzen machte ; die Wirkung war keine augenblickliche ,
sondern eine ganz allmähliche . Aus dem fünften Jahrhundert
besitzen wir kein Kunstwerk , welches den Sagenstoff in derjenigen
Form bildlich darstellt , in welcher ihn in derselben Zeit Aischylos ,
Sophokles und Euripides auf die attische Bühne brachten . Frei-
lich in einem Punkte bedarf diese Behauptung einer Einschrän-
kung . Das ausgelassene Treiben der nichtsnutzigen Satyrn im
Satyrspiel bot zu so köstlichen Darstellungen Anlaſs , daſs sich
die attischen Künstler diesen dankbaren Stoff unmöglich entgehen
lassen konnten Ich meine vor allem die Satyrvase des Brygos ( M. d. I. IX tav. XLVI.
Wiener Vorlegeblätter Ser. VIII 6 ) , auf der wahrscheinlich eine Scene
aus der Iris des Achaios zu erkennen ist ; vgl. Matz A. d. I. 1872 p. 300.
Helbig B. d. I. 1872 p. 41. Urlichs D . Vasenmaler Brygos S. 5. Die dort
gleichfalls als Möglichkeit zugelassene Beziehung auf den Inachos des So-
phokles scheint mir wenig wahrscheinlich . Aber auch auf einer Duris-
vase ( Wiener Vorlegeblätter Ser. VI 4 ) läſst der Satyrherold ( vgl. Athen
V p. 198 A ) die Einwirkung der Bühne erkennen . Ob nicht sowohl in diesem
Herold als auch in dem durch bunten Chiton ausgezeichneten Satyr auf der be-
rühmten Neapler Vase ( Heydemann Nr. 3240 ) der Koryphaios des Satyrchores
zu erkennen ist ? ; im Übrigen aber ist es bis jetzt nicht geglückt ,
wenigstens mit einiger Probabilität , bei Kunstwerken des fünften
Jahrhunderts den Einfluſs der Sagengestaltung des Dramas nach-
zuweisen Näheres siehe im Cap. IV Das attische Drama und die Vasen-
malerei des fünften Jahrhunderts . . Sollte es aber auch in einzelnen Fällen glücken ,
so würde die Ausnahme nur die Regel bestätigen . Im Allgemei-
nen dürfen wir die Thatsache konstatieren , daſs die Kunst des
fünften Jahrhunderts in der Sagenform von dem Epos und in
einzelnen Fällen von der Lyrik abhängig ist ; aber wenn nicht in
der Sagenfassung , so macht sich doch der Einfluſs des Dramas im
Charakter der Darstellung zuerst leise und dann immer stärker
geltend . Man darf vielleicht sagen , daſs in jener Periode zwar
nicht der Stoff , aber die Form der Kunstdarstellungen dramatisch
ist . Das zeigt sich zunächst darin , daſs stets die dargestellte
Scene scharf präcisiert wird . Verschwunden ist jene Unbestimmt-
heit und Ungewiſsheit der archaischen Kunstdarstellungen . Ein
ganz bestimmter Moment schwebt dem Künstler vor , der mög-
lichst dramatische , und alle dargestellten Figuren sind in diesem
ganz bestimmten Moment und in engster Verbindung mit der
Hauptgruppe gedacht ; es ist bewundernswert , wie geschickt und
zugleich wie pietätvoll diese Kunstperiode die alt überlieferten
Typen , die natürlich gröſstenteils an der geschilderten Unbestimmt-
heit leiden , so umzugestalten versteht , daſs eine spannende dra-
matische Scene entsteht . Ein alter bildlicher Typus stellt den
Streit des Aias und des Odysseus um die Waffen des Achilleus dar .
Mit gezücktem Schwert wollen beide auf einander los , und mit
gewaltiger Anstrengung sind die übrigen Achäer bemüht , sie von
einander abzuhalten ; kein Versuch ist gemacht , die einzelnen
Achäer oder auch nur die beiden Hauptfiguren Aias und Odysseus
näher zu charakterisieren , selbst der Gegenstand des Streites , die
Waffen des Achilleus , ist nicht immer dargestellt . Im fünften
Jahrhundert hat der Vasenmaler Duris mit gewissenhaftester An-
lehnung an diesen alten Typus folgende Scene geschaffen : Aias
hat bereits den Panzer des Achilleus angelegt , zu seinen Füſsen
liegen Helm und Schild ; nur die rechte Schulterspange des Pan-
zers steht noch offen . Er hat das Schwert gezückt und will auf
Odysseus los . Dieser hingegen ist eben erst im Begriff , das Schwert
zu ziehen . Agamemnon und die übrigen Achäer sind bemüht , die
Streitenden zu trennen und Frieden zu stiften . Mit lebendigster
Klarheit steht die ganze Situation , steht auch das ganze Werden
derselben vor unsern Augen , mit wenigen meisterhaften Strichen
ist der Charakter der Haupthelden gezeichnet . Aias , hastig
zufahrend , hat sich gleich der Waffen des gefallenen Achilleus
bemächtigt und den Panzer angelegt , um zu prüfen , ob auch ihm dies
Werk des Hephaistos passe . Dann ist Odysseus gekommen , in
schlauer Rede seine Ansprüche geltend zu machen . Aufbrausend
hat Aias das Schwert gezogen , ohne sich auch nur Zeit zu nehmen ,
den Panzer völlig anzulegen — das zeigt die offen stehende
Schulterklappe . Odysseus klug und bedächtig zieht erst das
Schwert , da er angegriffen ist Die richtige Deutung dieser gegenwärtig im Wiener Industriemuseum
befindlichen Durisvase ( M. d. I. VIII T. XLI. Wiener Vorlegebl. Ser. VI
Taf. I s. die Abbildung unten in dem Excurs Ὅπλων κρίσις ) hat zuerst
W. Klein auf der Innsbrucker Philologen-Versammlung ausgesprochen ( Ver-
handl. d. XXIX. Philologen-Versammlung S. 154 ) ; auch Brunn war schon
vorher zu derselben Deutung gekommen ( a. a. O. S. 151 ) . Die im Text ge-
gebene Erklärung weicht in einigen Punkten von Klein ab. S. unten . .
Mit dieser schärferen Begrenzung der Situation hört natür-
lich auch die Möglichkeit auf , den ganzen Verlauf der Handlung
auf einmal darzustellen . Daher verfällt man darauf , die Sage in
mehreren , zunächst zwei oder drei Scenen zu erzählen ; nament-
lich in der Gefäſsmalerei boten die beiden Seiten der Amphora
und des Kraters oder die beiden Auſsenseiten und die Innenseite
der Trinkschale die beste Gelegenheit zu einer pointierten Gegen-
überstellung zweier besonders wichtiger Momente der Handlung ,
wie denn das Gegenbild der eben geschilderten Komposition des
Duris die Abstimmung der Achäer über Aias und Odysseus zu
Gunsten des letzteren darstellt .
Der Einfluſs des Dramas zeigt sich auch darin , daſs die
Nebenfiguren jetzt nicht nur mit gröſserer Sorgfalt ausgewählt und
wo möglich in enge , freundschaftliche oder verwandtschaftliche
Beziehung zu den Hauptfiguren gesetzt werden , sondern auch
nicht teilnahmlos und nur mit sich selbst beschäftigt dastehen ,
vielmehr in lebhaftester Weise ihre Teilnahme an der Handlung
zu erkennen geben S. Cap. II Erweiterung der Typen ; vgl. auch meine Schrift über
Thanatos S. 15 . . Sie übernehmen also gewissermaſsen die
Rolle des Chors . Und vielleicht geht auch noch eine Eigentüm-
lichkeit auf den Einfluſs der Bühne zurück . Es ist auf Darstel-
lungen dieser Zeit besonders beliebt , daſs in dem Bilde selbst
irgend eine Figur den Hauptvorgang sei es in derselben Scene
sei es in der der Rückseite anderen erzählt und , der Eindruck ,
den diese Erzählung auf die Hörer macht , mit besonderer Liebe
geschildert wird Vgl. Luckenbach a. a. O. S. 587 . . Auf einer Darstellung der Entführung der
Helena berichtet rechts eine Dienerin dem erschreckten Tyndareos
was geschehen ist . Als Gegenbild zu dem oben geschilderten
Ringkampf des Peleus und der Thetis wird im fünften Jahr-
hundert der Augenblick dargestellt , wo fliehende Nereiden dem
greisen Nereus die Gefahr seiner Tochter berichten . Es ist
der Botenbericht des attischen Dramas in die bildende Kunst
übertragen Damit soll natürlich nicht geleugnet werden , daſs Ansätze zu diesem
Motiv schon in der archaischen Kunst vorhanden sind ; so auf der François-
Vase Antenor und Priamos . Aber dominierend wird es doch erst im fünften
Jahrhundert . .
Aber nicht nur die alten Typen werden in diesem neuen ,
dramatischen Sinne umgestaltet und vervollkommnet , auch neue
Typen tauchen in erstaunlicher Fülle auf , so daſs mit der for-
mellen Vervollkommnung der Komposition ein sehr bedeutender
stofflicher Zuwachs , eine ungemeine Erweiterung des Kreises der
Darstellungen , Hand in Hand geht . Den Anstoſs dazu gab die
Verpflanzung der ionischen monumentalen Wandmalerei auf attischen
Boden ; von den Werkstätten jener ionischen Zuwanderer , die ihre
Inseln mit der mächtig aufblühenden Hauptstadt des attischen
Reiches vertauscht hatten , von den Werkstätten eines Polygnotos
von Thasos , seiner Genossen und Schüler ist die Schöpfung dieser
Typen ausgegangen , tief das ganze künstlerische Treiben Athens
durchdringend und belebend ; den Stoff aber suchten und fanden
diese Künstler , wie gar bald auch die einfachen Kunsthandwerker ,
unmittelbar in der Volkssage . Die speciell attischen Sagen , die
für die Kunst durchaus , für die Poesie wenigstens gröſstenteils terra
vergine waren , dominieren nun gar bald wie auf den Wänden der
Tempel und Hallen , so auf den bescheidenen Gerätschaften des täg-
lichen Lebens , vor allen der Vasen ; so die der ältesten attischen
Mythenschicht angehörigen Sagen von der Geburt und Pflege des
Erichthonios und vom Raub der Oreithyia , die jüngeren Sagen
von den attischen Abenteuern des Theseus S. Philologische Untersuchungen I. Heft S. 43 . , die eleusinische Sage
von der Ausfahrt des Triptolemos , die paralische Sage vom schönen
Jäger Kephalos Kephalos erscheint aber nicht bloſs als Jäger , sondern mit allen
Attributen des attischen Knaben und Jünglings ; mit dem Diptychon des
Knaben , der zum γραμματιστής geht , und mit der Leier , die keineswegs den
Sänger andeutet , sondern nur den gebildeten Athener , der κιϑαρίζειν ἐπίστα-
ται oder , wenn er knabenhaft erscheint , εἰς κιϑαριστοῦ ἔρχεται . Es ist des-
halb nicht nur , wie Helbig richtig gesehen hat , die neue Hermonaxvase ( B.
d. I. 1873 p. 167. Arch. Zeit . 1878 S. 112 ) , sondern sämmtliche Darstellungen ,
auf denen eine geflügelte Frau einen Jüngling mit der Leier verfolgt , auf
Eos und Kephalos zu deuten . O. Jahns Bedenken ( Arch. Beitr. S. 99 ) , es sei
nicht erlaubt hier Kephalos zu erkennen , weil diesem die Sage nicht den
Zug ephebischer Bildung gegeben habe , daſs er mit Leier und Büchern um-
zugehen wuſste , kann heute schwerlich mehr aufrecht erhalten werden .
Auch ohne daſs die Sage oder die Poesie es vorgebildet hat , kann Kephalos
einfach als attischer Jüngling oder Knabe erscheinen , mit demselben Rechte
wie Ganymed mit dem Spielzeug attischer Knaben , dem Reifen , und in Be-
gleitung eines Pädagogen auf attischen Vasen erscheint , da doch Sage und
Poesie ihn als Hirtenknaben kennen . Die Beischriften Νίκα und Λίνος auf
einer zu dieser Klasse gehörigen Berliner Vase ( Arch. Zeit . 1848 Taf. 21 , 1 ) ,
welche unserer Auffassung widersprachen , sind jetzt von Körte und Furt- . Es ist als ob ein Bann , der auf der attischen
Sagenwelt gelegen , auf einmal gebrochen sei , da nun der
Athener nicht bloſs die fremden durch ionisches Epos und do-
rische Lyrik ihm zugeführten und freilich seit lange vertrauten
Geschichten , sondern auch die ganz eigentlich auf attischem
Boden gewachsenen und an der attischen Landschaft haftenden
Sagen im Bildwerk vor sich sieht . Ob und wie diese attischen
Lokalmythen vor dem fünften Jahrhundert poetisch fixiert worden
sind , ist schlechterdings nicht auszumachen Wann die von Aristoteles ( Poet . 1451 a 16 ) und Anderen erwähnten
Θησηΐδες entstanden sind , ist schlechterdings nicht auszumachen ; aber ebenso
wenig steht es fest , daſs sie die attische und nicht vielmehr die alte troi-
zenische Theseussage enthielten . Daſs die Atthis des Hegesinoos eine Fäl-
schung oder richtiger eine Fiction ist , glaube ich ( de Gratiis Atticis in den
Commentationes Mommsenianae p. 145 ) gezeigt zu haben . In die genealo-
gischen Systeme der Geschichtsschreiber werden die attischen Sagen erst
am Ende des fünften Jahrhunderts durch Hellanikos eingeführt . . Aber nichts deutet
darauf , daſs diese Poesieen , wenn es , abgesehen von der dem
Kultus und dem Geschlechterstolz botmäſsigen Hymnenpoesie So z. B. die von Plato im Lysis p. 205 C erwähnten Gedichte , wo
Ktesippos von seinem Lysis rühmt : τὸν γὰρ τοῦ Ἡρακλέους ξενισμὸν πρῴην ἡμῖν ἐν
ποιήματί τινι διῄει , ὡς διὰ τὴν τοῦ Ἡρακλέους ξυγγένειαν ὁ πρόγονος αὐτῶν
ὑποδέξαιτο τὸν Ἡρακλέα γεγονὼς αὐτὸς ἐκ Διός τε καὶ τῆς τοῦ δήμου ἀρχηγέτου
ϑυγατρός , ἅπερ αἱ γραῖαι ᾄδουσιν . ,
solche gegeben hat , über einen ganz engen Kreis hinaus Bedeu-
tung gewonnen haben . Im fünften Jahrhundert aber bemäch-
tigen sich sowohl das Drama wie die bildende Kunst , jedoch beide
wie es scheint selbständig dieser dankbaren Stoffe , und hier
dürfte zuweilen der seltene Fall eingetreten sein , daſs in dem Er-
fassen eines neuen Stoffes die Kunst voranging , die Poesie folgte .
Ein Beispiel für diese beachtenswerte Erscheinung liefert uns das
Gemälde des Mikon im Theseion , Theseus auf dem Meeresgrund
bei seinem göttlichen Vater Poseidon , ein Mythos , den nach aller
Wahrscheinlichkeit Euripides in seinem Theseus behandelt hat Vgl. Wilamowitz im Hermes XV S. 483 Leo Seneca I p. 181 und
das von mir Eratosthenis catasterismorum reliquiae p. 221 n. 1 Bemerkte .
Die oft besprochene Vase des Neapler Museums ( Heydemann Nr. 3352 . Bull.
Nap. N. S. V 2 ) scheint mir nach Analogie dieser attischen Sage Achilleus
auf dem Grund des Meeres bei Nereus darzustellen , ohne daſs an etwas
anderes zu denken wäre , als an den Besuch des Enkels bei seinem gött-
lichen Groſsvater . Die Beziehung auf den Auszug nach Troia wird von den
Interpreten willkürlich hineingelegt . ;
wängler ( Arch. Zeit . 1880 S. 101 u. 161 ) als modern erwiesen . So steht zu
hoffen , daſs die richtige bereits von Em. Braun ( A. d. I. 1840 p. 154 ) aufge-
stellte Deutung endlich in ihr Recht treten und die seltsame Anschauung
als ob bei den Alten die Jünglinge von Nike verfolgt würden und vor ihr
wegliefen , aus der archäologischen Litteratur verschwinden wird .
Philolog. Untersuchungen V. 3
aber das Bild gehört der ersten , das Stück zweifellos der zweiten
Hälfte des fünften Jahrhunderts an . Noch augenscheinlicher ist
dies in einem anderen Fall , wo der ionische Künstler nicht eine
attische , sondern eine Sage seiner Heimat dargestellt und dadurch
vielleicht erst in Athen eingebürgert hat . In irgend einem Gebäude
Athens — in welchem wissen wir nicht , jedoch sicher nicht in
den Propyläen — hatte Polygnot den Mythos von Achill unter
den Töchtern des Lykomedes dargestellt , einen Mythos , der ein
durchaus epichorisches Gepräge hat und aus dem Lokalpatriotis-
mus der Inselgriechen , zunächst der Skyrier , entsprungen ist ,
welcher sich gegen die Überlieferung von einer feindlichen Erobe-
rung der Insel durch Achilleus , wie sie das Epos kannte , auflehnte ,
anderseits aber um des Neoptolemos willen den Aufenthalt des
Achilleus auf Skyros beibehalten und nur anders motivieren muſste .
Hier ist es also auch für den skeptischsten Forscher klar , daſs
die Tragödie des Euripides Σκύριοι nicht nur später , — das ver-
steht sich bei einer Euripideischen Tragödie von selbst Ein gewiſs schon von Vielen stillschweigend korrigierter Irr-
tum ist die von Heyne und Brunck aufgestellte , von Welcker übernom-
mene Ansicht , dass die Σκύριοι des Sophokles denselben Mythos behandelt
hätten . Wir sind selten in der glücklichen Lage unter nur zwei gröſseren
Fragmenten eines Stückes ein so entscheidendes zu haben , wie das bei
Stobaeus ( Floril. 124 , 17. fr. 510 Nauck . ) erhaltene . Wer kann so sprechen ,
als Neoptolemos zu Phoinix , der seinem Schmerz um Achilleus in übermäſsi-
gen Klagen Luft macht , und wie männlich schön sind die Worte :
ἀλλ̕ εἰ μὲν ἦν κλαίουσιν ἰᾶσϑαι κακά
καὶ τὸν ϑανόντα δακρύοις ἀνιστάναι ,
ὁ χρυσὸς ἧσσον κτῆμα τοῦ κλαίειν ἄν ἦν .
νῦν δ̕ , ὦ γεραιέ , ταῦτ̕ ἀνηνύτως ἔχει
τὸν ἐν τάφῳ κρυφϑέντα πρὸς τὸ φῶς ἄγειν ·
κἀμοὶ γὰρ ἂν πατήρ γε δακρύων χάριν
ἀνῆκτ̕ ἂν εἰς φῶς .
„Nicht klagen um ihn will ich “ , so mag es weiter geheiſsen haben , „ sondern
ihn rächen . “ Welckers Annahme , daſs dem Lykomedes sein einziger Sohn
gestorben , ist eben so unglücklich wie willkürlich . Das Stück behandelte
also , wie schon Tyrwhitt ( zu Aristot. Poet. p. 191 ) richtig gesehen , die Ab-
holung des Neoptolemos von Skyros . — son-
dern in direkter Abhängigkeit von Polygnot gedichtet ist .
Wenn also die gewaltige Umwälzung , welche sich durch die
Tragödie mit den alten Sagenstoffen sowohl solchen , die bereits
in Epos und Lyrik poetisch verarbeitet waren , wie solchen , die
jetzt zum ersten Mal von der Poesie aus der Volkstradition auf-
genommen wurden , vollzog , keinen sofortigen merkbaren Einfluſs
auf die Kunst ausübte , so war derselbe , als er später zum Durch-
bruch kam , um so gewaltiger und nachhaltiger , ja man kann sagen
ein für alle Zeiten maſsgebender . Wie überhaupt , so spiegelt
auch hierin die Kunst die Wandlung der Volksvorstellung wieder ;
denn auch für diese hat eben das Drama die endgültige , von
jetzt an allein bekannte und populäre Sagenform geschaffen . Diese
immer ausschlieſslichere Herrschaft des Dramas über die Kunst
geht nun Hand in Hand mit dem Aufblühen der Tafelmalerei , und
gerade bei den Vertreteren dieser Richtung , den Meistern klein-
asiatisch-ionischer Abkunft aus dem Anfang des vierten Jahrhunderts ,
läſst sich dieser Einfluſs am frühesten constatieren . Da malt
Parrhasios die Heilung des Telephos , den verlassenen Philoktet auf
Lemnos , den erheuchelten Wahnsinn des Odysseus , Timanthes
von Kythnos das Opfer der Iphigeneia , lauter Scenen , die , ob-
gleich im Epos ausgebildet , doch der archaischen Kunst durchaus
fremd sind , und erst jetzt , da ihnen die dramatische Behandlung
neuen Reiz gegeben hat , auch in die Kunst eindringen . Und wenn
derselbe Timanthes den schlafenden Kyklopen darstellt und die
Satyrn , die mit einem Thyrsos die Gröſse seines Daumens messen ,
so ist doch wahrlich unverkennbar , daſs die eigentliche Veranlassung
zu diesem launigen Einfall der Kyklops des Euripides ist . Nir-
gend sonst kommt Polyphem mit Satyrn zusammen , und der Künst-
ler würde , ohne den Vorgang der Bühne , schwerlich zu dieser Er-
findung gelangt sein und gewiſs nicht auf Verständnis bei dem
Publikum haben rechnen können , da ihm das motivierende Wort
versagt ist . Allein auch jetzt liegt natürlich der antiken Kunst
nichts ferner , als eine genaue Illustration des Dramas oder eine
direkte Wiedergabe der Bühne ; auch jetzt wird der Zusammen-
hang zwischen Bild und Lied vermittelt durch die herrschende
Volksvorstellung , richtiger vielleicht die Vorstellung der Gebil-
deten , wenn sich auch die Künstler jetzt in einzelnen Fällen der
3*
Übereinstimmung mit der Dichtung bestimmter bewuſst gewesen
sein mögen , als in früheren Zeiten . Es versteht sich von selbst ,
daſs es zunächst die dem Dramatiker durch dramaturgische Rück-
sichten gesetzten Schranken sind , welche der Künstler durchbricht .
Während in der Schluſsscene der Antiopa nur Zethos , Amphion und
Hermes als ϑεὸς ἐκ μηχανῆς , allenfalls auch Lykos wenn
derselbe nicht vorher abgeführt war , auf der Bühne sein konnten ,
fügt der Künstler nicht nur die Hauptfigur des Stückes Antiopa
hinzu , sondern stellt auch auf der anderen Seite des Bildes die
Schleifung der Dirke dar Vgl. Arch. Zeit . 1878 Taf. 7. Dilthey a. a. O. S. 43 giebt freilich den
Zusammenhang mit Euripides nur bedingt zu . ; die litterarische Quelle bleibt nichts
desto weniger Euripides und nur Euripides , auch wenn bei ihm diese
Ereignisse weder gleichzeitig noch genau in derselben Weise statt-
haben , wie auf dem Bilde . Der Künstler hat weiter das Recht
und wahrt es sich , Personen menschlicher und göttlicher Wesen-
heit hinzuzufügen , von denen der Dichter nichts weiſs ; und ge-
rade hierin wird der Künstler am meisten dem Geschmack und
der Anschauung seiner eigenen Zeit gerecht . Die Vorliebe der
alexandrinischen Periode für Personifikation und Allegorie
führt ganz von selbst zur Einfügung jener dämonischen Ge-
stalten , jener Repräsentanten von Leidenschaften und anderen
abstracten Begriffen , denen schon das Epos je nach Bedürfnis Per-
sönlichkeit geliehen , die sogar in einzelnen Fällen der tragische
Dichter dem Zuschauer gezeigt hat . Die Leidenschaft , unter deren
Bann die Scene sich abspielt , stellt der Künstler leibhaftig dem
Beschauer vor Augen , Oistros und Lyſsa reiſsen den Menschen
zum Verbrechen hin , Ate führt ihn ins Verderben . Den eigent-
lichen Anstoſs hierzu hat allerdings das Drama gegeben , aber
es ist keineswegs notwendig , nicht einmal wahrscheinlich , daſs
auch in jedem einzelnen Fall der Dichter es dem Künstler vor-
gemacht haben muſs . Der hellenistische Künstler stellt neben
die kindermordende Medeia den Oistros , wie der römische
neben den jagenden Hippolytos die Virtus stellt , ohne daſs
der eine darin einem nacheuripideischen griechischen , der andre
einem römischen Dichter folgt . Ebenso selbstverständlich ist es ,
daſs der Künstler je nach Bedürfnis , namentlich bei figuren-
reicheren Compositionen , Gestalten hinzufügt , die in der eigent-
lichen dramatischen Hauptquelle gar nicht vorkommen , aber vom
Mythos gegeben sind — oder auch nicht gegeben sind , sondern
vom Künstler nach Belieben eingeführt werden . Als Beispiel
kühner und freier künstlerischer Weiterbildung des Mythos mag
hier die Münchener Medeiavase näher betrachtet werden O. Jahn Vasensammlung König Ludwigs Nr. 810 , abgebildet Millin
Tombeaux de Canose Taf. 7. ( Danach Wiener Vorlegeblätter Ser. I Taf. 12 ) .
Arch. Ztg. 1847 Taf. 3. . Eine
Fülle von neuen Personen und neuen Motiven , die alle dem
Euripideischen Drama fremd sind , hat der Künstler in dieser
figurenreichen Composition vor uns ausgebreitet , und doch ist die
Scene , die er uns vorführt , keine andere als die Euripideische , und
kein anderes Dichtungswerk , keine spätere Überarbeitung hat
ihm vorgelegen ; er verfuhr so , wie ein mit der Sage in der Euripi-
deischen Form vertrauter , aber frei schaffender und phantasie-
voller Künstler verfahren muſste , der das ganze Rachewerk der
Medeia in einem Bilde vor Augen stellen wollte . Das bekannte
Dispositionsschema der unteritalischen Prachtamphora wird in
geschickter Weise zur Darstellung der beiden Hauptakte dieses
Rachewerkes benutzt : die Rache an Kreusa wird in der Mitte , die
Rache an Iason auf dem unteren Teil der Vase dargestellt .
In dem Gemach , das die Mitte der ganzen Darstellung einnimmt ,
steht Kreon jammernd neben seiner von den Flammen ergriffenen
und ohnmächtig auf den Thron niedersinkenden Tochter Sie heiſst auf der Vase Κρεοντεία scil. παῖς oder ϑυγάτηρ , wie
Flasch ( B. d. I. 1871 p. 20 ) richtig erklärt ; bei Euripides ist sie bekanntlich
namenlos , ebenso wie die Ἡράκλειοι παῖδες im Herakles v. 71 . Die Namen Glauke
oder Kreusa kommen erst in den ὑποϑέσεις und den mythographischen Hand-
büchern auf . Heydemanns Einwürfe gegen Flasch ( A. d. I. 1873 S. 23 ) können
mich nicht überzeugen . . Man
verlangt teilnehmende ergriffene Zuschauer bei dieser Schreckens-
scene ; bei Euripides in der Botenerzählung werden dem Gebrauch
des Dramas gemäſs nur untergeordnete Personen gegenwärtig
gedacht , Dienerinnen , unter denen eine Alte besonders hervorge-
hoben wird . Der Künstler braucht näher beteiligte Personen :
Iason ist nun bei der unteren Scene unumgänglich notwendig ,
also hier nicht zu verwerten ; er läſst daher von der einen Seite
die entsetzte Mutter Merope Der Name von Kreons Gemahlin ist uns in der erhaltenen Litteratur
nicht überliefert ; aber Jahn Arch. Ztg. 1847 S. 36 macht mit Recht darauf auf-
merksam , daſs gerade Merope auch sonst noch zweimal als Name korinthi-
scher Königinnen vorkomme , denn die Gattin des Sisyphos und die des Polybos ,
die Pflegemutter des Oidipus , führen diesen Namen . Es ist nun ebenso mög-
lich , daſs in einem genealogischen Werke die Gattin des Kreon diesen
Namen hatte , als daſs der Vasenmaler ihr denselben in Erinnerung an
jene beiden anderen korinthischen Königinnen auf eigene Hand gab . , von der andern den Bruder
Hippotes Hippotes stand in der alten korinthischen Königsliste als Sohn und
Nachfolger des Kreon ; nach einer Version ist er es ( Schol. Eur. Med. 19
u. 20. Diod. IV 53 ) und nicht Kreon , mit dessen Tochter sich Iason vermählt.
S. O. Jahn a. a. O. Anm. 14 . hilfreich herbeieilen . Aber — und hierin zeigt sich
wieder augenscheinlich die Abhängigkeit von Euripides — auch
die alte Dienerin der Botenerzählung läſst sich der Künstler
nicht entgehen Gleichfalls von Jahn a. a. O. bemerkt . . Wir sehen sie ( durch den über den Kopf
gezogenen Schleier als Amme charakterisiert ) sich eilig nach
rechts entfernen , offenbar um den Iason zu rufen , dessen Fehlen
sonst auffallen würde . Unten mordet Medeia die Kinder , und
Iason von einem Doryphoros begleitet eilt zur Rache herbei , zwei
zeitlich kurz aufeinanderfolgende Scenen hat der Künstler in
eine zusammengezogen . Aber der Beschauer will auch wissen ,
wie Medeia sich der Rache des Gatten entzieht . Darum muſs
der Schlangenwagen , auf welchem Medeia bei Euripides erst in
der folgenden Scene erscheint , im Bilde schon jetzt gegenwärtig
sein . Aber damit erwächst dem Künstler auch die Nötigung einen
Wagenlenker zu erfinden , da bei Euripides Medeia selbst lenkt ;
er greift zu der Personifikation ihrer Leidenschaft , Oistros ist es ,
der den Wagen für Medeia bereit hält . Um nun eine Verbin-
dung der unteren mit der oberen Scene herzustellen und zugleich
dem Beschauer ins Gedächtnis zu rufen , daſs es die Kinder der
Medeia waren , die der Königstochter die unheilvollen Geschenke
überbracht haben , läſst er den Pädagogen , der die Kinder hin- und
zurückgeleitet hat Anders O. Jahn a. a. O. , auf halbem Wege sich umkehren , entsetzt
das Unheil wahrnehmen und den Schritt hemmen , während eine
Dienerin im Begriff ist , ihn mit sich zur Medeia fortzuziehen .
So wird durch diese Gruppe ein streng entsprechendes Gegen-
bild zu der alten Dienerin der Kreusa gewonnen , die auf der
anderen Seite gleichfalls nach der unteren Scene zu Iason hineilt .
Den Kindern , die bereits bei der Mutter angelangt sind , muſs
aber jetzt noch ein anderer Begleiter zugesellt werden ; der
Künstler wählt einfach einen Doryphoros , aber gleichzeitig benutzt
er diese neue Figur , indem er das Motiv einer früheren Stelle
des Stückes hierherzieht , zu einem schönen und ergreifenden
Zuge . Am Schluſs des Prologes heiſst die Amme den Pädagogen
die Kinder hineinführen und dafür Sorge zu tragen , daſs sie der
Mutter nicht zu nahe kommen :
σὺ δ̕ ὡς μάλιστα τούςδ̕ ἐρημώσας ἔχε
καὶ μὴ πέλαζε μητρὶ δυσϑυμουμένῃ .
ἤδη γὰρ εἶδον ὄμμα νιν ταυρουμένην
τοῖςδ̕ ὥς τι δρασείουσαν .
So der Dichter ; der Künstler läſst jetzt im Augenblick der
höchsten Gefahr den Doryphoros noch einen Versuch machen ,
wenigstens den einen Knaben den Augen und Händen der Mutter
zu entziehen Daſs dabei der Vasenmaler an die Sagenversion gedacht haben
sollte , nach welcher der eine Sohn der Medeia gerettet wird ( Diod. IV 54 ) ,
erscheint mir wenig glaublich . . Soweit ergeben sich Änderungen und Zusätze
von selbst aus der dem Künstler gestellten Aufgabe ; nur ein Zusatz
ist ohne solche Nötigung seiner künstlerischen Phantasie entsprun-
gen , ein Zusatz von solcher Schönheit , daſs es manchen Gelehrten
schien , er müsse notwendig aus einer anderen poetischen Quelle
geflossen sein : als Zuschauer der Greuelthaten steigt rechts das
Schattenbild des Aietes auf , um die Wirkung seines Fluches zu
schauen O. Jahn a. a. O. und C. Dilthey ( Arch. Zeit . 1875 S. 71 ) glauben eine
nacheuripideische Tragödie als Quelle für diese Einfügung von Aietes ’ Schat-
tenbild statuieren zu müssen . Den Keim zu dieser Erfindung ist man ver-
sucht in Eur. Med. v. 31 —33 zu vermuten . . Allein bedenkt man , mit welch feinem Takt auch
im Übrigen der Künstler verfährt , so wird man auch diese Er-
findung ihm oder seinem künstlerischen Vorbild wohl zutrauen
mögen . Der obere Raum , den nach feststehender Regel dieses
Vasenstils die Götter einzunehmen pflegen , wird hier zunächst von
der Schützerin und Verfertigerin der Argo , Athena , dann von den
zu Göttern gewordenen Argonauten , Herakles Herakles scheint im vierten Jahrhundert durchaus als ein Haupt-
teilnehmer an der Argonautenfahrt betrachtet zu werden ; so sehen wir ihn
auch auf der Meidiasvase mit den Argonauten bei den Hesperiden ; beiläufig
mag bemerkt werden , daſs dort der Name des sitzenden Königs zweifellos
zu Ἄτλας zu ergänzen ist . Ein engeres Verhältnis zwischen Medeia und He-
rakles besteht bei Diodor IV 54 , 6. 55 , 4 , der , wahrscheinlich nach Dionysios
Skytobrachion ( vgl. Welcker Ep. Cyklus I S. 82 , Schwartz de Dionysio Scyto-
brachione p. 4 f. ) , erzählt , daſs Medeia nach dem Kindermord zu Herakles
nach Theben flieht und ihn vom Wahnsinn heilt , eine seltsam pointierte Zu-
sammenstellung des im gottverhängten Wahnsinn zum Kindermörder gewor-
denen Mannes mit dem durch Rachsucht zum Kindermord getriebenen Weibe . und den Dios-
kuren ausgefüllt . Diese reiche und durchdachte Composition ist in
gewisser Beziehung typisch für die Art und Weise , in welcher
sich die gesammte spätere Kunst zu der Tragödie des 5. Jahr-
hunderts stellt ; völlige Abhängigkeit von der Sagenversion , enger An-
schluſs an die wichtigsten Situationen , aber im Detailkein sklavisches
Nachbeten , keine Beschränkung der frei schaffenden künstlerischen
Phantasie , die zuweilen selbst in die Rechte der Dichtung eingreift .
Aber noch zu einer weiteren Betrachtung ladet unsere Vase
ein . Das Streben , den Mythos in seinem ganzen Verlauf , in jedem
einzelnen Zug vor Augen zu stellen , den Beschauer gleich auf
den weiteren Verlauf hinzuweisen , wie hier durch den Drachen-
wagen , und ihn zugleich an die Vorgeschichte , an zum Teil weit
zurückliegende Ereignisse zu erinnern , wie hier durch die An-
wesenheit der heroisirten Argonauten und die Erscheinung des
Schattens des Aietes geschieht , erinnert es nicht an die ver-
wandten nur weit naiveren Versuche der archaischen Kunst ? Freilich
solche Unzuträglichkeiten , solche Unbestimmtheit in Bezug auf
Ort und Zeit , wie wir sie dort wahrnahmen , sind hier vermieden .
Hier spielt die Scene in und vor dem Königspalast des Kreon ,
und ein bestimmter entscheidungsvoller Augenblick ist wohl über-
legt zur Darstellung ausgewählt , ein Augenblick freilich , in
dem gar vielerlei zugleich geschieht , in dem Kreusa , von den
Flammen gequält niedersinkt , ihr Vater sie umfaſst , Mutter
und Bruder herbeieilen , in dem Medeia ihr eines Kind tötet ,
ein Diener das andere zu flüchten sucht , Iason zur Rache
herbeieilt , Oistros mit dem Drachenwagen naht ; denn daſs
das Zusammenfallen aller dieser Ereignisse in einen Moment
denkbar ist , wird doch niemand leugnen wollen . Ja , aber auch
nur denkbar . Je länger man sich in die Situation vertieft ,
desto weniger glaubt man an die Wahrscheinlichkeit , daſs alles
dies sich auch wirklich gleichzeitig ereignet habe — man sehe
doch nur den Pädagogen , der noch auf dem Rückweg befindlich
auf die sterbende Kreusa hinstarrt , während schon einer seiner
Pflegebefohlenen von der Mutter gemordet wird — desto mehr
kommt man zu der Ueberzeugung , daſs etwas weniger mehr ge-
wesen wäre . Es ist wahr , alle Figuren sind in einer sehr prä-
gnanten Handlung gedacht , die zu den Hauptfiguren in einer engen
Beziehung steht , — nur die als Zuschauer gedachten Götter er-
scheinen ruhiger , die Dioskuren fast teilnamlos — aber gerade
hierdurch werden wir verwirrt , die Einzelfiguren greifen nicht
harmonisch in einander , und wenn wir eine Darstellung des
fünften Jahrhunderts damit vergleichen , so werden wir zwar
einen dramatischen Grundton unserer Vase nicht absprechen
können , ja wir werden eine groſse Fähigkeit , heftige Leiden-
schaften wiederzugeben , gerne anerkennen , aber wir werden auch
eingestehen müssen , daſs die Kunst in demselben Maſse , als sie
an Pathos gewonnen , an Charakteristik verloren hat , und das
sowohl hinsichtlich der Wiedergabe der ganzen Situation als der
einzelnen Figuren .
Und damit berühren wir jene verhängnisvolle Richtung , welche
die Kunst bei der Darstellung mythologischer Scenen zuerst un-
merklich , dann immer entschiedener einschlägt ; das Interesse
an dem Gegenstande selbst geht mehr und mehr verloren ; an
seine Stelle tritt das mehr formelle Interesse an der Art der
Behandlung . Daher zunächst die starke Betonung des psycho-
logischen Elements , auf das ja überhaupt im 4. Jahrhundert sich
die Aufmerksamkeit immer mehr richtet , daher der stark pathe-
tische Zug , der sich im Kunsthandwerk zuweilen bis zum thea-
tralisch Übertriebenen steigert . Bildwerke , wie die sterbende
Iokaste des Silanion , die Pasiphae des Bryaxis , der Athamas des
Aristonidas sind in hohem Grade charakteristisch für die Richtung
dieser Zeit , die im Mythos nicht mehr die stoffliche , sondern
die menschliche Seite sucht , die die Heroengestalten nicht mehr
als halbgöttliche Wesen der Vorzeit , sondern als psychologische
Probleme interessieren , der endlich die alten Gestalten der Helden-
sage wesentlich von der Bühne her vertraut sind . Denn gerade im
4. Jahrhundert , als auf die Periode der dramatischen Produktion , wie
so oft , der Aufschwung der Schauspielerkunst folgt und sich in dieser
ein ausgesprochenes Virtuosentum zu entwickeln beginnt Sehr charakteristisch für die Wichtigkeit , die man im vierten Jahr-
hundert der Schauspielkunst beimaſs , ist die Art der Konkurrenz , wie wir
sie aus den vor wenigen Jahren am Südabhang der Akropolis ausgegrabenen
Inschriften kennen gelernt haben . (Ἀϑήναιον VI S. 476 Mitt. d. deutsch.
archäol. Instituts III 1878 S. 112 . ) Nicht mehr wie in früherer Zeit hat
jeder Dichter seine Schauspieler , sondern jedes der drei Stücke der einzel-
nen Dichter wird von einem anderen Schauspieldirektor aufgeführt und da-
bei sogar streng darauf geachtet , daſs durch die Reihenfolge der Stücke nicht
der eine Schauspieler bevorzugt , der andere benachteiligt ; vielmehr muſs
jeder der Schauspieler einmal an erster , einmal an zweiter und einmal an
dritter Stelle spielen . Wenn wir also die Dichter mit a b c , die Schauspieler-
truppen mit α β γ bezeichnen , so führen die drei Schauspielertruppen die
Stücke von a in der Reihenfolge α β γ , die von b in der Folge β α γ , die
von c in der Folge γ β α auf . , ist der
unmittelbare Einfluſs der Bühne ein sehr bedeutender , namentlich auf
die bildende Kunst . Nicht nur die bunten Theatergewänder und die
der Bühne entstammenden Typen des Pädagogen , der Amme , der
Doryphoroi u. a. dringen in die Kunst ein , auch die Bewegung und die
Gebärden der Figuren bekommen etwas entschieden Theatralisches ,
und in einzelnen Fällen ist sogar die ganze Komposition ent-
schieden von dem scenischen Bilde beeinfluſst Siehe z. B. Wiener Vorlegeblätter Ser. B. Taf. IV . Millingen vases
grecs XXIII. Bull. nap. II 7 ; namentlich gilt dies von solchen Scenen , wo ein
Flüchtiger sich dem Altar genaht hat und von der einen Seite die Aus-
lieferung verlangt , von der andern verweigert wird . Zuweilen scheint sogar
an der Sitte der Bühne , daſs die rechte Seite die Stadt , die linke das Land
bedeutet , festgehalten zu werden ; so steht auf den Antigonevasen Kreon
rechts , Antigone , die vom Lande herbeigeführt wird , links . . Gewiſs ist es
kein Zufall , daſs in dieser Zeit die Kunst auch das rein
Technische des Schauspiels in den Kreis der Darstellung zieht , daſs
Maler wie Aristeides den Schauspieler im Kostüm darstellen ,
und daſs z. B. gerade in dieser Zeit die prächtige attische Vase
gefertigt wird , welche Schauspieler und Choreuten im Kostüm
eines Satyrspiels um ihren göttlichen Schutzherrn Dionysos ver-
sammelt zeigt M. d. I. III 31. Wieseler Theatergebäude VI 2. Heydemann Nr. 3240 .
Es scheint mir zweifellos , daſs wir zehn Choreuten mit dem Chorführer
als elftem , drei Schauspieler : Herakles , der wilde von ihm besiegte König
und Seilenos , endlich ein κωφὸν πρόσωπον , die auf der Kline neben Dionysos
und Ariadne sitzende Frau , wohl die Tochter des Barbarenkönigs , anzunehmen
haben . Wir wissen von der Einrichtung des Satyrspiels zu wenig , um a
priori in Abrede stellen zu dürfen , daſs die sehr sorgfältige Vase sich nicht
auch in der Zahl der Choreuten eng an die wirklichen Verhältnisse ange-
schlossen haben könne . Die in Anm. 51 erwähnten Inschriften haben
insofern etwas Klarheit gebracht , als sie zeigen , daſs im vierten Jahrhundert
das Satyrspiel , wenn überhaupt ein solches aufgeführt wurde , die Reihe der
Vorstellungen eröffnete . Hierdurch wird auch die viel besprochene und viel
miſshandelte Stelle des Zenobios V 40 s. v. οὐδὲν πρὸς τὸν Διόνυσον verständ-
lich : διὰ γοῦν τοῦτο τοὺς Σατύρους ὕστερον ἔδοξεν αὐτοῖς προεισάγειν , ἵνα
μὴ δοκῶσιν ἐπιλανϑάνεσϑαι τοῦ ϑεοῦ ; sie spricht , worauf ja auch ὕστερον
hinweist , von einer Neuerung des vierten Jahrhunderts . .
Wie aber verhielt sich diese Zeit zu den älteren bildlichen
Typen ? zu den Gestaltungen der epischen und lyrischen Poesie ?
Am Anfang des vierten Jahrhunderts begegnen wir mannigfachen
Versuchen mit der bildlichen Tradition zu brechen , vor allem
bei solchen Typen , die in ihrer Naivität dem vorgeschrittenen Ge-
schmack nicht mehr behagten ; so wird der alte Ringkampf von
Peleus und Thetis bald in eine Liebesverfolgung S. Luckenbach a. a. O. S. 588 . Auch auf der von Körte publizierten
Hermonax-Vase ( Arch. Zeit . 1878 Taf. 12 ) sind unbedenklich Peleus und
Thetis zu erkennen ; schon die Vergleichung mit der bei Gerhard A. V. III 182
publizierten Vase genügt , um diese Deutung zu sichern . , bald in eine
Überraschung im Bade umgewandelt . Allein in Einzelheiten ist
die bildliche Tradition von einer erstaunlichen Zähigkeit . Die
Tiere , welche die Verwandlung der Thetis andeuten , wagt die
Kunst nur in einzelnen Fällen ganz wegzuwerfen . Einzelheiten
werden sogar aus den alten in die neuen eine ganz andere Sagen-
version repräsentierenden Typen mit herübergenommen . Auf
römischen Monumenten bringt nicht Peleus in Begleitung der
Thetis , sondern diese allein den Achilleus zu Cheiron . Sie trägt
ihn aber auch auf ganz späten Monumenten in derselben Weise
auf der Hand , wie Peleus in den Vasendarstellungen des 5. Jahr-
hunderts So auf der Amphora des Pamphaios , die aus der Sammlung Cam-
pana in den Louvre gekommen ist ( vgl. Brunn , Künstler-Geschichte II S. 725
Nr. 20 ) und der in dem Journal of hellenic studies I pl. II publizierten
Oinochoe . .
Vielfach findet die Umgestaltung der alten Typen in der Weise
statt , daſs an Stelle einer Handlung die Darstellung einer Situation
tritt . Denn neben die dramatisch bewegten Schilderungen treten in
dieser Zeit gleichberechtigt Darstellungen eines ruhigen behaglichen
Zusammenseins , der ruhigen Unterhaltung ohne Andeutung einer
bestimmten Handlung , Scenen die Gelegenheit geben eine Reihe
von Figuren in anmutigster Stellung und Bewegung vorzuführen
und deren Prototyp weit zurück liegt ; es sind Fortbildungen der
Abfahrtscenen der archaischen , der Credenzscenen der entwickel-
ten Kunst . Während die ältesten Darstellungen des Parisurteils
die Göttinnen noch auf dem Wege zum Ida zeigen , die Kunst des
fünften Jahrhunderts hingegen sie eben angelangt sein läſst , zeigt
die Kunst des vierten Jahrhunderts sie in anmutiger Gruppierung
um Paris herumsitzend , und so sehr ist schon in dieser Zeit die
Empfindung für das der Situation Angemessene geschwunden , daſs
schon jetzt , wie später häufig , Hera auf dem Thronsessel sitzend
erscheint S. Welcker Alte Denkmäler V. Taf. B. , von dem ein Unbefangener nicht begreift , wie er auf
den Ida kommt . Gespräche werden jetzt mit Vorliebe dargestellt , das
Gespräch des Perseus mit der an den Felsen geschmiedeten Andro-
meda , das Gespräch des Herakles und der Hesperiden , das Gespräch
der Eris und Themis auf der Parisvase , Gespräche zwischen Paris
und Helena , Gespräche der Wanderer mit den Trauernden am
Grabe , Gespräche von Mädchen und Jünglingen ; und wenn wir
hören , daſs Parrhasios auf einem Bilde Meleager , Herakles
und Perseus dargestellt habe Plin. 35 , 69. , so kann dies doch schlechter-
dings auch nur ein Gespräch gewesen sein , das Herakles im Hades
mit seinem Ahnherrn und dem kalydonischen Helden führt , der ihm
seine Schwester zum Weibe verspricht Schol. II. Φ 194. Ἡρακλῆς εἰς Ἅιδου κατελϑὼν ἐπὶ τὸν Κέρβερον
συνέτυχε Μελεάγρῳ τῷ Οἰνέως , οὗ καὶ δεηϑέντος γῆμαι τὴν ὰδελφὴν Δηϊάνειραν
ἐπανελϑὼν εἰς φῶς κτλ . … ἡ ἱστορία παρὰ Πινδάρῳ. Apollod. II 5 , 12 , 4
ὁπηνίκα εἶδον αὐτὸν ( d. Herakles ) αἱ ψυχαί , χωρὶς Μελεάγρου καὶ Μεδούσης τῆς
Γοργόνος ἔφυγον . . Es konnte nicht fehlen ,
daſs diese Richtung der Kunst immer höhere Anforderungen an
das Divinations-Vermögen des Beschauers stellte ; den Inhalt des
Gespräches auch nur anzudeuten ist dem bildenden Künstler auſser-
ordentlich schwer , aus einer Situation läſst sich schwer der Zu-
sammenhang erraten . Und die Kunst verlor immer mehr und
mehr die Empfindung für das , was sie dem Beschauer zum Ver-
ständnis bieten muſs , sie rechnete mit ihrer eigenen Vorstellung
und setzte dieselbe ohne weiteres beim Beschauer voraus . In
hohem Grade gilt dies von einer groſsen Anzahl pompejanischer
Bilder , also doch wohl auch für deren hellenistische Originale .
Die Kenntnis der alexandrinischen Gedichte bildet die Voraussetzung
für ihr Verständnis , im Vertrauen auf diese Kenntnis hat der
Maler auch im Allgemeinen die Vorgänge nur so wenig charak-
terisiert , daſs uns die Deutung auſserordentlich erschwert , in
vielen Fällen direkt unmöglich ist . Die Art wie Figuren fast
ohne jede Beziehung neben einander gestellt sind , erinnert oft
an die sacre conversazioni der italienischen Kunst . So sehen
wir einmal Apollon und Poseidon ohne jede Handlung einander
gegenübergestellt , in sich versunken , teilnahmlos — wir glauben
zwei Statuen zu sehen S. Helbig Nr. 1266 . ; aber ganz im Hintergrunde sehen wir
Arbeiter beim Bau einer Stadtmauer , der Künstler hat also Apollon
und Poseidon im Dienste des Laomedon beim Bau der Mauern
von Troia darstellen wollen .
Am Ende des vierten Jahrhunderts , also mit dem Erlöschen der
eigentlichen hellenischen und dem allmählichen Erblühen der helle-
nistischen Kultur , begegnen wir aber noch einmal einer bedeutsamen
und für die ganze Folgezeit maſsgebenden Neuerung : wir können in
dieser Zeit die ersten Bildercyklen constatieren . Ansätze dazu giebt
es natürlich schon in früherer Zeit : allein es ist , meine ich , doch
etwas anderes , wenn auf den verschiedenen Seiten eines Frieses , auf
der Vorderseite und Rückseite einer Vase verschiedene Scenen des-
selben Mythos einander gegenübergestellt , wenn in den Metopen
des Theseions und nach diesem Vorgang auf den Vasen die ein-
zelnen Abenteuer des Theseus aneinander gereiht werden , als wenn
der Inhalt eines bestimmten Gedichts in einer Reihe von Tafelbildern
vor Augen geführt wird . Dort ist das Gegebene der Raum , der
mit einer bestimmten Anzahl von Darstellungen geschmückt wer-
den soll , wobei sich vom fünften Jahrhundert an das Bestreben
geltend macht in diese verschiedenen Darstellungen einen Zu-
sammenhang zu bringen . Hier ist das Gegebene das Gedicht oder
der Mythos , dessen Entwickelung sich der Maler in eine beliebige
Anzahl von Scenen zerlegt , wodurch sich wieder die Anzahl der
Bilder bestimmt . So malt Theon von Samos den troischen Krieg ,
also den Inhalt des epischen Cyklus , und dann wieder die Schicksale
des Orestes in einer Reihe von Bildern Plinius 35 , 144. Den Zusammenhang der römischen Sarkophag-
compositionen mit Theon vermutet Benndorf Ann. d. Inst. 1865 p. 239 vgl.
auch Cap. V der Tod des Aigisthos . . Welcher Dichtung er
dabei folgte , ist freilich nicht mehr auszumachen ; allein wenn wirk-
lich die Nachklänge dieser Schöpfungen auf den römischen Sarko-
phagen uns vorliegen , so würde dadurch bestätigt , was wir von vorn-
herein vermuten durften , daſs er sich der vom Drama geschaffenen
Mythenversion anschloſs . Hier also begegnet uns zum ersten Mal
eine Erscheinung , die sich noch am ehesten mit unseren moder-
nen Klassiker-Illustrationen in Parallele bringen läſst . Sobald
die dekorative Wandmalerei und das Relief , das auch in dieser
Periode noch sich enger an den Entwickelungsgang der Malerei
anschlieſst , als moderne Kunsttheoretiker zugeben wollen , der Tafel-
malerei auf dies Gebiet zu folgen beginnen , werden sie ganz von
selbst dahin getrieben , an Stelle umrahmter Einzelscenen eine
Reihe von zeitlich aufeinanderfolgenden , räumlich ohne Abgren-
zung in einander überlaufenden Scenen zu setzen ; bei dieser gan-
zen Neuerung mag übrigens auch die erneute enge Berührung mit
dem Orient , in dessen Kunst ein solches chronikartiges Aneinander-
reihen von Scenen seit alten Zeiten heimisch war Siehe oben Anm. 12 . , wesentlich
mitgesprochen haben . Denn wenn man früher geneigt sein muſste ,
dies gerade in römischer Zeit so beliebte Aneinanderreihen von
Scenen für eine Neuerung dieser späteren Periode zu halten , so haben
uns die Ausgrabungen von Pergamon gelehrt , daſs dies Verfahren
schon im zweiten Jahrhundert gang und gäbe war , und wer weiſs ,
ob es nicht schon in die Anfänge der hellenistischen Periode , in die
Zeit der ersten intimeren Berührung mit dem Orient zurückdatiert
werden muſs . Wie verhält sich nun der pergamenische Telephos-
Fries , das älteste Beispiel von der Vereinigung zeitlich aufein-
anderfolgender Scenen , zur Poesie ? Hier war dem Künstler die
Aufgabe gestellt , die Geschichte des mythischen Gründers von
Pergamon in einer Reihenfolge von Scenen zu erzählen , aber in
der Poesie fand er wohl einzelne Episoden aus dem Leben seines
Helden , so namentlich sein Zusammentreffen mit Achilleus , in
Epos und Drama behandelt , aber nirgend eine zusammenhängende
Schilderung seiner Schicksale . Wenn nun auch eine syste-
matische Durcharbeitung der Friesfragmente bis jetzt vermiſst
wird , so läſst sich doch so viel erkennen , daſs durchaus die von
dem Drama geschaffenen Versionen dem Künstler vorgeschwebt
haben , und der Inhalt verschiedener Tragödien von ihm wohl oder
übel zu einer einheitlichen Geschichte zusammengearbeitet ist ;
constatieren lassen sich bis jetzt die Auge und der Telephos
des Euripides und wenigstens mit einer gewissen Wahrscheinlich-
keit die Myser des Sophokles Vgl. die Ausgrabungen in Pergamon in den Jahrbüchern der könig-
lichen Museen I S. 182 f . . Der Künstler hätte also hier
im Kleinen an einer einzelnen Sage dieselbe Operation vollzogen ,
die aller Wahrscheinlichkeit nach Asklepiades von Tragilos an dem
ganzen Mythenschatz des Altertums vollzog , der in seinen Tragodu-
menen die vom Drama geschaffene Gestaltung der Sage einheitlich
zusammengefast zu haben scheint vgl . Wilamowitz Analecta Euripidea p. 181 n. 3 Robert de Apollo-
dori bibliotheca p. 74 . . Charakteristisch aber ist
es gewiſs in hohem Grade , daſs die offiziell recipierte Grün-
dungssage des Attalidenhauses — denn diese dürfen wir doch
an solcher Stelle dargestellt erwarten — direkt abhängig ist vom
attischen Drama . Dies Erzählen in einer Bilderreihe nimmt , wie
so vieles andere , die römische Kunst von der hellenistischen
auf ; es ist bekannt , wie die römischen Sarkophage einzelne
Scenen der Tragödie speciell der Euripideischen , die tabulae
iliacae Scenen des troischen Sagenkreises nach der Reihenfolge
der erzählten Ereignisse aneinander reihen . Bei letzteren ist die
Absicht zu illustrieren durch die beigesetzten Namen und Inhalts-
angaben der Gedichte direkt ausgesprochen . Um so mehr muſste
es befremden , selbst hier keine genaue Übereinstimmung mit dem
Dichter zu finden , vielmehr starke Abweichungen , Zusätze und
Erweiterungen manigfachster Art , selbst Scenen , die der Ilias
durchaus fremd sind . Dies auffällige Verhältnis wird nicht sowohl
aus der mangelhaften durch Hypotheseis vermittelten Bekanntschaft
des Künstlers mit dem Dichter Dies nahm O. Jahn Griech. Bilderchroniken S. VI an , und ich bin
ihm früher darin gefolgt ( B. d. I. 1876 p. 217 ) . Jetzt scheint mir , daſs
sich die Abweichungen auf die oben angegebene Weise natürlicher erklären ,
worauf ich übrigens a. a. O. bereits hingewiesen hatte . als vielmehr durch die Ab-
hängigkeit desselben von den Schöpfungen früherer Künstler zu er-
klären sein , die der Dichtung frei gegenüber traten und es oft
vorzogen , sich der dramatischen Version anzuschlieſsen ; die Macht
der bildlichen Tradition tritt dem Entstehen einer genauen Illustra-
tion hemmend in den Weg .
Eine letzte bedeutende stoffliche Bereicherung erfährt die
Kunst noch durch die alexandrinischen Dichter , ja sogar schon
durch ihre Vorläufer im vierten Jahrhundert . Hier bedarf es
keines besonderen Beweises , daſs die Quelle nicht die Volksvor-
stellung , sondern die Dichtung war , die sich nicht mehr an das
ganze Volk , sondern an einen engen Kreis hochgebildeter und fein-
sinniger Männer wendete , wie sie an den Höfen der Diadochen
und später in Rom den Mittelpunkt des geistigen Lebens bildeten ;
es kann also auch nicht mehr der vom Dichter beeinfluſste Vor-
stellungsreichtum der Nation , sondern nur der dieser Kreise sein ,
aus welchem der Künstler seinen Gegenstand empfängt , wenn er
es nicht , was jetzt immer häufiger geschieht , vorzieht , sich direkt
an den Dichter zu wenden und sich mit deutlichem Bewuſstsein
und unverkennbarer Absichtlichkeit an die Worte des Dichters an-
zuschlieſsen ; auch hier also entsteht eine Art Illustration ; wie
uns denn die letzten Jahre in Pompeji drei Bilder geliefert haben ,
welche direkt drei alexandrinische Epigramme illustrieren M. d. I. X tav. XXV , XXXV . Dilthey A. d. I. 1876 p. 294 s. vgl. das
von mir Eratosth. catast. rel. p. 7 n. 10 Bemerkte . . Der
enge Anschluſs an die Worte des Dichters führt aber auch zu
mannigfachen Auswüchsen , die zu ernsten Erwägungen über die
Gränzen der Poesie und Malerei in noch andern Fällen , als den
von Lessing erörterten , Anlaſs geben . Ich meine namentlich das
vielleicht schon im vierten Jahrhundert aufgekommene Verfahren ,
bildliche Ausdrücke des Dichters im Kunstwerk darzustellen . An-
sätze auch hierzu finden sich schon in früher Zeit , wie wenn Eros
gegen den Verliebten das Kentron schwingt oder ihm Liebes-
sehnsucht in die Augen träufelt vgl. B. d I. 1871 p. 155. 1874 p. 8 S. 102. v. Duhn Commentat.
Bonn. p. 102 . . Allein zur eigentlichen Herr-
schaft kommt dies Verfahren erst in der alexandrinischen Zeit .
Ein Dichter des vierten Jahrhunderts Likymnios von Chios ( Bergk P. L. G. III S. 1250 ) bei Athen . XIII
564 C Λικύμνιος δ̕ ὁ Χῖος τὸν Ὕπνον φήσας ἐρᾶν τοῦ Ἐνδυμίωνος οὐδὲ καϑεύ- hat den artigen Einfall
Philolog. Untersuchungen V. 4
gehabt , daſs nicht nur Selene , sondern auch der Schlafgott
Hypnos sich in Endymion verliebt und daſs er , um des Anblicks
der schönen Augen seines Geliebten zu genieſsen , ihn mit
offenen Augenliedern einschlafen läſst . Sehr schön für den Dich-
ter ; in der bildenden Kunst aber ist ein mit offenen Augen
Schlafender von einem Wachenden nicht zu unterscheiden . Und
wenn auch zuzugeben ist , daſs auf dem verlorenen Original der
unbekannte Meister die im Schlaf gelösten Glieder besser zu
charakterisieren verstanden haben wird , als die pompejanischen
Maler und die römischen Sarkophagarbeiter Helbig Nr. 957. 960. Bull. d. Inst. 1869 p. 65. und öfter . , die das Motiv
copieren , so beweist doch eben der Umstand , daſs jede Andeu-
tung des Schlafens zuletzt verloren geht , und die römischen
Arbeiter sich offenbar des ursprünglichen Motives gar nicht mehr
bewuſst sind , wie gefährlich es ist , einen poetischen Ausdruck
ohne weiteres bildlich gestalten zu wollen . Übrigens liefert auch
dies Beispiel uns den denkbar besten Beweis für die Anforderungen ,
welche die hellenistische Kunst an die Belesenheit des Beschauers
stellte . Auch die Kunst richtet sich , wie die Poesie , an ein aus-
erlesenes Publikum . Eine Fülle erotischer Sagen , wesentlich
solcher , die durch die hellenistische Poesie bekannt und be-
rühmt geworden sind , dringt in die Kunst ein , Daphne , Endy-
mion , Narkissos , auch alte Stoffe im neuen Gewande , wie die
verbrecherische Liebe der Skylla und der Pasiphae . Vor allem
wird auch hier das Situationsbild geliebt , das trauliche Zusammen-
sein der Liebenden , das Liebessehnen der Einsamen , das Klagen
der Verlassenen — die Töne der alexandrinischen Elegie klingen
uns auch aus dem Bilde entgegen .
Alle diese verschiedenen Strömungen flieſsen endlich zusammen
in der römischen Welt ; es ist ein buntes Bild , welches die durch
Poesie und Kunst klassisch gewordene griechische Sagenwelt auf
δοντος αὐτοῦ κατακαλύπτει τοὺς ὀφϑαλμούς , ἀλλ̕ ἀναπεπταμένων τῶν βλεφάρων
κοιμίζει τὸν ἐρώμενον , ὅπως διὰ παντὸς ἀπολαύῃ τῆς τοῦ ϑεωρεῖν ἡδονῆς · λέγει
δ̕ οὕτως ·
Ὕπνος δὲ χαίρων ὀμμάτων αὐγαῖς ἀναπεπταμένοις
ὄσσοισιν ἐκοίμιζε κοῦρον .
römischem Boden uns darbietet . Altes und Junges liegt dicht
neben einander , poetische und bildliche Tradition wirken unbe-
wuſst , aber noch immer mächtig nach . Allein der lebendige Zu-
sammenhang mit dem Volksbewuſstsein , der sich seit dem fünf-
ten Jahrhundert immer mehr gelockert hat , ist jetzt zerrissen . Das
Beste , was Bild und Lied aus der Sage gemacht haben und machen
konnten , gehört der Vergangenheit an , die Gegenwart steht
ihm receptiv und reflektierend gegenüber ; wohl ihr , wenn sie für
das wahrhaft Groſse und Schöne , was sie überkommen , ein un-
befangenes Verständnis , ein offenes Auge und Herz bewahrt hat .
Wie ihr diese Schätze überkommen sind , welche wunderbare Ent-
wickelung dahinter liegt , welche Schichten von Sagenbildung , von
poetischer und künstlerischer Entwickelung hier übereinanderliegen ,
wie jede Sage , jedes poetische Motiv und jeder künstlerische
Typus ein eigenes Leben hat , einen eigenen Kampf ums Dasein
kämpft , das ahnt die römische Welt so wenig , wie es die Renais-
sance und die moderne Welt ahnt , die diese Schätze wie etwas
Selbstverständliches in Empfang nehmen .
4*
II.
ERWEITERUNG UND VERSCHMELZUNG DER TYPEN .
Die ältesten bildlichen Darstellungen der Heldensage be-
schränken sich in der Regel auf wenige , oft nur zwei oder
drei Figuren ; in weitaus den meisten Fällen geschieht die Fortbil-
dung durch Hinzufügen von mehr oder weniger beteiligten und
teilnehmenden Zuschauern , wobei das im ersten Abschnitte ge-
schilderte Bestreben nach möglichster Vollständigkeit und Aus-
führlichkeit der Darstellung und die damit eng zusammenhängende
Unbekümmertheit um Zeit und Ort sehr wesentlich mitsprechen ;
so treten zu Peleus und Thetis die fliehenden Nereiden , Cheiron ,
Nereus , Triton u. a. , zu Theseus und Minotauros Minos , Ari-
adne , die Amme der letzteren und die attischen Knaben und
Mädchen , auf attischen Monumenten zuweilen wohl gezählte vier-
zehn , wie sie die alte Kultlegende von Phaleron kennt , zu dem
alten Typus von der Verfolgung des Troilos , der ursprünglich aus
nur drei Figuren Polyxena , Troilos und Achilleus besteht , treten
hinzu die helfenden Götter Athena und Hermes , der Zielpunkt
der Flucht , Priamos und die Troer , und der Ausgangspunkt , der
Brunnen mit den dort waltenden Göttern und den wasserschöpfenden
troischen Knaben . Es versteht sich , daſs gerade diese Zuthaten ,
die sich wie eine üppige Moosschicht über einen alten felsigen
Kern ausbreiten , nur mit sehr groſser Vorsicht zu Rückschlüssen
auf die litterarische Quelle benutzt werden dürfen ; noch viel
weniger als sonst ist hier der Künstler von dem Wortlaut der
Dichtung abhängig , noch viel mehr als gewöhnlich schafft er
hierbei aus der im Volke lebendigen Sagenvorstellung heraus , mag
dieselbe auch selbst durch die Dichtung bestimmt sein . Wohin
ein Verkennen der Natur dieses Anwachsens der bildenden Typen
führt , davon liefern die letzten Arbeiten „ über die Kyprien “ ein
trauriges Beispiel .
Es ist eine äuſserst lehrreiche Aufgabe , bei den ausgebildeten
und figurenreichen Darstellungen der Vasen des fünften Jahr-
hunderts den Kern und die Zuthaten zu scheiden und den alten
bildlichen Typus zu rekonstruieren , der sich dann auch nicht selten
als wirklich noch auf archaischen Kunstwerken vorhanden nach-
weisen läſst , deren richtige Deutung fast nur auf diesem Wege
erreicht werden kann . Zugleich glaube ich , daſs solche Unter-
suchungen ein wichtiges Indicium für die Entstehungsperiode der
bildlichen Typen abgeben ; Darstellungen wie die von der Erich-
thoniosschlange und den Kekropstöchtern oder von Paris Eintritt
ins Vaterhaus auf den Vasen Die erste Darstellung ist publicirt A. d. I. 1850 tav . d’agg. G. Welcker
A. D. III. T. 12. Gerhard , Trinkschalen und Gefässe Taf. A. B. Wiener
Vorlegeblätter Ser. VIII Taf. II , die zweite A. d. I. 1856 tav. 14. Wiener
Vorlegeblätter Ser. VIII Taf. III . Die im Text befolgten Deutungen werden
unten im Kapitel III Auswahl und Zusammenstellung der Scenen ausführlich
begründet werden . des Brygos , die sich nicht auf einen
solchen einfachen Kern reduciren lassen , in denen keine Figur
entbehrt werden kann , tragen hierdurch in sich selbst die Gewähr
dafür , daſs sie erst im fünften Jahrhundert und wesentlich so , wie
sie uns vorliegen , geschaffen worden sind .
Ich will versuchen dieses analytische Verfahren an einem Bei-
spiel klar zu machen . Auf der einen Seite der Berliner Schale
des Hieron Gerhard Trinkschalen und Gefässe Taf. 11 , 12. Overbeck Heroische
Gallerie XIII 3. Wiener Vorlegeblätter Ser. A. Taf. V . ist bekanntlich die Entführung der Helena darge-
stellt . Die Komposition ist dreifach gegliedert . Links führt
Paris , den Petasos im Nacken und zwei Speere in der Hand ,
die zögernd folgende Helena mit sich fort , die Mittelgruppe
zeigt Aineias , der , gleichfalls mit Petasos und zwei Speeren aus-
gerüstet , die erschreckt nacheilende Timandra , das ist die aus
Hesiod bekannte Schwester der Helena , abzuwehren sucht . Auf
der rechten Seite wird die Darstellung durch eine aus drei
Figuren bestehende Gruppe abgeschlossen . Hier überbringt
Euopis , eine , so viel ich sehe , nicht vom Mythos ausgebildete
Figur , die wir wohl als Dienerin oder Gespielin der Helena
fassen müssen , den beiden erstaunten und entsetzten Alten , dem
Groſsvater Tyndareos und dem Groſsoheim Ikarios , die Kunde
vom Raub der Helena .
Was ist nun hier Erfindung und Zuthat des Hieron ? und
was ist durch bildliche Tradition überkommen ? Ohne Weiteres
auszuscheiden ist zunächst die Gruppe rechts „ die Botenerzäh-
lung “ , die wie oben dargestellt eines der beliebtesten Mittel der
Künstler des fünften Jahrhunderts ist , um die Darstellung per-
sonenreicher zu machen . Die dann noch übrig bleibenden vier Fi-
guren bilden nun aber keine festgeschlossene , sondern eine ausein-
anderfallende Gruppe ; dies wird bewirkt durch das Einschreiten
der Timandra , deren vergeblicher Rettungsversuch indessen ein
zu unbedeutendes Motiv ist , um ihn für alt überliefert zu halten .
Diese Erwägung führt also zu dem Resultat , daſs der alte Typus
nur aus drei Personen bestand , und zwar aus den durch Mythos
und Poesie gegebenen : Paris , Aeneias und Helena .
Dies Resultat wird durch die Darstellung auf dem kürzlich
gefundenen Skyphos Gazette archéologique 1880 pl . 8. , welchen derselbe Hieron in Gemeinschaft
mit dem bisher ganz unbekannten Vasenmaler Makron verfertigt
hat , in erfreulichster Weise bestätigt . Auch hier finden wir die
drei Hauptpersonen Paris , Helena und Aeneias wieder , nur daſs
letzterer voranschreitet , aber statt der übrigen Figuren der Ber-
liner Schale finden wir die göttlichen Helferinnen bei dem Raub ,
Aphrodite und Peitho , hinter Helena herschreiten , während Eros
vor ihr herfliegt und sie zu ermuntern scheint . Ein Knabe , der
am rechten Ende der Darstellung unter dem Henkel angebracht
mit erhobener Rechten seine Verwunderung kundgiebt , wird am
natürlichsten als der Sohn der Helena , Nikostratos , erklärt wer-
den ; der Ilias ist Nikostratos freilich fremd , war jedoch dem
hesiodeischen Epos bekannt , vgl. fr. CXIII Markscheffel ( schol.
Sophokl. Elektra 539 )
ἣ ( Helena ) τέκεϑ̕ Ἑρμιόνην δουρικλειτῷ Μενελάῳ ·
ὁπλότατον δ̕ ἔτεκεν Νικόστρατον , ὄζον Ἄρηος Auch Kinaithon hatte ihn erwähnt , und an dem amykläischen Thron
war er mit seinem Halbbruder Megapenthes , dem aus der Odyssee bekannten
Bastard des Menelaos , zusammen auf demselben Pferde reitend dargestellt
( Paus. III 18 , 13 ) . Wenn schon dies auf die Vermutung führt , daſs wir
es mit lakedaimonischer Lokaltradition zu thun haben , so wird uns das noch
durch Porphyrios ( schol. Il. Γ 175 ) , dem wir auch die Notiz aus Kinaithon
verdanken , ausdrücklich bestätigt ; derselbe erzählt nämlich , daſs Nikostratos
und sein sonst gänzlich unbekannter Bruder Aithiolas bei den Lakedaimoniern
heroische Ehren genoſsen . Abweichend davon erzählt Pausanias II 18 , 6 , daſs
auch Nikostratos , wie Megapenthes , ein Bastard des Menelaos gewesen sei
und der von demselben Schriftsteller III 19 , 9 nach rhodischer Tradition be-
richtete Zug , daſs nach dem Tode des Menelaos Nikostratos und Megapenthes
die Helena aus Sparta vertrieben hätten , beruht offenbar auf eben dieser
Voraussetzung . Auch in kretischen Gründungsmythen spielt Nikostratos eine
Rolle ; Wilamowitz macht mich darauf aufmerksam , daſs Aglaosthenes ( bei
Eratosthenes Katasterismoi II S. 56. 57 ) offenbar diesen Sohn des Menelaos
meint , wo er von der Gründung von Ἱστοί spricht . Die Sage lieſs sich leicht
an die Beziehung , die Menelaos schon im Epos zu Kreta hat , anknüpfen .
Von anderen Söhnen des Menelaos und der Helena wissen Ariaithos ( schol.
Il. Γ 175 ) und die Sammler kyprischer Lokalsagen ( schol. Eurip. Andro-
mache 888 ) zu berichten . ,
und auf diese Stelle gehen auch in letzter Linie Lysimachos ( fr. 18
Müller F. H. G. III 340. Vgl. schol. Eurip. Andromache 880 ) und
Apollodor III 11 , 1 zurück . Aus Hesiod entnahm also Hieron diese
Figur , wie wahrscheinlich auch die Timandra auf der Berliner
Trinkschale .
Es ist nun wohl auf den ersten Blick klar , daſs eben die-
jenigen drei Figuren , welche beide Vasen mit einander gemein
haben , den alten Typus repräsentieren , alles Übrige aber freie
Zutat , sei es der rotfigurigen Vasenmalerei überhaupt , sei es des
Hieron und seines Genossen ist . Auch wird man wohl unbedenk-
lich zugeben , daſs die Schale die ursprüngliche , ja einzig mög-
liche Gruppierung dieser Figuren bewahrt hat : Helena in der
Mitte ihrer Entführer , während die Umstellung auf dem Skyphos
nur zu dem Zwecke gemacht ist , um Helena in unmittelbare Be-
rührung mit Aphrodite zu bringen . Hingegen scheint die voll-
ständige Bewaffnung der beiden Helden auf dem Skyphos , der
Helm auf dem Haupte des Paris , der Schild am Arme des Aineias
auf älterer bildlicher Tradition zu beruhen .
Sind wir einmal in der Rekonstruktion des Typus bis zu
diesem Punkte gelangt , so fällt es nicht schwer denselben in
der That auf einer Reihe von Vasen wiederzufinden . Folgende
Exemplare sind publiciert Eine Aufzählung der übrigen hierher gehörigen Vasen giebt W. Klein
A. d. I. 1877 p. 261 n. 8 . So sehr ich mich freue mit demselben in der Ver-
werfung der gewöhnlichen Deutung auf die Wiedergewinnung der Helena
übereinzustimmen , so wenig kann ich mich von der Richtigkeit seiner
eigenen Deutung auf die Fortführung der Polyxena durch Neoptolemos
überzeugen . :
a ) früher bei Durand ( de Witte n. 20 ) , gegenwärtig im
Brit. Mus. ( Catal. of the vases in the Brit. Mus. Nr. 510 ,
wo die Darstellung auf Aithra , Akamas und Demophon
gedeutet wird ) , abgeb. Gerhard A. V. I 2. Revers Ge-
burt d. Athena .
b ) abgeb. Gerhard A. V. I 72. Revers Parisurteil .
c ) abgeb. Gerhard A. V. 171 , wo die Darstellung auf Bri-
seis und die Boten Agamemnons gedeutet wird . Rev.
Parisurteil .
d ) abgeb. Arch. Zeit . 1851 Taf. 30. Overbeck Her. Gall. XXVI
2. Revers von Overbeck u. A. auf Achilleus und Memnon
gedeutet ; ich möchte vielmehr an den durch Aphrodite
aufgehobenen Zweikampf zwischen Menelaos und Paris
oder zwischen Aineias und Diomedes denken Bei der Deutung auf Memnon und Achilleus kommt die Bewegung der
zwischen beiden Kämpfern stehenden Göttin nicht genug zu ihrem Rechte .
Overbeck Arch . Zeit . 1854 S. 354 beschreibt dieselbe folgendermaſsen : „ In
diesem Augenblick ist die ahnungsvolle Mutter des dem Tode verfallenen
Aithioperfürsten zwischen die Kämpfer gestürzt , aber vergebens , sie kann den
.
Auf allen diesen Vasen erscheint ein völlig gerüsteter Krie-
ger , der das gezückte Schwert oder die Lanze in der Hand eine
verschleierte Frau , die zwar keinen Widerstand leistet , aber doch
zu zögern scheint , mit sich fortführt , während ein gleichfalls ge-
wappneter Krieger folgt . Man sieht gewöhnlich in dieser Dar-
stellung eine Variation des bekannten Typus von der Wieder-
findung der Helena bei Trojas Zerstörung , des Typus , den zuletzt
Löschcke abschlieſsend behandelt hat Ueber die Reliefs der altspartanischen Basis ( Dorpater Universitäts-
programm 1879 ) . . Indessen scheint mir
für diese Darstellung gerade das Wegführen charakteristisch ; die
Frau leistet keinen Widerstand , der Mann hat das Schwert nicht
gezückt , um die Frau zu bedrohen , sondern um sich und sie zu
schützen , wie ja auch Odysseus und Diomedes beim Palladion-
raub mit gezücktem Schwert erscheinen . Vor Allem aber scheint
Todesstreich nicht abwehren ; indem sie den Schritt zu ihrem Sohne zurück-
wendet , schaut sie um gegen den Sieger und erhebt verzweiflungsvoll die
rechte Hand zum Himmel “ . Man begreift bei dieser Auffassung schwer , in
welcher Absicht sie sich denn überhaupt zwischen die Kämpfenden gestürzt
hat , wie sie denn auch auf keiner der übrigen zahlreichen Memnondar-
stellungen an dieser Stelle erscheint . In der That gebührt der Platz zwischen
den Streitern nur dem , der durch sein Dazwischentreten entweder den Kampf
aufhebt , wie der Zeus auf den Kyknosvasen , oder dem einen der Kämpfer einen
thatsächlich wirksamen Schutz gewährt . So auch hier ; die Füſse der Frau sind
dem Krieger rechts zugewandt , den Kopf aber wendet sie nach seinem Gegner
hin und hebt , nicht jammernd , sondern drohend und einhaltgebietend die rechte
Hand . Also eine Göttin , die den Zweikampf dem Krieger rechts zu Liebe
aufhebt . In der Ilias kommt zweimal eine solche Scene vor ; einmal bei dem
Kampfe zwischen Paris und Menelaos , und dann bei dem zwischen Aeneias
und Diomedes , beidemal ist die intervenierende Göttin Aphrodite ; beide Male
ist der Gerettete einer der beiden auf der Vorderseite dargestellten Entführer .
Daſs die Darstellung der Schilderung der Ilias nur ganz im allgemeinen
entspricht , wird nach dem im ersten Kapitel Bemerkten nicht mehr befremden .
Auch die beiden rotfigurigen Vasen , auf denen uns die genannten Zwei-
kämpfe inschriftlich bezeugt vorliegen , die jetzt in Louvre befindliche Duris-
schale ( Fröhner choix de vases grecs pl. 3. 4 , Wiener Vorlegeblätter Ser. VI.
Taf. VII ) und die im britischen Museum befindliche Schale aus Kameiros
( Journal of philology 1877 Taf. B. , ) entfernen sich sehr stark von dem Wortlaut
der Ilias. Vgl. Luckenbach a. a. O. S. 517 .
mir die Übereinstimmung mit dem den beiden Hieronvasen zu
Grunde liegenden Typus den Ausschlag zu geben . Daſs nun
dieser zu dem allerältesten Bestand der bildlichen Tradition ge-
hört , erhellt daraus , daſs wir ihn sogar auf einem alt-etruskischen
Monument wiederfinden ; ich meine die bei Micali Monumenti
per servire alla storia degli antichi popoli italiani XXII publi-
cierte Bucchero-Vase . Dies Zusammentreffen hat in der von
Milchhöfer ( Mitth. d. athen. Instituts II S. 462 ) nachgewiesenen
Übereinstimmung eines etruskischen Reliefs mit der einen Dar-
stellung der altspartanischen Basis seine nächste Analogie , und
wenn Löschcke’s sehr ansprechende Vermutung a. a. O. S. 12 . , daſs es die
Chalkidier waren , welche den altgriechischen Typenschatz den
Etruskern vermittelten , das Richtige trifft , so dürfen wir voraus-
setzen , daſs auch unser Typus aus der chalkidischen Kunst sowol
in die attische wie in die etruskische übergegangen ist .
Während Hieron , wie wir sahen , diesen Typus zweimal in
verschiedener Weise erweitert , erscheint derselbe in dem Innen-
bild einer etwa gleichzeitigen rotfigurigen Schale strengen Stiles
( Brit. Mus. 829 Im Katalog auf Peleus und Thetis gedeutet . Ueber die Auſsenbilder
s. unten den Excurs Ὅπλων κρίσις . ) . Birch Archäologia XXXII pl. 8 , 9 Wiener
Vorlegeblätter Ser. VI Taf. 2 ) auf die beiden Hauptfiguren , Paris
und Helena , beschränkt .
In derselben Periode wird er auch mit leichten Umbildungen
auf andere Mythen übertragen ; namentlich auf solche , die zuerst
im fünften Jahrhundert ihre bildliche Gestaltung erfahren ; er liegt
sowol den Darstellungen von Aithras Wiedergewinnung durch Aka-
mas und Demophon , wie denen von der Wegführung der Briseis
zu Grunde .
Aber nicht bloſs durch Hinzufügung von Figuren vollzieht
sich die Entwickelung und Fortbildung der Typen , sondern auch
durch die Verschmelzung verschiedener Typen zu einer groſsen
einheitlichen Komposition . Auf diesem Wege werden aus den
Einzelkämpfen , wie sie die archaische Kunst fast ausschlieſslich
kennt , groſse zusammenhängende Schlachtenbilder , allerdings nur
sehr allmählich ; die Darstellungen der Giganten- , Amazonen-
und Kentaurenkämpfe bieten in ihrer Entwickelungsgeschichte
dafür die beste Illustration . Selbst im fünften Jahrhundert kommt
die Vasenmalerei bei der Darstellung der Gigantomachie noch
nicht über ein loses Aneinanderreihen der Zweikämpfe , wie sie
schon von der archaischen Kunst typisch ausgebildet sind , hinaus ,
und wenn zu derselben Zeit einzelne Darstellungen des Amazonen-
kampfes bereits ein abgerundetes Schlachtenbild bieten , wie na-
mentlich die unvergleichlich schöne kumanische Lekythos Heydemann Vasensammlungen d. Museo nazionale zu Neapel , Racc .
Cumana 239 ; abgebildet Fiorelli Vasi Cumani VIII. Bull. Nap. N. S. IV 8
u. öfter . , so er-
klärt sich das einfach daraus , daſs die groſsen Kompositionen
des Mikon in der Stoa ποικίλη und dem Theseion , sowie die
des Pheidias auf dem Schild der Parthenos vorausgegangen sind .
Eines der lehrreichsten Beispiele bietet aber die Entwickelung
der Darstellungen von Ilions Zerstörung , die darum einer ausführ-
licheren Besprechung unterzogen werden mag . Die archaische Kunst
stellt immer nur eine einzelne Episode aus der Eroberung von
Ilion dar , und zwar sind , soviel sich erkennen läſst , folgende
Scenen bildlich gestaltet worden :
A ) Neoptolemos tötet den Astyanax vor dem auf dem
Altar des Zeus Herkeios sitzenden Priamos ; zuweilen
ist der Tod des Priamos allein dargestellt . Die hier-
her gehörigen Darstellungen sind von Heydemann
Iliupersis S. 14 Anm. 2 , Overbeck Her. Gall . S. 621 f. ,
Luckenbach a. a. O. S. 631 besprochen . Hinzuzufügen
ist die Darstellung auf einem in der Sammlung Sabu-
roff befindlichen Dreifuſs .
B ) Menelaos und Helena ; der Symmetrie wegen fügt die
schwarzfigurige Vasenmalerei meist einen zweiten be-
waffneten Krieger hinzu ; wahrscheinlich ist er als
Odysseus zu erklären , der zugleich mit Menelaos in das
Haus des Deiphobos eingedrungen ist. S. Overbeck Her.
Gall . S. 628 Nr. 113—115 . Klein A. d. I. 1877 p. 261
n. 1 .
C ) Aias und Kassandra . Overbeck S. 635 Nr. 124—132 .
Heydemann a. a. O. S. 29 , Anm. 4. Klein , A. d. I.
1877 p. 251 .
D ) Fortführung der Polyxena zum Grabhügel des Achilleus :
bis jetzt nur auf einer Hydria des Berliner Museums
Nr. 1694 . Gerhard Trinkschalen und Gefässe II , 16.
Overbeck XXVII , 17 .
E ) Flucht des Aineias . Overbeck S. 655. Heydemann
S. 31 n. 1. Luckenbach S. 630 .
Hierzu kommt im fünften Jahrhundert die erst auf rot-
figurigen Vasen bildlich dargestellte attische Sage von der Auffin-
dung der Aithra durch Akamas und Demophon ( s. S. 58 ) .
Der erste Schritt zu einer gröſseren Komposition geschieht
durch die Vereinigung von zunächst nur zwei Scenen ; eine solche
liegt vollzogen vor auf der schwarzfigurigen Amphora des Ber-
liner Museums ( Gerhard Etrusk. u. campan . Vasenb. T. 21 ,
Overbeck Her. Gall. XXXVI 18. ) , auf welcher die beiden
wichtigsten , gewissermaſsen den Abschluſs des troischen Krieges
bedeutenden Scenen A und B , also der Tod des Priamos und
die Wiedergewinnung der Helena , zu einem einheitlichen Bilde
zusammengefaſst sind . Auſser zwei jammernden und flehenden
Frauen , die auch sonst auf A vorkommen und zweifellos als Töchter
des Priamos zu deuten sind , ist vor Allem die Leiche eines
bärtigen Mannes hinzugefügt , dessen Oberkörper zwischen den
Füſsen des Neoptolemos sichtbar wird . Die gewöhnliche An-
nahme erklärt ihn für einen eben von Neoptolemos getöteten
Troer , der dann von den Einen nach Vergil Polites , von den
Andern nach Lesches und Arktinos Agenor benannt wird .
Letzteres ist an sich möglich ; aber für Polites Tod besitzen wir
kein altes Zeugnis , und der sinnreiche Einfall , daſs dieser
Priamide , der treue Wächter der Burg und Stadt ( vgl. oben
S. 16 Anm. 11 , ) , zuletzt allein von seinen Brüdern übrig ist und
allein den greisen Vater noch zu schützen sucht , darf mit hoher
Wahrscheinlichkeit der alexandrinischen Periode zugeschrieben
werden . Sei dem wie ihm wolle , das Fehlen der Figur auf den
übrigen archaischen Darstellungen der Scene beweist wenigstens
so viel , daſs sie nicht zu dem alten Typus gehört ; und da sie
uns zuerst auf einer aus zwei Scenen kombinierten Darstellung
begegnet , erscheint die Frage berechtigt , ob sie nicht mit dem-
selben Recht in nahe Beziehung zu B wie zu A gesetzt werden
kann . Bedenkt man , wie passend neben der Darstellung von
Helena und Menelaos ein Hinweis auf die entscheidende That ,
durch die schlieſslich Helena wiedergewonnen wird , auf die
Tötung ihres dritten Gatten , sein würde , so wird man wohl die
Deutung des Toten auf den von Menelaos getöteten Deiphobos
neben der auf Polites oder Agenor oder einen anderen von
Neoptolemos getöteten Troer zunächst wenigstens als gleichbe-
rechtigt gelten lassen müssen .
Mit einer anderen Scene , der Wegführung der Polyxena
D , erscheint , wie die Beischriften lehren , die Darstellung von
Priamos Tod vereinigt auf der Iliupersisvase des Brygos Dieselbe ist vor kurzem aus dem Besitze Jolly de Bammeville’s in
das Louvre gekommen . ( Heyde-
mann Iliupersis Taf. I. Wiener Vorlegebl Ser. VIII. T. 4 ) . Durch
diese Verbindung werden die drei Haupttaten des Neoptolemos
zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefasst , die Tötung des
Königs von Troja , die Tötung von Hektors Kind , die Opferung
der Polyxena am Grabe des Achill . Natürlich musste in D die
Gestalt des Neoptolemos , die nicht auf demselben Bilde zweimal in
zwei verschiedenen Situationen vorkommen konnte , durch einen
anderen Griechen ersetzt werden . Der attische Vasenmaler
nimmt dazu den ihm zunächst liegenden Helden , den Theseiden
Akamas ; daſs auch in der Hekabe des Euripides ( V. 123 ) bei
der Beratung über Polyxena die beiden Theseiden eine hervor-
ragende Rolle spielen , ist zwar ein zufälliges , aber doch recht
bezeichnendes Zusammentreffen ; daſs ferner in dieser Darstellung ,
wo nicht B , sondern D mit A kombiniert ist , der Tote fehlt , ver-
dient immerhin hervorgehoben zu werden . Brunn hat allerdings
gegen die Glaubwürdigkeit der Namensbeischriften Bedenken
erhoben Troische Miscellen in den Sitzungsber. d. königl. bayer. Akad. d.
Wissenschaften 1868 S. 90 f . . Die Haltung des Mädchens schien ihm für Polyxena
zu ruhig ; in dem Augenblick , wo ihr Vater getötet wird , müſste
sie lebhafter ihren Schmerz ausdrücken ; aus diesem Grunde wird
angenommen , daſs die Namen von dem Vasenmaler irrtümlich
beigeschrieben , und die Figuren vielmehr Menelaos und Helena
zu benennen seien . Indessen , soweit es ihm physisch möglich ist ,
da der Krieger seine rechte Hand gefaſst hat und es gewaltsam
mit sich fortzieht , äuſsert das Mädchen die innere Bewegung in
sehr deutlicher Weise ; es hemmt den Schritt , den Kopf wendet
es zurück zu seinem Vater und blickt ihn mit weitgeöffnetem
starrem Auge entsetzt an — man vergleiche nur die Augen-
bildung der übrigen Frauen , um sich der von Brygos hier beab-
sichtigten Wirkung zu vergewissern . Freilich schlägt es sich
nicht mit der Hand an den Kopf , und gerade auf das Fehlen
dieser typischen Trauergeberde reduciert sich schlieſslich der
Vorwurf der Teilnahmlosigkeit ; aber spricht sich denn in den
krampfhaft gebogenen , fast möchte man sagen zuckenden Fingern
der linken Hand der tiefe innere Schmerz nicht deutlich genug
aus ? So haben wir also glücklicher Weise nicht nötig zu der
doch immer sehr bedenklichen Annahme verkehrter Namensbei-
schriften unsere Zuflucht zu nehmen Vgl. Kapitel III Auswahl und Zusammenstellung der Scenen S. 101 . . Für Helena dürfte
überdieſs der mädchenhafte Charakter der ganzen Gestalt
schwerlich passen .
Die Darstellung auf der anderen Seite derselben Schale ,
von welcher die Abbildung auf S. 64 wenigstens eine allgemeine
Vorstellung geben wird , hat zu sehr verschiedenen Deutungen
Veranlassung gegeben .
Unverkennbar und allgemein zugegeben ist zunächst , daſs
wir es auch hier mit Scenen der Iliupersis zu thun haben , aber ,
wie gleich hinzugesetzt werden muſs , keine dieser Scenen deckt
sich mit einer der oben aufgezählten fünf Darstellungen ,
die aus der älteren bildlichen Tradition stammen . Dies führt
zu der Vermutung , daſs die erste bildliche Gestaltung dieses Vor-
gangs überhaupt erst im fünften Jahrhundert , also in der Periode ,
in welcher die Schale gemalt wurde , erfolgt ist , eine Annahme ,
zu der auch die verhältnismäſsig groſse Anzahl der beteiligten
Personen vortrefflich stimmt . Zwei gewappnete Krieger , ohne Zweifel
Achäer , haben zwei Trojaner , die in der durch die nächtliche Über-
rumpelung hervorgerufenen Verwirrung bloſs eine Chlamys umwer-
fen und ein Schwert ergreifen konnten , niedergeworfen und tötlich
verwundet ; neben dem einen dieser Gefallenen , dessen Kopf im Tode
zurücksinkt und dessen Hand das Schwert fallen läſst , eilt mit
geschwungener Mörserkeule Zuerst von Heydemann erkannt ( Iliupersis S. 24 ) ; vgl . Blümner Tech-
nologie S. 17 f . eine Frau herbei ; sie trägt bloſsen
Chiton , denn den Überwurf anzulegen hatte sie keine Zeit : sie
ward überrascht , wie die Männer ; rechts von ihr flieht ein
Knabe , und weiter links zwischen den beiden Griechen , eine
Frau mit aufgelöstem Haar , entsetzt den Kopf nach dem einen ,
jugendlicheren Griechen hinwendend .
Daſs einst alle diese Figuren Namensbeischriften hatten ,
ist wohl kaum zu bezweifeln ; erhalten sind davon nur vier und
von diesen nur zwei ohne Weiteres verständlich . Sie belehren
uns , daſs das kühne Weib Andromache , der fliehende Knabe ihr
Sohn Astyanax ist . Da wir nun den Tod des letzteren auf
der andern Seite gefunden haben , so folgt , daſs die Scenen
der beiden Seiten nicht gleichzeitig , sondern zeitlich auf ein-
ander folgend zu denken sind , und natürlich die Scene mit
Priamos und Astyanax Tod die spätere ist . Brunn a. a. O. S. 91 meint zwar , daſs durch das Fortlaufen der Dar-
stellung unter dem einen Henkel die Einheit des ganzen Bildes stark betont
werde , allein , um nur ein Beispiel von vielen anzuführen , auch auf der Tri-
ptolemosschale desselben Brygos ( Wiener Vorlegebl. Ser. VIII Taf. II vgl.
Anm. 1 ) , die doch zeitlich und örtlich weit auseinanderliegende und von ein-
ander ganz unabhängige Vorgänge darstellt , fehlt nicht nur unter dem Henkel
jedes trennende Ornament , sondern die Zeichnung der einen Seite greift
sogar tief in die der anderen hinein. S. unten Kap. III S. 88 . Wer aber ist
der Troer , den Andromache rächt , und wer der Grieche , den sie
bedroht ? Die Beischrift bezeichnet den ersteren als
oder — wenn man das vom Andromache zweimal , das eine
Mal als , das andere Mal als gelten läſst ; man ergänzt die
Reste zu Ἀ(νδρ )όμαχος , mehr sinnreich als wahrscheinlich So steht der Name auf einer beim archäologischen Institut in Rom
befindlichen Durchzeichnung , die nach Brunns Angabe ( bei Heydemann a. a. O. )
„ vielleicht nach der Vase selbst , aber etwas flüchtig gefertigt “ ist , gegen
deren Lesung man also doch ein gewisses Miſstrauen zu hegen berechtigt ist .
Hoffentlich dürfen wir von den Beamten des Louvre recht bald eine genauere
Revision der Beischriften erwarten . ; ist
es denkbar , daſs Andromache einen dem Mythos ganz unbekannten
Troer verteidigt ? Geradezu unsinnig ist die Beischrift des
Siegers : sie spottet jeder plausibelen Erklärung Man ergänzt Ὀψιμένης , Ὀψιμήδης , Ὀψιμέδων , lauter unbezeugte und ,
wenn auch an sich mögliche , so doch für den siegreichen Griechen recht
unpassende Namen ; ganz abgesehen davon , daſs für Brygos die Buchstaben-
verbindung für doch ganz undenkbar ist . und
jeder Emendation . Unter diesen Umständen scheint die Annahme
zulässig , daſs die Namen entweder verlesen oder modern über-
malt sind . Vielleicht wäre es da geraten , bis zu einer gründ-
lichen Reinigung des Originals , auf jeden Deutungsversuch zu
verzichten . Dennoch glaube ich , daſs man schon jetzt zu einer
plausibelen Deutung gelangen kann , wenn man uns nur gestattet ,
von den beiden sinnlosen Beischriften abzusehen .
Klar ist zunächst , daſs , wenn die Namen Andromache und
Astyanax richtig beigeschrieben sind , — was doch die nächste
und natürlichste Annahme ist , — diese That der Andromache
mit all ihrem , keineswegs einfachen Detail in einer Dichtung
behandelt gewesen sein muſs . Aber die Richtigkeit der Namens-
beischriften wird auch hier wieder von Brunn a. a. O. S. 99
in Frage gestellt . Mancherlei Bedenken , z. B. daſs das wild an-
stürmende Weib mit der edlen duldenden Gattin des Hektor
nicht die geringste Ähnlichkeit habe oder daſs der fliehende
Astyanax in Poesie und Kunst sonst nicht vorkomme , veranlassen
ihn zu der Annahme , daſs die Namen unrichtig beigeschrieben
seien . Die ganze Darstellung wird unter dieser Voraussetzung
mit folgenden Worten charakterisiert : „ Die wehrhaften Männer
aus Priamos Geschlecht sind bereits früher gefallen . … Wer
Philolog. Untersuchungen V. 5
bleibt nun nach dem Tode der Edlen übrig ? Nur das namenlose
Volk. Seinem Untergange ist die zweite Hälfte des Bildes ge-
widmet Brunns Auffassung wird auch von Luckenbach a. a. O. S. 525 geteilt ,
nur daſs dieser die Namen nicht für irrtümlich beigeschrieben , sondern für
bedachtsam und beziehungsweise ersonnen hält ; er sagt : „ Der Maler , der eine
Scene allgemeinerer Art entworfen hatte , sucht Namen für seine Personen ;
das mutige Weib nennt er Andromache , den Gefallenen , den sie verteidigt ,
Andromachos , den schüchternen Knaben Astyanax . Man darf nicht die Frage
stellen , ob dies die Andromache und der Astyanax des Epos sind ; sie sind es
und sind es auch nicht ; denn ihre Namen hatte der Künstler im Auge , aber
eine sie betreffende Scene des Epos stellte er nicht dar “ . Nur schade ,
daſs dann Brygos den schlimmsten Fehler begangen haben würde , den ein
Künstler begehen kann , nämlich den , das Verständnis seines Werkes durch
Irreführung des Beschauers zu erschweren , ja unmöglich zu machen . Denn
Jeder , der Andromache und Astyanax neben einander sieht , muſs in ihnen die
Gattin und den Sohn des Hektor erkennen und wird consequenter Weise auch
in den übrigen Figuren bestimmte Personen der Sage und in der ganzen Dar-
stellung einen aus Mythos oder Poesie geflossenen bestimmten Vorgang zu
finden erwarten . “ . Allein selbst zugegeben , daſs auf mythischen Dar-
stellungen des fünften Jahrhunderts das namenlose Volk über-
haupt jemals eine Rolle spielte , wofür man sich vergeblich nach
einem Belege umsieht , so würde doch der Umstand , daſs die that-
kräftige Frau mit der Mörserkeule auch auf der Vivenziovase vor-
kommt , und zwar in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tode
des Priamos und der Auffindung der Aithra , zum Beweise genügen ,
daſs wir nicht mit einer Frau aus dem Volke , sondern mit einer
Heroine , nicht mit einer von Brygos willkürlich ersonnenen ,
sondern von der poetischen Tradition gegebenen Episode zu
thun haben .
Gerade die Darstellung der Vivenziovase Heydemann Vasensammlungen d. Mus. nap. zu Neapel 2422 , abgeb.
Mus. Borb . XIV 41—43 , Müller-Wieseler Denkm . der alt. Kunst I 43 , 202 ,
Overbeck Her. Gall . XXV 24 , Heydemann Iliupersis II u. öfter . bringt aber , wenn
man sie mit der Brygosschale und der Berliner Amphora ver-
gleicht und die bei der Betrachtung dieser beiden Monumente
gewonnenen Resultate auf sie anwendet , für alles noch Zweifel-
hafte die erwünschteste Aufklärung . Diese ausführlichste und voll-
endeteste unter den auf
Vasen erhaltenen Darstel-
lungen des Iliupersis be-
findet sich bekanntlich auf
der Schulterfläche einer Hy-
dria und zerfällt in fünf
Hauptgruppen , von denen
drei auf altüberlieferte Ty-
pen und zwar auf A C E
zurückgehen . Die neben-
stehende Abbildung zeigt die
drei mittelsten Gruppen .
Die Mitte nimmt der Tod
des Priamos und des Astya-
nax ( A ) ein , und hier be-
gegnet uns auch wieder zu
den Füſsen des Neoptole-
mos ausgestreckt der getö-
tete Troer , den wir bisher
nur auf der schwarzfiguri-
gen Berliner Amphora ge-
funden haben . Rechts ne-
ben dem Gefallenen kniet
ein völlig gewappneter Krie-
ger , der den Kopf gegen
die mit der Mörserkeule
heranstürmende Frau — die
Andromache der Brygos-
vase — umwendet und mit
vorgehaltenem Schild und
gezücktem Schwert sich ge-
gen ihren Angriff zu decken
sucht . Die knieende Stel-
lung dieses Kriegers findet
wie ein eifriger Schüler ,
Herr Friedr. Deneken , zu-
5*
erst gesehen hat , darin und nur darin ihre Erklärung , daſs er
im Begriff ist den getöteten Troer zu spoliieren ; daraus ergiebt
sich aber mit fast unabweisbarer Notwendigkeit der weitere
Schluſs , daſs dieser Grieche und nicht Neoptolemos es ist , der
den Troer getötet hat . Diese Folgerung auf die Berliner
Amphora angewandt ergiebt weiter , daſs die oben nur als
gleichberechtigt hingestellte Deutung des Toten auf Deiphobos
die einzig richtige ist ; und aus der Darstellung dieser Am-
phora ergiebt sich wieder für die Vivenziovase , daſs der knie-
ende Krieger Menelaos ist . Der dargestellte Vorgang ist also
einfach der , daſs Menelaos , während er den von ihm getöteten
Deiphobos spoliieren will , von Andromache mit erhobener Mörser-
keule angegriffen wird . Was aber bewegt Andromache zu ihrem
Eingreifen ? Doch wahrlich nicht bloſs der Wunsch den gefallenen
Schwager zu rächen ; sie will dem Räuber ihres Sohnes nach
und stöſst nieder , was ihren Weg hemmt ; umsonst , denn Astyanax
liegt bereits getötet auf den Knien des Priamos .
Verlassen wir nun zunächst die Vivenziovase , und wenden
uns zur Brygosschale zurück . Für diese ergeben sich aus dem
Gesagten ohne Weiteres eine Reihe von Folgerungen . Der tötlich
getroffen zurücksinkende Troer , der scheinbar als Andromachos
Bezeichnete , ist Deiphobos , wobei ich dahingestellt lasse , ob
Brygos den Namen zu verschrieben hatte ; der sieg-
reiche Grieche mit der räthselhaften Beischrift ist Me-
nelaos . Andromache greift hier in einem etwas früheren Zeit-
punkt ein , als auf der Vivenziovase ; wie auch in der Reihenfolge
der Episoden der Iliupersis der Vorgang bei Brygos eine frühere
Stelle einnimmt als dort . Während derselbe nämlich dort dem
Tode des Priamos gleichzeitig und also Astyanax schon tot ist ,
zeigt bei Brygos erst die zeitlich spätere Darstellung der anderen
Seite den Tod des Priamos , und so finden wir in dieser früher
zu denkenden Scene Astyanax noch lebend und fliehend . Da-
durch ist auch Andromaches That zwar nicht ihrem Wesen ,
aber ihrem Zweck nach auf beiden Darstellungen eine verschie-
dene . Auf der Vivenziovase will Andromache dem ihr schon
entrissenen Astyanax noch im letzten Augenblick zu Hilfe eilen ;
bei Brygos deckt sie seine Flucht , indem sie sich mit männ-
licher Kühnheit dem andringenden Menelaos entgegenwirft ;
beides wahrlich nicht im Widerspruch , sondern im schönsten
Einklang mit dem Charakter von Hektors Weibe , dessen her-
vorstechendster Zug , neben der hingebenden Liebe zum Gatten ,
die aufopferndste Mutterliebe ist , in Troja wie in Phthia , bei
Homer wie bei Euripides .
Die Frage nach der hier zu Grunde liegenden poetischen
Quelle kann zwar erst unten in gröſserem Zusammenhange er-
ledigt werden , doch scheint es nicht überflüssig gleich hier dar-
auf hinzuweisen , daſs es unnötig oder vielmehr im höchsten
Grade verkehrt wäre , für diese kleine Verschiedenheit in dem Auf-
treten Andromaches auch eine Verschiedenheit der poetischen
Quellen anzunehmen . Lediglich in der verschiedenen Weise , in
welcher Brygos und der Maler der Vivenziovase diesen Vorgang
mit anderen Episoden der Iliupersis , speciell mit dem Tode des
Priamos , combiniert haben , hat dieselbe ihren Grund . Ge-
geben war in der poetischen Quelle und der durch sie beein-
fluſsten Sagenanschauung der Zeit , daſs Menelaos den Deiphobos
tötet , gegeben ohne Zweifel auch , daſs er dabei oder kurz nach-
her von Andromache mit der einzigen ihr in der Hast zu Ge-
bote stehenden Waffe , einer Mörserkeule , angegriffen wird . Ob
dies aber bei dem Dichter geschah , bevor oder nachdem Neopto-
lemos den Astyanax ergriffen hatte , ob zum Schutz , wie auf der
Brygosschale , oder zur Rettung , wie auf der Vivenziovase , läſst
sich aus den Bildwerken und , wie gleich hinzugefügt werden
mag , mit unserem Material überhaupt nicht entscheiden .
Die fliehende Frau darf nun unbedenklich Helena benannt
werden ; schon der Vergleich der Berliner Amphora wäre für die
Richtigkeit dieser Benennung beweisend ; aber deutlich spricht
dafür auch die vortreffliche Charakteristik der Figur ; mit aufge-
löstem Haar eilt sie hinweg , den Blick starr auf den hinsinken-
den Deiphobos und auf ihren ersten treulos verlassenen Gatten
gerichtet . Es ist gewiſs kein Zufall , daſs gerade in der Zeit
des Brygos in der rotfigurigen Vasenmalerei ein neuer Typus
für die Wiedergewinnung der Helena aufkommt ; statt des alten
Schemas ( B ) , das Menelaos der Helena mit gezücktem Schwerte
ruhig gegenüberstehend zeigt , finden wir jetzt auf den Vasen
und , nach Michaelis glänzendem Nachweis , auch auf zwei Me-
topen des Parthenon Helena , zuweilen z. B. Museo Gregoriano II 5 , 2 , Overbeck Her. Gall. XXVI 12 . wie bei Brygos mit
aufgelöstem Haar , fliehend , und Menelaos sie mit bloſsem Schwert
verfolgend . Es ist klar , daſs diese Situation sich aus der von
Brygos dargestellten sehr einfach entwickeln kann , daſs sie nur
einen wenig späteren Moment repräsentiert . Menelaos wird sich
alsbald , wenn er sich der Andromache erwehrt hat , zur Ver-
folgung der fliehenden Helena wenden ; und so darf mit hoher
Wahrscheinlichkeit angenommen werden , daſs diese Vasen auf
dieselbe poetische Tradition zurückgehen , wie die Brygosschale Es ist gewiſs richtig , daſs diese Darstellungen im Zusammenhang mit
den übrigen im fünften Jahrhundert aufkommenden Liebesverfolgungen be-
trachtet sein wollen ( vgl. v. Duhn Commentationes Bonnenses p. 99 s. Löschcke
Über die altspartanische Basis S. 6 ) , aber sie unterscheiden sich von dem
Typus der letzteren durch zwei ganz individuelle Züge : einmal dadurch , daſs
als Zielpunkt von Helenas Flucht ein Götterbild erscheint , und dann dadurch ,
daſs Menelaos das Schwert fallen läſst . Für diese beiden besondern Eigen-
tümlichkeiten würden wir berechtigt sein , ein Vorbild in der Poesie zu suchen ,
auch wenn dasselbe nicht direkt überliefert wäre . .
Noch bleibt die Gruppe des Kämpferpaares links von He-
lena zu benennen , denn daſs nicht mitten unter Haupthelden des
troischen Krieges ein paar namenlose Kämpfer dargestellt sein
können , scheint mir für eine Vase dieser Zeit , zumal bei einer
so durchdacht angelegten Komposition , keines Beweises zu be-
dürfen ; auch ist ohne weiteres klar , daſs der Kampf in einem
gewissen Zusammenhang mit dem des Menelaos und des
Deiphobos stehen muſs , und so spitzt sich schlieſslich alles zu
der Frage zu : wer war bei dem nächtlichen Kampf in Troja
der Genosse des Menelaos ? Die Antwort giebt uns der Sänger
der Phäaken , Demodokos , ϑ 514 :
ἤειδεν δ̕ ὡς ἄστυ διέπραϑον υἰες Ἀχαιῶν
ἱππόϑεν ἐκχύμενοι , κόϊλον λόχον ἐκπρολιπόντες .
ἄλλον δ̕ ἄλλῃ ἄειδε πόλιν κεραϊζέμεν αἰπήν ,
αὐτὰρ Ὀδυσσῆα προτὶ δώματα Δηιφόβοιο
βήμεναι ἠύτ̕ Ἄρηα σὺν ἀντιϑέῳ Μενελάῳ .
κεῖϑι δὴ αἰνότατον πόλεμον φάτο τολμήσαντα
νικῆσαι καὶ ἔπειτα διὰ μεγάϑυμον Ἀϑήνην Vgl. Vergil. Aen. VI 529 . .
Vollkommen richtig erklärt des Odysseus Beteiligung hierbei
der Scholiast : ᾔδει δὲ τὴν Δηιφόβου οἰκίαν ὁ Ὀδυσσεὺς , ὅτε
αὐτομολῶν εἰσῆλϑε . Bei dem Gegner des Odysseus läſst uns leider
die litterarische Überlieferung im Stich , denn an Helikaon , den
Odysseus in der Nyktomachie erkennt und rettet ( Lesches bei
Pausan. X 26 , 7 ) , kann natürlich nicht gedacht werden . Die
auf dieser Seite der Schale dargestellte Scene läſst sich also
kurz als das Eindringen des Menelaos und Odysseus in den Königs-
palast bezeichnen : es gilt Helena zu suchen . Dieser Episode
hat Brygos eine besondere Scene gewidmet , während sie auf der
Berliner Amphora mit dem Tod des Priamos zu einem einheit-
lichen Bilde zusammengefaſst ist . Die Frage , in wie weit das
Innenbild der Brygosschale mit den Darstellungen der Auſsen-
seite in Beziehung steht , wird im dritten Kapitel ( S. 102 ) in
anderem Zusammenhang besprochen werden .
Kehren wir nun zu der Vivenziovase zurück . Mit hoher
Wahrscheinlichkeit darf auch in dieser Darstellung die Anwesen-
heit der Helena vorausgesetzt werden . Auf der Brygosschale
sahen wir sie , während des Kampfes zwischen Menelaos und
Deiphobos eilenden Laufes entfliehen , auf der Vivenziovase ,
wo Deiphobos bereits getötet ist , werden wir sie an einer von
dem Kampfplatz entfernteren Stelle , also auf der linken Seite
des Bildes zu suchen haben . Hier finden wir zunächst neben
Priamos am Fuſs der den Altar des Zeus Herkeios beschatten-
den Palme eine klagende Frau sitzen . Dann folgt die oben als
C bezeichnete Scene , Aias reiſst Kassandra von dem Pallasbild
weg ; aber nicht nur daſs der alte Typus in der Weise des
fünften Jahrhunderts frei umgebildet erscheint , er ist auch durch
zwei Figuren erweitert . Zu den Füſsen des Aias liegt ein ge-
töteter Trojaner , hinter dem Palladium sitzt halb versteckt eine
Frau zusammengekauert , mit beiden Händen sich das Haar
raufend . Einen Augenblick mag man zweifeln , ob diese Frau
oder die unter dem Palmenbaum gröſseren Anspruch auf die
Benennung Helena hat Diese Deutung ist zuerst von W. Klein A. d. I. 1877 p. 258 ausge-
sprochen , in ganz anderem Zusammenhang und auf Grund einer Argumentation ,
von der die oben gegebene in den wesentlichen Punkten unabhängig ist , ein
Umstand , der für die Richtigkeit des gewonnenen Resultates eine gewisse
Gewähr bieten dürfte . Der Kleinschen Liste ist hinzuzufügen ein auf Kythnos
gefundenes , gegenwärtig im Berliner Museum befindliches archaisches Thon-
relief ( No. 6283—85 ) , von dem leider nur die untere Hälfte erhalten ist :
Kassandra hat das Palladium umklammert , Helena naht sich eiligen Laufes ,
ihr folgt Menelaos ; der zwischen den Beinen des letzteren entstehende leere
Raum ist durch eine knieende Frauengestalt ausgefüllt . ; es mag auch Voreingenommenheit
sein , daſs die letztere mir in Haltung und Gebärde matronaler
erscheint und also nach meinem Dafürhalten Hekabe zu benennen
ist . Den Ausschlag für die am Palladium sitzende Frau giebt
die Vergleichung der schon oben herangezogenen rotfigurigen
Vasen , die Helena fliehend und Menelaos sie verfolgend darstellen ;
als Zielpunkt von Helenas Flucht erscheint sehr häufig ein
Götterbild , und wiederholt , wie auf der Vase des Museum Gre-
gorianum das Bild des Pallas .
Der Tote zu Aias Füssen wird von den meisten Erklärern
für Koroibos gehalten , vielleicht mit Recht . Vergil Aen. II
409—425 kennt ihn als Freier der Kassandra und läſst ihn bei
dem Versuch , seine Braut zu retten , getötet werden . Ersteres
beruht , wie auch Pausanias X 27 , 1 lehrt , auf alter poetischer
Erfindung , zu der das Motiv aus Ν 363 entnommen ist ; letzterer
Zug würde zur Vivenziovase stimmen . Bedenken macht nur ,
daſs niemals auch nicht bei Vergil , Koroibos durch Aias fällt ,
was für den Toten der Vivenziovase doch vorauszusetzen ist .
Die Scenenreihe wird links durch die Flucht des Aineias ,
also die oben als E bezeichnete Episode , rechts durch die
Auffindung der Aithra durch ihre Enkel Akamas und Demophon ,
also eine erst im fünften Jahrhundert bildlich gestaltete Scene , ab-
geschlossen . Abweichend von den gewöhnlichen Darstellungen
dieser Scene , welche sich auf die eigentliche Wegführung beziehen ,
läſst der Maler der Vivenziovase den einen Theseiden die Aithra
am Arm fassen , um ihr beim Aufstehen zu helfen , während der
Bruder ruhig dabei steht . Rechts erscheint noch eine traurig
sitzende Frau , die in Haltung und Erscheinung der Aithra so
gleich ist , daſs Schorn vollkommen Recht hat , wenn er deren
Mitsklavin Klymene in ihr erkennt ; bekannt ist ja daſs bei der
Teichoskopie Helena erscheint Γ 144
οὐκ οἴη , ἅμα τῇ γε καὶ ἀμφίπολοι δύ̕ ἕποντο ,
Αἴϑρη Πιτϑῆος ϑυγάτηρ Κλυμένη τε βοῶπις .
Von diesem Endpunkt der Komposition geht übrigens die ganze
Bewegung aus ; von hier , wo durch die Sklavinnen der Helena
das Frauengemach deutlich bezeichnet ist , hat sich Helena zum
Palladium geflüchtet , von hier hat Neoptolemos den Astyanax
geraubt , von hier stürzt Andromache dem Räuber ihres Knaben
nach . Durch diese in die verschiedenen Scenen eingemischten ,
aber alle von einem Punkte ausgegangenen Personen ist es nicht
am wenigsten gelungen , die ursprünglich getrennten Scenen zu
einer organischen Einheit zu verbinden In ganz ähnlichem Sinne ist auf dem Bologneser Krater ( M. d. I.
X Tav . LIV , vgl . Brizio A. d. I. 1878 p. 61 ) , die Flucht der Helena mit
der Auffindung der Aithra , ihrer Dienerin , durch die Theseiden zusammen-
gestellt ; auch auf der tabula iliaca finden sich beide Scenen unmittelbar
unter einander . .
Es bedarf nun kaum des besonderen Beweises , daſs es bei
solchen groſsen , aus einzelnen Typen gleichsam zusammenge-
wachsenen Kompositionen mit der Frage nach den mittelbaren
oder unmittelbaren poetischen Quellen seine ganz eigene Be-
wandnis hat . Es kann sein , daſs die Version so , wie wir sie
aus dem Bilde uns rekonstruieren würden , überhaupt bei keinem
Dichter vorlag ; ja eine genaue Überstimmung einer auf solchem
Wege entstandenen Komposition mit einem Gedicht würde , wenn
sie vorhanden wäre , für zufällig zu halten sein , da eben hier
noch ganz andere , rein künstlerische Faktoren in Betracht
kommen . Es ist daher methodisch falsch , zu fragen , welche
poetische Version hat Brygos oder der Verfertiger der Vivenzio-
vase befolgt ? Richtig gestellt muſs die Frage lauten : welche
poetische Version liegt den einzelnen Typen zu Grunde , die die
Elemente dieser beiden groſsen Kompositionen sind ? und es
leuchtet ein , daſs die Antwort bei den verschiedenen Einzel-
scenen verschieden lauten kann .
Für die oben aufgezählten fünf ältesten Typen kommt als
Quelle nur das Epos in Betracht , und hierbei kann es sich
wesentlich nur um die beiden Fortsetzungen des Ilias , die ein-
stimmig dem Arktinos zugeschriebene Iliupersis und die kleine
Ilias handeln , für deren Verfasser in der späteren Zeit meist
Lesches gilt Vgl. den Excurs Lesches und Arktinos . .
Vom Tod des Priamos ( A ) kennen wir die Erzählung beider
Epen ; bei Arktinos wird er von Neoptolemos am Altar des Zeus
Herkeios getötet , bei Lesches aber reiſst ihn Neoptolemos von
dem Altar weg und tötet ihn an der Thüre des Hauses ( Paus.
X 27 , 2 ) . Die bildlichen Darstellungen schlieſsen sich also ent-
schieden an die Version des Arktinos an . Auch vom Tod des
Astyanax kennen wir die Erzählung der beiden Gedichte . Bei
Arktinos tötet ihn Odysseus , und Euripides in den Troerinnen
V. 721 ist offenbar von dem milesischen Dichter abhängig ; in der
kleinen Ilias hingegen tötet ihn Neoptolemos , indem er ihn der
Amme entreiſst und ihn am Fuſs fassend von der Mauer herab-
schleudert : ῥῖψε ποδὸς τεταγὼν ὰπὸ πύργου . Gerade so ist es auf
den Vasen Neoptolemos , der den Astyanax tötet , und gerade , wie
die Worte der kleinen Ilias sagen , hat er ihn am Fuſs gepackt ;
nur schleudert er ihn nicht , wie dort , von der Mauer herunter ,
sondern gegen Priamos und den Altar . Dies Motiv entsteht , ohne
daſs die Poesie es vorgebildet hat , ganz spontan dadurch , daſs die
archaische Kunst in dem ihr eigentümlichen Bestreben möglichst
viel geben zu wollen , die beiden Hauptthaten des Neoptolemos
bei der πέρσις , die Tötung des Priamos und des Astyanax , auf
einmal darstellen will S. Luckenbach a. a. O. S. 632 . . Typus A zeigt uns also den Tod des
Priamos in der Version des Arktinos , hingegen den des Astyanax
in der der kleinen Ilias .
Weit schwieriger ist das Urteil über die poetischen Quellen
der vier anderen Typen B C D E . Aus den Excerpten des
Proklos lernen wir , daſs diese vier Episoden entweder genau
so oder wenigstens sehr ähnlich , wie wir sie auf den Bildwerken
sehen , von Arktinos erzählt waren :
B : Μενέλαος ἀνευρὼν Ἑλένην ἐπὶ τὰς ναῦς κατάγει Δηί-
φοβον φονεύσας .
C : Κασσάνδραν δὲ Αἴας ὁ Ἰλέως πρὸς βίαν ἀποσπῶν
συνεφέλκεται το τῆς Ἀϑηνᾶς ξόανον .
D : Πολυξένην σφαγιάζουσιν ἐπὶ τὸν τοῦ Ἀχιλλέως τάφον .
E : οἱ περὶ τὸν Αἰνείαν ὑπεξῆλϑον εἰς τὴν Ἴδην .
Von der Persis der kleinen Ilias besitzen wir bekanntlich
keine zusammenhängende Inhaltsangabe ; wir erfahren nur ge-
legentlich , was sich von selbst versteht , daſs die Wiedergewinnung
der Helena darin vorkam ( schol. Aristoph. Lysistr. 155 ) , und dürfen
aus der Erwähnung der Eurydike schlieſsen , daſs auch die Flucht
des Aineias erzählt war . Bei dieser Lückenhaftigkeit unserer
Nachrichten und bei der lakonischen Kürze des Proklos ist es
also absolut nicht auszumachen , ob die genannten Typen auf
Arktinos oder die kleine Ilias zurückgehen .
Wie steht es nun mit den erst in der rotfigurigen Malerei
vorkommenden , also wahrscheinlich erst im fünften Jahrhundert
geschaffenen Typen . Hier begegnet uns zuerst die Wiederauffindung
der Aithra durch Akamas und Demophon . Von dieser stand
bei Arktinos zu lesen ; denn Proklos sagt : Δημοφῶν δὲ καὶ
Ἀκάμας Αἴϑραν εὑρόντες ἄγουσι μεϑ̕ ἑαυτῶν ; in der kleinen
Ilias kamen die Theseiden vor , wie ein erhaltenes Fragment
beweist ( schol. Euripid. Troad. 31 ) ; und daſs auch die Wieder-
findung der Aithra dort erwähnt war , ist zwar nicht sicher , aber
in hohem Grade wahrscheinlich . Und da auch auf der tabula
iliaca , die bekanntlich in der Iliupersis sich dem Stesichoros anzu-
schlieſsen behauptet , die Scene sich findet , so würde man , die
unbedingte Glaubwürdigkeit jener Angabe vorausgesetzt , die
Episode auch für das Gedicht des Sängers von Himera voraus-
zusetzen haben . Welche Bewandnis es nun damit haben mag ,
daſs wir diese doch offenbar specifisch attische Sage im ionischen
Epos und in der sicilischen Lyrik finden , und ob nicht hier
attische Interpolation im Spiel ist , dort aus der bildlichen Tra-
dition eine dem Stesichoros fremde Episode in die Darstellung
aufgenommen ist , muſs hier unerörtert und somit die litterarische
Quelle für diese Darstellung der attischen Vasen unbestimmt bleiben .
Wichtiger wäre es , wenn sich entscheiden lieſse , wo die
poetische Quelle für die beiden andern im fünften Jahrhun-
dert zu den alten Typen neu hinzutretenden Episoden zu
suchen sei , die Flucht der Helena zu einem Götterbilde und
das mannhafte Eingreifen der Andromache . Über die erste
Episode haben vor kurzem Klein A. d. I. 1877 p. 258 s. und
Brizio A. d. I. 1878 p. 61 ausführlich gesprochen . Letztere
Untersuchung begeht den methodischen Fehler , daſs sie für jede
Nüancierung des Typus , die aus dem freien Schalten der einzel-
nen Künstler entsteht , eine besondere poetische Quelle voraus-
setzt ; erstere Untersuchung kommt zu dem Schluſs , daſs wenig-
stens für die Version , daſs Kassandra und Helena beide zum
Palladium flüchten , die kleine Ilias die Quelle sei , ein Re-
sultat , das lediglich auf der Schluſsfolgerung beruht , daſs ,
während die übrigen Dichter andere Versionen befolgen , von der
kleinen Ilias eine abweichende Erzählung nicht bezeugt ist —
weil wir nämlich überhaupt nicht wissen , wie dort der Vorgang
berichtet wurde .
Die Möglichkeit , daſs einzelne Episoden des Epos erst im
fünften Jahrhundert zum ersten Male bildlich gestaltet worden sind ,
ist an sich gewiſs zuzugeben ; für die Ilias ist sie einfach That-
sache . Allein es ist doch sehr zu bemerken , wenn das Motiv , daſs
Helena zu einem Heiligtum flieht , erst für die Lyrik ausdrück-
lich bezeugt ist , zunächst für Ibykos von Rhegion : schol. Euripid.
Andromache 631 ἄμεινον ᾠκονόμηται τὰ περὶ Ἴβυκον · εἰς γὰρ
Ἀφροδίτης ναὸν καταλύει ἡ Ἑλένη , κἀκεῖϑεν διαλέγεται τῷ Μενε-
λάῳ , ὁ δ̕ ὑπ̕ ἔρωτος ἀφίησι τὸ ξίφος S. Wilamowitz de Rhesi scholiis p. 5. . Es ist zu beachten , daſs
hier die Erzählung des Ibykos ausdrücklich der des Euripides
entgegengesetzt wird , nach welcher es der Anblick von Helenas
schöner Brust ist , der in Menelaos wieder die alte Liebe erwachen
läſst . Die oft citierte Stelle lautet ( Andromache V. 629 ) :
ἀλλ̕ ὡς ἐσεῖδες μαστόν , ἐκβαλὼν ξίφος
φίλημ̕ ἐδέξω .
Mit der Angabe des sehr unterrichteten Euripidesscholiasten ,
der hier wahrscheinlich den Lysimachos benutzt , steht es nun in
scheinbar unlösbarem Widerspruch , wenn die Scholien zu V. 155
der Lysistrata des Aristophanes :
ὁ γῶν Μενέλαος τᾶς Ἑλένας τὰ μᾶλά πα
γυμνᾶς παραϝιδὼν ἐξέβαλ̕ , οἰῶ , τὸ ξίφος
bemerken ἡ ἱστορία παρὰ Ἰβύκῳ · τὰ δὲ αὐτὰ καὶ Αέσχης ὁ Πυρ-
ραῖος ἐν τῇ μικρᾷ Ἰλιάδι καὶ Εὐριπίδης· womit schol. Aristoph.
Vesp . 711 übereinstimmt ἡ ἱστορία παρὰ Ἰβύκῳ καὶ Εὐριπίδῃ .
Doch ist der Widerspruch in der That nur ein scheinbarer ,
da in den beiden Scholien auf ganz verschiedene Punkte der
Nachdruck gelegt wird . Der Aristophanesscholiast will nur
sagen , der Zug , daſs Menelaos von Helenas Schönheit be-
rührt das Schwert habe fallen lassen , finde sich in gleicher Weise
von Lesches , Ibykos und Euripides erzählt . Der Euripides-
scholiast untersucht schärfer , was die Sinnesänderung bei Menelaos
hervorgerufen habe , und giebt der Fassung des Ibykos , wonach
Aphrodite in ihrem Heiligtum Helena aufnimmt und — offenbar ist
das die Meinung — mit ihrer göttlichen Macht auf Menelaos ein-
wirkt Späte Nachklänge an dies Motiv bei Vergil. Aen. II 588. Quint .
Smyrn. XIII 385 . , den Vorzug vor der gröberen sinnlichen Motivierung , der
Euripides folgt . Als Quelle der letzteren , ja auch dem Aristo-
phanes vertrauten Fassung , darf nun auf Grund des angeführten
Aristophanesscholions unbedenklich die kleine Ilias in Anspruch
genommen werden ; und wenn man dies Resultat mit der An-
gabe des Euripidesscholiasten kombiniert , so folgt weiter , daſs
Helenas Flucht zu einem Heiligtum der kleinen Ilias fremd
war . Und daſs sie auch bei Arktinos nicht vorkam , hat man
mit Recht aus den Worten des Proklos geschlossen : Μενέλαος
δὲ ἀνευρὼν Ἑλένην ἐπὶ τὰς ναῦς κατάγει Δηΐφοβον φονεύσας , die
sonst doch gar zu lakonisch wären .
Während also Helenas Flucht zu Aphrodites Heiligtum dem
Epos fremd ist , scheint sie doch schon vor Ibykos von Stesichoros
in seiner Iliupersis erzählt worden zu sein ; wenigstens ist auf
der tabula iliaca die Begegnung von Menelaos und Helena vor
einem inschriftlich als ἱερὸν Ἀφροδίτης bezeichneten Gebäude
dargestellt S. O. Jahn Griechische Bilderchroniken Taf. I S. 34 . . Das alte dem Epos entstammende Motiv hat aber
Stesichoros keinesweges ganz verworfen , nur überträgt er es mit
feinem Takt auf den rohen Haufen des achäischen Heeres , der
zuerst Helena steinigen will , aber geblendet von ihrer Schönheit
die Steine fallen läſst ( fr. 25 Bergk. schol. Eurip. Orest. 1286 ) .
Von der allergröſsten Wichtigkeit ist es nun , daſs uns diese
von den Lyrikern geschaffene Version des Mythos , wie zuerst
Brizio gesehen , auf einer attischen Trinkschale des fünften
Jahrhunderts begegnet , die in Corneto gefunden sich in dem dor-
tigen Museum befindet , leider aber noch nicht publiciert ist ; s.
Helbig B. d. I. 1875 p. 175. Brizio A. d. I. 1878 p. 62 n. L.
und p. 71 . Die eine Seite zeigt Helena von Menelaos ver-
folgt auf einen Tempel zufliehend , in dem Aphrodite sitzt , ihrem
Schützling die rechte Hand entgegenstreckend ; also abermals ein
sicheres Beispiel von dem Einfluſs der von der Lyrik geschaffenen
Sagenversion auf die bildende Kunst . Und gewiſs liegt auch den ver-
schiedenen Modifikationen , in welchen diese Scene erscheint , keine
weitere Quelle zu Grunde , als die eine von Ibykos und Stesichoros
herrührende Fassung . Ganz spontan geschieht es dann , daſs die
Götter selbst , sei es Aphrodite und Peitho , sei es Athena , per-
sönlich eingreifen und dem Menelaos in den Weg treten ; ganz
spontan ferner , daſs statt des Aphroditetempels das bekann-
teste troische Heiligtum , das des thymbräischen Apollo , als
Zielpunkt von Helenas Flucht erscheint , wie auf einer Wiener
Vase ( Laborde Vases Lamberg II 34 , A. d. I. 1849 tav . d’agg.
D. Overbeck Her. Gall. XXVI 11 ) und dem Bologneser Krater
( M. d. I. X tav. IV ) , oder daſs der athenische Künstler es
seine Göttin , Athena , selbst sein läſst , bei deren Bilde Helena
Rettung sucht und findet , wie wir es auf der Parthenonmetope
und der Vase des Museum Gregorianum sehen . Letzteres Motiv
aber , wenn es einmal erfunden war , mit dem durch poetische und
bildliche Tradition gegebenen Zug , daſs Kassandra zum Palla-
dium flüchtet , zu kombinieren , lag doch sehr nahe ; und so sehen
wir sowol auf dem kythnischen Relief als auf der Vivenziovase
Helena und Kassandra neben einander am Fuſs des Pallasbildes ,
ohne daſs dieser Zug auf den Vorgang eines Dichters , am
wenigsten aber des Lesches , zurückzugehen braucht .
Wenn so für die eine der neu hinzutretenden Episoden
Stesichoros mit Wahrscheinlichkeit als Quelle betrachtet werden
darf , so fehlt uns für die zweite , den heldenmütigen Kampf der
Andromache gegen Menelaos , jeder Anhalt in der Litteratur .
Da sie aber zusammen mit ersterer auftritt , darf es wenigstens
als Vermutung ausgesprochen werden , daſs der Erfinder auch
dieser Episode Stesichoros ist .
Es hat sich also gezeigt , daſs auf der Vivenziovase und
der Brygosschale Episoden des alten Epos und der Lyrik zu
einer einheitlichen Handlung verbunden sind , die in dieser Form
bei keinem Dichter vorlag . Möglich ist dies nur durch eine
solche Zusammenschmelzung der Typen , wie ich sie oben zu
schildern versucht habe . Für die archäologische Exegese erwächst
aber aus dieser Betrachtung die Regel , daſs gegenüber gröſseren
Kompositionen des fünften Jahrhunderts die Frage nach der
poetischen Quelle nur beantwortet werden kann , wenn die ein-
zelnen Elemente der Komposition auseinandergelöst und auf ihre
künstlerische Entwicklungsgeschichte hin genau untersucht worden
sind .
III.
ÜBER AUSWAHL UND ZUSAMMENSTELLUNG BILDLICHER
SCENEN .
Während die früharchaische Kunst in reiner unbefangenster
Freude am Bildwerk Scene an Scene aus den verschiedensten
Sagenkreisen an einander reiht , und es ein ebenso vergebliches
wie verkehrtes , jetzt auch von den Einsichtigen aufgegebenes
Unterfangen ist , in den verschiedenartigen Scenen des Kypselos-
kastens , des amykläischen Thrones oder der Vase des Klitias und
Ergotimos einen geheimnisvollen Faden , eine tiefe Grundidee er-
kennen zu wollen , beobachten wir , wie etwa gegen Ende des
sechsten Jahrhunderts sich das Bestreben geltend macht , die
einzelnen Scenen in eine gewisse Beziehung zu einander zu
bringen . Obgleich auch die monumentale Kunst Beispiele für
die schrittweise Entwicklung der Kunst nach dieser Seite hin
bietet , können wir das allmähliche Erwachen dieses Triebes doch
gerade in der Kleinkunst am besten beobachten ; ich will im
folgenden nur mit dieser und zwar speziell mit der Vasenmalerei
exemplificieren .
Sobald man die alte streifenförmige Anordnung von rings
um den Bauch laufenden Darstellungen aufgegeben hatte und
die Vorder- und Rückseite nur mit je einer Darstellung zu
schmücken begann , ergab es sich ganz von selbst , daſs man
häufig beide Scenen aus demselben Kreise wählte und bald
in eine engere Beziehung zu einander setzte . Vereinzelt findet
sich dergleichen schon auf schwarzfigurigen attischen Vasen .
Bekannt ist die von Friederichs so schön besprochene Amphora
des Berliner Museums , auf deren Vorderseite der Krieger von
Vater und Mutter Abschied nimmt , während auf der Rück-
seite ein Genosse die Leiche des Gefallenen , dessen Helm der
Lorbeerkranz ziert , ins Vaterhaus zurückträgt ( Arch. Zeit . 1861
T. CLVI ) . Ein anderes Beispiel ist die von Ritschl heraus-
gegebene Amphora des Gregorianischen Museums , ( M. d. I. II
Tav . 44 b. A. d. I. 1837 p. 183. s. Ritschl Opusc. I Taf. 1.
S. 788. Panofka , Bild. ant. Lebens XVII 8. 9. , s. die Abbil-
dung In der Darstellung der Vorderseite sind Kopf und Nacken des rechts
sitzenden Mannes ergänzt . auf S. 82 ) , die um so mehr hier etwas eingehender be-
sprochen werden mag , als der erste Herausgeber weder den
Vorgang selbst , noch den köstlichen Humor der Darstellung ver-
standen hat . Auf der Vorderseite sitzen ein paar athenische
Männer auf Stühlen einander gegenüber ; der Ort der Handlung
ist durch einen die Mitte einnehmenden Ölbaum als ein Baum-
garten bezeichnet . Neben jedem der Männer steht eine Amphora
derselben Form , wie das mit der Darstellung geschmückte Ge-
fäſs selbst . Zwischen den Männern steht nach rechts gewandt
ein Hund , den Kopf neugierig , aber ruhig und zutraulich zu dem
Manne rechts erhebend . Dieser ist also offenbar der Fremde ,
der Mann links der Besitzer des Ölgartens und Eigentümer des
Hundes . Dieser Schluſs wird durch die Thätigkeit des letzteren
noch weiter bestätigt ; wir sehen ihn nämlich beschäftigt , ver-
mittelst eines trichterförmigen Hebers eine kleine Quantität Flüssig-
keit , ohne Zweifel Öl , aus der Amphora in eine kleine Lekythos
umzufüllen . Unbegreiflich ist es , wie Ritschl glauben konnte , er
nehme diese Operation vor , um die Masse des in der Amphora
befindlichen Öles , die wieder den ganzen Betrag der gemachten
Ernte repräsentiere , zu bestimmen , und das beigeschriebene Stoſs-
gebet Ὠ Ζεῦ πάτερ αἴϑε πλούσιος γενοί(μαν ) heiſse etwa : „ Gieb
Vater Zeus , daſs sich bei der Messung herausstelle , daſs ich eine
reiche Ernte gemacht habe “ . Die attischen Ölhändler wären wahr-
lich sehr zu beklagen gewesen , wenn sie sich zur Messung von
Philolog. Untersuchungen V. 6
Flüssigkeiten einer so langwierigen Operation bedient hätten , und
obendrein der denkbar unpraktischsten ! Denn wer wird als
Meſsgefäſs ein kleines enghalsiges Fläschchen nehmen , das nur
vermittelst eines Hebers zu füllen ist ? Und überdies , wäre es
nicht ebenso leicht und viel einfacher gewesen , den Kubikinhalt
der Amphora selbst zu bestimmen ? Ich denke , es bedarf nur
eines einfachen Hinweises , daſs nicht eine Abmessung , sondern ein
Ölhandel dargestellt ist . Rechts sitzt der Kauflustige , links der
Verkäufer , der eine Probe des feilgehaltenen Öles in ein kleineres
Fläschchen umfüllt , damit jener die Qualität prüfen könne . Unter-
dessen hat der Käufer einen Stock ergriffen , wie sie zum Ab-
schlagen der Oliven dienen und in jedem Ölgarten herumliegen Sie heiſsen ῥάκτριαι und sind durch ihre Länge und das zugespitzte
Ende leicht von den gewöhnlichen Spazierstöcken der Athener zu unter-
scheiden . Poll. VII 146. X 130. vgl. Stephani C. R. 1872 S. 16 . Den Gebrauch
veranschaulichen Darstellungen , wie Micali Mon. per servire etc. XCII . ,
und neckt damit den Hund des Ölhändlers , während er ihn zu-
gleich mit der vorgestreckten linken Hand an sich zu locken
scheint . Das Stoſsgebet des Verkäufers aber heiſst nichts
anderes als : „ Lieber Vater Zeus , laſs mich ein gutes Geschäft
machen “ .
Auf der Rückseite hat sich die Scene gewaltig verändert .
Der Verkäufer ist aufgesprungen , hat den Stock ergriffen , mit dem
auf der Vorderseite der Käufer gespielt hat , und gestikuliert leb-
haft mit der rechten Hand ; auch sein Hund ist nicht mehr zu-
traulich , sondern bellt mit erhobenem Kopf den Käufer an . Dieser
sitzt da , den Blick auf seine vor ihm stehende Amphora gerichtet ,
während die des Verkäufers verschwunden ist , und scheint mit
erhobenen Fingern zu zählen und zu rechnen . Es ist deutlich ,
daſs sich ein Streit zwischen den Männern erhoben hat , bei dem
sich der Verkäufer leidenschaftlich , der Käufer kühl und besonnen
benimmt . Die Kontroverse können wir aus den erhobenen Fingern
des Käufers und aus den dem Verkäufer beigeschriebenen Worten
erraten : ἤδη μὲν ἤδη πλέον · παραβέβακεν , deren Sinn ziemlich
derselbe bleibt , mag man nun an παραβέβακεν festhalten oder
6*
nach G. Hermann’s G. Hermann , Zeitschrift für Altertumswissenschaft IV S. 847 , dem
Ritschl a. a. O. S. 793 , O. Jahn , Vasensammlung Königs Ludwig S. LXVII
und Kaibel , Epigrammata graeca p. 509 n. 1133 zugestimmt haben . Bedenken
macht nur , daſs der Raum zwischen dem Ν und der Schnautze des Hundes
für einen weiteren Buchstaben doch sehr klein erscheint und daſs auch Herr
Dr. Maaſs , der auf meine Bitte die Beischriften einer erneuten Revision
unterzogen hat , keine Spur eines solchen entdecken konnte , was bei der vor-
trefflichen Erhaltung der übrigen Buchstaben doch sehr befremdlich ist . Es
muſs unter diesen Umständen auch zweifelhaft bleiben , ob G. Hermann mit
Recht in den Beischriften katalektische jambische Trimeter gesehen hat .
Den auffälligen dorischen Dialekt neben der Form des vermag ich nicht zu
erklären . scharfsinniger Vermutung (ἀ )π̕ ἄρα βέβακεν
lesen . Im ersten Falle heiſsen die Worte : „ Das Gefäſs ist schon
voll , es ist schon daneben gegangen “ nämlich das zugemessene
Öl , das in dem übervollen Gefäſse keinen Platz mehr findet :
in dem zweiten Falle wird man zu übersetzen haben : „ meine
Rechnung ist also gemacht , meine Verpflichtung erfüllt “ . In
jedem Falle also handelt es sich um die Frage der richtigen
Messung ; während der Verkäufer hoch und teuer versichert ,
seinen Verpflichtungen nachgekommen zu sein und richtig oder ,
wenn wir πλέον als Neutrum von πλείων fassen , überreichlich
gemessen zu haben , überrechnet der Käufer mit den Fingern die
Zahl der χόες , er πεμπάζει . Es scheint , daſs er die fünf Finger
der rechten und drei der linken ausstreckt : acht χόες hat er
kaufen wollen ; ist wirklich richtig gemessen ? Der Beschauer
kann sich jedesfalls des stillen Verdachtes nicht erwehren , daſs
sich der Verkäufer nicht bloſs auf den lieben Vater Zeus ver-
lassen , sondern selbst nachgeholfen habe Ritschl nimmt an , daſs auf der Rückseite die Männer den Platz ge-
wechselt haben ; die Darstellung zeige die Erfüllung des Gebetes auf der Vorder-
seite : die Messung habe so viel Öl ergeben , daſs der Besitzer des Ölgartens
zufrieden den Ertrag überrechne , und sein Genosse ihm zurufe : ecce quantum
tua iam exspectatio non expleta , sed adeo superata sit . Richtiger erkannten
G. Hermann und Panofka , daſs beide Male die Männer an derselben Stelle
erscheinen . Auch daſs es sich um einen Ölkauf handele , entging dem klaren
Blick G. Hermanns nicht . Nur hielt er irrtümlich den rechtssitzenden Mann
für den Hausherrn und Besitzer des Ölgartens ; den links für den Käufer . .
Während hier bei den Genredarstellungen zwei bedeutende
Momente derselben Handlung zusammengestellt sind , begnügt man
sich bei den mythologischen Darstellungen meist damit , Scenen
desselben Sagenkreises zusammenzustellen . So finden wir , um
nur einige beliebig herausgerissene Beispiele namhaft zu machen ,
einmal den Tod des Troilos auf der Vorderseite , den Tod des
Astyanax und des Priamos sowie die Wiedergewinnung der
Helena auf der Rückseite Gerhard , Etrusk. u. campanische Vasenbilder T. XXI . . Die Wiedergewinnung der Helena
allein finden wir bald mit dem Parisurteil Vgl. oben Kap. II S. 56 . , bald mit der Über-
gabe des kleinen Achill an Cheiron Auf einer Vase des Pamphaios , früher bei Campana , jetzt im Louvre ,
s. Brunn , Künstlergeschichte II S. 725 n. 20. Löschcke a. a. O. S. 7 . , ihren Raub einmal mit dem
Zweikampf zwischen Menelaos und Paris S. oben Kap. II S. 56. Arch. Zeit . 1851 T. 30 . zusammengestellt .
Während so die Ansätze zu dem Bestreben , inhaltlich zu-
sammengehörige Scenen zu verbinden , schon in der schwarz-
figurigen Vasenmalerei sich finden , kommt dasselbe in der strengen
rotfigurigen Vasenmalerei zu vorwiegender Geltung , wenn auch
nicht gerade zu ausschlieſslicher Herrschaft . W. Klein Euphronios S. 45 . Den weiteren Aufstellungen des Verfassers und
namentlich seiner Unterscheidung von „ kyklischer “ und „ antithetischer “ Kom-
position bin ich freilich auſser Stande zu folgen . hat
mit Recht betont , wie gerade die Schalenmaler sich dieses Prin-
cipes mit Vorliebe bemächtigten und es weiter ausbildeten , so
daſs sie zuletzt auch in einzelnen Fällen das Innenbild zu den
Auſsenbildern in Beziehung setzten . Es galt also , die alten
bildlichen Typen zu diesem neuen Verfahren zu verwenden ;
Auf der Vorderseite messe letzterer das gekaufte Öl aus der vor dem Haus-
herrn stehenden Amphora in die vor ihm selbst stehende ab — was doch
billig Sache des Verkäufers wäre — ; in der zweiten Scene sei das Ge-
schäft vollendet ; der Kaufmann stehe reisefertig da und , während der Haus-
herr den Gewinn berechne , sage ihm der Kaufmann , schon sei die Amphora
voll , jenem bleibe also noch viel zu verkaufen übrig , und so sei der Wunsch
des Verkäufers , reich zu werden , erfüllt . Das Gezwungene dieser Auffassung
springt von selbst in die Augen .
dies that man auf dreifache Weise . Entweder wurde einfach
durch Erweiterung des alten Typus , durch Hinzufügen von Neben-
figuren und dergleichen , eine zweite meist gleichzeitig gedachte
Scene geschaffen , oder es wurden zwei verschiedene , demselben
Sagenkreis angehörige Typen zusammengestellt , oder endlich zu
dem alten Typus wurde als Pendant eine ganz neue Scene aus
demselben Mythenkreise zum ersten Mal bildlich gestaltet .
Das erste Verfahren befolgt z. B. Euphronios bei seiner
Geryoneusvase Mon inéd. publ. par la société française de l’ Institut arch. pl. 16—17.
Wiener Vorlegebl. Ser. V T. 3. Klein a. a. O. S. 27 . . Während die Vorderseite das alte Schema des
Zweikampfes zeigt , wird auf der Rückseite die Herde des
Geryoneus , die auch bereits auf dem Kypseloskasten und einer
chalkidischen Vase Gerhard A. V. 105. 106 . neben den Kämpfenden dargestellt war ,
durch Iolaos und andere Genossen des Herakles weggetrieben .
Ähnlich verfährt derselbe Euphronios mit dem Troilostypus Gerhard A. V. 124—126. Wiener Vorlegebl. Ser. V T. 6. Klein a. a. O.
S. 79 . Den dort gemachten Versuch , die einzelnen Troer in der Rüstungs-
scene der Rückseite zu benennen , halte ich nicht für glücklich . .
Schon die um Rücksicht auf Zeit und Ort unbekümmerte archaische
Kunst hatte sowol mit dem Typus der Flucht als dem der Tötung
des Troilos die zur Hilfe herbeirückenden Troer vereinigt ; dies
ist der Fall auf der Vase des Klitias und Ergotimos ( M. d.
I. IV 55 ) ; auf der Vase bei Gerhard ( A. V. III 223 ) ist der Kampf
bereits entbrannt , und auf der Münchener Hydria ( M. d. I. I. 34 )
beschieſsen die troischen Bogenschützen und Lanzenkämpfer von
Ilions Zinnen den Achilleus , während in dem Thore das Ge-
spann des zu Hilfe eilenden Hektor erscheint . Euphronios , der
strenger an Zeit und Ort sich bindet , trennt die Troer ab und
benutzt sie zu einer eigenen der Darstellung der Vorderseite
gleichzeitig gedachten Scene ; während dort Achilleus den Troilos
zum Altar schleift , sehen wir auf der Rückseite die Troer sich
rüsten . In ähnlicher Weise wird der Typus des Ringkampfes
von Peleus und Thetis bei seiner Verwendung zum Schmuck
der Schalen erweitert . Schon in der archaischen Kunst werden
symmetrisch neben der Hauptgruppe fliehende Nereiden ange-
bracht ; ja dieselben gehören vielleicht schon zum ursprünglichen
Typus . Jetzt wird die Zahl derselben erheblich vermehrt und
auch auf die Rückseite ausgedehnt , wo als Zielpunkt ihrer Flucht
in der Regel Nereus dargestellt ist . So auf der frühen Schale
im britischen Museum , wo auſser den fliehenden Nereiden auch
Hermes als Träger eines göttlichen Befehls an Nereus auf der
Rückseite erscheint Br. Mus. 828 * , Gerhard A. V. III 178—179 . Overbeck VII 4 . , ferner auf den Trinkschalen des Duris Im Louvre , früher Campana IV 702. Wiener Vorlegeblätter Ser.
VII 2 .
und des Hieron O. Jahn , Vasensamml . König Ludwigs 369. Wiener Vorlegebl. Ser. A.
Taf. I . . Den Endpunkt der Entwickelung repräsen-
tiert dann die attische Schale aus Kameiros Journal of philology 1877 t. A. , auf welcher um
das den Ringkampf darstellende Innenbild herum ein Bilder-
streifen mit fliehenden Nereiden läuft , während auf der Auſsen-
seite die Zweikämpfe des Herakles mit Kyknos und des Dio-
medes mit Aineias dargestellt sind , Kämpfe , die beide das mit
einander gemeinsam haben , daſs der intervenierende Gott , hier
Ares dort Aphrodite , von dem siegreichen Kämpfer selbst an-
gegriffen wird .
Beispiele für das zweite , wie wir oben schon sahen , be-
reits der schwarzfigurigen Vasenmalerei geläufige Verfahren ,
Zusammenstellung zweier demselben Sagenkreise entnommener ,
oft inhaltlich eng zusammengehöriger Darstellungen sind sehr
häufig ; und zwar werden sowol die alt überlieferten als die
erst kürzlich entstandenen Typen in dieser Weise gruppiert .
So stellt Hieron einmal das Parisurteil mit dem Raub der
Helena Gerhard , Trinkschalen und Gefäſse I 11. 12. Overbeck X 4 , XIII 3.
Wiener Vorlegebl. Ser. A Taf. V . , ein ander Mal den Raub der Helena mit deren
Wiedergewinnung durch Menelaos zusammen Gazette archéologique 1880 pl . 7. 8. . Brygos hat eine
Vase mit lauter auf attische Lokalmythen bezüglichen d. h. also
erst im fünften Jahrhundert entstandenen Darstellungen ge-
schmückt Gerhard , Trinkschalen und Gefäſse Taf. A B. A. d. I. 1850 tav . d’agg. G.
Welcker , Alte Denkmäler III T. XII. Wiener Vorlegebl. Ser. VIII T. 2 ,
zuletzt besprochen von Heydemann Iliupersis S. 11 und Urlichs d . Vasen-
maler Brygos S. 3 . . Das Innenbild zeigt Poseidon und Aithra Diese Deutung scheint mir durch den Vergleich mit Gerhard A. V.
T. XII gesichert . Die jetzt beliebte , auf Panofka ( Arch. Zeit . 1850 S. 187 ) und
O. Jahn ( bei Heydemann a. a. O. S. 12 ) zurückgehende Deutung auf Poseidon
und Salamis steht im Zusammenhang mit der im Texte zurückgewiesenen
Deutung der einen Seite auf den Kychreus-Mythos . , das
Auſsenbild die Entsendung des Triptolemos auf der einen ,
die Sage von der Erichthoniosschlange und den neugierigen
Kekropstöchtern auf der anderen Seite . Denn daſs diese von
Gerhard Gerhard a. a. O. S. 20 . angedeutete Erklärung das Richtige trifft , kann zwar
ein Blick auf das Bild lehren , mag aber , da dieselbe von ihrem
Entdecker selbst aufgegeben , von Andern einer ernstlichen Prü-
fung nicht wert gehalten und jetzt sogar fast vergessen ist ,
hier ausführlicher erörtert worden .
Am rechten Ende der Darstellung erblicken wir eine riesige
Schlange , die mit weit aufgerissenem Rachen sich eilig nach
links fortzubewegen scheint . Ihr gewaltiger Leib zieht sich unter
dem Henkel hin , greift sogar noch weit in die Darstellung der
Rückseite ein und endet erst zwischen dem jugendlichen Krieger
( Eumolpos ) und dem Mädchen mit den Fackeln ( Hekate ) in
einen spitzen Schweif . Hinter dem Jüngling steht ein vier-
eckiger Gegenstand , der wohl füglich nichts anderes sein kann ,
als ein Kasten , welcher doch mit dem Auszug des Triptolemos
in keine auch noch so entfernte Beziehung gebracht werden
kann . Da nun überdies der Leib der Schlange an einer Stelle
durch diesen Kasten verdeckt wird , so ist es , meine ich , klar ,
daſs Schlange und Kasten zusammen gehören und daſs wir uns
nach der Intention des Künstlers die Schlange aus dem Kasten
herauskommend denken sollen . Schon dieser eine Umstand
würde ausreichen , die Deutung auf Erichthonios zu sichern . Vor
der Schlange her laufen , offenbar von ihr verfolgt , zwei Mädchen
mit Blumen in den Händen , die neugierigen Kekropstöchter
Herse und Aglauros . Ihnen entgegen eilt mit besorgten Ge-
bärden die Hände ausstreckend ein drittes Mädchen Pandrosos ;
in dem Gemach , aus dem sie herauskommt , sitzen neben einan-
der ein bärtiger Mann und ein noch etwas knabenhaft aussehen-
der Jüngling . Dieser streckt , wie Pandrosos , den heranfliehenden
Mädchen beide Arme entgegen , jener erhebt erstaunt und er-
schrocken die Hand . Der Mann ist der Vater Kekrops , der
Jüngling sein Sohn Erysichthon , den sich also Brygos und viel-
leicht auch die Volkssage bei diesem Ereignis noch lebend
denkt . Ich glaube , daſs damit den Anforderungen , die man an
die Probabilität einer Deutung stellen kann , hinreichend genügt
ist , auch wenn wir über das eine oder das andere Detail keine
Aufklärung geben könnten . Schwierigkeiten machen nämlich die
stilisierten Blüten , welche die beiden Mädchen in den Händen
tragen , und die Ranken und Palmetten , welche von dem Hals
und Leib der Erichthoniosschlange auszugehen scheinen . Dieser
Umstand veranlaſste O. Jahn zu der Annahme , daſs die Mädchen
beim Blumenpflücken von der Schlange überrascht worden wären
und daſs wir es mit einer im Übrigen spurlos untergegangenen
Version des Kychreus-Mythos zu thun hätten . Indessen scheint
es mir die weitaus naheliegendste und einfachste Annahme , daſs
die Erichthoniosschlange von Zweigen und Blumen überdeckt in
der Kiste lag und daſs die Mädchen neugierig die Zweige auf-
hoben und nun noch in den Händen halten . In der Litteratur
kann ich diesen Zug freilich augenblicklich nicht nachweisen ;
aber sollten in einer so einfachen Sache wirklich litterarische
Nachweise für nötig erachtet werden ?
Der dritte der oben aufgezählten Fälle , freie Erfindung
eines Pendants zu einem alten Typus , ist weitaus der seltenste :
er stellt an das Erfindungsvermögen des Künstlers die gröſsten
Anforderungen . Ein sicheres Beispiel dafür glaube ich in einer
Schale desselben Malers Brygos anführen zu können Mon. e. Ann. d. Inst. 1856 T. XIV. Wiener Vorlegebl. Ser. VIII
Taf. 3. Vgl. Heydemann a. a. O. S. 10. Urlichs a. a. O. S. 4. . Die
eine Seite zeigt das Parisurteil nach dem bekannten Typus ;
hingegen ist die Darstellung der anderen Seite ( vgl. d. neben-
stehende Abbildung ) ohne jede Analogie und hat der Deutung
bisher groſse Schwierigkeiten gemacht ; unter allen Erklärungs-
versuchen hat der letzte von Urlichs den meisten Beifall gefunden ,
doch will mir scheinen , daſs ihm sehr gewichtige Bedenken ent-
gegenstehen , wenn auch Urlichs gewiſs recht daran thut , eine
enge Beziehung zu der Darstellung der Vorderseite zu postulieren .
Der Vorgang im allgemeinen ist auf den ersten Blick klar ;
zwei Gestalten treten in ein Gemach ein , wo ihr Erscheinen
groſses Erstaunen und groſse Aufregung hervorruft . Urlichs’
Verdienst ist es erkannt zu haben , daſs der erste dieser Männer ,
der eiligen Schrittes freudig eintritt , dieselbe Figur sein muſs ,
wie die Hauptperson der Vorderseite , Paris , und daſs Brygos
dies durch die im allgemeinen gleiche Gewandung , ionischen
Chiton und Himation , und vor allem durch das ganz gleiche
Scepter , daſs er in der Hand trägt , angedeutet hat . Schwieriger
ist das Urteil über die ihm folgende , leider zum gröſsten Teil er-
gänzte Gestalt , welche die rechte Hand auf seine Schulter legt und
ihn vorwärts zu schieben scheint . Nicht einmal das läſst sich mit
Bestimmtheit sagen , ob wir eine Frau oder einen , wie Paris , mit
ionischem Chiton bekleideten Mann vor uns haben . Wenden
wir uns zu den im Gemach befindlichen Personen . Die Haus-
herrin — denn als solche bezeichnet sie der Schleier wie ihre
ganze Erscheinung — ist von ihrem Sessel , auf dem sie noch
eben dem spinnenden Mädchen gegenüber gesessen hat , auf-
gesprungen , eilt dem eintretenden Paris entgegen und reicht
ihm die Hand , die dieser freudig ergreift . Der Hausherr hin-
gegen , der durch Scepter und Diadem gekennzeichnet hinter
seiner Gattin steht , hebt erstaunt die rechte Hand und scheint
noch unschlüssig , welchen Empfang er dem Ankömmling zu teil
werden lassen soll . Zwei weibliche Figuren schlieſsen links die Dar-
stellung ab , die erste , mit einer Haube bekleidet , sitzt auf einem
Stuhle und spinnt ; sie blickt , ohne sich in ihrer Arbeit unter-
brechen zu lassen , die Eintretenden an . Ganz anders ist das
Gebaren des zweiten Mädchens . Sie will — wie die Richtung
ihrer Füſse zeigt — das Gemach verlassen , aber noch einmal
wendet sie den Kopf zurück und streckt mit einer Gebärde des
Abscheus und Entsetzens die Arme gegen Paris aus . Es sind
also sehr verschiedene Empfindungen , welche das Eintreten des
Paris bei den im Gemache Anwesenden erregt : helle unverhohlene
Freude bei der Hausfrau , Zweifel und Bedenken bei dem Haus-
herrn , Neugierde bei dem einen , Entsetzen bei dem zweiten
Mädchen . Urlichs sieht den Moment dargestellt , wo Paris von
Aineias geleitet in den Palast des Menelaos eintritt , eine Scene ,
für welche die moderne Archäologie eine unbegreifliche Vorliebe
hat , während sie der antiken Kunst fast völlig fremd geblieben
ist und das aus guten Gründen . Die Frau also ist nach Urlichs
Helena , der Mann Menelaos , die Dienerinnen Elektra und Pan-
thalis , oder auch die Schwester der Helena , Timandra , und eine
Dienerin Euopis ( nach der Hieronvase ) . Aber ist es denkbar ,
daſs jemals ein antiker Künstler , und nun gar ein Künstler
des fünften Jahrhunderts , diesen Vorgang so dargestellt habe ?
Wie kann Helena , mag auch die Liebesleidenschaft beim Anblick
des Paris noch so jäh und mächtig in ihr auflodern , so aller
Sitte und Scham vergessen , daſs sie aufspringt und dem Fremd-
ling die Hand reicht — dem Fremdling , dessen Namen und
Herkunft sie noch nicht einmal kennt , — denn man weiſs
doch , daſs eine Handreichung bei den Griechen ganz etwas
anderes ist , als bei uns , daſs sie nicht etwa eine conven-
tionelle Form der Bewillkommung , sondern eine Liebkosung ist ,
die sich nur nahe und lange Befreundete erweisen . Und nun
vergleiche man die Haltung der Helena auf anderen Darstellungen
des fünften Jahrhunderts , z. B. auf den beiden Hieronvasen mit
dem Raub der Helena , man beachte , wie sie dort scheu und fast
züchtig dem Verführer folgt , und man wird zugeben müssen ,
daſs ihr Gebaren auf dieser Vase dem antiken Beschauer nicht
naiv , sondern unanständig erschienen wäre . Nicht minder an-
stöſsig ist aber auch das Benehmen des vermeintlichen Menelaos .
Wie sonderbar muſs es jeden Griechen berühren , daſs er den
Fremdling nicht bewillkommt Wie Urlichs aus der Haltung des angeblichen Menelaos schlieſsen ; welche Verletzung der Pflicht
der Gastfreundschaft ; denn er kann doch jetzt noch nicht wissen ,
welche Gefahr ihm der Ankömmling bringt . Und ist es ferner
erhört , daſs fremde unbekannte Ankömmlinge statt in den
Saal in das Frauengemach geführt werden ? denn dieses ist
doch auf der Vase wie durch die arbeitenden Mädchen so
namentlich durch die an der Wand hängende Haube der
Hausfrau deutlich genug charakterisiert . Seltsam muſs es auch
berühren , Aineias und Paris ohne Waffen ohne Reisehut in
der Fremde umherirren zu sehen , während wir beide auf
den sicheren älteren Darstellungen vom Raub der Helena ent-
weder in völliger Rüstung , oder mit Petasos und Schwert oder
Lanze An der ausländischen Kleidung und den Lanzen erkennt der ältere
Miltiades die Dolonker als Fremde . Herodot VI 35 ὁρέων τοὺς Δολόγκους
παριόντας ἐσϑῆτα ἔχοντας οὐκ ἐγχωρίην καὶ αἰχμὰς προσεβώσατο καί σφι προσ-
ελϑοῦσι ἐπηγγείλατο καταγωγὴν καὶ ξείνια . finden . Und nun gar das Gebaren der einen „ Diene-
rin “ . Sie muſs mit übernatürlichem Scharfsinn begabt sein ,
um gleich beim ersten Anblick dem Paris anzumerken , daſs er
gekommen ist , ihre Herrin zu entführen . Diesen Bedenken
gegenüber wird wohl die Urlichs’sche Deutung aufzugeben sein .
Nicht in den Palast des Menelaos , sondern in sein Vaterhaus
tritt hier Paris ein . Seine Mutter Hekabe eilt ihm freudig ent-
gegen ; Priamos aber steht zweifelnd . In ihm kämpft die Vater-
liebe mit der Furcht vor dem Schicksalswort , daſs Paris ihm
und seinem Volk Verderben bringe . Die beiden Mädchen sind Töchter
des Priamos . Unverkennbar ist Kassandra , die , da sie Paris zurück-
kehren und jetzt das Verderben gewiſs sieht , das Gemach ver-
lässt mit allen Zeichen des Schreckens und Entsetzens . Das
spinnende Mädchen ist nicht näher charakterisiert . Möglich , ja
wahrscheinlich , daſs Brygos hier Polyxena darstellen wollte , deren
Gestalt in anderen Sagen am meisten ausgebildet und deren
Tod eng mit Ilions Fall verknüpft ist . Die Gestalt aber , welche
hinter Paris schreitet und ihn ins Vaterhaus zurückführt , ist
Niemand anders , als Aphrodite selbst ; Brygos hat ihr mit Absicht
kann , daſs er „ mit königlicher Würde die Pflicht des Gastfreundes übe “ , ist
mir unverständlich .
dieselbe Gewandung gegeben , wie auf der Vorderseite beim
Parisurteil . Um den Preis der Schönheit zu erlangen , hat ihm
Aphrodite den Besitz der Helena versprochen ; die notwendige
Vorbedingung dazu ist die Rückkehr ins Vaterhaus , und so
sehen wir Aphrodite selbst ihn unter ihrem göttlichen Schutz ins
Vaterhaus zurückgeleiten .
Mit der uns geläufigen Vorstellung von des Paris Rückkehr
ins Vaterhaus stimmt diese Darstellung nun freilich nicht . Wir
haben uns einmal gewöhnt , die Fassung der Sage , wie sie im
attischen Drame vorlag , für alt und ursprünglich zu halten . Allein
es läſst sich leicht erkennen und soll unten ( s. den Excurs : die
Jugend des Paris ) ausführlich bewiesen werden , daſs die Sage
von Paris Aussetzung und Wiedererkennung vielleicht erst im
fünften Jahrhundert erfunden , jedenfalls aber dem Epos fremd
ist . Brygos aber folgt natürlich der epischen Fassung der Sage .
Daſs es nun Brygos selbst war , der diese Scene zuerst künst-
lerisch gestaltet hat und zwar eben in der Absicht sie als Gegen-
bild zum Parisurteil zu verwenden , schlieſse ich zunächst aus dem
Umstand , daſs dieselbe sowol auf schwarzfigurigen wie auf rot-
figurigen Vasen sonst völlig fehlt und überhaupt nur auf dieser
Vase vorkommt . Doch gebe ich das Trügerische dieser Argumen-
tation zu , obgleich bei der Fülle der zu Tage gekommenen
Vasen vorausgesetzt werden darf , daſs uns die meisten wirklich
populären und verbreiteten Typen vorliegen . Allein mehr Gewicht
glaube ich auf folgende Erwägung legen zu sollen . Die Dar-
stellung ist einmal eminent dramatisch und einheitlich und zeichnet
sich weiter dadurch aus , daſs alle sechs Personen vortrefflich cha-
rakterisiert sind und keine derselben entbehrt werden kann ; bei
Typen jedoch , die schon früher entstanden , aber erst im fünften Jahr-
hundert im dramatischen Sinne umgestaltet sind , pflegt entweder
diese Einheit zu fehlen , oder das Einfügen der Flickfiguren fühl-
barer zu sein . So hängen doch bei der Entführung der Helena
die Schwestern und die Alten oder auf der andern Vase Aphrodite
und Peitho viel loser mit der Haupthandlung zusammen , als hier
Kassandra und Polyxena . Jene kann man unbeschadet wegnehmen ,
man stellt dadurch nur den ursprünglichen Typus in seiner Ein-
fachheit her . Daſs aber die Scene der Brygosschale je in kürzerer
Gestalt , etwa nur aus Paris , Aphrodite , Priamos und Hekabe be-
standen habe , ist schwer zu glauben . Hätte sie aber aus mehreren
Figuren schon in der archaischen Kunst bestanden , so wäre der
einheitliche Charakter im Vergleich mit anderen archaischen
Werken , z. B. der Amphiaraosvase , auffallend . Es kommt hinzu ,
daſs der Vorgang an sich zu unbedeutend ist , zu wenig sagen-
stofflich Interessantes , zu wenig wirkliche Handlung enthält ,
um die archaische Kunst zu interessieren ; mit einem Wort , daſs
er eben erst durch die Zusammenstellung mit dem Parisurteil be-
deutsam wird .
Noch augenfälliger ist das Verfahren bei einem Krater des
Hieron , weil sich hier die Elemente , aus denen die neue Scene
gebildet wird , mit Wahrscheinlichkeit nachweisen lassen . Ein
bekannter und beliebter Typus stellt die Gesandtschaft an Achilleus
vor ; er besteht aus fünf Figuren , Achilleus Phoinix Diomedes
Aias und Odysseus . Auf einem kleinen aus Attika stammenden
Aryballos des Berliner Museums Dieselbe wird zusammen mit einer kleinen aus Boiotien stammenden
schwarzfigurigen Vase , die nur die beiden Hauptfiguren Achilleus und Odysseus
zeigt , in dem laufenden Jahrgang der Arch. Zeit . von mir veröffentlicht
werden . , die uns wahrscheinlich den
Typus in seiner reinsten und ursprünglichsten Gestalt repräsen-
tiert , sitzt Achilleus zwischen Aias und Odysseus , während
Diomedes und Phoinix mit einander sprechen . Auf dem be-
kannten Krater des Louvre M. d. I. VI 21 , vgl . Thanatos S. 4. Die von Luckenbach a. a. O.
S. 619 als β besonders aufgezählte Vase ist zweifellos mit diesem Krater
identisch . Der Beschreiber hat den verhüllten Achilleus für weiblich gehalten
und als Penelope erklärt . ist als Gegenstück zu dieser
Scene ein alter Typus , die von Thanatos und Hypnos getragene
Leiche des Sarpedon , also eine bald darauf folgende Episode der
Ilias gewählt . Hieron M. d. I. VI tav. XIX. vgl. oben S. 58 . hingegen schafft sich selbst ein neues
Gegenstück , die Veranlassung des ganzen Konfliktes , die Weg-
führung der Briseis ; er bedient sich dazu eines alten , aber für
eine andere Scene geschaffenen Typus , der Darstellung des Raubes
der Helena . An Stelle der Helena setzt er Briseis , an Stelle
des Aineias den einen Herold , Talthybios . An Stelle des Paris
müſste also Eurybates treten ; da ihm aber die im Typus ge-
gebene Haltung des Paris , die Art , wie er Helena an der Hand
faſst und den Kopf nach ihr umwendet , für einen Herold nicht
geziemend erscheinen mochte , so setzt er an Stelle des zweiten
Herolds Agamemnon selber , wobei ihm , wie Brunn ( A. d. I. 1858
p. 375 ) scharfsinnig hervorhebt , die Iliasstelle Α 184
ἐγὼ δέ κ̕ ἄγω Βρισηΐδα καλλιπάρῃον
αὐτὸς ἰὼν κλισίηνδε , τὸ σὸν γέρας
zu statten kam . Was in der Ilias nur gedacht wird , ist hier
als wirklich geschehen angenommen und dargestellt , bekannt-
lich eine öfter beobachtete Erscheinung Das bekannteste Beispiel ist die von Aischylos im Anschluſs an
Χ 551 erfundene Wägung von Hektors Leichnam , die aus Aischylos in spätere
Kunstdarstellungen eindringt , vgl. Kap. IV . . Nun hatte aber
Hieron für die eine Seite nur drei , für die andere fünf
Figuren . Um die Symmetrie herzustellen , nimmt er aus der
Gruppe πρεσβεία die eine Figur , den Diomedes , auf die andere
Seite hinüber , und es wird nun diesem die Haltung des
Aineias gegeben ; so schreitet nun Diomedes hinter Talthybios
her , dreht aber den Kopf zu der Gruppe der anderen Seite
zurück und leitet so die Aufmerksamkeit des Beschauers zu
der Rückseite über , wo ja in der That das Zelt des Achilleus ,
freilich in einem späteren Moment , als Ort der Handlung voraus-
zusetzen ist . Von dieser Darstellung der Hieronvase ist nur noch
ein Schritt zu der Trinkschale des britischen Museums Br. Mus. 831. Gerhard , Trinkschalen und Gefäſse Taf. E. F. Over-
beck , Her. Gall . XVI 3 . , auf
welcher mit der Gruppe der von zwei Herolden weggeführten
Briseis der trauernd dasitzende und von Diomedes und Phoinix ge-
tröstete Achilleus , also Elemente aus dem Typus der πρεσβεία , zu
einer Scene vereinigt sind .
Schon das allmähliche Aufkommen solcher Zusammenstel-
lungen von Scenen muſs uns davor warnen , eine allzu sehr zu-
gespitzte Pointe , eine gar zu feine Beziehung in die Auswahl
und Gruppierung der Darstellungen zu legen . Wie ja überhaupt
das Gesuchte und Zugespitzte dem einfachen und schlichten
Geist des fünften Jahrhunderts widerspricht , so dürfen wir am
wenigsten tiefe und versteckte Gedanken bei schlichten attischen
Werkmeistern voraussetzen .
Anders lautet das Urteil von Brunn . Nach seiner An-
schauung , die er vor kurzem im dritten Heft seiner Troischen
Miscellen ( Ber. d. bayer. Akad. d. Wissenschaften 1880 S. 167 f. )
ausführlich dargelegt hat , haben die Vasenmaler in der Auswahl und
Zusammenstellung der Scenen einen Tiefsinn und einen Gedanken-
reichtum entwickelt , wie Pindar in seinen Oden und die Tragiker
in ihren Chorgesängen ( s. Brunn a. a. O. S. 185 ) teils wirklich teils
nach der Meinung einer jetzt glücklich überwundenen Interpre-
tationsmethode gezeigt haben . Wir werden von Brunn belehrt :
erstens S. 184 , daſs „ die Vasenmaler nicht jede beliebige Scene
des troischen Krieges ( und also doch auch der übrigen Sagen-
kreise ) darstellten , selbst wenn dieselbe an sich in der Schilde-
rung eines epischen Dichters die Elemente für eine künstlerische
Konception darbot , sondern in ähnlichem Sinn wie die Tragiker
mit Umsicht und im Hinblick auf die Gesamtentwicklung des
Sagenkreises dasjenige auswählten , was über die äuſsere Gestal-
tung der Darstellung hinaus der Phantasie eine reichere Anre-
gung bot “ oder , wie der Lehrsatz an einer anderen Stelle S. 186
in kürzerer Formulierung lautet , „ daſs nur Kern- und Knoten-
punkte der Sage in der älteren und mittleren Vasenmalerei eine
typische Geltung erlangt haben “ . Wir lernen zweitens S. 185 ,
daſs derselbe feine poetische Sinn auch in der Verbindung ver-
schiedener Scenen auf einem und demselben Gefäſse in nicht ge-
ringerem Maſse vorauszusetzen ist , daſs dabei nicht etwa reine
Willkür , sondern ( wenigstens bei sorgfältiger ausgeführten Ge-
fäſsen ) ein einheitlicher zusammenfassender Grundgedanke maſs-
gebend war , daſs zwar ausnahmsweise auch die Scene der einen
Seite die fast unmittelbare Fortsetzung der anderen bildet , daſs
aber in den weitaus meisten Fällen der Zusammenhang nicht in
dem Stofflichen des Inhaltes , sondern in poetischen Beziehungen
Philolog. Untersuchungen V. 7
anderer Art zu suchen ist , Beziehungen , bei denen es sich zu-
meist um dieselben einfachen Gesetze der poetischen Analogie
handelt , nach denen Pindar und die Tragiker die Thaten , Schick-
sale und Situationen ihrer Helden durch verwandte Thaten ,
Schicksale und Situationen in ein helles Licht zu setzen lieben .
Das Beobachten dieser beiden Grundsätze ist das Merkmal der
„ höheren , mit klassischem Ausdruck als divinatio bezeichneten
Kritik “ ; der niederen Kritik , die auch S. 185 als banausischer
Standpunkt bezeichnet wird , gehen sie ab . Da hier von hoch-
angesehener Seite Anschauungen vertreten werden , die den in
diesen Abhandlungen niedergelegten Beobachtungen diametral
entgegengesetzt sind , da sie auſserdem direkt an eine gegen
mich gerichtete Polemik anknüpfen , so kann ich nicht umhin ,
sie hier einer eingehenden Prüfung zu unterziehen . Es wird
dabei , da bei so total verschiedenen Grundanschauungen eine
Verständigung kaum zu hoffen ist , wenigstens eine scharfe Prä-
zisierung des Gegensatzes herauskommen .
Es wird sich empfehlen zuerst mit Brunns zweitem Lehrsatz
zu beginnen , auf dessen systematische Behandlung er freilich
vorläufig verzichtet hat , für den er aber einige Beispiele anführt .
Hier wo uns greifbare Resultate vorgelegt werden , dürfen wir
hoffen , für den Wert der höheren Kritik durch eingehende
Prüfung derselben den besten Maſsstab zu finden . Beginnen wir
mit der von Brunn im Anhang unter dem Titel „ eine Achilleis “
besprochenen ( jetzt im Louvre befindlichen ) Trinkschale des Duris Fröhner , Choix de vases grecs pl. 2— 4. Wiener Vorlegebl. Ser. VI
Taf. 7. .
Das Innenbild stellt Eos mit der Leiche des Memnon dar , auf
beiden Auſsenbildern ist je ein Zweikampf , beide Mal in Gegen-
wart zweier Götter , dargestellt . Die einzelnen Figuren sind durch
Beischriften bezeichnet . Hier dringt Aias unter dem Beistand
der Athena mit langem Speer auf Hektor ein , der auſs Knie
gesunken ihm das Schwert zu seiner Verteidigung entgegen-
streckt , während Apollo bereits zu seinem Schutze herbeieilt .
Dort flieht Alexandros vor Menelaos . Artemis steht auf Seiten
des Alexandros , hinter Menelaos kommt eiligen Schrittes eine
Göttin herbei , sie allein von allen Figuren der Vase ohne Na-
mensbeischrift . Sie ist mit Haube , Chiton und Himation beklei-
det , in der linken Hand hält sie eine Blume , mit der Rechten
faſst sie die rechte , das Schwert haltende Hand des Menelaos , als
wolle sie dieselbe festhalten und am Stoſs verhindern , ein Um-
stand , den Brunn übersehen hat . Zwei Kämpfe der Ilias also ,
und zwar obendrein die beiden einzigen Zweikämpfe , die auf Grund
gegenseitiger Herausforderung inmitten der beiden zuschauenden
Heere stattfinden , die beide nicht zu Ende gekämpft , sondern
in dem Augenblick unterbrochen werden , als sich das Glück des
Kampfes auf Seiten des Achäers neigt . Bedarf es für solche Zu-
sammenstellung noch einer besonderen Rechtfertigung ? ist aber
nicht damit auch alles gesagt , was Duris durch diese Paralleli-
sierung ausdrücken wollte ? Ich weiſs nicht , ob die höhere Kritik
diese beiden Zweikämpfe der Ilias für Kern- und Knotenpunkte
der Sage hält , die der Phantasie eine reichere Anregung dar-
bieten . Brunn spricht sich darüber nicht aus , da er aus anderen
Gründen die Deutung verwirft ; freilich basiert dieselbe auf den
zweifellos echten und intakten Namensbeischriften , „ aber “ , so
sagt Brunn , „ in einem Kunstwerk muſs in erster Linie das , was
sich in den künstlerischen Motiven klar ausspricht , für die Er-
klärung bestimmend sein , und kein beigefügter Name vermag
die Bedeutung einer in klaren Zügen dargestellten Handlung zu
verändern , auf unserer Vase aber sind “ , meint Brunn , „ die
Unterschiede , die wir in den Zweikämpfen des Aias mit
Hektor und des Menelaos mit Paris bei Homer finden , so be-
deutend , daſs es auch bei der Annahme des gröſsten Maſses
künstlerischer Freiheit nicht mehr möglich ist , in den beiden
Bildern eine Darstellung der durch die Beischriften bezeichneten
homerischen Scenen anzuerkennen . Andererseits kommen wir
immer mehr davon zurück , wo eine solche Übereinstimmung fehlt ,
zu dem Auskunftsmittel zu greifen , daſs eben der Maler einer
anderen , uns nicht mehr zugänglichen Version gefolgt sei . Denn
diese andere Version würde hier im Grunde einer Vernichtung
der Substanz der homerischen Dichtung gleich kommen . Das
7*
für den vorliegenden Fall im Einzelnen nachzuweisen “ , so schlieſst
Brunn , „ halte ich für überflüssig , genug , daſs eine Deutung der
Bilder auf Grund der Inschriften nicht möglich ist . “ Ich kann
mich diesen Sätzen gegenüber darauf beschränken , auf die
treffenden Bemerkungen von Luckenbach a. a. O. S. 517 zu
verweisen , der richtig und schön zeigt , wie die Darstellung in
allem Wesentlichen allerdings mit der Ilias übereinstimmt , und
mehr als eine Übereinstimmung im Wesentlichen haben wir bei
Kunstwerken des fünften Jahrhunderts überhaupt nicht zu er-
warten . Hinzuzufügen ist nur , daſs Duris sehr mit Absicht dem
Hektor ein groſses , recht in die Augen springendes Schwert ge-
geben hat . Es ist dasselbe , das nach dem Zweikampf Aias als
Geschenk erhält und mit dem er sich später den Tod giebt . Es
wäre also doch nicht so ganz überflüssig gewesen , wenn Brunn
uns im einzelnen nachgewiesen hätte , warum eine Deutung der
Bilder auf Grund der Inschriften nicht möglich sei . Bis jetzt
scheint mir dieser Nachweis noch nicht erbracht , während die
Unhaltbarkeit der in den troischen Miscellen aufgestellten neuen
Erklärung ohne groſse Mühe gezeigt werden kann . Diese neue
Deutung sieht in den Bildern der Auſsenseite hier den Kampf
des Achilleus mit Kyknos , dort den mit Hektor dargestellt ,
diesen im Beisein von Thetis und Artemis , jenen im Beisein von
Athena und Apollo . Hierdurch treten die Darstellungen der Auſsen-
seite in Zusammenhang mit dem Innenbild und „ die Verherrlichung
des Achilles in seinen drei berühmtesten Kämpfen ist also das Grund-
thema , das gewissermaſsen in trilogischer Gliederung entwickelt
wird “ oder auch „ zu den beiden Auſsenbildern als Strophe und
Antistrophe wird das Innenbild als Epode hinzugefügt . “ Und die-
selben Kämpfe habe ja auch Pindar Ol. II. 145 zusammengestellt ;
gewiſs , und auch Isthm. IV. 49 , nur daſs dort noch Telephos hinzu-
kommt . Bei dieser Auffassung wird nur ganz auſser Acht gelassen ,
daſs die Gegenwart der Götter auf seiten des Fallenden und
des Fliehenden jedem Beschauer die Garantie für die Rettung
der Bedrohten giebt ; denn die dem Tode unrettbar Verfallenen
verläſst der Gott (λίπεν δέ μιν Φοῖβος Ἀπόλλων ) . Allein Kyknos
und Hektor fallen doch beide . Ganz unmöglich endlich ist die
Deutung der unbenannten Göttin auf Thetis ; wie sollte sie dazu
kommen , den Achill an der Tötung des Kyknos zu verhindern ?
Und noch ein Wort über die voreilige Annahme falscher
Namensbeischriften . Wenn man auf dem banausischen Stand-
punkt steht , in den attischen Vasenmalern βάναυσοι , freilich solche
des fünften Jahrhunderts zu sehen , die aus ihrem Homer und
der ganzen bunten Heldensage mit freier Hand schöpfen , ohne
viel nach geheimen Bezügen zu fragen , so wird mans begreifen ,
daſs auch einmal , wenn auch verhältnismäſsig selten , eine falsche
Namensbeischrift mit unterläuft In den sehr seltenen Fällen , wo falsche Namensbeischriften sicher
nachgewiesen sind , hat es damit meist seine eigene Bewandnis . Wenn auf der
bekannten Amphora ( Raoul Rochette M. I. LXXI 2 , Overbeck Her. Gall. XIII 7 )
die Namen und vertauscht sind , so erklärt sich
das aus dem gleichen Aussehen der drei ersten Buchstaben . Verschreibungen
wie statt ( Stephani Compte rendu pour l’ année 1877
V , 6 ) , die ebenso gut auf ein Versprechen oder Verhören zurückgeführt
werden könnten , begegnen uns Allen auch heute . . Wenn man aber dem attischen
Vasenmaler eine geistige Thätigkeit zuschreibt , wie dem tragischen
Dichter bei Abfassung einer Trilogie , so ist es mir völlig unbe-
greiflich , wie überhaupt den Figuren falsche Namen beigeschrieben
werden konnten . Denn entweder schreibt der Maler selbst die
Namen : wie ist es dann möglich , daſs er seine eigenen tiefen
Gedanken vergessen hat ? Oder er läſst sie durch einen Ge-
hilfen schreiben : dann frage ich aber , wie kommt dieser zu
total falschen Bezeichnungen und wie ist es möglich , daſs ein
Maler vom Schlage des Duris es zuläſst , daſs die Schöpfungen
seines poetischen Sinnes durch die Dummheit und Nachlässigkeit
eines Gehilfen vernichtet werden Auf diese Frage wird uns auch in den Troischen Miscellen II S. 95
( Sitzungsber. d. bayer. Akad. 1868 ) keine Antwort zu teil , wo es heiſst :
„ Wir werden wenigstens als möglich zugeben müssen , daſs zuweilen eine
fremde Hand die Inschriften hinzufügte , wenn es sich nicht etwa gar noch
heraustellen sollte , worauf einzelne Spuren hindeuten , daſs es in den gröſseren
Fabriken besondere Schriftmaler gab , wie heutzutage neben den Kupferstechern
besondere Schriftstecher . Dadurch aber waren dem Irrtum und den Miſs-
verständnissen die Wege hinlänglich geebnet . “ ? Warum schult und beauf-
sichtigt er auch seine Leute nicht besser . Es ist doch gerade
so , als wenn Sophokles es zulieſse , daſs sein Schauspieler in der
Rolle des Aias die Maske des Herakles aufsetzte . Über diesen
Punkt also erwarte ich Aufklärung von der höheren Kritik ; denn
ich für meine Person könnte mir ein solches Versehen , nur aus
einem ganz heimtückischen Charakterzug des Duris erklären ,
der Vexierrätsel für die attischen Epheben bei ihren Symposien
und für die höheren archäologischen Kritiker bei ihren Übungen
malen wollte .
Das zweite Monument , auf das die höhere Kritik angewendet
wird , ist die Iliupersis des Brygos S. oben Kap. II S. 61—71 . . Der unbefangene Be-
trachter glaubt in dem Innenbild nur eine hübsche Erfindung des
Malers vor sich zu haben , eine Kredenzscene , wie sie für die
Dekoration der Trinkschale so besonders paſst . Hier hat Brygos
Briseis und einen Alten gewählt , der durch keine Namensbei-
schrift bezeichnet ist . Am wahrscheinlichsten ist es , daſs Phoinix
gemeint ist , denn die aufgehängten Waffen deuten auf Krieg
und werden am einfachsten als Andeutung eines Zeltes gefaſst ,
und Briseis wird man sich ja auch am liebsten im Zelt des
Achilleus vorstellen . Heydemanns Deutung ( Iliupersis S. 27 ) auf
Peleus wäre ja an sich möglich , und wenn der Name bei-
geschrieben wäre , müſsten wir uns mit ihr zufrieden geben , wo-
bei es ganz gleichgültig ist , ob dieser Zug irgendwo in der
Litteratur vorkommt oder nicht ; genug , daſs Brygos sich ge-
dacht hätte , daſs Briseis zuletzt nach Phthia zum Peleus kommt .
Da aber der Name nicht beigeschrieben ist , so liegt es näher ,
sich Briseis da zu denken , wo sie die poetische Tradition und
die Volksvorstellung zunächst kennen , im Zelt des Achilleus . Also
Phoinix und Briseis hat Brygos hier als Innenbild gewählt , aber
ebenso gut hätte er Achilleus und Briseis oder Neoptolemos
und Hermione oder Menelaos und Helena oder jeden beliebigen
troischen Heros mit seiner Gattin , Geliebten oder Mutter dar-
stellen können . Zu der Aufsenseite , der Darstellung der Iliu-
persis , steht also das Mittelbild nur insofern in einer laxen
Beziehung , als die Personen demselben Sagenkreis entnommen
sind . So denkt der unbefangene Beschauer von seinem banau-
sischen Standpunkt aus , die höhere Kritik aber erkennt ver-
mittelst der ihr innewohnenden divinatio , daſs Briseis dem
Peleus die Geschichte von Ilions Untergang erzählt ; und „ was
sie erzählt , das sehen wir in dem Aufsenbilde wirklich darge-
stellt , und da Briseis es ist , welche es schildert , so tritt zu-
gleich vor unsere Phantasie die Gestalt des Achilles , der zwar
an dem Schluſse der Katastrophe nicht selbst , sondern nur durch
seinen Sohn teil nahm , aber das Ende durch seine früheren
Thaten vorbereitet hatte . So erweitert sich die Darstellung der
Schale des Brygos von einer Iliupersis zur Idee einer ganzen und
vollen Ilias “ . Man wird nicht umhin können , den Scharfsinn ,
der das Alles aus der einfachen Figur eines einschenkenden
Mädchens mit der Beischrift Briseis herausliest , zu bewundern ,
auch wenn man nicht gerade den Standpunkt des Malers be-
neiden wird , der sich die bedenklichste und zweischneidigste
Aufgabe gewählt hat , eine Erzählungsscene zu malen . In der
That , wenn wirklich die attische Kunst im fünften Jahrhundert
sich über die Aufgabe der Malerei so unklar war , so kann
ich sie nur bedauern . Den Ausdruck der Erzählenden , den
Eindruck des Erzählten wiedergeben , das kann und soll die
Kunst und thut es in der bei ihr so beliebten Darstellung
der Botenberichte , aber den Inhalt des Erzählten , den muſs
der Zuschauer erraten , und ich glaubte immer , daſs die gute
Kunst so wenig wie möglich zu erraten übrig lassen sollte .
Wie liebenswürdig war nicht das Bild des Brygos , Briseis
mit der ganzen Anmut eines attischen Mädchens schenkt dem
Phoinix oder auch meinetwegen dem alten Peleus ein . Nun
aber soll ich mir auf einmal vorstellen , daſs das Mädchen
etwas erzählt — wovon ich durchaus Nichts sehe , denn weder
spricht das Mädchen noch hört der Alte ; ich soll mir aber auch
vorstellen , was es erzählt , die Zerstörung Ilions und , wenn ich
die Schale umkehre , sehe ich Episoden dieses Vorgangs darge-
stellt ; noch mehr : bei dem Namen Briseis soll ich an Achilleus
denken ; und was soll ich nicht Alles ! welch ein Gewirr von
halbfertigen Vorstellungen ist an Stelle des einheitlichen Bildes
getreten ; doch wahrlich nicht das Bild einer ganzen und vollen
Ilias , sondern unklare Reminiscenzen . Warum muſste auch Brygos
mir eine ganze Geschichte erzählen wollen , was er doch nimmer-
mehr vermag ; und warum muſste mir , da ers wenigstens so
that , daſs man es nicht merkte , die höhere Kritik über seine
Gedanken die Augen öffnen .
Ich kann diesen Gegenstand nicht verlassen , ohne um sichere
Feststellung der Indicien zu bitten , an denen man erkennen kann ,
wann wir uns vorzustellen haben , daſs im Innenbild erzählt wird ,
was auf den Auſsenbildern dargestellt ist , und wann nicht . Soll
ich mir z. B. denken , daſs auf der Theseusschale des Euphronios
Theseus der Amphitrite die Abenteuer erzählt , die wir auf der
Auſsenseite dargestellt sehen , oder daſs auf der Eurystheusvase
desselben Meisters die Hetäre dem athenischen Mann den Mythos
vom Herakles erzählt , oder auf der Satyrvase des Duris Chry-
sippos der Zeuxo von dem Satyrspiel an den letzten Dionysien
oder Achilleus der Diomede von seinen jugendlichen Reitübungen
in Phthia ? Denn was sind diese Deutungen anders als die ein-
fache Konsequenz jener neuen Erklärung der Brygosschale ?
Vom Standpunkte dieser höheren Kritik aus bestreitet nun
Brunn auch die zuletzt von mir ( Thanatos S. 7 ) vertretene
Deutung der Darstellung des Pariser Kraters M. d. I. VI 21. vgl. J. Lessing de mortis apud veteres figura p. 39.
Luckenbach a. a. O. S. 619 . auf den von
Hypnos und Thanatos getragenen Sarpedon und hält an seiner
eigenen , früher aufgestellten Deutung auf Memnon A. d. I. 1858 p. 372 s . fest . Ich
bekenne allerdings geglaubt zu haben , daſs Brunn seine damalige
Argumentation längst aufgegeben habe , und ein näheres Eingehen
auf die Einzelnheiten derselben nicht mehr am Platze sei ; da er
aber zu meiner Überraschung noch heute an derselben festhält
und sogar die Geltung als höhere Methode für dieselbe bean-
sprucht , so nötigt er mich , das Versäumte nachzuholen .
Auf dem schon oben ( S. 95 ) gelegentlich erwähnten Krater
ist auf der einen Seite die Gesandtschaft an Achill , auf der andern
die von Hypnos und Thanatos getragene Leiche eines Kriegers
dargestellt . Brunn erklärt also , daſs der Künstler nicht zwei un-
mittelbar auf einander folgende Scenen vereinigt habe , — dies
geschehe überhaupt selten — sondern sich durch die poetische
Analogie habe leiten lassen .
Der „ Grundgedanke “ der Vase wird nun folgendermaſsen
entwickelt :
L’ ecceſso dell’ ira del Pelide richiama sopra di se la
vendetta divina ; non vien espiata , se non colla morte del di-
vino eroe .
Brunn mag es mir verzeihen , wenn ich ihn schon hier unter-
brechen muſs : „ Das Übermaſs des Zornes des Peliden ruft die
göttliche Rache wach ? “ Wie seltsam ! Waren es nicht die Götter
selbst , die ihn zum Zürnen aufgestachelt und in seinem Groll
unterstützt haben ? Hat nicht Athena selbst zu ihm gesagt , als
er den Agamemnon töten wollte Α 211 :
ἀλλ̕ ἤ τοι ἔπεσιν μὲν ὀνείδισον ὡς ἔσεταί περ ,
ὧδε γὰρ ἐξερέω , τὸ δὲ καὶ τετελεσμένον ἔσται ·
καὶ ποτέ τοι τρὶς τόσσα παρέσσεται ἀγλαὰ δῶρα
υβριος εἵνεκα τῆςδε · σὺ δ̕ ἴσχεο , πείϑεο δ̕ ἡμῖν .
Hat ihm nicht seine Mutter , die zukunftskundige Thetis , selbst
geboten Α 421 :
ἀλλὰ σὺ μὲν νῦν νηυσὶ παρήμενος ὠκυπόροισιν
μήνι̕ Ἀχαιοῖσιν , πολέμου δ̕ ἀποπαύσεο πάμπαν .
Hat nicht Zeus selbst durch das Versprechen , den Troern Sieg
zu geben , sich mit Achills Handlungsweise einverstanden erklärt ?
Und irgend eine Aufforderung , im Groll nachzulassen , hat doch
weder Zeus noch Athena noch Thetis ihm zugehen lassen . Und
nun sollen es die Götter selbst sein , die über ihn wegen des
Zornes göttliche Strafe erhängen ; also der Rat seiner Mutter
Thetis selbst ist es , der ihm den Zorn und die Strafe der Götter
zugezogen hat ; und doch hat sie auch , als die Gesandschaft der
Achäer kommt , keine Warnung und keinen Rat für ihren Sohn .
Ist dies nicht in der That seltsam ? Aber noch seltsamer ist die
zweite Behauptung , daſs nur Achills Tod die Götter versöhnen
könne , das heiſst also doch , daſs sein Tod die Strafe für die μῆνις
sei . Hätte also Achilleus auf das Bitten der Gesandten nach-
gegeben , so wäre er leben geblieben ? Dies ist wenigstens neu .
Bisher glaubte man , aus den verschiedenen Stellen der Ilias , die
vom Tod des Achilleus sprechen , wenigstens das eine als fest-
stehenden Zug herauslesen zu sollen , daſs ihm ein kurzes Leben
beschieden sei und daſs er vor Troja fallen müsse . Die einzelnen
Liedersänger lassen ihn mehr oder weniger genaue Kunde davon
haben (Α 352 , Φ 110 , 275 ) ; einmal wird auch hervorgehoben ,
daſs er durch die Heimkehr nach Phthia dem frühen Tode ent-
gehen könne ( 410 ) , ein ander Mal , daſs ihm bestimmt sei , unmittel-
bar nach Hektor zu fallen , und sehr schön wird Achill dadurch
in den Konflikt gestellt , entweder den Freund ungerächt zu lassen
oder die Rache mit dem eigenen Leben zu erkaufen (Σ 95 ) ; allein
daſs der Zorn gegen Agamemnon dem Achill das Leben kostet ,
das habe ich niemals bei einem alten Dichter gelesen und bin
sehr gespannt , die Quellen , aus denen diese für Sagengeschichte
so wichtige Entdeckung stammt , kennen zu lernen . Bisher nahmen
selbst diejenigen Forscher , welche an einem einheitlichen Grund-
gedanken der Ilias festhalten zu sollen glaubten , doch nur an ,
daſs Achill , nachdem er durch Zurückweisung der angebotenen
Versöhnung strafbar geworden sei , durch den Tod seines theuersten
Freundes für die Maſslosigkeit seines Grolles büſse S. Nitzsch Sagenpoesie der Griechen S. 87 u. 259 . . Ob dies
wirklich die Auffassung der epischen Dichter war , was bekannt-
lich mehr als fraglich ist Vgl. Bonitz Über den Ursprung der homerischen Gedichte S. 19 . , dies zu erörtern ist hier nicht der
Ort . Es genügt zu konstatieren , daſs , wenn von einer Buſse des
Achilleus im Epos überhaupt die Rede sein kann , dieselbe in
dem Tod des Patroklos und nicht in dem eigenen Tod des
Achilleus besteht . Doch hören wir weiter :
Potea dunque l’artista , per iscogliere il tragico nodo , rap-
presentar quella morte steſsa , ma ha preferito a fecondare , per
così dire , la fantasia dello spettatore col richiamar alla mente
l’ultimo fatto d’ Achille , la vittoria sopra Memnone : fatto fatale
che avea per conseguenza immediata la propria morte . Ma
nemmeno questa vittoria steſsa l’artista ci ha voluto mettere in-
nanzi agli occhi . Caduto Memnone vittima dell’inesorabile fato ,
egli rientra per così dire ne’ diritti accordatigli per la sua nas-
cita divina coll’ eſsere chiamato a nuova vita . Nè ciò che fu
conceſso a lui fu negato al suo avversario , eguale a lui di
nascita . E così vedendo Memnone tralle braccia del Sonno e
della Morte ci si presenta alla nostra fantasia pure l’immagine
del Pelide , che dopo aver adempiuto il suo fato vien traspor-
tato al soggiorno de’ beati , l’isola Leuce .
Also der Künstler hätte der Darstellung von Achills Wider-
stand gegen die Gesandtschaft den Tod des Achilleus gegenüber-
stellen können , d. h. in Brunns Sinne : der Schuld die Strafe .
Aber ein solches Verfahren wäre zu banausisch gewesen , es hätte
„ der Phantasie über die äuſsere Gestaltung der Darstellung hinaus
keine reichere Anregung geboten “ . Also wählt er die letzte
Heldenthat des Achilleus , auf die sein Tod unmittelbar folgt , die
Besiegung des Memnon ; aber auch diesen Kampf selbst stellt er
nicht dar , auch das hätte der Phantasie noch nicht genug An-
regung gegeben , sondern die Leiche des Memnon in den Armen
von Schlaf und Tod . Mit diesem meisterhaften Griff regt er
nun die Phantasie des in die höhere Kritik eingeweihten Be-
schauers zu einer ganzen Reihe von Vorstellungen an , denn derselbe
sieht mit den Augen die Leiche des Memnon , im Geist aber noch
viererlei 1 ) zurückgreifend : den Kampf zwischen Achilleus und
Memnon , 2 ) vorgreifend : den Tod des Achilleus , 3 ) die Er-
weckung des Memnon zu neuem Leben , denn wie troisch. Misc.
III p. 133 ausgeführt wird , „ wenn die beiden Dämonen vielleicht
auf das Geheiſs des Zeus durch Hermes oder Iris zur Stelle ge-
rufen die Überführung nach Äthiopien besorgen , so ist damit
nicht nur eine äuſsere Verherrlichung des Helden gegeben ,
sondern wir sind durch das Wunderbare dieser Errettung auf
das Weitere noch Ungewöhnlichere vorbereitet , daſs Zeus auch
dem Memnon die Unsterblichkeit verleiht “ , 4 ) endlich erinnert
man sich vermöge des Gesetzes der poetischen Analogie , daſs
auch Achill auf die Insel der Unsterblichen geleitet werden
wird . Dies Alles liest man , wie gesagt , vermittelst der höheren
Methode aus der Darstellung der Rückseite heraus , wenn dort
Memnons Leiche gemeint ist .
Und wenn , wie ich behaupte , Sarpedons Leiche dargestellt
ist ? Dann geschieht das Wunderbare , daſs man die Brunnschen
Sätze fast wörtlich auch auf Sarpedon anwenden kann , mit dem
einzigen Unterschiede , daſs der Grundgedanke dann freilich nicht
mehr die von Brunn aus verborgenen litterarischen Quellen ans
Licht gezogene , sondern die oben angeführte , der Ilias wenigstens
nicht widersprechende und dem Drama geläufige Auffassung ist ,
daſs Achilleus seine Hartnäckigkeit nicht durch den eigenen Tod ,
sondern durch den Verlust des liebsten Freundes büſst . Im
übrigen aber paſst Brunns Ausführung vortrefflich auf Sarpedon :
man höre nur : „ Der Künstler hätte um den tragischen Knoten
zu lösen , den Tod des Patroklos selbst darstellen können ; er
hat es aber vorgezogen , so zu sagen , die Phantasie des Be-
schauers zu befruchten , indem er demselben die letzte Helden-
that des Patroklos , den Sieg über Sarpedon , den Sohn des
höchsten Gottes selbst , ins Gedächtnis rief , die verhängnisvolle
Heldenthat , die zur unmittelbaren Folge den eigenen Tod des
Patroklos hatte . Aber auch nicht diesen Sieg selbst hat uns
der Künstler vor Augen stellen wollen . Als Sarpedon dem un-
erbittlichen Geschick zum Opfer gefallen ist (Ν 441 ) , tritt er
gewissermaſsen in die ihm durch seine Abstammung von Zeus
angeborenen Rechte ein , indem er heroische Ehren genieſst .
Durch die Erinnerung an Patroklos tritt aber auch das Bild
des Peliden vor die befruchtete Phantasie , wir erinnern uns , daſs
das , was dem Sarpedon gebührt , auch dem gröſsern Freund seines
Besiegers , obgleich er nicht von so vornehmer Geburt ist , zu
teil werden wird . Und so stellt sich uns , indem wir Sarpedon in
den Armen von Schlaf und Tod sehen , auch das Bild des Peliden
vor die Phantasie , der , nachdem er sein Schicksal erfüllt hat ,
zum Aufenthalt der Seligen , auf die Insel Leuke , gebracht wird “ .
Nichts liegt mir natürlich ferner , als diese Betrachtung im
Ernste zur Stütze meiner Deutung auf Sarpedon verwerten zu
wollen , obgleich dieselbe vor der Brunnschen wenigstens den
Vorzug hat , daſs sie nicht im Widerspruch mit der Ilias und
mit der Sagenanschauung des gesamten Altertumes steht . Ich
will nur zeigen , daſs Betrachtungen , wie die von Brunn ange-
stellten , sich leicht in jede beliebige Form gieſsen lassen ; gewiſs
der beste Beweis , daſs sie durchaus nur subjektive Geltung be-
anspruchen können . Für mich ist maſsgebend , daſs nur einmal
in der Poesie Thanatos und Hypnos als Träger eines Toten auf-
treten , und zwar des Sarpedon , daſs bei dieser Gelegenheit ihr
Auftreten als etwas ganz besonderes , als eine nur dem Sohne
des höchsten Gottes zu teil gewordene Ehre , von dem Dichter
besonders hervorgehoben wird . Wenn dem gegenüber Brunn
daran festhalten will , daſs diese Einführung auf Volksvorstellung
beruhen müsse , so verstehe ich nicht , wie der Dichter etwas
Gewöhnliches und jedem Toten zu teil Werdendes als eine be-
sondere Auszeichnung hervorheben kann Auch Kekulé ( Deutsche Litteratur-Zeitung 1880 S. 382 ) bezweifelt
„ daſs eine solche vereinzelte dichterische ‘ Erfindung ’ eine derartige Be-
deutung für die bildliche Darstellung erhalten haben könne , ohne daſs sie
eben nur die Verwendung oder sehr leichte Umdeutung eines bereits vor-
handenen mythologischen Substrats gewesen sei “ . Aber was ist denn der
von der gesamten antiken Kunst und zwar schon der archaischen weitaus am
häufigsten dargestellte Mythos , das Parisurteil , anders , als eben solche ver-
einzelte dichterische Erfindung und noch dazu recht jungen Datums , sicher-
lich jünger , als das Sarpedonlied ? Auch kann ich mir kaum vorstellen ,
welcher Art das vom Dichter umgedeutete mythologische Substrat gewesen
sein soll . Soll es wirklich Volksvorstellung gewesen sein , daſs Schlaf und
Tod , zwei Personifikationen abstrakter Begriffe , die Toten in ihre Heimat
tragen ? Wie kommt es denn , daſs dieser Zug sonst nicht wiederkehrt , daſs
Hera erst den Zeus daran mahnen muſs ? Oder tragen sie nach dem Volks-
glauben ihn etwa zu den Inseln der Seligen ? Aber was in aller Welt be-
rechtigt uns , diese Vorstellung , von der sich in Ilias und Odyssee keine Spur
findet , für so alt zu halten ? . Mir scheint , daſs doch
der poetischen Bearbeitung der Sage ein gut Stück eigener Er-
findung zugeschrieben werden muſs , welches von dem eigentlichen
mythischen Gehalt wohl zu trennen ist ; und daſs andererseits die
Ilias den allerdominierendsten Einfluſs auf die Vorstellung des
Volkes geübt hat , wird doch allgemein zugegeben . Ist es dann
aber so wunderbar , wenn ein Zug , den freilich einmal ein ionischer
Sänger mit seiner dichterischen Phantasie geschaffen hat , der
aber seitdem von Mund zu Mund und von Geschlecht zu Ge-
schlecht gewandert ist , auch zuletzt auf Darstellungen des ge-
wöhnlichen Lebens übertragen wird Brunn S. 191 will auch die unklaren Vorstellungen , die bei mir und
anderen über die Bedeutung des Thanatos herrschen , berichtigen , und dem-
selben den ihm abgesprochenen Charakter einer „ mythologischen Persönlich-
keit “ zurückgeben . Unter dieser Bezeichnung scheint Brunn eine im religiösen
Bewuſstsein des Volkes lebende göttliche Persönlichkeit zu verstehen ; ob
mit oder ohne Kult , ist nicht klar . Das Ursprüngliche im Wesen des
Thanatos liegt also nach Brunn — etwa in dem , was der Name sagt , im
Todbringen , im Vernichten ? — weit gefehlt , gerade in seiner Beziehung
zur Bestattung , zur Grablegung . „ Er hat nichts zu thun mit den Seelen der
Abgeschiedenen im Hades , sondern nur mit den Leichen , die er unter die
Erde zu bringen und dem Hades zu übergeben hat . Der unbehagliche
Zwischenzustand zwischen dem Moment des Sterbens und dem bleibenden
Eintritte in die Behausungen des Hades ist das eigenste Gebiet , welches dem
Wirken und der Thätigkeit des Thanatos anheimfällt , über welches sich sein
Wirken aber auch nirgends hinaus erstreckt . “ Ich bedaure nur , daſs Brunn
es für überflüssig gehalten hat anzugeben , wie er sich denn das Verhältnis der
Thanatos zum Hermes ψυχοπομπός denkt , denn bisher hatte man aus Litteratur
und Kunst die Anschauung geschöpft , daſs nach dem religiösen Bewuſstsein
der Griechen es die Sache dieses Gottes sei , die Toten zum Hades zu gelei-
ten ; und was die Bestattung betrifft , so hatte man sich vorgestellt , daſs diese
auch bei den Alten von den Hinterbliebenen , und nicht von Hypnos und
Thanatos , besorgt worden sei . Auch wäre eine Belehrung darüber nicht ganz
überflüssig gewesen , wie es denn kommt , daſs bei Euripides Thanatos noch
über Alkestis verfügen kann , da diese doch nicht nur in aller Form unter
feierlichen Totenopfern bestattet , sondern schon in das Boot des Charon ge-
stiegen ist und , wie V. 850 lehrt , sich bereits im Reich des Hades befindet ,
mit dem nach Brunns eigenen Worten Thanatos nichts zu schaffen hat . .
In dieser Überzeugung können mich auch Brunns weitere
Einwendungen nicht irre machen . Derselbe führt zunächst
gegen meine Deutung die Pamphaiosschale Archaeologia XXIX pl. 16. Gerhard A. V. CCXXI—II . Overbeck Her.
Gall. XXII 14. S. 533 , vgl. Robert , Thanatos S. 9 . an , auf deren
Rückseite Amazonen dargestellt sind — denn dafür erklärt
Brunn die Figuren mit Recht , und ich spreche ihm für seine
Zurechtweisung in diesem Punkt um so lieber meinen Dank ,
je schärfer ich seinen übrigen Aufstellungen entgegentreten
muſs . Daraus folgt aber mit nichten , daſs der Tote der
Vorderseite Sarpedon ist , so wenig als die Rüstungsscene der
Amazonen der Einleitung der Aithiopis entspricht . Freilich
dem modernen Beschauer , der die Aithiopis nur losgelöst
von der Iliupersis aus der Hypothesis des Proklos kennt ,
stellen sich als Inhalt des Gedichtes nur zwei Episoden dar ,
Penthesileia und Memnon . Anders dem antiken Maler , dem das
ganze Gedicht vorschwebte . Das Athen des fünften Jahrhunderts
konnte sich auch schon während des Todes des Sarpedon Ama-
zonen in Troja vorstellen , so gut wie auf einer schwarzfigurigen
Vase beim Kampf um Achills Leiche sein Sohn Neoptolemos
gegenwärtig ist : und gerade Pamphaios und seine Genossen lieben
ja ganz besonders Amazonendarstellungen .
Ferner beruft sich Brunn auf die von mir zuerst veröffent-
lichte Trinkschale im Barbakeion ( s. Thanatos S. 17 ) , auf welcher
in der That der in Rede stehende Typus auf Memnon übertragen
ist . Es habe , sagt Brunn , bisher als Grundsatz in der Archäologie
gegolten , daſs eine in gewissem Grad unvollständige Komposition ,
wie die des am Anfange genannten Campanaschen Kraters nach
der vollständigeren , hier der attischen Schale , zu deuten sei , nicht
umgekehrt . Dem gegenüber muſs ich zunächst die Richtigkeit des
Grundsatzes in solcher Allgemeinheit bestreiten . Die Geschichte der
bildlichen Typen weist vielmehr einen zwiefachen Entwickelungs-
gang auf . Entweder steht an der Spitze eine groſse umfangreiche
Komposition , die bei ihrer Fortbildung vereinfacht wird , indem
einzelne Figuren , ja ganze Gruppen ausgelassen werden ; oder
am Anfang steht eine nur wenige Figuren enthaltende Kompo-
sition , um die sich wie um einen Kern mancherlei andere Ge-
stalten im Laufe der Zeit gruppieren . Beide Fälle sind mindestens
gleich häufig , der letztere für die archaische Kunst der gewöhn-
lichere , wie ich das im zweiten Kapitel hinreichend gezeigt zu
haben glaube . Es ist nun doch klar , daſs die Erklärung für
diesen Fall nicht von der figurenreichsten , deshalb aber inter-
poliertesten , sondern von der einfachsten , den Kern repräsentieren-
den Komposition ausgehen muſs ; das sind aber in unserem Falle
die Pariser Amphora und der Pariser Krater . Die attische
Schale ist eine Kombination des Typus von Memnon und Eos
mit dem Sarpedontypus ; sie zu Grunde legen wäre dasselbe , wie
die Recension eines Schriftstellers auf den interpoliertesten Kodex
gründen . Daſs Übertragungen ähnlicher Art , wie diese , in der
Vasenmalerei vorkommen , wird Brunn selbst nicht leugnen .
Ich nenne nur als ein eklatantes Beispiel die schwarzfigurige
Hydria mit dem Tod des Troilos , auf welcher der Typus von
Neoptolemos und Astyanax für Achilleus und Troilos verwandt
ist M. d. I. I 34. Daſs in der That die Tötung des Troilos und nicht
die des Astyanax gemeint ist , folgt mit absoluter Sicherheit aus dem Umstand ,
daſs die Scene vor der noch aufrecht stehenden und von troischen Kriegern
besetzten Stadtmauer spielt , was bei einer Episode der Iliupersis undenkbar
wäre . Welcker A. d. I. V p. 251. O. Jahn Telephos und Troilos S. 70 . . Ähnlich wird der ( ursprünglich peloponnesische ? ) Typus ,
der die Entführung der Helena durch Theseus darstellt Gerhard A. V. CLXVII . , von
Kachrylion auf Theseus und Antiope übertragen Brit. Mus. Nr. 827. Brunn Künstlergeschichte II S. 702 Nr. 5 ; nicht
publiziert . . Der alte
Typus , Herakles im Amazonenkampf Brit. Mus. Nr. 544. Lenormant et de Witte Él . céram . I 61 u. öfter . , ist auf einer im brit.
Mus. befindlichen Vase Nr. 586 auf den Kampf desselben Heros
mit zwei Kriegern , vielleicht den Molioniden , übertragen .
Allein nicht bloſs wegen der Zusammenstellung mit der
Gesandtschaft an Achilleus weist Brunn die Deutung auf Sarpe-
don zurück , sondern auch weil sie gegen den ersten seiner oben
angegebenen Grundsätze verstöſst . Der Tod des Sarpedon könne
überhaupt nicht dargestellt sein , denn er sei kein „ Kern- und
Knotenpunkt der Sage “ und nur solche „ gewinnen in der älteren
und mittleren Vasenmalerei typische Geltung . “ Der Tod des
Sarpedon sei „ eine rein poetische epische Episode zur Verherr-
lichung des Patroklos “ , welche dessen Geschick „ nur für einen
Augenblick aufhalte , aber ohne eine entscheidende Bedeutung
für den Fortschritt der Handlung “ sei . Der Kampf gegen
Memnon hingegen solle den Achilleus vor seinem Ende noch
einmal im vollen Glanze seines Heldentums zeigen , was nur
dadurch erreicht werde , daſs ihm ein an Geburt , Rang und
Tapferkeit durchaus ebenbürtiger Gegner gegenüberstehe . Vgl. Overbeck Arch . Zeit . 1851 S. 346 . „ In Memnon nämlich tritt
Achill zuerst ein völlig und in alle Wege ebenbürtiger Feind entgegen .
Memnon ist , wie Achill , Sohn einer Göttin , Memnon in vollständiger hephai-
stischer Rüstung , wie sie auch Achill trägt , kurz der Kampf mit Memnon
und seine Besiegung ist so sehr der Glanz- und Höhepunkt aller achilleischer
Groſsthaten , daſs auf sie , da Troia einzunehmen , dem Sohne der Thetis nicht
vergönnt war , nur noch sein tragischer Tod folgen konnte “ .
Unter diesem Gesichtspunkte sei denn auch die Memnonsage in
ihren verschiedenen Phasen , besonders von der Vasenmalerei ,
seit früher Zeit behandelt und reich entwickelt worden . Wenn
es nur nicht auch hier wieder möglich wäre , Brunns Behauptun-
gen einfach umzukehren und zu sagen : das Auftreten des Memnon
sei „ eine rein poetische epische Episode “ , nur bestimmt , Achilleus’
Geschick für einen Augenblick aufzuhalten , aber ohne entscheidende
Bedeutung für den Fortschritt der Handlung , der Kampf gegen
Sarpedon hingegen solle Patroklos vor seinem nahen Ende noch
einmal im vollen Glanze seines Heldentums zeigen , indem ihm der
an Geburt und Rang weitaus vornehmste Held , der auf dem
Schlachtfeld von Troia kämpft , der Sohn des höchsten Gottes
selbst , unterliege . Gerade wenn man eine Betrachtungsweise , wie
die Brunnsche , anwendet , wird man eigentlich mit unerbittlicher
Notwendigkeit zu dieser Konsequenz gedrängt . Denn giebt die
nähere oder weitere Beziehung , in welcher die Ereignisse zu dem
Haupthelden Achilleus stehen , den Maſsstab für ihre Geltung
als „ Kern- und Knotenpunkte der Sage “ ab , wie das doch offen-
bar Brunns Anschauung ist , welcher Abschnitt der Ilias hat
dann mehr Anspruch auf diesen Titel , als die gröſste Heldenthat
seines Freundes Patroklos , die dieser in den Waffen des Achilleus
verrichtet , bei der Zeus selbst nicht hindernd einzuschreiten
wagt , die seinem Tod unmittelbar vorhergeht und das Wieder-
eingreifen des Achilleus in den Kampf sowie seine Versöhnung
mit Agamemnon vorbereitet ? Ohne Sarpedon würde das ganze
Auftreten des Patroklos ohne eigentliche Wirkung sein ; schon
Philolog. Untersuchungen V. 8
das fünfzehnte Lachmannsche Lied ist ohne diese Gestalt schwer
denkbar ; wie will man aber gar ohne sie fertig werden , wenn
man in der Ilias ein einheitliches Gedicht oder , wie Brunn zu
thun scheint , eine auf gemeinsamer poetischer Grundidee auf-
gebaute Reihe von Liedern sieht ? Das Auftreten Memnon’s ist
hingegen in ganz eigentlichem Sinne eine Episode ; denn sie ist
der älteren Sage und der älteren epischen Poesie bekanntlich
völlig fremd ; der Dichter , der Thetis sagen läſst Σ 96
αὐτίκα γάρ τοι ἔπειτα μεϑ̕ Ἕκτορα πότμος ἑτοῖμος
hatte keine Ahnung , daſs erst noch ein weiterer „ an Geburt
Rang und Tapferkeit dem Achill durchaus ebenbürtiger Gegner
auftreten müsse , um jenen vor seinem Ende noch einmal im
vollen Glanze seines Heldentums zu zeigen . “ Als die Mem-
nonsage poetisch gestaltet wurde , müssen die von Patroklos
und Hektors Tod handelnden Lieder der Ilias wesentlich schon in
der Form abgeschlossen vorgelegen haben , in der wir sie lesen .
Denn für jeden einzelnen Zug der Memnonepisode bis zur Psy-
chostasie hinab findet sich bekanntlich in jenem Abschnitt der
Ilias das Prototyp ; der Verfasser des Memnonliedes trägt nur , da
er in der Weise der Nachdichter sein Vorbild noch überbieten will ,
die Farben stärker auf . Anknüpfend an die Bemerkung von Lachmann , daſs die Verse
Π 432—458 , 666—683 das Werk eines Nachdichters seien , hatte ich Thanatos
S. 5 gesagt , es sei möglich , daſs in diesem später hinzugefügten Zug eine
Nachahmung des Memnonliedes vorliege ; niemals ist es mir eingefallen , die
Sarpedonepisode für jünger zu erklären als das Memnonlied . Ich verstehe
deshalb nicht , wie Brunn S. 190 von einer „ plötzlichen Wendung “ und von
einer „ Einschränkung der Koncession auf die Rettung der Leiche des Mem-
non “ sprechen kann , da überhaupt nur von dieser die Rede war . Wie aus
den weiter unten im Text angestellten Erörterungen ersichtlich , bin ich in-
dessen jetzt von dieser Anschauung zurückgekommen und muſs die von Lach-
mann athetierten Verse für ächt und alt halten . In Folge dessen glaube ich
jetzt auch , daſs die Entführung des Memnon durch Eos der Ilias nach-
gebildet ist . Das Alles ist so oft beobachtet und
ausgesprochen , daſs man einen Nachweis im Einzelnen an dieser
Stelle nicht erwarten wird . Daſs aber auch in der späteren Periode
des Epos die Memnonepisode als nicht notwendig zum troischen
Krieg gehörig betrachtet wurde , beweist das Fehlen derselben in
der kleinen Ilias . Wie verträgt sich dies Alles mit ihrer Geltung
als Kern- und Knotenpunkt der Sage ?
Aber auch wer den Wert der troischen Helden nicht nach
ihrer Beziehung zu Achilleus miſst , sondern der Meinung ist ,
daſs sie als selbständige Figuren im Lied der Dichter und in
der Vorstellung des Volkes leben und zum Teil in der letzteren
unabhängig von der Ilias und lange , bevor es troische Sagen gab ,
gelebt haben , auch ein solcher oder vielmehr gerade ein solcher
wird über die Bedeutung des Sarpedon nicht im Zweifel sein , er
wird wissen , daſs diese Gestalt der des Memnon mindestens
gleichberechtigt gegenübersteht , ursprünglich sie sogar an Be-
deutung überragte .
Sarpedon ist der Landesheros des südwestlichen Teiles der
kleinasiatischen Küste , der Landschaften Karien und Lykien ,
ganz in demselben Sinne wie Telephos der von Mysien , Hektor
der der Troas ist , der Geburt nach aber ist er beiden als Sohn
des höchsten Gottes überlegen . Der homerischen Version , die
ihn mütterlicherseits zum Enkel des Bellerophon macht , steht
die hesiodeische Hesiod. fr. XXXIX Marksch . ( schol. Il. Μ 292. schol. ( Eur . ) Rhes. 28. )
Daſs die pragmatisierende Mythenforschung schon im Altertum den Sarpedon
der Ilias von dem gleichnamigen Sohn der Europa unterscheiden zu müssen
glaubt ( schol. Rhes. 28 ) , darf uns in der richtigen Auffassung des Sachverhalts
nicht irre machen . Die Schwierigkeit muſste sich herausstellen , sobald man
die Heroen κατὰ γενεάς ordnete ; aber in der älteren Zeit scheint man unbe-
fangen genug gewesen zu sein , sich mit der Annahme zu helfen , daſs Zeus
seinem Sohne verliehen habe ἐπὶ τρεῖς γενεὰς ζῆν ( Apollod. III 1 , 2 , 3 ) . Vgl .
Weil Revue de philologie IV 145 . gegenüber , die ihm die Europa zur Mutter ,
Minos und Rhadamanthys zu Brüdern giebt . Es kann sein , daſs
das poetische Weiterbildung ist ; wahrscheinlicher aber ist , daſs
diese Version dieselben , ja höhere Ansprüche hat , für die ur-
sprüngliche zu gelten , als die homerische ; jedesfalls ward sie
zur Volksvorstellung ; denn Herodot , ein für karische und lykische
Lokalsagen doch gewiſs im höchsten Grade maſsgebender Ge-
8*
währsmann , knüpft I 173 ( vgl. VII 92 ) an diese Genealogie an
und läſst Sarpedon von seinem Bruder Minos vertrieben nach
Lykien fliehen , wobei , wie aus einer anderen Herodotstelle IV 45
ersichtlich , seine Mutter Europa ihn begleitet Man beachte , daſs auch Telephos nach der älteren Version mit seiner
Mutter nach Mysien kommt . . Veranlassung
zu dem Bruderzwist gab nach Apollodor III 1 , 2 , 3 die Liebe zu
einem schönen Knaben , der nach der einen Version Atymnios , —
auch in der Ilias Name eines Lykiers — nach der anderen
Miletos heiſst . Ausführlich berichtet das Apollodor a. a. O. οἱ
δὲ ( Sarpedon und Miletos ) φεύγουσι καὶ Μίλητος μὲν Καρίᾳ προσ-
σχὼν ἐκεῖ πόλιν ἀφ̕ ἑαυτοῦ ἔκτισε Μίλητον , Σαρπηδὼν δὲ συμμα-
χήσας Κίλικι πρὸς Λυκίους ἔχοντι πόλεμον , ἐπὶ μέρει τῆς χώρας ,
Λυκίας ἐβασίλευσε . Hier erscheint also Sarpedon aufs engste
mit der Gründungssage von Milet verknüpft , und diese An-
schauung muſs als uralt betrachtet werden , auch wenn man die
übrige Fassung der Sage , wozu ich übrigens keine Veranlassung
sehe , für jüngern Ursprungs halten sollte . Ausdrücklich als
Gründer von Milet wird Sarpedon auch von Strabo XII 573 ge-
nannt . Erst von Milet , also von Karien aus , erfolgt die Er-
oberung von Lykien , die er mit seinem Oheim Kilix Die Genealogie : Europa Kadmos Phoinix Kilix als Geschwister und
Kinder des Agenor und der Telephassa bei Apollodor III 1 , 1 , 2 u. A. Ab-
weichend schol. Apoll. B 178 : Phoinix und Kassiopeia sind die Eltern von
Kilix , Phineus , Doryklos ; dieselbe Kassiopeia hatte dem Zeus den Atymnios
geboren . Diese Genealogie stammt offenbar aus der andern Version der
Sarpedonsage , so daſs dort Sarpedon sich mit dem Halbbruder seines Ge-
liebten verbündet , vgl. O. Jahn , Entführung der Europa S. 30 . Die dort
angeführte Stelle des Clemens Romanus homil. V 13 , daſs Zeus in Gestalt des
Phoinix sich der Kassiopeia naht , erinnert aufs augenscheinlichste an den
Alkmene-Mythos ; und gerade einen solchen Lokalmythos in den Teilen des
kleinasiatischen Festlandes , die der Insel Rhodos , der Heimat der Alkmene-
Elektrone , gegenüberliegen , zu finden , ist im Zusammenhang der Beobachtungen
von Wilamowitz über Ἀλεκτρώνα ( Hermes XIV S. 457 ) nicht ohne Bedeutung . gemein-
sam unternimmt . Möglich , daſs es auch gerade diese Sage war ,
welche den Inhalt des aischyleischen Stückes Κᾶρες ἢ Εὐρώπη
bildete Die Auffindung des Papyros Didot , der nach H. Weils scharf- . So steht Sarpedon als eine selbständige , von dem
troischen Sagenkreise ganz unabhängige Gestalt mit seiner
eigentümlichen Genealogie und seinem eigenen Mythenkreise da .
Es ist evident , daſs Sarpedon der ältesten Sage vom troischen
Krieg , d. h. der äolisch-lesbischen Form derselben , fremd ge-
wesen ist ; erst die Ionier Auf sprachlichem Gebiet hat die Sonderung des Äolischen und des
Ionischen in den homerischen Gedichten nach Kirchhoffs Vorgang in muster-
gültiger Weise Hinrichs ( de homericae elocutionis vestigiis aeolicis , dissertat. in-
aug. Berlin 1875 ) vorgenommen ; auf sagengeschichtlichem Gebiete ist die
Scheidung noch vorzunehmen , eine ebenso dringend gebotene wie dankbare
Aufgabe . Auch hier hat Kirchhoff die Wege gewiesen . , vielleicht speziell die Milesier , haben
sinniger Entdeckung einige Verse aus dem Prolog dieses Stückes enthält
hat in der jüngsten Zeit vielfache Besprechungen dieser Tragödie hervor-
gerufen ( vgl. H. Weil Un papyros inédit de la bibliothèque de M. Ambroise
Firmin-Didot in den Monuments grecs publiés par l’ Association pour l’ encourage-
ment des études grecques en France ) . Wenn man , wie Blaſs ( Rh. Mus. XXXV
S. 85 ) mit Weils Zustimmung ( Revue de philologie IV 145 ) thut , Vers 19
Τρώων liest , was dem überlieferten Τρώαν allerdings am nächsten steht , dann
muſs der Inhalt des Stückes , wie Blaſs auch annimmt , die Sorge Europas um
ihren vor Troia kämpfenden Sohn und ihre Klage um seinen Tod gewesen sein ,
dann ist es allerdings , wie derselbe Gelehrte annimmt , auch in hohem Grade
wahrscheinlich , daſs in diesem Stück Thanatos und Hypnos mit der Leiche
des Sarpedon auf der Bühne erschienen , und dann würden wir Brunns Aus-
führungen gegenüber uns einfach begnügen können , ihn auf dieses Stück zu
verweisen ; denn da nach seiner Anschauung die Vasenmaler in der Auswahl
der Stoffe ähnlich verfahren wie die Tragiker , da er sogar meint , daſs die
bekannte Stelle der aristotelischen Poetik über das numerische Verhältnis
der aus der Ilias und aus den „ kyklischen “ Epen geflossenen Dramen „ auch
für die Archäologie ihre tiefe Bedeutung habe “ , so würde die Thatsache ,
daſs die Sarpedonsage dramatisch behandelt worden wäre , und nun obendrein
von Aischylos , hinreichen , seine ganze Darlegung hinfällig zu machen .
Dennoch habe ich im Texte dieses Argument deshalb nicht gebraucht , weil
die Meinung von Blaſs doch immer nur eine Hypothese , freilich die zunächst
liegende und wahrscheinlichste ist , und weil mir die Einwände von Bücheler
( Rh. Mus. XXXV S. 94 ) und Bergk ( ebenda S. 248 ) — mit Ausnahme des
chronologischen , über den ich urteile , wie Weil — doch immer der Erwägung
wert erscheinen . Handelt es sich aber , wie Blaſs und Bücheler meinen , nicht
um den troischen Krieg , so wird man eben an die oben genannten Kriegs-
züge des Sarpedon gegen Lykien denken , das dem Kilix gehört und von
fremden Scharen ( Tlepolemos und seinen Rhodier ? ) bedroht wird ; dann ist
aber auch unbedenklich mit Bergk Τλώων zu schreiben .
als sie die äolische Heldensage übernahmen und weiterbildeten ,
diese ihnen geläufige Figur als Bundesgenossen der Troer ein-
gefügt Sehr merkwürdig ist der siegreiche Zweikampf des Sarpedon mit
dem Herakliden Tlepolemos d. h. dem Vertreter der Dorer auf Rhodos
(Π 628—669 ) , ein Kampf also , wie der Dichter ausdrücklich hervorzuheben
nicht unterläſst , zwischen einem Sohn und einem Enkel des Zeus . Sieht
diese Episode nicht ganz aus , wie eine Lokalsage aus der Südwestecke Klein-
asiens , deren Schauplatz ursprünglich gar nicht Troia , sondern Lykien ist ,
wenn sie auch jetzt unlösbar in den Zusammenhang jenes troischen
Schlachtenbildes hineinverwebt ist ? ; denn was für die Lesbier die Kämpfe mit der Troas ,
das waren für sie die Kämpfe mit den Lykiern und Kariern ;
und beide flossen zu einem groſsen einheitlichen Bilde , dessen
Schauplatz Troia ist , zusammen . Es ist klar , daſs damals mit
Sarpedon auch seine Lykier in die troische Sage aufgenommen
wurden und damals zuerst die Gegner der Griechen als Τρῶες καὶ
Λύκιοι καὶ Δάρδανοι ἀγχιμαχηταί zusammengefaſst wurden ; und
gewiſs war es auch damals , daſs der Hauptfluſs Lykiens , Xanthos ,
seinen Namen hergeben muſste , um als zweiter bei den Göttern
gebräuchlicher Name des Skamandros zu dienen So Hercher , Homerische Aufsätze S. 37 Anm. 4 , von dessen Auffassung
ich nur insofern abweiche , als ich die Einführung des Doppelnamens Xan-
thos nicht als das willkürliche Spiel eines Nachdichters , sondern als notwen-
dige Konsequenz des oben geschilderten Vorgangs der Sagenentwicklung
oder vielmehr Sagenverschmelzung ansehe . . Es bedarf
übrigens kaum der ausdrücklichen Versicherung , daſs dieser
sagengeschichtliche Vorgang lange vor die Entstehung der uns
erhaltenen Gedichte fällt , daſs also die Sänger Sarpedon und
seine Lykier bereits als integrierenden Bestandteil der Sage über-
nahmen .
Als eine ächt volkstümliche Gestalt wird Sarpedon endlich durch
den ihm geweihten religiösen Kult erwiesen . Das Σαρπηδόνειον
bei Xanthos bezeugt Appian ( bell . civ. IV 78. 79 ) ; gerade dieser
Umstand aber , daſs man in Lykien das Grab des Sarpedon be-
saſs , während die Sage die Gräber der übrigen vor Troia ge-
fallenen Helden in die Troas selbst setzt , wird wohl den ionischen
Sänger zu der singulären Erfindung veranlaſst haben , daſs Schlaf
und Tod die Leiche des Sarpedon vom Schlachtfelde weg nach
Lykien tragen .
Aus ganz anderm Holz ist Memnon . Vergebens sieht man
sich nach einem Volksstamm um , der ihn als seinen Heros ver-
ehrt Daſs später , vielleicht schon im 6. Jahrhundert , Memnon zum Re-
präsentanten der Bewohner des inneren Asiens , zuerst der Assyrer und später
der Meder wurde , so daſs Aischylos seine Mutter ( Eos ? ) geradezu als eine
Kissierin bezeichnen konnte ( Strabo XV 728 ) , hat mit der älteren Sagen-
anschauung natürlich nichts zu schaffen . Ebenso wenig kommen die später
an verschiedenen Lokalitäten vollzogenen Taufen auf den Namen des durch
die Poesie berühmt gewordenen Helden hier in Betracht . Sein Grab verlegt
noch Simonides ( bei Strabo a. a. O. ) nach Syrien ; das Grab in der Troas ,
welches die spätere Zeit kennt , verdankt aber , wie vieles andere , der erst auf
dem Boden des ausgebildeten Epos erwachsenen Lokallegende seine Ent-
stehung ( Strabo XIII 587. Paus. X 31 , 6. Aelian hist. anim. V 1 ) . , vergebens nach einem Mythos , in dem er auſserhalb
des Ramens des troischen Krieges handelnd auftritt . Fern im
Osten an den Grenzen der bewohnten Erde , wo die fabel-
haften Aithiopen wohnen , ist er zu Hause ; ein Sohn der Eos ,
ein Märchenprinz vom Scheitel bis zur Sohle . Ganz eigentlich
für den troischen Krieg erfunden unterscheidet er sich sehr
wesentlich von den in der Sage selbst wurzelnden Heldengestalten .
Und diese Erfindung fällt obendrein in eine sehr späte Periode
der Sagenentwickelung . Der Boden , auf dem sie entstanden , ist
die bereits poetisch sehr ausgebildete Sage . Schon oben ist
gelegentlich darauf hingewiesen worden , daſs für die Memnon-
sage eine Reihe von Liedern unserer heutigen Ilias die Voraus-
setzung bilden ; und das sind keineswegs bloſs so alte Bestand-
teile , wie der Auszug und Tod des Patroklos , sondern auch so
junge , wie die Ὁπλοποιΐα . Ja die ganze Einführung des Memnon
setzt zu ihrer Motivierung die augenscheinlich späte Genealogie
des troischen Königsgeschlechtes aus Υ 215—240 voraus . Dort
heiſst Tithonos , der Gemahl der Eos , den diese entführt hat
( gerade wie in den Vorstellungen anderer Stämme , den Kleitos ,
Kephalos , Orion ) , Bruder des Priamos . Gewiſs ist es ein sinn-
reicher Einfall , daſs der aus diesem Ehebündnis entsprossene
Sohn aus dem Fabelland des Ostens den bedrängten Vettern in
der zehn Jahre lang belagerten Stadt zu Hilfe kommt , aber ein
Einfall , wie er nur auf dem Hintergrunde eines vollständig
poetisch durchgebildeten Sagenkreises entstehen konnte , ein
rechter Einfall eines Epigonen . Und recht epigonenhaft ist
es auch , daſs die Dichtung nicht mehr im Stande ist , neue
Motive zu erfinden , sondern nur die alten Motive in gesteigerter
Form bei dieser ihrer jüngsten Schöpfung wiederholt , wobei
allerdings die märchenhaften Übertreibungen dem Fürsten aus
dem Wunderlande sehr gut zu Gesichte stehen . Wenn so Hektor
und Sarpedon , ja Achilleus selbst die Farben herleihen müssen ,
ist es freilich kein Wunder , daſs das schlieſslich zustande ge-
kommene Bild eines der prächtigsten und blendendsten des
ganzen troischen Sagenkreises ist . In der That hat das Gedicht
von Memnon entschiedenes Glück gemacht Brunn a. a. O. S. 201 denkt sich „ die Sage von dem Ende und der
Verklärung des Memnon “ zuerst in der Volkspoesie entwickelt ; doch habe sie
„ihre abgerundete harmonische dichterische Ausgestaltung erst in der Äthiopis
erhalten “ und sei „ von hier aus in den Kreis künstlerischer Darstellungen
aufgenommen worden “ . Wenn das Lied von Memnon ursprünglich unabhängig
von dem Amazonenkampf und der Iliupersis bestanden hat , was ja an sich mög-
lich , vielleicht sogar wahrscheinlich ist , so kann dies nur in der Form eines
Epyllions von der Art des älteren Nostos der Odyssee und der Telemachie
der Fall gewesen sein . Allein ich kann mir nicht denken , daſs der Inhalt
dieses Epyllions sich von dem der späteren Äthiopis wesentlich unterschieden
oder weniger die Spuren der Nachahmung getragen haben könne , als diese .
Das oben über die späte Entstehung Bemerkte würde dann einfach Wort für
Wort auch von diesem Epyllion gelten . Die „ abgerundete harmonische
dichterische Ausgestaltung “ , die ein Arktinos , oder wer sonst der Verfasser
der Äthiopis war , mit der Sage vorgenommen hätte , könnte sich dann auch
nicht wesentlich von der Operation der letzten Odysseebearbeiter unter-
schieden haben , d. h. es wäre ein Zusammenarbeiten verschiedener kleiner
Epen gewesen , bei dem am Inhalt so gut wie nichts , an der Form ver-
hältnismäſsig wenig geändert worden wäre . Warum aber diese „ Aus-
gestaltung in der Äthiopis “ erst vorausgegangen sein muſste , ehe die Sage
in den Kreis künstlerischer Darstellungen aufgenommen werden konnte , ist
mir völlig unverständlich . . Aber daſs man
darüber das Original , den Sarpedon , vergessen oder vernach-
lässigt hätte , soweit ist es doch nie gekommen . Höchstens als
gleichberechtigt stehen beide neben einander , wie auch nach dem
hübschen Einfall des Aristophanes , die Götter den Todestag
beider durch Trauer und Fasten begehen : nub . 621
πολλάκις δ̕ ἡμῶν ἀγόντων τῶν ϑεῶν ἀπαστίαν ,
ἡνίκ̕ ἂν πενϑῶμεν ἢ τὸν Μέμνον̕ ἢ Σαρπηδόνα κτλ .
Auch von dieser Seite her läſst sich also nicht erkennen ,
welches Vorrecht Memnon vor Sarpedon gehabt haben sollte ;
im Gegenteil , je früher man sich jenen bildlichen Typus ent-
standen denkt , desto ausschlieſslicher wird der Anspruch des
Letzteren .
Noch ist eines weiteren Einwandes , den Brunn gegen die
Deutung auf Sarpedon macht , zu gedenken ; er sagt S. 186 „ Wenn
schon der um so viel bedeutsamere Tod des Patroklos zu einer
sehr schwachen , fast nur durch die Beziehung auf Achill bedingten
künstlerischen Entwickelung gelangt ist , so ist für den Tod des
Sarpedon ( der nur eine Episode zur Verherrlichung des Patroklos
sei s. oben S. 112 ) , eine stärkere Betonung in der Kunst sicher nicht
zu erwarten “ . Seltsam ; einige Seiten vorher hat uns Brunn be-
lehrt ( S. 176 ) „ daſs die Darstellungen von Memnons Tod die-
jenigen vom Tode des Achilleus bei weitem überragen “ . Nun
ist es aber doch gewiſs Brunns Meinung , daſs der Tod des
Achilleus noch ein weit bedeutsameres Ereignis sei , als der des
Memnon . Worin unterscheidet sich denn nun das Verhältnis ,
wie es Brunn zwischen den Darstellungen von Memnons und
Achilleus ’ Tode voraussetzt , von demjenigen , das sich bei meiner
Deutung für die Darstellungen von Sarpedons und Patroklos ’
Tode ergiebt ?
Ich darf hoffen , durch die bisherigen Erörterungen den Nach-
weis geführt zu haben , daſs gerade eine Betrachtungsweise , wie
die von Brunn angestellte , die Deutung auf Sarpedon nicht nur
nicht ausschliefen , sondern sie vielmehr in hohem Grade stützen
würde . Damit soll jedoch keineswegs gesagt sein , daſs ich die
Richtigkeit oder die Berechtigung einer solchen Betrachtungs-
weise ohne weiteres anerkenne ; vielmehr muſs ich bekennen , daſs
ich einige Zweifel nicht unterdrücken kann . Es mag an mir
liegen , aber ich bin wirklich auſser Stande , mir einen klaren
Begriff davon zu machen , was eigentlich „ ein Kern- und Knoten-
punkt der Sage “ ist und woran man ihn erkennt . Bei einem
Roman , einem Drama , auch einem Kunstepos , kurz jedem nach
einem einheitlichen Plan entworfenen Dichtwerk , kann man von
Kern- und Knotenpunkten sprechen ; wie das aber bei der Sage
und dem Volkslied möglich sein soll , wie sich eine solche An-
schauung mit der allmählichen Entwickelung der Volkssage und
der Entstehungsgeschichte der homerischen Gedichte und des so-
genannten Kyklus vertragen soll , dies einzusehen , bin ich absolut
auſser Stande ; es scheint demnach , daſs Brunn zu ganz neuen über-
raschenden Resultaten auf diesem Gebiete gekommen ist , die er
hoffentlich nicht unterlassen will , ausführlich im Zusammenhang dar-
zulegen und zu begründen Es scheint manchmal in der That , als ob sich Brunn die Ilias und
die übrigen den troischen Sagenkreis behandelnden Epen vorstelle , wie ein
groſses nach einheitlichem wohlüberlegten Plan ausgearbeitetes Dichtungs-
werk , etwa wie die Shakespearischen Königsdramen oder einen Romancyclus .
Wenigstens weiſs ich nicht , wie man sich anders Äuſserungen , wie die folgen-
den , erklären will : „ Die Liebeswerbung des Peleus und das Urteil des Paris
sind die anerkannten durch den Ratschluſs des Zeus gewollten Ausgangs-
punkte des gesamten troischen Krieges und überragen dadurch an tieferer ,
ich möchte hier sagen epischer ( ? ) , Bedeutung sogar den factischen
äuſseren ( ? ) Anlaſs zum Kriege , die Liebeswerbung des Paris und die Ent-
führung der Helena ( S. 171 ) “ . „ des Odysseus erheuchelter Wahnsinn .. hat für
das Epos nur den Werth einer Episode … von entschiedener Wichtigkeit für
das Epos ist hingegen die Teilnahme des Achilles , als des Haupthelden des
ganzen Krieges , der für diesen Krieg ausdrücklich geboren und erzogen wird
( S. 172 ) “ . „ Die Gegenwart des Telephos im Griechenlager wird im Epos da-
durch motiviert , daſs er nach der ersten verfehlten Fahrt den Hellenen als
Wegweiser nach Troia dienen soll , eine Thatsache , die allerdings für die
weitere Entwicklung poetisch nicht gerade ins Gewicht fällt ( S. 173 ) “ . „ Die
Opferung der Iphigenie hat eine tiefere Bedeutung weniger für den troischen
Krieg , als für die Nostoi und die Orestessage ( ebenda ) “ . „ Anders verhält es
sich mit dem von Welcker so schön nachgewiesenen aufgehobenen Zweikampf
zwischen Achill und Hektor . Es ist natürlich , daſs die beiden Haupthelden
der feindlichen Parteien vor Begierde brennen , ihre Kräfte mit einander zu
messen und daſs darum der Dichter sie so schnell als möglich , wahrschein-
lich unmittelbar nach dem Tode des Kyknos , einander gegenüberstellt , aber
ebenso natürlich , daſs es im Interesse der beiden Parteien liegt , die besten . So lange aber diese Belehrung uns
nicht zu Teil geworden ist , scheint es thatsächlich unmöglich , die
Gründe anzugeben , weshalb gerade diese Sage ein Knotenpunkt
der Handlung , jene nur eine wertlose Episode sein soll , weshalb
gerade diese Sage bildlich gestaltet worden ist , jene hingegen
nicht . Ein Fernerstehender wird sogar die Empfindung nicht
unterdrücken können , daſs diese Unterscheidung oft nach recht
willkürlichen , mindestens ganz subjektiven Gesichtspunkten ge-
macht wird .
Es ist nicht schwer dies an einem Beispiel zu zeigen . So
hebt Brunn mit Recht hervor , daſs aus dem Kreis der Kyprien
drei Episoden in früher Zeit bildlich gestaltet worden sind : der
Ringkampf des Peleus und der Thetis , das Parisurteil , der Tod
des Troilos . Das vermeintliche Fehlen der Entführung der
Helena Daſs dieselbe tatsächlich auf schwarzfigurigen Vasen dargestellt war ,
habe ich oben S. 56 zu zeigen versucht . macht Brunn nur einen Augenblick bedenklich ; er
motiviert es dadurch , daſs der Raub der Helena nur „ der
faktische äuſsere Anlaſs zum Kriege “ sei und von keiner solch
„tiefen epischen Bedeutung “ , wie die beiden zuerst genannten
Episoden , welche „ die anerkannten durch den Ratschluſs des
Zeus gewollten Ausgangspunkte des gesamten troischen Krieges “
seien . Hingegen wird eine vierte , in dieselbe Reihe gehörige
Darstellung , die Übergabe des kleinen Achill an Cheiron Daſs dies in den Kyprien vorkam , ist übrigens nichts weniger wie
ausgemacht . Daſs Λ 832 nur von einem Unterricht in der Heilkunde spricht
und die Ilias von der Erziehung des Achilleus durch Cheiron nichts weiſs , hat S. 172
Kräfte nicht sofort beim ersten feindlichen Zusammentreffen aufs Spiel zu
setzen , sondern für die letzten Entscheidungskämpfe aufzusparen . So wird
die erste Begegnung beziehungsreich für die Folgen , und die Bedeutung der
beiden Helden für die letzte Entscheidung des Krieges tritt gerade durch
die gewaltsame Verzögerung derselben in das hellste Licht ( S. 174 ) “ . Letztere
Stelle bezieht sich auf die Darstellung des M. d. I. I 35. 36 ( = Welcker A.
D. III 15. Overbeck , Her. Gall . XV 4 ) veröffentlichten Vasenbildes , das Welcker
in dem von Brunn angegebenen Sinne deutet , während es vielmehr , wie
Luckenbach a. a. O. S. 519 schlagend nachweist , den aufgehobenen Zweikampf
zwischen Hektor und Aias darstellt , also eine Scene der Ilias , von der ich
freilich nicht sagen kann , ob sie nach Brunns Ansicht die Geltung einer
wertlosen Episode oder eines Kern- und Knotenpunktes der Handlung hat .
kurz abgefertigt : obgleich Achills Teilnahme von entschiedenster
Wichtigkeit sei , habe sich auch ( ? ) hier die Vasenmalerei auf
die Erziehung bei Cheiron und auf Abschied und Auszug be-
schränkt .
So bleiben also nur die drei oben aufgezählten Vorgänge
übrig ; worauf gründet sich nun gerade bei diesen dreien der
Anspruch , für Kern- und Knotenpunkte der Sage zu gelten ? Die
Motivierung für die beiden ersten haben wir eben gehört , weil
sie die durch den Ratschluſs des Zeus gewollten Ausgangspunkte
des ganzen Krieges seien , das heiſst das Resultat der Beratung
des Zeus und der Themis . Nun , ob der Ringkampf des Peleus
und der Thetis überhaupt in den Kyprien erwähnt war , bleibt
zunächst diskutabel . Man verstehe mich recht , die Sage ist sehr
Aristarch zu jener Stelle richtig bemerkt ; aber ebenso sicher ist es , daſs
gerade jene Iliasstelle der Keim ist , aus dem sich jene Anschauung ent-
wickelt hat . An den beiden Stellen , wo die Sage für uns zuerst auftritt , bei
Pindar und Pherekydes , erscheint gleichzeitig die Motivierung : Peleus habe
das Kind zu Cheiron gebracht , nachdem Thetis ihn verlassen habe . Pind.-
Pyth. VI 21 τά ποτ̕ ἐν οὔρεσι φαντὶ μεγαλοσϑενῆ | Φιλύρας υἱὸν ὀρφανιζομένῳ
Πηλεΐδᾳ παραινεῖν . Pherekydes — denn dieser ist , da aus ihm sowol der An-
fang wie der Schluſs des von Peleus handelnden Abschnittes nachweislich ge-
flossen ist ( de Apollodori bibl. p. 67 ) , auch für diesen Teil unbedenklich als
Quelle anzusehen — erzählt bei Apollodor III 13 , 6 , 2 Θέτις … νήπιον τὸν παῖδα
ἀπολιποῦσα πρὸς Νηρηΐδας ᾤχετο , κομίζει δὲ τὸν παῖδα πρὸς Χείρωνα Πηλεύς .
Wenn sich die Vasenmaler dieses Zusammenhangs nicht immer mehr klar be-
wuſst sind und zuweilen bei der Übergabe des kleinen Achilleus an Cheiron
Thetis noch gegenwärtig sein lassen ( z. B. Gerhard A. V. III 71. 183. Benndorf
Griech. u. sicil. Vasenbild . XLI 1 ) , so ist man deshalb noch lange nicht be-
rechtigt , eine andere Sagenversion als Quelle für die Vasenmalerei anzu-
nehmen ; vielmehr erklärt sich die Gegenwart der Thetis hinlänglich aus dem
oben im ersten und namentlich im Eingang des zweiten Kapitels Bemerkten .
Von den hesiodeischen Katalogen steht fest , daſs sie die Hochzeit des Peleus
und der Thetis ausführlich schilderten , ( fr. 93 Markscheff . ) , aber auch auf die
früheren Schicksale des Peleus eingingen und namentlich seine Vermählung
mit Polydore berichteten ( fr. 94 ) , gerade wie Apollodor-Pherekydes III 13 , 4.
Demnach ist es nicht unwahrscheinlich , daſs dies Gedicht , wie öfter , so auch
für diese Sage die gemeinsame Quelle von Pindar und Pherekydes war ; und
was die Kunstdarstellungen betrifft , so hat es mindestens den gleichen An-
spruch , für die Quelle derselben zu gelten , wie die Kyprien .
alt , und einzelne Stellen der Ilias (Σ 84. 432 ) lassen auch schlieſsen ,
daſs sie poetisch in einem Liede behandelt war ; aber bei dem
Schweigen des Proklos ist es fraglich , ob und in welcher Weise
der Verfasser der Kyprien das Lied benutzt habe ; er konnte
den Ringkampf gerade so gut ignorieren , wie es der Dichter von
Ω 60 thut , einer Stelle , die vielleicht jünger als die Kyprien und
mit direkter Beziehung auf dieselben gedichtet ist . Und das
Urteil des Paris ? ob sich die Vasenmaler dabei wirklich der
Beratschlagung der Themis und des Zeus aus dem Proömium
der Kyprien erinnert haben ? Sonderbar , mit Figuren geizt doch
gerade die archaische Kunst nicht , aber niemals sind Zeus und
Themis zugegen , wie man doch erwarten sollte , wenn die
Vasenmaler an jene Episode , durch welche das Parisurteil
zum „ Knotenpunkt der Sage “ wird , gedacht hätten . Erst
auf Vasen des vierten Jahrhunderts finden wir beide gegen-
wärtig Stephani C. R. 1861 T. 3. Wiener Vorlegebl. Ser. A. T. XI . , aber inzwischen hatte auch Euripides ( Helena 40.
Orest. 1642 ) die Erinnerung an jene Stelle aufgefrischt . Und
endlich Troilos : „ Für den äuſseren Verlauf des Krieges , sagt
Brunn , bildet des Troilos ’ Tod doch nur eine Episode ohne nach-
haltige Bedeutung . Selbst die Angabe , daſs das Schicksal Trojas
mit dem Tode des Troilos vor erreichter Mannbarkeit aufs Engste
verknüpft war Brunn meint offenbar die aus Plautus Bacchides 954 bekannte Version ,
die aber den Tod des Troilos konsequenter Weise an eine ganz andere Stelle ,
nämlich nach dem des Hektor , verlegt , also von der Erzählung der Kyprien
total verschieden ist . Zuletzt hat Kieſsling in den Analecta Plautina ( ind. schol.
Gryph . 1878 p. 16 ) scharfsinnig diese Sagenform behandelt . Überzeugend wird
dort nachgewiesen , daſs jenes Spielen mit der troischen Sage Plautus bereits
in seiner Vorlage , dem Δὶς ἐξαπατῶν des Menandros , vorfand , und daſs Letzterer
damit dieselbe griechische Tragödie parodierte , welche das Vorbild für die
Andromacha aechmalotis des Ennius gewesen ist , und mit Recht wird darauf
hingewiesen , daſs dieselbe Sagenversion auf dem von O. Jahn ( Telephos und
Troilos und kein Ende. Taf. 2 ) und Schreiber ( M. d. I. X 22 , 2 ) publicierten rot-
figurigen Vasenbilde strengen Stiles vorliege . Allein mag man nun die von mir
vertretene Anschauung , daſs auf Vasen des fünften Jahrhunderts die jungen
vom gleichzeitigen Drama geschaffenen Sagenformen noch nicht vorkommen ,
teilen oder nicht , in diesem Falle wird wohl niemand sich zu der Be- , würde die Bevorzugung dieser Scene von Seiten
der Künstler nur ungenügend rechtfertigen . Das tief innerlich
Entscheidende liegt vielmehr darin , daſs bei diesem Anlaſs
Achilles das Heiligtum des thymbräischen Apollo entweiht , daſs
er sich dadurch die persönliche Feindschaft des Gottes zuzieht ,
und daſs dadurch sein späterer Tod als die Sühnung einer be-
stimmten Schuld moralisch begründet A. d. I. 1858 p. 352 hatte Brunn , wie wir oben sahen , erklärt , daſs
Achilleus durch Abweisung der Gesandtschaft der Achaier sich den Zorn der
Götter zuziehe und das dies seinen Tod herbeiführe ; er hatte dies benutzt ,
um die Zusammenstellung der Gesandtschaft mit Memnons Leiche als Gegen-
bild zu motivieren ; hier ( Troische Miscellen S. 175 ) ist es die Entweihung
des thymbräischen Heiligtums , durch die Achilleus eine Schuld auf sich
ladet , welche er durch seinen späteren Tod büſst . Ich constatiere den Wider-
spruch , ohne ihn lösen zu können . wird “ . Daſs diese Be-
ziehung in die Sage einmal hineinkommt , ist ja allgemein
bekannt und längst zugegeben . Es fragt sich nur , ob sie ur-
sprünglich darin liegt und , wenn nicht , wann sie hineingekommen
ist . Dies hängt aber wieder mit der Frage zusammen , wann
und wo Achilleus fällt . Die älteste Stelle Χ 364 weiſs von
Achilleus Tod am skäischen Thor ; bei Arktinos fällt er , als er
in die Stadt eindringt . Die Fassung des Lesches kennen wir
nicht Vgl. den Excurs Lesches und Arktinos . , aber die aus seinem Gedicht bezeugte Version vom Streit
hauptung versteigen wollen , daſs jenes Drama eines unbekannten Verfassers
die Quelle für die Vase gewesen sei . Wie sollte auch das Stück eines der
unbedeutenderen Tragiker aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts —
denn an Sophokles ist nicht zu denken , da dieser in seinem Troilos den
Kyprien folgte — einerseits einen so rapiden Einfluſs auf die Kunst geübt
haben können , andererseits so populär geblieben sein , daſs noch Menandros
Veranlassung genommen hätte , es zu parodieren ? Die Sagenform ist also
sowol von dem Vasenmaler wie von jenem unbekannten Dramatiker aus der-
selben älteren , vor dem 5. Jahrh. liegenden Quelle entnommen . Möglich ,
daſs wir auch hier wieder den Einfluſs der Lyrik constatieren müssen ; aber
auch die Möglichkeit , daſs die Sage aus der kleinen Ilias stammt , ist nicht
ausgeschlossen . Denn für die ersten Partien dieses Epos läſst uns Proklos
bekanntlich im Stich ; und die beiden andern Facta , die Plautus und also
auch Menander mit dem Tod des Troilos zusammen nennen , der Raub des
Palladiums und das hölzerne Pferd , kommen ja thatsächlich in der kleinen
Ilias vor .
um die Waffen beruht auf derselben Anschauung von Achills
Tod in der Schlacht , wie wir sie aus der Ilias kennen und
wie sie für Arktinos bezeugt ist . Die ältesten Vasen , eine
chalkidische M. d. I. I 51. Overbeck , Her. Gall. XXIII 1 . und eine attische Gerhard A. V. III 227 , 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2 . , zeigen den Tod des Achilleus
im Kampfgewühl , ebenso der Giebel von Aigina , und so stellt
sich auch der späte Dichter von ω 39 die Sache vor , wenn er
Agamemnon zu Achilleus sagen läſst :
σὺ δ̕ ἐν στροφάλλιγγι κονίης
κεῖσο μέγας μεγαλωστί .
Wir haben also kein einziges älteres Zeugnis für den Tod des
Achilleus am Altar des thymbräischen Apollo , und dürfen
mindestens soviel daraus schlieſsen , daſs diese Sagenversion nicht
die verbreitetere war . Unser ältester Zeuge dafür ist über-
haupt Hellanikos , also ein Mann , der die Sagenversionen des
hesiodeischen Epos , der Lyrik , vielleicht sogar des Dramas ,
allerdings auch die auf dem Boden des Epos gewachsenen
jüngeren Lokallegenden benutzte . Mit welchem Rechte setzen
wir also diesen absolut unepischen Zug für Arktinos — gegen
das direkte Zeugnis des Proklos — oder für Lesches voraus ?
Wird aber Achill im Epos nicht am Altar des thymbräischen
Apollo getötet , so fällt ja „ das tief innerlich Entscheidende “ für
den Troilosmythos weg und , was übrig bleibt , ist ja dann „ nur
eine Episode ohne nachhaltige Bedeutung “ . Und die Häufigkeit
der Troilosdarstellungen beruht am Ende wirklich „ auf rein künst-
lerischen Gründen oder gar auf bloſsem Zufall ? “ Aber wird da-
durch nicht der Grundsatz von den Knoten- und Kernpunkten der
Sage unhaltbar ? Ich denke , er ist es schon längst geworden .
Wenn nach Brunns eigenem Geständnis Momente , wie der
Raub der Helena ( das mit Unrecht ) , der Streit zwischen Achill
und Agamemnon , der Zweikampf zwischen Paris und Menelaos ,
der Raub des Palladiums , der Tod des Paris , das hölzerne Pferd ,
fehlen , kann da noch von einer Bevorzugung der für den Verlauf
der Sage wichtigsten Momente die Rede sein ? Andererseits ge-
hört weder groſser Scharfsinn noch groſse Belesenheit dazu , jede
beliebige Episode des troischen Sagenkreises als einen Kern- und
Knotenpunkt , der der Phantasie eine reichere Anregung bietet ,
zu erweisen . Ich denke , ob und welche Gesetze über der Aus-
wahl der einzelnen Scenen walteten , das werden wir vielleicht
jetzt überhaupt noch nicht , auf diesem Wege aber nie erkennen ,
denn gewiſs war es nicht die Reflexion der Künstler über die
tiefen Bezüge des Mythos , die dafür maſsgebend war . Es
will mir scheinen , daſs wir dem Sinne der Alten um so
näher treten , je mehr wir die Dinge nehmen , wie sie sich
geben , je unbefangener wir uns an den Werken der Un-
befangenen freuen , je williger wir aber auch die Grenzen un-
seres Erkennens gestehen . Solche schillernden und kokettieren-
den Bezüge , wie sie Brunn sowol in der Auswahl der ein-
zelnen Scenen sucht wie in ihrer Verbindung , würden weder
dem Erfinder groſse Ehre machen , noch würde für uns das
Unglück allzu groſs sein , wenn wir sie nicht verstünden . Das
Jagen nach diesen Bezügen artet gar zu leicht aus in ein
geistreiches Spiel , und von da bis zu dem Rebusraten einer
gewissen Richtung , auf die wir uns gewöhnt haben , mit Ver-
achtung herab zu sehen , ist nur ein Schritt . Nach diesem Allen
wird man es begreiflich finden , wenn ich bis jetzt weder Neigung
noch Beruf fühle , aus den Schranken der „ niederen Methode “
herauszutreten , um mich an dem kühnen Fluge der „ höheren ,
mit klassischem Ausdruck als divinatio bezeichneten Kritik “ zu
beteiligen .
IV.
DAS ATTISCHE DRAMA UND DIE VASENMALEREI DES
FÜNFTEN JAHRHUNDERTS .
Der oben S. 28 aufgestellte Satz , daſs die vom Drama ge-
schaffenen Sagenversionen entweder überhaupt nicht oder nur in
ganz vereinzelten Fällen auf die gleichzeitige Kunst und ins-
besondere auf die gleichzeitige Vasenmalerei Einfluſs geübt haben ,
bedarf , da er der herrschenden Ansicht widerstreitet , einer
näheren Erläuterung . Die Begründung desselben ist indessen
deshalb etwas unerquicklich , weil , so oft man auch die Dar-
stellungen auf rotfigurigen Vasen strengen Stiles auf das Drama
zurückführen hört , ein ernsthafter Versuch , diesen Zusammen-
hang zu beweisen , fast nie gemacht wird , und es in der Regel
vielmehr dem Leser überlassen bleibt , sich die Gründe für eine
solche Zurückführung selbst zu suchen . Ich muſs mich unter
diesen Umständen darauf beschränken , ein par einzelne Fälle ,
teils solche , in denen der Einfluſs des Dramas besonders zu-
versichtlich behauptet und geglaubt worden ist , teils solche , in
welchen das Urteil wirklich schwanken kann , ausführlicher zu
erörtern . Natürlich handelt es sich dabei in erster Linie um
Aischylos , da die beiden anderen groſsen Tragiker auf die Vasen-
malerei bis 445 schon aus chronologischen Gründen nur einen
geringen Einfluſs gehabt haben könnten .
Ich beginne mit der „ tragischen Ilias “ . Bekanntlich haben
übereinstimmend G. Hermann und Welcker die drei aischyleischen
Philolog. Untersuchungen V. 9
Titel Μυρμιδόνες , Νηρηίδες und Φρύγες ἢ Ἕκτορος λύτρα zu einer
Trilogie zusammengestellt , die mit der Teilnahme des Patroklos
am Kampfe begann und mit der Lösung des Hektor endete , also
in ihrem Inhalt den Büchern Π—Ω der Ilias entsprach . Es ist
ferner bekannt , daſs sich auf eben diese Trilogie die Verse 912
bis 915 der Frösche des Aristophanes beziehen :
Πρώτιστα μὲν γὰρ ἕνα γέ τινα καϑῖσεν ἐγκαλύψας
Ἀχιλλέα τιν̕ ἢ Νιόβην τὸ πρόσωπον οὐχὶ δεικνύς ,
πρόσχημα τῆς τραγῳδίας , γρύζοντας οὐδὲ τουτί .
.... .... ὁ δὲ χορός γ̕ ἤρειδεν ὁρμαϑοὺς ἄν
μελῶν ἐφεξῆς τέτταρας ξυνεχῶς ἄν · οἱ δ̕ ἐσίγων .
Also im Anfang eines Stückes saſs Achilleus während der langen
Parodos des Chores mit verhülltem Antlitz auf der Bühne . Nach
der Angabe des Scholiasten waren es die Φρύγες , also das dritte
Stück der Trilogie , und man wird zugeben , daſs der um seinen
liebsten Freund in stummen Schmerz versunken dasitzende Achil-
leus nicht nur an sich ein sehr passendes dramatisches Motiv ,
sondern auch das passendste Gegenstück zu der von Aristophanes
in demselben Vers erwähnten Niobe ist . Mit dem Aristophanes-
scholiasten stimmt die vita des Aischylos überein , aus der wir
nur noch lernen , daſs der Parodos als Prolog ein kurzes Ge-
spräch zwischen Achilleus und Hermes voranging : ἐν δὲ τοῖς
Ἕκτορος λύτροις Ἀχιλλεὺς ὁμοίως ἐγκεκαλυμμένος οὐ φϑέγγεται
πλὴν ἐν ἀρχαῖς ὀλίγα πρὸς Ἑρμῆν ἀμοιβαῖα . Nun sagen aber
die jüngeren Scholien εἰκὸς τὸν ἐν τοῖς Φρυξὶν Ἀχιλλέα ἢ
Ἕκτορος λύτροις ἢ τὸν ἐν Μυρμιδόσιν , ὃς μέχρι τριῶν ἡμε-
ρῶν οὐδὲν φϑέγγεται . Daſs letztere Bemerkung hier in einen
ganz falschen Zusammenhang geraten ist und sich ursprüng-
lich auf die drei Tage lang stumm am Grabe ihrer Kinder
sitzende Niobe bezieht , lehrt , wie G. Hermann festgestellt hat ,
die Vergleichung mit der schon erwähnten Aischylosvita , die eben
auf unser Scholion in reiner und vollständiger Gestalt zurück-
geht ; von den Myrmidonen aber steht dort kein Wort . Schon
dies ist bedenklich ; aber , wie wenig glaublich ist es auch , daſs
Aischylos das erste und das dritte Stück genau mit derselben
Situation , dem verhüllt und schweigend dasitzenden Achilleus
habe beginnen lassen ! Soll sich der Schmerz um den selbst-
verschuldeten Verlust Daſs Aischylos die Sache so darstellte , beweist bekanntlich das schöne
Fragment 135 , namentlich die Schluſsworte τάδ̕ οὐχ ὑπ̕ ἄλλων ἀλλὰ τοῖς
αὑτῶν πτεροῖς ἁλισκόμεσϑα . des Freundes genau in derselben Weise
äuſsern , wie der Zorn über die entführte Briseis ? Ich dächte ,
wenn irgendwo , so wäre hier eine Steigerung nötig gewesen .
Der Achilleus des ersten Teiles der Ilias zürnt und schilt um
Briseis , das ist menschlich richtig ; Niobe nach dem Verlust
ihrer Kinder , Achilleus bei Patroklos ’ Tod versinken in ein
dumpfes Hinbrüten , in dem sie der Auſsenwelt vergessen ; und
diesen höchsten Trumpf sollte Aischylos schon gleich beim ersten
Stück der Trilogie ausgespielt haben ? Diese und ähnliche Er-
wägungen haben G. Hermann , Nauck u. A. dahin geführt die
Worte τὸν ἐν Μυρμιδόσιν für ein thörichtes und ganz unglaub-
würdiges Einschiebsel zu erklären , dem ebenso wenig Glauben
beizumessen ist , als der Versicherung der Scholien zu V. 1400 ,
daſs der notorisch euripideische Vers βέβληκ̕ Ἀχιλλεὺς κτλ . aus
denselben Myrmidonen des Aischylos sei .
Anders urteilt Brunn . Schon in den Ann. d. Inst. 1858 p. 366
hält er nicht nur an der Nachricht , daſs auch im Anfang der
Myrmidonen Achilleus verhüllt auf der Bühne gesessen habe , fest ,
er schlieſst aus den bildlichen Darstellungen sogar , daſs auch im
mittleren Stück der Trilogie , den Nereiden Achilleus genau so
dagesessen habe , so daſs also alle drei Stücke genau mit demselben
Bühnenbilde begonnen haben würden ; und auf derselben Voraus-
setzung kann es doch auch nur beruhen , wenn Brunn neuerdings
wieder im dritten Heft seiner Troischen Miscellen S. 179 mit
Entschiedenheit erklärt , daſs „ die Darstellungen der Wegführung
der Briseis , der Gesandtschaft an Achill , weiter die Darstellungen
der Waffenübergabe an Achill , sowie der Lösung des Hektor , in
denen die typische Gestalt des erzürnt ( ? ) dasitzenden Achilleus
konstant wiederkehrt , in bestimmter Weise auf Aischylos als
Quelle hinweisen “ .
9*
Daſs der Achill in den Briseisdarstellungen aus dem Typus
der πρεσβεία einfach entlehnt ist , wurde oben S. 96 gezeigt und
kann doch auch nur Brunns Meinung sein , da die Wegführung
der Briseis doch weder in der „ tragischen Ilias “ noch in einem
andern aischyleischen Stück vorkam . So können wir uns also
gleich zu den schon oben S. 95 in anderem Zusammenhang be-
sprochenen Darstellungen der Gesandtschaft an Achilleus wenden ,
auf denen dieser allerdings mehr oder minder verhüllt dazusitzen
pflegt . Ich finde es nun zwar nirgends bei Brunn ausdrücklich
ausgesprochen , muſs es aber nach dem ganzen Zusammenhang
seiner Darlegung annehmen , daſs er die Myrmidonen für die
poetische Quelle dieser Darstellungen hält und somit die Ansicht
G. Hermanns teilt , nach welcher die Gesandtschaft an Achilleus
den ersten Teil dieses Stückes ausmachte . Auf wie schwachen Füſsen
die Annahme steht , daſs im Beginn dieses Stückes Achilleus
verhüllt und schweigend dasaſs , ist oben gezeigt worden . Allein
auch diese weitere Annahme , daſs in dem Stück die πρεσβεία
vorgekommen sei , ist keineswegs über allen Zweifel erhaben .
Kein Fragment weist auf diese oder eine ähnliche Scene hin ; es
giebt für dieselbe überhaupt nur zwei Anhaltspunkte ; einmal
die Annahme , daſs die Myrmidones des Accius im wesentlichen
eine Übersetzung des gleichnamigen aischyleischen Stückes seien ,
dann die Bemerkung der späten byzantinischen Scholien zu
Aristophanes Fröschen 1264 Φϑιῶτ̕ Ἀχιλλεῦ κτλ . τοῦτο ἀπὸ
τῶν πρέσβεων πρὸς Ἀχιλλέα Αἰσχύλος ἐποίησεν . Was zunächst
letzteren Punkt betrifft , so sind die parodierten Verse Worte
des Chores und zwar aus der Parodos . Somit können die
hier genannten πρέσβεις nicht die Gesandten des Agamemnon ,
es müssen die Delegierten der Myrmidonen sein . Dies sah
G. Hermann Opusc. V p. 140 . Damit ist aber diese Notiz voll-
ständig in Ordnung , und es ist weder nötig noch gerechtfertigt ,
mit G. Hermann anzunehmen , daſs auſser den πρέσβεις der
Myrmidonen noch die des Agamemnon aufgetreten seien und
daſs dies vom Scholiasten verwechselt worden sei ; eine solche
Verwechslung anzunehmen , haben wir in keiner Weise Veran-
lassung ; aber als Zeugnis für das Vorkommen der πρεσβεία in
den Myrmidonen lassen sich die Worte dann freilich nicht mehr
verwerten .
Was aber die Myrmidones des Accius betrifft , so hege ich
trotz G. Hermanns schöner Auseinandersetzung starke Zweifel ,
ob sie mit den Μυρμιδόνες des Aischylos etwas anderes gemein
haben als den Namen . Keines der Fragmente weist darauf
hin , daſs der Tod des Patroklos vorkam ; die meisten beziehen
sich auf die μῆνις des Achilleus. Fr. I Ribb . zeigt , daſs Anti-
lochos Person war , wie auch in den Myrmidonen des Aischylos ;
aber dort verkündet er den Tod des Patroklos , während er hier
den zornigen Achilleus zu beruhigen sucht , also eine lange vor dem
Auszug des Patroklos liegende Scene . Mit fr. II , der Drohung des
Achilleus abzufahren ,
classis trahere in salum [ me ] et vela ventorum animae
immittere
hat G. Hermann die Worte verglichen , die Achilleus in der
Ilias (Ι 359 ) an die Gesandtschaft richtet , und auf dieser Über-
einstimmung beruht auch lediglich die Annahme , daſs die πρεσβεία
in dem Stücke vorgekommen sei . Indessen ganz zwingend ist
dieser Schluſs nicht ; auch in der Streitscene mit Agamemnon
im ersten Buch Α 169 droht Achilleus
νῦν δ̕ εἶμι Φϑίηνδ̕ , ἐπειὴ πολὺ φέρτερόν ἐστιν
οἴκαδ̕ ἴμεν σὺν νηυσὶ κορωνίσιν ,
und dem Wortlaut nach schlieſst sich das Fragment des Accius weder
an die eine noch an die andere Stelle so eng an , daſs sich
hieraus entscheiden lieſse , welche das Vorbild war . Ebensowenig
ist es notwendig , daſs fr . IV
Quodsi ut decuit stares mecum aut meus te maestaret dolor ,
iam diu inflammari Atridae naves vidissent suas ,
von Achilleus zu Aias gerade bei Gelegenheit der Gesandtschaft
gesprochen wird . Die Schilderung der πρεσβεία in der Ilias
bietet hierfür keine Parallelstelle . Denkbar wäre , daſs Achilleus
diese Worte unmittelbar nach dem Streit an einen Genossen
richtete ; dann lieſse sich Ilias Α 231 vergleichen :
δημοβόρος βασιλεὺς , ἐπεὶ οὐτιδανοῖσι ἀνάσσεις .
ἦ γὰρ ἂν , Ἀτρεΐδη , νῦν ὕστατα λωβήσαιο .
Denkbar wäre auch , daſs sie gar nicht dem Achilleus gehörten ,
zumal dessen Zorn sich nur gegen den einen Atriden richtet .
Den übrigen Fragmenten aber würde jeder , der ohne vorgesetzte
Meinung an sie herantritt , gewiſs unbedenklich in der Streitscene
ihren Platz anweisen . Namentlich läſst fr. VIII regnum tibi per-
mitti malunt ? cernam , tradam exercitum Wie die Änderung Merciers : cernant geduldet werden kann , ist mir
unverständlich . Nonius 261 , 64 führt die Stelle zum Beweise dafür an , daſs
cernere in die Bedeutung von cedere übergehen könne . Der Sinn ist also :
„ Wenn sie lieber dir den Oberbefehl übertragen wollen , nun gut , so will ich
abdanken und dir die Heere übergeben “ . Was ist an diesem Gedanken oder
an dieser Fassung auszusetzen ? doch kaum eine
andere Auffassung zu , als die , daſs es Worte des Agamemnon
sind ; im höchsten Zorn kann dem Agamemnon dieser natürlich
nur ironisch gemeinte Ausruf entfahren , etwa in einer Weiter-
bildung der Worte Α 288 f. Worte des Achilleus sind fr. III und
VI ; das erstere mea facta in acie obliti würde in denselben
Gedankenzusammenhang gehören wie Α 165—168 , das zweite
tua honestitudo Danaos decepit diu würde in einer Rede wie
Α 225 eine passende Stelle haben ; auch als Schmähung des Aga-
memnon gegen Kalchas wäre es denkbar ; fr. V
iram infrenes , obstes animis , reprimas confidentiam
kann Nestor sagen entsprechend den Iliasversen Α 282
αὐτὰρ ἔγωγε
λίσσομ̕ Ἀχιλλῆα μεϑέμεν χόλον .
Es würde vermessen und dem nächsten Zweck dieser Be-
trachtungen nicht entsprechend sein , wollte ich über den In-
halt des Stückes weitere Betrachtungen anstellen . Es kam
mir nur darauf an , zweierlei festzustellen , erstens : keines der
Fragmente berechtigt zu der Annahme , daſs der Tod des Patro-
klos vorkam ; zweitens : selbst ob die Gesandtschaft an Achilleus
vorkam , ist durchaus unsicher ; man kann mit demselben und
vielleicht sogar mit besserem Rechte den einzelnen Fragmenten
in der Streitscene zwischen Achill und Agamemnon und den un-
mittelbar darauf folgenden Verwickelungen ihren Platz anweisen Denkbar wäre , daſs das Stück mit der Streitscene begonnen und mit
der Gesandtschaft an Achilleus geendet , also A—I der Ilias entsprochen
hätte , wie man es für den Agamemnon des Ion voraussetzt . .
Daſs aber der Tod des Patroklos in den Myrmidonen überhaupt
nicht vorgekommen sein kann , wird zu einer an Gewiſsheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit erhoben durch den Umstand , daſs
diese Katastrophe den Inhalt einer andern Tragödie desselben
Dichters bildete , nämlich der Epinausimache . Dies ist seltsamer
Weise noch nicht erkannt oder , nachdem es ausgesprochen war Nieberding de Iliade a L. Attio in dramata conversa , Gymnasial-
Programm von Conitz 1838 p. 12 erkannte zwar richtig , daſs das Stück den
Auszug und Tod des Patroklos enthielt , lieſs es aber schon mit dem Zwei-
kampf zwischen Hektor und Aias beginnen und erst mit Hektors Tod oder
gar dessen Lösung schlieſsen . ,
bestritten worden , weil man sich durch die Gleichsetzung der
Myrmidonen des Accius mit dem gleichnamigen Stück des Aischy-
los den Blick getrübt hatte . Eine unbefangene Betrachtung der
Fragmente kann zu keinem anderen Resultate führen : fr. I wird
von Nonius 233 , 16 als Beleg dafür citiert , daſs anima significat
iracundum vel furiosum , unde et animosi dicuntur iracundi .
Es lautet
ut nunc cum animatus iero , satis armatus sum ,
Worte des Achilleus , als er sich in den Kampf stürzt , um die
Leiche seines Freundes zu retten ; er hat keine Waffen , die hat
Hektor erbeutet , sein Zorn ersetzt ihm die Rüstung . Wie matt ist
das , wenn man sie , wie O. Ribbeck ( Römische Tragödie S. 357 ) , in
eine Scene setzt „ in welcher die leidenschaftliche Ungeduld Achills
( der nicht warten kann , bis ihm seine Mutter die ersehnten Waffen
bringt ) von einem ruhigeren Freunde z. B. Antilochos noch hin-
gehalten wurde “ , wie matt ist es , wenn er ohne Nötigung , wie sie
sich bei unserer Annahme durch die Gefahr der Freundes-Leiche
ergiebt , so spricht , wie matt , wenn seinem Worte nicht die That
folgt . Fühlte denn Accius gar nicht , zu welch leerem Prahler da-
durch Achilleus wurde ? Schon dies ist eigentlich ausreichend , um
Ribbecks Annahme zu widerlegen , daſs nicht der Tod des Patro-
klos , sondern der des Hektor , ja sogar noch die Lösung von
Hektors Leiche den Inhalt des Stückes gebildet habe . Dazu
kommt der Titel Epinausimache , mit welchem auf der capito-
linischen tabula iliaca und mehrfach in der Litteratur das Ν
passend bezeichnet wird . Durch das Eintreten des Patroklos in
den Kampf werden die Troer zur Stadt zurückgetrieben und die
„ Schlacht bei den Schiffen “ erreicht ihr Ende ; als Achill die
Botschaft vom Tode seines Freundes erhält , ist sie schon lange
vorüber . Mit welchem Rechte behauptet also O. Ribbeck S. 356 :
„ Im Drama setzte sich ‘ der Kampf bei den Schiffen ’ , welcher
in unserer Ilias (XIII— XV ) der Πατρόκλεια vorangeht , nach dem
Tode des Patroklos noch fort oder entbrannte erst recht heftig “ .
Ich finde keine Begründung für diese Behauptung angeführt ,
wenn nicht etwa der folgende Satz sie enthalten soll : „ So sieht
man auf einer archaischen Amphora bei Gerhard , Auserles .
Vasenb. CXCVIII den Schatten des Helden , gleichsam Sühne
heischend , speerbewaffnet und geflügelt über den Schiffen schwe-
ben “ . Allein diese Anschauung beruht einfach auf falscher
Deutung . Die Vase stellt den Schatten des Achilleus dar , der
nach der Zerstörung von Ilion über den Schiffen erscheint und
die Opferung der Polyxena verlangt . Darum ist kein Grund , dem
Titel einen anderen als den zunächst liegenden und allein be-
zeugten Sinn zu geben .
Eine Musterung der Fragmente wird dies Resultat lediglich
bestätigen ; sie ordnen sich leicht ein , wenn der Tod des Patro-
klos der Inhalt war , während sie bei Ribbecks Annahme nur sehr
gezwungen untergebracht werden können .
Eine Reihe von Fragmenten gehört augenscheinlich in den
Botenbericht vom Kampf :
fr. IX ab classe ad urbem tendunt , neque quisquam potest
fulgentium armum armatus ardorem obtui .
fr. X incursio ita erat acris .
fr . XIV primores procerum provocavit nominans
si esset quis , qui armis secum vellet cernere .
fr . XI Mavortes armis duo congressos crederes .
Also von der Flotte zur Stadt geht die Flucht und niemand
vermag den Anblick der funkelnden Rüstung — offenbar des
Helden — zu ertragen ; die Tapfersten der Gegner ruft er beim
Namen zum Kampf ; zuletzt findet er einen ebenbürtigen Gegner .
Wer ist der Held ? und wer sein Gegner ? Ribbeck antwortet :
Achill und Hektor . Unbegreiflich ; als Achill sich in den Kampf
stürzt , sind die Troer längst nicht mehr nahe bei der Flotte , schon
am Tage vorher hat sie Patroklos zurückgetrieben ; und weiter ,
welche Veranlassung hat Achill , die Helden der Troer einzeln
herauszufordern ? Es ist ihm doch wahrlich jetzt nicht um eine
Schaustellung seiner Stärke , sondern um Rache zu thun . Achill
sucht in diesem Moment nur einen auf dem ganzen Schlachtfeld ,
Hektor . Wie paſst dazu die Herausforderung ? Und weiter , das
in Trochäen abgefaſste Fragment XII zeigt , daſs Achill selbst
seine Thaten erzählt ; welche Tautologie , wenn bereits ein Boten-
bericht vorausgegangen war . Wie trefflich fügt sich hingegen
Alles , wenn Patroklos der Held des Berichtes ist . An der Spitze
der Myrmidonen treibt er die Troer von der Flotte zur Stadt
zurück ; der Glanz der Achilleusrüstung , die er trägt , blendet die
Troer ; bei Namen ruft er die tapfersten Troer auf , und als er
mit Hektor ( oder Sarpedon ? ) kämpft , da sah es aus , als ob zwei
Kriegsgötter mit einander sich messen wollten .
Eine zweite Gruppe von Fragmenten ordnet sich fast von
selbst zu der Scene zusammen , in welcher Patroklos den Achilleus
zuerst zur Teilnahme am Kampfe zu bewegen sucht , dann
wenigstens seine Waffen erbittet und erhält , und endlich zum
Kampf auszieht . Hierher gehören als Worte des Patroklos So schon Nieberding p. 14 .
fr. XVI tamen haut fatiscar quin tuam implorem fidem .
fr. II proin tu id cui fiat , non qui facias compara .
„ ich will nicht müde werden , dich anzuflehen ; sieh mehr auf
mich , dem du etwas zu Liebe thun sollst , als auf deinen Stolz ,
dem es schwer wird , auch nur den Schein der Nachgiebigkeit auf
sich zu nehmen “ . Auf den Vorwurf , daſs sein Starrsinn ihn in
schlechten Leumund beim Heere bringe , mochte Achilleus antworten :
fr. V probis probatus probatus Ribbeck in der adnotatio : probatum die Überlieferung . potius quam multis forem .
Und derselbe mochte dem kampfbegierigen Patroklos warnend zu
bedenken geben :
fr . III contra quantum obfueris , si victus sies
considera et quo revoces summam exerciti ;
als aber Patroklos fest bleibt , giebt er ihm dieselbe Mahnung ,
wie in der Ilias Π , sich mit dem Ruhm zu begnügen , die Troer
von den Schiffen zurückzutreiben , und nicht in die Ebene selbst
vorzurücken ; denn in diesen Zusammenhang gehört , wie Wilamo-
witz gesehen hat ,
fr. IV quod si procedit neque te neque quemquam arbitror
tuae paeniturum laudis , quam ut serves vide .
Wegen der Verschiedenheit des Metrums ist es bedenklich ,
fr . VIII
nec perdolescit fligi socios , morte campos contegi
derselben Scene zuzuweisen , obgleich dies an sich passend wäre ;
vielleicht gehören die Worte in eine vorangehende Scene ; sie
sind sowohl im Munde des Phoinix als des Chores , der etwa aus
Myrmidonen bestanden haben mag , denkbar und gehören natür-
lich einer früheren Scene , vielleicht der Parodos , an .
Für Ribbecks Annahme spricht nur das Fragment XII und
auch dies nur scheinbar ; es lautet :
Scamandriam undam salso sanctam obtexi sanguine
atque acervos alta in amni corpore explevi hostico ,
Worte des Achilleus , die sich nur auf den Kampf an und im
Skamander beziehen können , also eine Episode , die in der Ilias
dem Tod des Hektor unmittelbar vorhergeht . Aber muſs es auch
bei Accius so gewesen sein ? konnte nicht der Tragiker den
Achilleus schon gleich nach Patroklos ’ Tod bis zum Skamander
vordringen lassen , um die Leiche des Patroklos zu retten . In
der Ilias freilich springt er bloſs auf den Wall und treibt nur durch
seine Stimme und das Funkeln seiner Augen die Troer zurück ;
allein , daſs er bei Accius sich wirklich in den Kampf stürzt ,
scheint sich doch aus fr. I unmittelbar zu ergeben . In dieselbe
Scene wird man schon des gleichen Metrums wegen geneigt sein
auch fr. VII zu verweisen :
Mors amici subigit , quod mi est senium multo acerrimum ,
und es mag verstattet sein , hier eine freilich sehr unsichere Ver-
mutung über den Zusammenhang dieser Worte aufzustellen .
Wozu zwingt der Tod des Freundes den Achill ? doch zum Kampf ,
speziell gegen Hektor ; aber warum wird denn der Zwang so
ganz besonders betont ? Hat sich vielleicht Accius des schönen
Motivs der Ilias bedient , daſs dem Achill bestimmt war , unmittel-
bar nach Hektor selbst zu fallen , daſs er also durch die Rache
für den Freund den eigenen Tod beschleunigt ? Vgl. oben Kap. III S. 106 . Dann hätten wir
uns als die Person , mit der Achilleus spricht , Thetis zu denken ;
an sie würde dann auch die Erzählung des Kampfes gerichtet
sein . Mit dem Beschluſs des Achill , trotz dem Schicksalsspruch
den Hektor zu töten , mit dem Versprechen der Thetis , ihm
Waffen zu bringen , könnte das Stück in einer äuſserst dra-
matischen Weise schlieſsen , einer Weise , die dem Hörer zugleich
jeden Zweifel über den weiteren Verlauf benimmt .
So läſst sich der Gang dieses Stückes so klar erkennen , wie der
von wenigen römischen Dramen . Zuerst die kampfeslustigen Myrmi-
donen , dann Achilleus und Patroklos und des ersteren Auszug in
den Kampf , weiter in einer oder zwei Botenreden die Schilderung
von Patroklos ’ Heldentaten und Tod , Achill stürzt sich in den
Kampf , zuletzt Achill und Thetis an der Leiche des Patroklos In dem heillos verdorbenen Fragment XV scheint wenigstens der Name
Phoinix richtig überliefert ; er war also Person ; möglicherweise könnte auch
er es sein , an den Achilleus seine Erzählung ( fr. XII ) richtet . .
Es ist also klar , daſs es die Epinausimache des Accius ist ,
und nicht die Myrmidonen , die den Myrmidonen des Aischylos ent-
spricht ; wenigstens dem Inhalte nach ; denn ob eine direkte Be-
nutzung des Aischylos von Seiten des Accius stattfand , ist nicht
auszumachen ; aber auch von den Fragmenten dieses Stückes be-
rechtigt keines zu der Annahme , daſs die πρεσβεία darin vor-
kam . Es ist also weder erweislich noch wahrscheinlich , daſs
Accius diese Episode der Ilias dramatisch behandelt hat , viel
weniger noch , daſs er es nach dem Vorbild des Aischylos gethan
hat , und ein Schluſs aus Accius auf Aischylos ist somit durch-
aus unzulässig .
Kehren wir nun zu diesem zurück . So wenig wie es ein
äuſseres Zeugnis dafür giebt , daſs die Myrmidonen des Aischylos
mit der πρεσβεία begannen , ebenso wenig ist dies aus inneren
Gründen wahrscheinlich zu machen . Im Gegenteil wird man
fragen , ob es nicht eine bedenkliche Tautologie wäre , wenn sowohl
der Chor der Myrmidonen als die Gesandten Agamemnons den
Achilleus vergeblich zur Teilnahme am Kampfe aufforderten . Ent-
scheidend aber ist , daſs bereits im Anfang des Stückes , wie die
beiden Fragmente der Parodos beweisen , die Schlacht in der
Nähe des Lagers und der Schiffe tobt , also zu friedlicher Ab-
sendung der Haupthelden der Zeitpunkt schlecht gewählt wäre .
Da es also weder ausdrücklich bezeugt noch an sich wahrschein-
lich ist , daſs in den Myrmidonen die πρεσβεία vorkam , und da
wir auch von keinem anderen Stück des Aischylos , das diesen
Gegenstand behandelt haben könnte , Kunde haben , so ergiebt
sich daraus die Unrichtigkeit der Behauptung , daſs die Vasen-
maler bei Darstellung der πρεσβεία von Aischylos abhängig sind .
Der Schöpfer dieses Typus wollte nichts Anderes darstellen ,
als die Scene der Ilias ; freilich fehlt dort Diomedes . Aber der
Maler mochte sich erinnern , daſs kurz vorher und kurz nachher
Diomedes im Rate der Achäer eine groſse Rolle spielt und ihn
aus diesem Grunde oder auch aus ungenauer Reminiscenz der
Gesandtschaft beigesellen .
Es bliebe nun noch eine entfernte Möglichkeit , daſs zwar
nicht die ganze Scene , aber wenigstens die Hauptfigur der Dar-
stellung aus Aischylos entnommen wäre . Denn denkbar wäre es
doch , daſs der verhüllt dasitzende Achilleus in den Phrygern des
Aischylos der gleichzeitigen Kunst den Anlaſs geboten hätte , den
Helden nun auch bei andern Gelegenheiten in ähnlicher Weise
darzustellen . Ja , wenn nur die Analogie wirklich schlagend wäre ;
aber gerade das eigentlich Charakteristische , die Verhüllung des
Gesichts , ist nirgends dargestellt ; er legt nur die Hand traurig
an den Kopf ; für diesen gewöhnlichen Gestus tiefer Trauer be-
durften aber die Künstler wahrlich nicht des Vorgangs der Bühne .
Doch wollte man in dieser einen Figur auch die Einwirkung der
Bühne zugeben , so bliebe doch dabei die Behauptung , daſs die
dargestellte Sagenform die alte des Epos und nicht eine neue ,
vom Drama geschaffene ist , in voller Kraft bestehen .
Genau so steht es mit dem zweiten Stück der Trilogie , den
Nereiden . Hier kommt namentlich die aus Kameiros stammende
Pelike des britischen Museums in Betracht , die Engelmann
M. d. I. XI tav. VIII publiziert hat . Das Monument ist aus
stilistischen und paläographischen Gründen dem fünften Jahr-
hundert zuzuweisen . Thetis umarmt ihren verhüllt und traurig
dasitzenden Sohn , während zwei Nereiden die Waffen halten und
Athena und Phoinix als Zuschauer gegenwärtig sind . Die Dar-
stellung enthält nichts , das uns zu der Annahme einer anderen
poetischen Quelle als der Ilias zwänge ; denn daſs auch in den
Nereiden zuerst Achill stumm und verhüllt auf der Bühne ge-
sessen hätte , wie Brunn auf ähnliche oder spätere Darstellungen
gestützt annahm , ist weder erweislich noch wahrscheinlich . Die
Verhüllung des Hauptes aber ist hier durch die Trauer um Pa-
troklos auch ohne Vorgang des Aischylos hinreichend motiviert .
So bleiben also nur noch die Darstellungen von Hektors
Lösung übrig ; ihre Betrachtung aber liefert die allererwünschteste
Bestätigung für meine Behauptung . Auf den Vasen des fünften
Jahrhunderts finden wir den alten archaischen auf dem Epos be-
ruhenden Typus einfach beibehalten ( s. oben S. 19 ) : Achill auf der
Kline , vor ihm der Tisch mit Speisen , unter der Kline die Leiche
des Hektor . Von der Verhüllung des Hauptes , die doch gerade
für das entsprechende Stück der Trilogie , die Φρύγες , ausdrück-
lich bezeugt ist , findet sich auf den rotfigurigen Vasen strengen
Stiles keine Spur An dieser Stelle würde die Darstellung einer Münchener Vase ( Nr. 890
Jahn , Gerhard A. V. III 197 , Overbeck Her. Gall . XX 2 ) einzureihen sein ,
auf der Priamos die Kniee des verhüllt dasitzenden Achilleus flehend um-
faſst . Nach der Publikation würde man geneigt sein , die Vase der Über-
gangsperiode zum freieren Stil , also dem Ende des fünften Jahrhunderts zu-
zuschreiben ; dazu würde es vortrefflich stimmen , daſs wir auf ihr den Bruch
mit dem alten Typus bereits vollzogen sehen . Das Motiv der Verhüllung
könnte in dieser Periode allerdings auf Aischylos zurückgehen , obgleich es
so sehr durch die Situation selbst gegeben ist , daſs der Maler wahrlich keiner
besonderen poetischen Vorlage bedurfte . Allein Brunn , Troische Miscellen III
S. 182 versichert , die Vase sei „ von provinciell etruskischer Technik ( rot auf
schwarz aufgemalt ) “ und so muſs ich mich , da ich keine klare Erinnerung
von derselben habe , bescheiden . Wie aber Brunn dazu kommt , an der-
selben Stelle von einem „ Besuch des Priamos bei dem ( zürnenden ) Achill “
zu sprechen , ist mir unverständlich . . Auf der späten tarentinischen Vase aber
und der Mehrzahl der römischen Monumente wird Hektor ge-
wogen , ein Zug , der ausdrücklich für Aischylos bezeugt ist ; die
Verhüllung des Hauptes ist nur auf der tarentinischen Vase und
zwar in wenig charakteristischer Weise angedeutet .
Die Musterung der Monumente hat also gezeigt , daſs die
„ tragische Ilias “ des Aischylos auf die Vasenmalerei des fünften
Jahrhunderts entweder überhaupt keinen oder wenigstens keinen
die Sagenversion bestimmenden Einfluſs gehabt hat .
Auch die Gruppe von Vasenbildern , die , wie Brunn und
Klein scharfsinnig erkannt haben , den Streit um die Waffen des
Achilleus darstellen , sollen nach Brunns Versicherung vom Drama
beeinfluſst sein . Da indessen der Typus der Streitscene selbst
schon auf schwarzfigurigen Vasen sich findet , also der epischen
oder wenigstens vor dem Drama liegenden Sagengestaltung an-
gehört , so könnte sich der Einfluſs des Dramas nur auf das
Gegenbild beschränken , der Darstellung der Abstimmung , die in der
früher ( Kap. III ) geschilderten Weise als Gegenstück zum alten Typus
wahrscheinlich erst im fünften Jahrhundert von der Vasenmalerei
geschaffen ist . Aber daſs der Streit durch die Abstimmung der
Achaier entschieden wird , ist gewiſs der ältere und trotz Welckers
Auseinandersetzung auch für Arktinos vorauszusetzende Zug S. unten den Excurs Ὅπλων κρίσις . .
Ich übergehe Behauptungen , die ohne jeden Versuch des
Beweises aufgestellt werden , wie die , daſs Hierons Darstellung
der zwei Palladien — eine spezifisch attische Lokalsage — oder
Danae oder Odysseus und Penelope in der dargestellten Sagen-
version vom Drama abhängen , und wende mich zu zwei Vasen-
bildern , bei welchen die Möglichkeit einer Abhängigkeit von
Aischylos nicht so leicht von der Hand gewiesen werden darf ,
wie bei den bisher besprochenen .
Das erste ist die sehr fragmentierte Vase aus der Samm-
lung des duc de Luynes ( jetzt im Cabinet des médailles befind-
lich , s. M. d. I. II 10 b , Overbeck XXII 9 ) , auf der in der Mitte
Hermes mit der Seelenwage , links Zeus und rechts eine mit
lebhafter Gebärde ihre Teilnahme bezeigende Frau , offenbar die
Mutter eines der beiden Helden , deren Geschick abgewogen wird ,
dargestellt ist . Man erkennt die Seelenwägung des Memnon und des
Achilleus und in der Frau rechts Eos . In der sichersten Weise ist
nun diese Scene für die Ψυχοστασία des Aischylos bezeugt , und
zwar von den allerglaubwürdigsten Gewährsmännern Aristonikos
und Plutarch . Aristonikos bemerkt : schol. Il. Θ 70 (δύο κῆρε
τανηλεγέος ϑανάτοιο ) ὅτι τὰς ϑανατηφόρους μοίρας λέγει . ὁ δὲ
Αἰσχύλος νομίσας λέγεσϑαι τὰς ψυχὰς ἐποίησε τὴν ψυχοστασίαν ,
ἐν ᾗ ἐστὶν ὁ Ζεὺς ἱστὰς ἐν τῷ ζυγῷ τὴν τοῦ Μέμνονος
καὶ Ἀχιλλέως ψυχήν Vgl. auch denselben Aristonikos zu Χ 209 und Porphyrios zu beiden
Stellen . , und Plutarch Mor. p. 17 A ἐπὶ τοῦ
Διὸς εἰρηκότος Ὁμήρου·· ἐν δ̕ ἐτίϑει δύο κῆρε τανηλεγέος ϑανα-
τοιο , τὴν μὲν Ἀχιλλῆος , τὴν δ̕ Ἕκτορος ἱπποδάμοιο · ἕλκε δὲ
μέσσα λαβών · ῥέπε δ̕ Ἕκτορος αἴσιμον ἦμαρ · ᾤχετο δ̕ εἰς Ἀίδαο ,
λίπεν δέ ἑ Φοῖβος Ἀπόλλων̕ , τραγῳδίαν ὁ Αἰσχύλος ὅλην τῷ
μύϑῳ περιέϑηκεν ἐπιγράψας Ψυχοστασίαν καὶ παραστήσας ταῖς
πλάστιγξι τοῦ Διὸς ἔνϑεν μὲν Θέτιν , ἔνϑεν δὲ τὴν Ἠὦ
δεομένας ὑπὲρ τῶν υἱέων μαχομένων , was durch Pollux
IV 130 bestätigt wird . Es ist nun augenscheinlich , daſs das Vasen-
bild mit der hier beschriebenen Scene keineswegs übereinstimmt .
Es möchte noch hingehen , daſs nur eine der Mütter dargestellt
ist ; der Vasenmaler kann die andere aus Rücksicht auf die
Symmetrie der Komposition weggelassen haben . Aber wie kommt
es , daſs Hermes die Wage hält ? Auch die Ausrede , daſs er
vielleicht bei Aischylos κωφὸν πρόσωπον gewesen sei , wie Bia im
Prometheus , hält nicht Stich , da beide Gewährsmänner auch aus-
drücklich hervorheben , daſs Zeus selbst die Wage hielt . Dies ist
um so auffälliger , als nicht nur auf späteren Darstellungen , wie
dem etruskischen Spiegel ( Gerhard II 235 , Overb. XXII 5 ) und der
unteritalischen Vase ( Overb. XXII 7 ) , sondern auch auf der dem
fünften Jahrhundert angehörigen Schale M. d. I. VI 5 a stets
Hermes es ist , der die Wägung vollzieht ; auf der rotfigurigen
Vase strengen Stiles bei Overb . XXII 10 , die Zeus in der Mitte und
auf beiden Seiten die flehenden Mütter zeigt , fehlt Hermes , aber
mit ihm auch jede Andeutung der Psychostasie . Wie soll man sich
das erklären , wenn wirklich die Tragödie des Aischylos diese
Scene der Kunst übermittelt hat . An sich ist es ja leicht be-
greiflich , daſs das Amt der Seelenwägung dem Seelenführer über-
tragen , daſs aus dem ψυχοπομπός ein ψυχοστάιης wird , aber man
verlangt doch zu wissen , wie gerade die Kunst dazu kam , diese
Figur einzufügen , statt sich mit der Gruppe des wägenden
Zeus in der Mitte der Mütter , wie sie bei Aischylos auf dem
ϑεολογεῖον sichtbar war , zu begnügen ; wie sie weiter dazu kam ,
gerade diese dem Aischylos fremde Figur mit solcher Zähigkeit
festzuhalten und lieber den Zeus selbst oder eine der Mütter
wegzulassen . Wie leicht wäre es z. B. dem Maler der Luynes-
schen Vase gewesen eine symmetrische Komposition herzustellen ,
wenn er einfach herübergenommen hätte , was auf der Bühne
Jedermann sah , Zeus mit der Wage in der Mitte und zu beiden
Seiten die flehenden Mütter , allein er konnte sich nicht ent-
schlieſsen , auf den Hermes zu verzichten . Ich denke das Alles
weist mit zwingender Notwendigkeit darauf hin , daſs diese
Rolle des Hermes schon durch die bildliche oder poetische Tra-
dition übermittelt ist , und der nächstliegende Gedanke ist gewiſs
der , daſs schon Arktinos die Psychostasie aus der Ilias und zwar aus
Χ 209 herübergenommen oder richtiger herausentwickelt hat , und
daſs bei ihm nicht Zeus , sondern Hermes in Gegenwart des Zeus
die Wägung vollzog . Aus der lakonischen Hypothesis des Pro-
klos läſst sich wenigstens so viel entnehmen , daſs Eos vor oder
nach dem Kampfe bei Zeus war , um ihrem Sohn Unsterblichkeit
zu erwirken (καὶ τούτῳ μὲν Ἠὼς παρὰ Διὸς αἰτησαμένη ἀϑα-
νασίαν δίδωσι . ) Allein dieser scheinbar einfachen Annahme stellt
der Wortlaut der Iliasscholien und der Plutarchstelle eine sehr
erhebliche Schwierigkeit entgegen . Die Einführung des Hermes
ist bedingt durch die Auffassung der δύο κῆρε als ψυχαί , eine
Auffassung , die eben Aristarch und seine Schule als gänzlich ver-
fehlt rügt und dem Aischylos zum Vorwurf macht . Wenn aber
unsere Annahme richtig ist , so hätte Aischylos seine Auffassung
einfach von Arktinos entlehnt , und nicht den attischen Tragiker ,
sondern den milesischen Epiker hätte Aristarchs Tadel treffen
sollen . Und wie kann Plutarch sagen , daſs Aischylos aus der
Iliasstelle eine ganze Tragödie gemacht habe , wenn schon Arktinos
die Psychostasie auf Memnon übertragen hatte ? Allein man weiſs
ja , daſs die alexandrinischen Grammatiker sich um die Gedichte
des Cyklus ebenso wenig bei ihren mythologischen wie bei ihren
grammatischen Untersuchungen kümmerten , und daſs sie nament-
lich bei der Frage nach dem Verhältnis der Tragiker zu Homer
dieses Mittelglied häufig ganz ignorierten S. Wilamowitz , Philologische Untersuchungen IV Antigonos S. 165 . . Plutarch aber ist eben
von dieser alexandrinischen Anschauung abhängig ; hätte er aber
auſser seinem Homercommentar noch andere Quellen einzusehen
Veranlassung genommen , so würde er sich schwerlich an die ver-
Philolog. Untersuchungen V. 10
schollene Aithiopis , sondern höchstens an die ὑπόϑεσις derselben ge-
wandt haben , in der die Psychostasie nicht erwähnt wird . Ein Schluſs
aus dem Schweigen sei es der Alexandriner sei es des Plutarch
auf den Inhalt der Aithiopis ist also unzulässig , und somit steht
der Hypothese , daſs auch in der Aithiopis die Psychostasie vor-
gekommen sei und daſs diese die letzte poetische Quelle für die
Darstellungen sowohl auf den attischen Vasen , wie auf dem
etruskischen Spiegel sei , wenigstens nichts direkt im Wege .
Ja die Weiterbildung eines in der Ilias vorliegenden Motivs
wäre ganz im Charakter dieses Gedichtes .
Das zweite Monument , das mit einigem Anspruch auf
Wahrscheinlichkeit als Beweis von Aischylos ’ Einfluſs auf die
gleichzeitige Vasenmalerei angeführt werden könnte , ist eine
noch dem fünften Jahrh . angehörige Vase des britischen Mu-
seums ( früher Cabinet Durand nr. 68 , abgebild . Jahn Arch.
Aufs. T. 2. Overbeck Her. Gall. XIII 9 ) , welche Telephos mit
dem kleinen Orestes auf dem Hausaltar des Agamemnon dar-
stellt . Die späteren Darstellungen dieser Scene auf etruskischen
Urnen , unteritalischen Vasen und dem pergamenischen Fries sind
ausnahmslos von Euripides abhängig ; denn wenn sie auch in
richtiger künstlerischer Empfindung die bettelhafte Erscheinung
des Telephos ganz verwischen oder nur leicht andeuten , gerade
wie die des Odysseus beim Freiermord auf einer attischen Vase
nur durch die Exomis angedeutet wird , so behalten sie doch den
eigentlich charakteristischen Zug bei , daſs Achilleus gegen den
kleinen Orestes das Schwert zückt . Anders hier , wo Telephos
die Rechte ruhig auf den Speer stützend den kleinen Orestes auf
dem Schoſs hält , Agamemnon zwar erstaunt , aber ohne jedes
Zeichen des Schreckens naht , und der Knabe ruhig und freundlich
dem Vater die Arme entgegenstreckt : das ist nun und nimmer
die euripideische Scene . Ist also etwa Aischylos die Quelle ? Über den Telephos des Euripides und den des Aischylos hat zuletzt
N. Wecklein ( Sitzungsber. der bayer. Akad. 1878 S. 198 ) gesprochen ; weder
die Methode noch die Resultate dieser Abhandlung kann ich für richtig er-
achten und habe daher keine Veranlassung , dieselbe zu berücksichtigen .
Der Scholiast zu Aristophanes Acharn . 332 sagt : ὁ Τήλεφος κατὰ
τὸν τραγῳδοποιὸν Αἰσχύλον , ἵνα τύχῃ παρὰ τοῖς Ἕλλησι σωτηρίας ,
τὸν Ὀρέστην εἶχε συλλαβών . Hierdurch würde also die Scene auch
für das Stück des Aischylos bezeugt , wenn nur die Überlieferung
glaubhaft wäre . Allein mit Recht bemerkt Wilamowitz , daſs
unmöglich jemals es einem Leser entgehen konnte , daſs Aristo-
phanes in jener Scene den Euripides und nicht den Aischylos
parodieren will . Wilamowitz urteilt deshalb gewiſs mit Recht ,
daſs der Scholiast ursprünglich nur κατὰ τὸν τραγῳδοποιόν ge-
schrieben und damit den Euripides gemeint hatte , daſs aber ein
späterer Interpolator miſsverständlich den Aischylos einsetzte Eine Verwechselung des Aischylos und des Euripides nahm auch be-
reits Vater Aleaden S. 19 an ; anders O. Jahn Telephos u. Troilos S. 37 . .
Ein direktes Zeugnis für das Vorkommen der Scene bei Aischylos
giebt es also nicht , freilich auch keines , daſs gegen das Vor-
kommen derselben spräche . Ähnlich steht es mit den Kyprien ;
Proklos bemerkt nur summarisch : ἔπειτα Τήλεφον κατὰ μαντείαν
παραγενόμενον εἰς Ἄργος ἰᾶται Ἀχιλλεὺς ὡς ἡγεμόνα γενησόμενον
τοῦ ἐπ̕ Ἴλιον πλοῦ , Worte , die nach keiner von beiden Seiten
hin eine Entscheidung ermöglichen . Dennoch hat bereits Over-
beck Her. Gall. S 398 angenommen , daſs bereits in den Kyprien
der Vorgang erzählt gewesen und daſs die Darstellung der in
Rede stehenden Vase von diesem Epos abhängig sei .
Für die Entscheidung der Frage ist es wesentlich , wie man
über das Verhältnis dieser Episode zu der Geschichte von
Themistokles bei dem Molotterkönig Admetos denkt . Schon
der Bericht des Thukydides I 136 , der doch gewiſs die attische
Volksvorstellung jener Zeit wiedergiebt , stimmt mit dieser Epi-
sode der Telephos-Sage in der uns geläufigen Fassung so augen-
fällig überein , daſs der Gedanke an Zufall ausgeschlossen scheint .
Vergebens sucht man das Gewicht dieser Übereinstimmung da-
durch abzuschwächen , daſs man auf die Ähnlichkeit der Motive
im Ὀδυσσεὺς μαινόμενος und in der Andromache verweist ; gerade
diese Vergleichung lehrt , daſs die Ähnlichkeit in unserem Falle
über die eines allgemeinen Motives weit hinausgeht . Ich sehe
zur Erklärung dieser auffälligen Erscheinung nur zwei Wege .
10*
Entweder die Episode aus dem Leben des Themistokles ist
historisch ; da man sich nun schwerlich zu der Annahme wird
entschlieſsen können , daſs Themistokles und Admet eine Episode
der Kyprien oder eines eben aufgeführten attischen Dramas ins
praktische Leben übersetzt haben , wie das allerdings schon im
Altertum einige Historiker gethan zu haben scheinen ( Plutarch
Themist. 25 ) , so wird man sich in diesem Falle der Vermutung
Geels zuneigen müssen , daſs Aischylos ein Ereignis aus dem
Leben des Themistokles , wie es sich wirklich begeben hatte oder
wie es wenigstens das Gerücht erzählte , auf Telephos übertragen
habe , vielleicht mit einer ganz bestimmten politischen Tendenz .
In diesem Falle wäre also die Episode in den Kyprien nicht vor-
gekommen und die poetische Quelle für das Vasenbild würde
Aischylos sein . Oder die Episode gehört bereits der Themistokles-
legende So urteilt auch Mommsen , Römische Forschungen I S. 118. 146 . , dann natürlich in ihrem frühesten Stadium an ; dann
ist sie von Telephos auf Themistokles übertragen , und dann ist es
weit wahrscheinlicher , daſs die Volksphantasie aus alter epischer
Überlieferung als aus junger dramatischer Erfindung schöpfte .
Wer den starken Trieb schon des fünften Jahrhunderts zur
Legendenbildung kennt , wird nicht umhin können , die letztere
Annahme für die weitaus wahrscheinlichere zu halten . So darf
also das Epos mindestens mit demselben Recht , wie Aischylos ,
für die poetische Quelle der Darstellung auf der Londoner Vase
gelten .
Nähere Prüfung hat also gezeigt , daſs Einwirkung des
attischen Dramas auf die Vasenmalerei des fünften Jahrhunderts
in keinem einzigen Falle wirklich erwiesen ist , und man also
kein Recht hat , wie es so häufig geschieht , eine solche ohne
weiteres zu postulieren und rotfigurige Vasen strengen Stiles zur
Rekonstruktion von Dramen zu verwenden .
V.
DER TOD DES AIGISTHOS .
Eine kleine schon wiederholt besprochene Gruppe attischer
Vasen des fünften Jahrhunderts stellt die Ermordung des Aigisthos
dar ; die hier in Betracht kommenden Gefäſse , sämtlich rotfigurig
und meist strengen Stils , sind die folgenden :
A ) Sog . Pelike in Wien , gefunden in Cervetri ,
abgeb. M. d. I. VIII tav. XV ( darnach Wiener Vorlege-
blätter Serie I Taf. 1 nr. 2 ) ,
besprochen von Benndorf A. d. I. 1865 p. 212 f .
B ) Stamnos im Berliner Museum , gef. in Vulci . Gerhard ,
Berlins antike Bildwerke nr. 1007 ,
abgeb. Gerhard , Etruskische und Campanische Vasen-
bld. Taf. 24 ( darnach Overbeck Her. Gall. XXVIII 10 ,
Welcker A. D. V S. 247 , Conze , Vorlegebl. Ser. I
Taf. I 1 , in Jahns Ausgabe d. Electra u. öft. ) ,
bespr. auch von Jahn Arch. Zeit . 1860 S. 43 .
C ) Kylix des Kachrylion , gef. in Vulci ,
früher in der Sammlung Canino ( Gerhard rapp .
volc . 417. Musée étrusque du prince de Canino
nr. 1186 ) , jetzt verschollen , vgl. auch Brunn , Künstler-
gesch . II S. 703 .
D ) Amphora , früher bei Baseggio ,
abgeb. M. d. I. V tav. LVI ( darnach Welcker A. D. V.
T. XVIII ) ,
bespr. von Welcker , A. d. I. 1853 p. 272 ( = A. D. V
S. 287 f. ) .
E ) „ Kelebe “ in Bologna , beschrieben B. d. I. 1872 p. 110
ungenau .
Eine Gruppe aus dieser Komposition kehrt wieder auf
F ) Amphora in Wien Daſs diese Vase mit der bei Millin peint. de vases II 24 ( darnach
Gall . Myth. 170 , 614 ) abgebildeten , damals in Hope’s , früher in Hamiltons
Besitz befindlichen und ferner mit der von Hirt in Catania im Museo Biscari
gesehenen ( Berl. Kunstblatt 1829 p. 70 ) identisch ist , scheint mir unabweislich ;
vgl. O. Jahn a. a. O. Anm. 11 . ,
abgeb. Arch. Zeit . 1854 Taf. LXVI 1 ,
bespr. von O. Jahn a. a. O. S. 230 f.
Endlich gehört in diesen Zusammenhang :
G ) Kleine Kylix aus Corneto im Berliner Museum No. 1610 ,
abgeb. Arch. Zeit . 1854 Taf. LXVI ,
bespr. von O. Jahn a. a. O. S. 233.
Der am längsten bekannte Berliner Stamnos ( B ) mag in der
Besprechung vorangestellt werden . Dem auf einem reich ge-
schmückten Sessel sitzenden Aigisthos ( ) stöſst der
völlig gerüstete Orestes ( ) das Schwert in die Brust .
Umsonst sucht der Getroffene den rechten Arm seines Gegners
zu umfassen und das linke Bein desselben mit seinem rechten
Fuſs wegzudrängen . Hinter Orestes eilt in reich geschmücktem
Doppelgewande und Haube Klytaimnestra herbei , das Doppelbeil
über dem Haupte mit beiden Händen erhebend , um den Geliebten ,
wenn nicht zu retten , so doch zu rächen ( ) ,
während hinter Aigisthos Elektra ( ) erscheint , die Linke
mit der bekannten Geberde des Entsetzens an den Hinterkopf
legend und die Rechte gegen Orestes hin ausstreckend . Das
Befremdliche und , man darf wohl sagen , Peinliche dieser Dar-
stellung liegt darin , daſs wir nicht sehen , wie Orestes dem
drohenden Todesstreich entgehen kann . Wohl hat O. Jahn richtig
darauf aufmerksam gemacht , daſs Elektra den Orestes durch Zu-
ruf warnt , allein das Beil ist ihm zu nahe , als daſs er sich , wenn
er auch noch jetzt die Gefahr bemerkt , davor schützen könnte ;
und so muſs jeder unbefangene und nicht durch eine bestimmte
Sagenversion voreingenommene Beschauer allerdings den Eindruck
haben , daſs Elektras Warnung vergeblich ist und das Beil im
nächsten Augenblick auf das Haupt des Orestes niederfällt , daſs also
der Maler eine Sage darstellen wollte , nach der Orestes zwar seinen
Vater an Aigisthos rächt , aber in demselben Augenblick von seiner
eigenen Mutter erschlagen wird . Da nun eine solche Version
unserer gesamten Überlieferung von der Orestes-Sage widerspricht
und wenigstens für das Athen des 5. Jahrhunderts , ja überhaupt —
es sei denn für einen Mythographen vom Schlage des Ptolemaios
Hephaistion — nicht denkbar ist , so würde man schwerlich so bald
die richtige Deutung gefunden oder ihr , wenn sie aufgestellt
worden wäre , Glauben geschenkt haben , wäre nicht die Meinung
des Vasenmalers durch die beigesetzten Namen sicher gestellt .
So also gilt es , sich mit dem Befremdlichen der Scene auf die eine
oder andere Weise abzufinden . Für Welcker war mehr als alles
Andere der Gedanke abstoſsend , daſs die Mutter das Mordbeil
gegen ihren Sohn schwingen solle , weil er gerechte Rache übe ,
( freilich vergaſs er dabei , daſs in der dargestellten Scene Kly-
taimnestra ihren Sohn noch nicht erkannt hat ) er nimmt also
an , daſs der Maler die Gestalten der Klytaimnestra und Elektra
vertauscht habe , daſs in der ursprünglichen Komposition die
hinter Aigisthos stehende Elektra das Beil geschwungen habe ,
natürlich gegen Aigisthos . Veranlaſst wurde Welcker zu dieser
Annahme durch die Darstellung auf D , wo in der That die hinter
Aigisthos herbeieilende Frau — nach Welckers Deutung Elektra
— mit beiden Händen das Doppelbeil über ihrem Haupte zum
Schlag erhebt . Wenden wir uns nun also zu D , so muſs zuerst
konstatiert werden , daſs diese Vase nicht , wie Welcker annahm ,
älter , sondern mindestens ebenso jung , wahrscheinlich weit
jünger ist , als der Berliner Stamnos , auf dem noch konsequent
dreistrichiges Sigma geschrieben ist und Ν und Ε noch schräg
stehen . D gehört zu jener Klasse von Amphoren , die mit
einer rings um den Bauch des Gefäſses herumlaufenden Dar-
stellung geschmückt sind , ein Verfahren , wodurch der Maler ge-
nötigt wird , viele Nebenfiguren , meistens namenlose , anzubringen .
In dieser Manier pflegt der Vasenmaler Hermonax Vgl. Körte Arch . Zeit . 1878 S. 111 . , der kon-
sequent vierstrichiges Sigma schreibt und seine Künstlerinschrift
in eigentümlicher Weise στοιχηδόν zu setzen liebt , seine Gefäſse
zu bemalen ; und ich kenne kein Gefäſs dieser Art , welches ich
über die Mitte des fünften Jahrhunderts zurückdatieren möchte .
Die Amphora Baseggio darf daher wohl für das jüngste der fünf
ersten oben aufgezählten Gefäſse gelten .
Der tragische Eindruck der Hauptgruppe ist auf D im Vergleich
mit der Berliner Vase ungemein abgeschwächt ; auch ist ein etwas
früherer Moment dargestellt . Aigisthos sitzt nicht auf dem Thron ,
er ist auf ein Knie niedergesunken , während er sich mit dem
Stab unter der Achsel stützt . Orestes ohne Rüstung , nur mit
kurzem Chiton und Chlamys bekleidet , ist erst im Begriff den
Stoſs zu führen ; der linke Arm mit der leeren Schwertscheide
ist zur Deckung vorgestreckt , der rechte holt zum Stoſse aus .
Mit Recht hat man auf die Ähnlichkeit mit dem Harmodios des
Antenor hingewiesen . Hinter Orest steht ein ähnlich gekleideter
bärtiger Mann die Hand auf den Speer gestützt als ruhiger Zu-
schauer — Pylades nennt ihn Welcker , ob mit Recht , wird sich
später zeigen . Hinter Aigisth eilt die schon oben erwähnte Frau
mit geschwungenem Beil herbei ; ihre Stellung und Haltung ist
dieselbe , wie die der Klytaimnestra auf B , nur im Gegensinne ;
auch trägt sie wie jene eine Haube ; aber ihr Gewand ist dem
ganzen Charakter der Vase entsprechend einfacher . Unmittelbar
hinter ihr und zwar , wenn auch auf der Rückseite der Vase ,
durch keine äuſsere Abgrenzung von ihr geschieden , finden wir
vier Frauen , die in lebhaftester Weise ihren Schmerz äuſsern ;
die drei vorderen eilen der Beilschwingerin nach ; die Haltung
der dritten ist der der Elektra auf B sehr ähnlich . Welckers
Deutung auf den Schatten der Klytaimnestra und die drei
Erinyen wird heute gewiſs Niemand mehr für möglich halten .
Sie ist schon deshalb hinfällig , weil nach dem oben Gesagten
nicht zwei Scenen zu scheiden sind , sondern die Darstellung um
den Bauch des Gefäſses herum gleichsam in sich selbst zurück-
läuft , weshalb auch die vierte Frau en face gestellt ist , um
den Übergang zu dem sog. Pylades , dessen Körper gleichfalls
en face steht , zu vermitteln . Die vier Frauen sind Dienerinnen ,
welche hinter ihrer Herrin her aus dem Frauengemach hervor-
eilen . Sie sind natürlich nicht zu benennen .
Ist nun aber die beilschwingende Frau wirklich Elektra ?
Daſs die Richtung ihres Schlages viel mehr auf Orestes , als auf
Aigisthos hin geht , könnte Ungeschicklichkeit der Zeichnung sein ;
allein in der ganzen Haltung stimmt die Figur so sehr mit der
Klytaimnestra der Berliner Vase überein , daſs diese Benennung
mindestens ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden verdient .
Da der Schlag von vorn den Orestes bedroht und überdies der
Gefährte ihm jeden Moment zu Hilfe eilen kann , fällt hier das
der Darstellung von B gegenüber geäuſserte Bedenken weg , wie
auch die That der Klytaimnestra hier weniger anstöſsig er-
scheint , da sie noch hoffen kann , den Aigisthos durch ihre Hilfe
zu retten .
Die definitive Entscheidung der Frage brachte die Wiener
Pelike A ( vgl. die umstehende Abbildung ) , die in Benndorf
einen scharfsinnigen Interpreten fand . Diese Vasenform mit
ihren tief ansetzenden Henkeln läſst eine Dekoration mit rings-
umlaufender Darstellung , wie bei D , nicht zu , zwingt vielmehr den
Vasenmaler , die Darstellung der Vorder- und Rückseite zu trennen
und also entweder zwei verschiedene Scenen darzustellen oder
die eine Scene in zwei Gruppen zu zerlegen . Die Vorderseite
zeigt die Hauptgruppe , wie auf B , nur noch ungleich dramatischer
als dort. Aigisthos ( ) , aus zwei tiefen Brustwunden
blutend , gleitet am Stuhl herab ; mit der linken Hand ( die auf B
untätig herabhängt ) sucht er sich vergeblich an dem einen Stuhl-
bein zu halten . Der rechte ( auf B der linke ) Fuſs ist erhoben ,
um den Gegner wegzustoſsen , allein er stöſst in die Luft . Die
rechte Hand faſst den linken ( auf B den rechten ) Arm des
Orestes . Dieser ( ) , im Panzer wie auf B , aber ohne
Helm und Beinschienen , hat mit der Linken Aigisthos beim Schopf
gepackt , um ihm die zwei Zwei Wunden giebt bei Sophokles Orestes der Klytaimnestra ; durch
zwei Wunden hat diese bei Aischylos den Agamemnon zu Fall gebracht ;
dem Toten versetzt sie dann noch einen dritten Schlag . Todeswunden zu versetzen . Dies
ist gewiſs das ursprüngliche Motiv , während auf B die linke Hand
des Orestes hinter dem Kopf des Aigisthos verschwindet , und es
dem Beschauer überlassen bleibt , die Funktion des vorgestreckten
linken Armes zu erraten . Ein noch gewichtigerer Unterschied von B
liegt darin , daſs Orestes , der bereits den Stoſs vollführt und eben
das Schwert , dem ein mächtiger Blutstrom folgt , aus der Wunde
herauszieht , den Kopf nach links zurückwendet , als ob dort etwas
seine Aufmerksamkeit erregt habe . Nach derselben Richtung sehen
wir in groſser Erregung ein Mädchen enteilen , das die Hände , ob
zum Zeichen des Schreckens oder um zu begütigen , ist zunächst
nicht klar , erhoben hat . Die Bewegung dieses Mädchens , der Chry-
sothemis ( ) , wie uns die Beischrift belehrt , sowie die
Kopfwendung des Orestes machen die Aufmerksamkeit des Be-
schauers auf die Darstellung der Rückseite rege und leiten so
in geschickter Weise auf diese über . Hier erblicken wir Kly-
taimnestra ( ) , die mit beiden Händen das Beil
gefaſst hält und nach rechts eilend dem Aigisthos zu Hilfe
kommen will . Allein der greise Talthybios ( ) mit
dem Heroldshut auf dem Kopfe hält mit der linken Hand ihren
linken Arm , mit der Rechten das Beil fest und hindert sie , den
Streich gegen Orestes zu führen .
Die hier dargestellte Situation ist in ihrem Entstehen und
in ihrem weiteren Verlauf durchaus verständlich : Klytaimnestra
hat das Beil ergriffen , um Aigisthos zu vertheidigen und Orestes ,
den sie noch nicht erkannt zu haben braucht , zu töten . Aber der
alte treue Diener fällt ihr in den Arm und rettet den Sohn
seines toten Herrn . Kein Zweifel , daſs wir hier die ursprüng-
liche Komposition vor uns haben , kein Zweifel , daſs auch der
Zeichner von B dieselbe Sagenversion und sogar ziemlich genau
denselben Moment darstellen wollte , daſs er demselben Typus
folgt , wie der Zeichner von A ; und hätte dieser hinter Klytai-
mnestra die Figur des Talthybios hinzugefügt , so wäre das Unver-
ständliche und Befremdliche , was die Darstellung jetzt für uns
hat , vermieden worden . Er hat ihn weggelassen , weil die strenge
Symmetrie der Komposition , die für seine , ich möchte sagen
etwas akademische Richtung maſsgebend war , zu beiden Seiten
der Hauptgruppe nur je eine Figur zulieſs , er konnte ihn weg-
lassen , weil er sowohl die Sagenversion als den künstlerischen
Typus derselben als so bekannt voraussetzen durfte , daſs dem
Beschauer über den Ausgang der Scene kein Zweifel blieb , daſs
derselbe vielmehr in der Phantasie im nächsten Augenblick den
Talthybios herbeispringen und dem Orestes Rettung bringen sah .
Was bei einer neugeschaffenen , selbständig erfundenen bildlichen
Darstellung ein grober , weil das Verständniſs aufhebender Fehler
wäre , ist bei einer als einzelnes Glied in der Reihe der bildlichen
Tradition stehenden Darstellung , wenn nicht unbedingt gestattet ,
so doch verzeihlich . Daſs nun auch die Frau auf D als Klytai-
mnestra gefaſst werden muſs , braucht kaum noch ausdrücklich her-
vorgehoben zu werden .
Daſs diese drei Vasen ( A B D ) auf dieselbe Komposition
zurückgehen oder , wie ich lieber sagen möchte , denselben Typus
repräsentieren , springt in die Augen , und zwar entfernt sich D ,
die jüngste , am weitesten von dem ursprünglichen Typus und
hält nur die allgemeinsten Züge desselben fest ; die beiden anderen
hingegen , von denen A augenscheinlich die ältere ist , stehen sich
und dem Original ziemlich nahe , und es fragt sich nur , wenn
beide von einander abweichen , welche von beiden die ursprüng-
lichen Züge treuer bewahrt hat . Es wiederholt sich hier eine
Erscheinung , welche die ganze bildliche Tradition durchzieht : ein-
zelne Züge sind in A , andere in B treuer bewahrt .
In der Darstellung der Hauptgruppe Orestes und Aigisthos
steht gewiſs A dem Original am nächsten ; denn die Bewegung
der linken Arme ist dort zweckmäſsig und verständlich , auf B
unklar und zwecklos ; auch ist es gewiſs natürlicher , daſs Aigi-
sthos zunächst die Hand des Orestes von seinem Haupte zu ent-
fernen sucht und deshalb dessen rechten Arm umfaſst . Hingegen
scheint auf B richtig der Fuſstritt des Aigisthos das Knie des
Orestes zu treffen , während er auf A ins Leere geht . Daſs Orestes
den Kopf umwendet und die drohende Gefahr bemerkt , ist gewiſs
das glücklichere Motiv ; allein auf A ist die Ursache dieser Be-
wegung dunkel , nur vermuten können wir , daſs etwa das Ge-
räusch der Schritte und des Ringens zwischen Klytaimnestra und
Talthybios ihn aufmerksam gemacht habe . Auf B hingegen könnte
der Ruf und die Handbewegung der Elektra eine solche Reflex-
bewegung bei Orestes sehr wohl zur Folge haben — aber hier
gerade wendet Orestes den Kopf nicht um . So haben wir
auf B die Ursache , auf A die Wirkung ; und es wird nicht zu
kühn sein , daraus den Schluſs zu ziehen , daſs in der ursprüng-
lichen Komposition Orestes wesentlich wie auf A , Elektra an
derselben Stelle und in derselben Stellung wie auf B dargestellt
war . Denn daſs Chrysothemis , die auf A ihre Schwester ver-
tritt , an einen anderen Platz und daher auch in veränderter
Haltung erscheint , hat in der dort gewählten , durch die Form
dieses Gefäſses bedingten Kompositionsmanier seinen Grund ;
sie soll , wie oben hervorgehoben , ein Mittelglied zwischen
Vorder- und Rückseite bilden ; mithin ist sie für die Re-
konstruktion des ursprünglichen Typus nicht verwendbar .
Eine Komposition nun , die in allem Wesentlichen der eben
durch Rekonstruktion gefundenen entspricht , zeigt uns die Vorder-
seite der Vase von Bologna E , die auf eine strenge Symmetrie
verzichtet hat ; die Darstellung besteht aus fünf Figuren , die sich
von links nach rechts in dieser Weise folgen : Talthybios — im
Bull. fälschlich als Pylades bezeichnet , aber durch den Herolds-
hut gesichert — Klytaimnestra Orestes ( ohne Rüstung , in Chla-
mys wie auf D ) Aigisthos Elektra . Elektra streckt , wie auf B ,
den rechten Arm gegen Orestes hin aus und scheint ihm zu-
zurufen . Orestes wendet , durch sie aufmerksam gemacht , den
Kopf nach rückwärts , wo Klytaimnestra mit dem Beil über dem
Haupte zum Streiche ausholt , aber von dem herbeigeeilten Tal-
thybios , der mit der Rechten ihre Hand , mit der Linken das Beil
festhält , am Schlage gehindert wird . Von allen erhaltenen Dar-
stellungen dieser Gruppe hat also E den ursprünglichen Typus
am treuesten bewahrt — wenigstens in der Gesamtkomposition ;
denn in den einzelnen Figuren , wie in der der Klytaimnestra
und der Gruppe von Aigisthos und Orestes steht es , abgesehen
von der Kopfwendung des letzteren , B näher als A .
Zweifelhaft bleibt , ob in dem ursprünglichen Typus Kly-
taimnestra mit erhobenem wie auf B D E oder mit gesenktem
Beil , wie auf A zu denken ist ; in ähnlicher Haltung , wie dort ,
kehrt sie auch auf der Wiener Amphora F wieder , die nur die
Gruppe von Klytaimnestra und Talthybios auf der Vorderseite ,
auf der Rückseite einen nach rechts fliehenden nackten Jüngling
mit dem Reisesack in der Hand , etwa einen Gefährten des
Orestes zeigt Diese Deutung scheint mir durch die Vergleichung mit A unabweisbar
zu sein ; natürlich ist Klytaimnestra in derselben Situation dargestellt , wie
in der Gruppe A—E ; es ist also sowohl die Deutung Millins und Gerhards
auf Aigisthos und Klytaimnestra im Augenblick vor der Ermordung Aga-
memnons als die Welckers und Jahns auf Merope und Kresphontes abzu-
weisen . Der Jüngling der Rückseite ist auch äuſserlich zu sehr als Neben-
figur behandelt , um für Kresphontes gelten zu können . Die Amphoren dieser
Form und dieses Stils pflegen in der Regel eine gleichgültige mit der Haupt-
scene nur in einem losen Zusammenhange stehende Figur auf die Rückseite
zu setzen . Andererseits lieben sie gerade einzelne Gruppen aus gröſseren
Kompositionen herauszunehmen , da sie selten mehr als zwei Figuren auf
die Vorderseite setzen . Auf einer Vase des Brit. Museums nr. 875 ( abgeb.
de Witte et Lenormant Élite céramog . II 51 , M. d. I. I 5 ) ist Hermes
vor dem leierspielenden Paris dargestellt ; die Göttinnen fehlen ; allein
der Vergleich der Paris-Vasen des Hieron und Brygos setzt die angeführte
Deutung auſser Zweifel ; bisher wollte man fälschlich Hermes und Apollon
erkennen . — Daſs übrigens eine von Euripides beeinfluſste und obendrein
in die der Historie nahestehende Mythenperiode gehörige Darstellung auf
einer Vase des fünften Jahrhunderts etwas Unerhörtes wäre , bedarf nach
den oben ( Kap. IV ) gegebenen Auseinandersetzungen keines besonderen Be-
weises . .
Der nicht publicierten und verschollenen Trinkschale des
Kachrylion ( C ) ihren festen Platz in dieser Reihe anzuweisen , ist
nach der kurz gehaltenen Beschreibung Die Beschreibung im Musée étrusque de Canino nr . 1186 sagt : A l’ en-
terieur d’un côté un homme est renversé par un adolescent furieux qui d’une
main le retient par les cheveux , et de l’autre lève l’ épée pour le percer : une
matrone drapée retient l’epée ; une autre femme plus jeune accourt avec une
espèce de massue dans la main droite ; près de l’homme renversé un adolescent
encourage par ses gestes le meurtrier à accomplir sa vengeance , vgl. auch
Benndorf a. a. O. p. 223 nr. 1 , welcher in der letzten Gruppe Klytaimnestra
und Pylades erblickt . nicht leicht . Die Haupt-
gruppe scheint ähnlich gewesen zu sein , wie auf A ; wie dort ,
faſst Orestes den Aigisthos bei den Haaren , der jedoch nicht auf
dem Sessel sitzt , sondern , ähnlich wie auf D , am Boden liegt .
Die Handlung der Frau neben Orestes scheint miſsverstanden ;
sie wird denselben nicht zurückgehalten , sondern auf die drohende
Gefahr hingewiesen haben . Es war , wenn sie wirklich alt war ,
die Amme , wahrscheinlicher aber Elektra . In der von Brunn
auf Elektra und Pylades gedeuteten Gruppe vielmehr Klytai-
mnestra und Talthybios zu erblicken , scheint mir nach allem
bisher Gesagten nicht zu kühn Einem mir immer wieder aufsteigenden Zweifel , ob die Vase überhaupt
hierhergehöre , möchte ich wenigstens in der Anmerkung Ausdruck geben .
Wenn die Frau wirklich eine Keule und kein Doppelbeil schwingt , liegt der
Gedanke an die Andromache der Iliupersis nahe , s. oben S. 63 f . Der Ge-
fallene wäre dann Deiphobos , der Sieger Menelaos , die Frau , welche seinen
Arm faſst , Helena ; der Mann neben Andromache je nach seiner Handlung ,
die durch die Beschreibung nicht deutlich wird , Odysseus oder ein Tro-
ianer . .
Der dieser ganzen Vasengruppe zu Grunde liegende Typus
stellt also folgende Scene dar : Orestes in voller Rüstung stöſst
dem Aigisthos das Schwert in die Brust . Klytaimnestra eilt mit
geschwungenem Doppelbeil dem Gatten zu Hilfe ; ein warnender
Zuruf der erschreckten Elektra — denn daſs diese und nicht
Chrysothemis ursprünglich ist , wird sich gleich zeigen — macht
den Bruder auf die ihm vom Rücken drohende Gefahr aufmerksam ,
so daſs er sich umsieht , aber schon ist der greise Talthybios zu
Hilfe geeilt und entwaffnet Klytaimnestra . Woher stammt diese
Sagenversion ? Längst ist bemerkt , daſs keiner der drei groſsen
Tragiker die Quelle sein könne ; denn bei Euripides wird bekannt-
lich Aigisthos bei einem Opfer auf dem Lande , bei Sophokles
zwar im Palaste , aber erst nach der Klytaimnestra getötet Vgl. über diese Umgestaltung und ihre Gründe die feinen Bemer-
kungen von A. Mau in den Commentationes Mommsenianae S. 291 f . .
Bei Aischylos endlich wird zwar Aigisthos im Palast , auch vor
Klytaimnestra getötet , allein eine den Vasendarstellungen genau
entsprechende Scene findet sich in den Choephoren nicht . Wohl
ruft dort Klytaimnestra , als ihr der Sklave ( mit den geheimniſs-
vollen Worten „ der Tote tötet den Lebenden “ ) den Tod des
Aigisth meldet :
v. 882
δοίη τις ἀνδροκμῆτα πέλεκυν , ὡς τάχος ·
εἰδῶμεν εἰ νικῶμεν , ἢ νικώμεϑα ,
aber ehe noch ihrem Wort gehorcht werden kann , tritt schon
Orestes vor sie hin , sie erkennt ihn , und vom Widerstand zum
Bitten sich wendend zeigt sie ihm die Brust , die ihn genährt
hat . Diese Version verhält sich also zu der von den Vasen-
malern befolgten , wie Vorsatz zur That ; und es fragt sich , wie
dieser Zusammenhang , den Niemand für zufällig halten wird , zu
erklären ist . Hat etwa ein Dichter oder ein bildender Künstler
anknüpfend an die citierte Stelle der Choephoren den Moment so
ausgebildet , wie wir ihn auf den Vasen sehen ? An Analogien für
einen solchen Vorgang fehlt es ja nicht Vgl. auch Thanatos S. 29 . . Es braucht bloſs an die
aischyleische Behandlung von Hektors Lösung erinnert zu werden
( s. oben S. 96 ) . Allein , daſs eine von einem der unbedeutenderen
dramatischen Dichter des fünften Jahrhunderts herrührende Behand-
lung der Orestessage die aischyleische Version in der Volksphantasie
so verdrängt haben sollte , daſs sie in die Kunstdarstellungen sich
nicht nur Eingang verschaffte , sondern dieselben sogar aus-
schlieſslich beherrschte , ist doch schwer zu glauben ; und so hoch
man auch den Einfluſs der Entwickelung bildlicher Typen auf die
Fortbildung der Sagenstoffe anschlagen mag , so ist doch undenkbar ,
daſs die Gestalt und das entscheidende Eingreifen des Talthybios
die freie Erfindung eines Künstlers sein sollte . Hier muſs die
Poesie vorangegangen sein . Glücklicherweise läſst sich aber in
unserem Fall die Sache noch handgreiflicher beweisen ; denn das
älteste Exemplar unserer Gruppe A muſs — nach der kolossalen
Umgestaltung , welche die Vasendatierung durch die neuesten Ent-
deckungen gemacht hat — entschieden vor die Aufführung der
Oresteia , die bekanntlich Ol. 80,2 ( 458 ) gegeben wurde , fallen .
Wer aber auch behauptet , daſs für eine so zuversichtliche Datierung
der rotfigurigen Vasen strengern Stils unsere Indicien nicht aus-
reichen , wird wenigstens die Vase nicht weit über diesen Zeitpunkt
hinabrücken können . Auf alle Fälle ist der Zeitraum ein viel zu
kurzer für den ziemlich langwierigen Prozeſs , der in der Zeit
zwischen der Aufführung der Choephoren und der Verfertigung
von A sich hätte abspielen müssen : zuerst nämlich müſste ein
Tragiker an die citierten Aischylos-Verse anknüpfend den Mythos
umgestalten , dann müſste ein groſser Künstler — denn auf ältere
bildliche Tradition dürften wir ja in diesem Fall nicht zurück-
greifen — also ein groſser Künstler , etwa ein Maler aus der
Schule des Polygnotos die neue Sagenversion bildlich gestalten ,
endlich müſste diese neue Schöpfung in den Typenvorrat des
Kunsthandwerks eindringen . Absichtlich habe ich bei dieser De-
duktion den oben aufgestellten Satz , daſs in der strengen rot-
figurigen Vasenmalerei Sagenversionen des Dramas unerhört sind ,
bei Seite gelassen ; derselbe würde , wenn er auch für Andere
dieselbe Beweiskraft hätte , wie für mich , allein ausgereicht haben ,
die Sache zu entscheiden .
Wenn also der besprochene Typus weder unmittelbar noch
mittelbar von der Oresteia des Aischylos abhängig ist , so müssen
beide auf dieselbe ältere Sagenbehandlung zurückgehen . Aischylos
hat den gräſslichen Zug , daſs die Mutter gegen den Sohn —
mag sie ihn nun erkannt haben oder nicht — das Beil erhebt ,
ausgemerzt , aber so mächtig war diese Tradition , so tief war sie
der Volksphantasie eingeprägt , daſs er mit den Worten δοίη τις
ἀνδροκμῆτα πέλεκυν ὡς τάχος wenigstens daran erinnern zu müssen
glaubte . Hier sehen wir den selbständig schaffenden Dichter
im Kampf mit der poetischen Sagentradition .
Aber diese Sagentradition woher stammt sie ? Unser nächster
Gedanke wird das Epos , also die Nostoi des Hagias von Troizen
sein . Allein die kurze Notiz der von Proklos überlieferten Hypothe-
sis : ἔπειτα Ἀγαμέμνονος ὑπὸ Αἰγίσϑου καὶ Κλυταιμνήστρας ἀναι-
ρεϑέντος ὑπ̕ Ὀρέστου καὶ Πυλάδου τιμωρία καὶ Μενελάου εἰς τὴν
οἰκείαν ἀνακομιδή giebt uns keinen genügenden Anhalt ; ja die
Erwähnung des Pylades muſs uns miſstrauisch machen , da von
den besprochenen Vasen nur die jüngste D neben Orestes einen
Gefährten zeigt , der möglicher Weise — aber keineswegs mit
Philolog. Untersuchungen V. 11
Notwendigkeit — auf Pylades gedeutet werden könnte . Fragen
wir also die Odyssee , die ja wesentlich auf demselben Sagen-
hintergrund steht , wie die Nosten . Hier muſs nun auffallen , daſs
stets nur die Rache an Aigisthos , nie der Muttermord des Orestes
erwähnt wird ; so α 30. γ 199. δ 514 , und endlich an dem
eigentlichen locus classicus γ 304—312 , einer Stelle , die mit den
Worten der Hypothesis bei Proklos in einer so augenfälligen
Weise übereinstimmt , daſs der Verdacht sich unabweisbar regt ,
der Verfasser der Hypothesis habe nicht die Nosten , sondern
diese Odysseestelle vor Augen gehabt Vgl. den Excurs : Zu den Hypotheseis . . Jedenfalls steht die
Sache so , daſs wir entweder über die Sagenversion in den
Nosten absolut Nichts wissen können , oder daſs sie dieselbe war ,
wie die in diesen Odysseeversen skizzierte . Ich setze die wichtige
Stelle , das älteste erhaltene Zeugnis für unseren Mythos voll-
ständig her ; es heiſst von Aigisthos :
ἑπτάετες δ̕ ἤνασσε πολυχρύσοιο Μυκήνης
κτείνας Ἀτρεΐδην , δέδμητο δὲ λαὸς ὑπ̕ αὐτῷ ,
τῷ δέ οἱ ὀγδοάτῳ κακὸν ἤλυϑε δῖος Ὀρέστης
ἂψ ἀπ̕ Ἀϑηνάων , κατὰ δ̕ ἔκτανε πατροφονῆα .
[Αἴγισϑον δολόμητιν , ὃς οἱ πατέρα κλυτὸν ἔκτα ] Diesen Vers athetiert Kirchhoff .
ἦ τοι ὁ τὸν κτείνας δαίνυ τάφον Ἀργεΐοισιν
μητρός τε στυγερῆς καὶ ἀνάλκιδος Αἰγίσϑοιο ·
αὐτῆμαρ δέ οἱ ἦλϑε βοὴν ἀγαϑὸς Μενέλαος Von diesen Versen und zwar lediglich von diesen ausgehend und die
notwendigen Konsequenzen daraus ziehend ist Euripides zu der groſsartigen
Erfindung seines Orestes gekommen . .
Die beiden vorletzten Verse fehlten , wie die Scholien be-
merken , in einigen Ausgaben . Aristarchos bemerkt dazu , es sei
in ihnen angedeutet , daſs Klytaimnestra zugleich mit Aigisthos
umkomme ; ob aber auch sie von Orestes getötet werde , sei
unklar ; auch die Ermordung der Eriphyle durch Alkmaion kenne
ja Homer nicht . Mir däucht , wenn die beiden Verse nicht eine
ganz späte Interpolation sind , so lassen sie nur die Auffassung
zu , daſs Klytaimnestra aus Scham und Verzweiflung sich selbst
getötet habe . Wie könnte über den Muttermord des Orestes hier
und an den anderen Stellen in solch wahrhaft frivoler Weise
hinweggegangen werden ? Steht doch noch ein anderes hiermit
in unverkennbarem Zusammenhang . Bei der Ermordung des Aga-
memnon steht in der Odyssee — und wir dürfen wohl sagen
überhaupt im Epos — Klytaimnestra durchaus im Hintergrund .
Aigisthos ist es , der die That vollbringt (γ 194. 254—304 . δ 514
—537 . λ 409—434 ) ; in der offenbar ältesten Fassung in der Tele-
machie ist Klytaimnestra nicht einmal gegenwärtig , ja man kann
zweifeln , ob sie anders als durch Konivenz — gerade wie ihre
späteste Ausläuferin , die Gertrud im Hamlet — Teil an der
That hat . Ihr schweres Verbrechen ist der Treubruch gegen
den Gatten , dem sie aber erst nach langem Kampf — φρεσὶ
γὰρ κέχρητ̕ ἀγαϑῇσιν — und , wie der Dichter entschuldigend
hinzusetzt , ὅτε δή μιν μοῖρα ϑεῶν ἐπέδησε δαμῆναι , begeht .
Schuldiger erscheint sie in der Nekyia , wo sie bei der That
gegenwärtig ist und die Kebse ihres Mannes mit eigener Hand
erschlägt . Man sieht , wie ihre Strafe , so ist auch ihre Schuld
im Epos eine kleinere .
Total verändert ist das Bild im Drama ; hier ist sie ganz
eigentlich die Mörderin des Gatten — πρὸς ἡμῶν κάππεσε , κάτϑανε ,
καὶ καταϑάψομεν — Aigisthos hingegen der Weichling , der die
Ehre des fernen Helden schändet und selbst die Ausführung des Ver-
brechens dem Weibe überläſst ; und ganz konsequent trifft die Rache
des Orestes hauptsächlich die Mutter . Kein Besonnener wird diese
ungeheuere Umgestaltung des Mythos wie der Charaktere für eine
Neuerung des Aischylos halten . Umgestaltungen der populären
Sagenversion werden mit einem ganz anderen Aufwand von Mitteln
eingeführt . Euripides giebt uns dafür mehr als ein Beispiel . Im
Agamemnon aber wird die eigentliche Katastrophe nur angedeutet :
erst in den prophetischen Reden der Kassandra , dann in dem
kurzen Resumé der Klytaimnestra , — nirgends wird wirklich
erzählt ; so kann der Dichter nur verfahren , wenn er einer
alten , jedem Zuschauer von Kindheit an vertrauten Version folgt .
11*
So muſs also in der Periode zwischen dem Absterben des ioni-
schen Epos und dem Aufblühen des attischen Drama’s ein
gewaltiger Umschwung in der Sagengestaltung erfolgt sein , zu
dem sich ein Ansatz allerdings bereits in der späteren Partie
der Nekyia findet , ein Umschwung , durch den die von Natur
gutartige , aber schwache und den Verführungskünsten des Aigisthos
nicht gewachsene Frau , die bei Homer Klytaimnestra ist , um-
gewandelt wird in das leidenschaftliche von Lieb und Haſs und
Eifersucht bis in’s Innerste bewegte , listige und thatkräftige
Weib , als welches uns Klytaimnestra bei Aischylos entgegentritt .
Aus dieser Anschauung heraus ist die Situation gebildet , die wir
auf den Vasen fanden ; das Weib , das mit kalter List den Gatten
erschlug , verteidigt kühn den Buhlen auch gegen ihren Sohn ,
auch wenn sie ihn als Sohn erkannt hätte . Ob letzterer Zug
gleichzeitig mit der Umwandlung des Charakters der Klytaim-
nestra oder erst in Folge davon in den Mythos eindringt , muſs
vorläufig unentschieden bleiben .
Um nun der Ermittelung der dichterischen Vorlage , auf der
sowohl der bildliche Typus dieser Vasen beruht , als Aischylos seine
Oresteia aufbaut , näher zu treten , müssen wir einige Punkte ge-
nauer ins Auge fassen , welche für den auf diesen Vasen dargestellten
Moment die Voraussetzung bilden . Es ist klar , daſs sowohl Talthybios
als Elektra im Einverständnis mit Orestes sind , beide müssen ihn
also kennen oder erkannt haben . Für Talthybios kommt hier das
Zeugnis des Nicolaos Damascenus Exc. de insid . Cod. Escor. fol. 77
= C. Müller F H G. III fr. 34 p. 374 in Betracht : ὅτι Αἴγισϑος
Ἀγαμέμνονα κτείνας τὸν βασιλέα συμβουλῇ τῆς γυναικὸς Κλυταιμνή-
στρας καὶ τὸν Ὀρέστην τὸν τοῦ Ἀγαμέμνονος υἱὸν ἔμελλεν ἀνελεῖν .
τοῦτον δὲ ἐρρύσατο Ταλϑύβιος ἐξαρπάσας καὶ ἐκϑέμενος εἰς τὴν
Φωκίδα παρὰ Στρόφιον . δεκάτῳ δ̕ ἔτει ἐκ Φωκέων ἐλϑὼν μετὰ
Πυλάδου τοῦ Στροφίου Αἴγισϑον καὶ τὴν μητέρα κτείνας τῶν
Μυκηνῶν ἐβασίλευεν . ἐλαυνόμενος δὲ ὑπὸ τῶν Αἰγίσϑου φίλων ,
κατὰ δὲ τὸν πλεῖστον λόγον ὑπὸ Ἐρινύων ὡς ἐναγὴς ϑεοῦ κελεύ-
σαντος εἰς Ἀϑήνας ἀφίκετο καὶ ἐν Ἀρείῳ πάγῳ κριϑεὶς ἀπέφυγεν .
αὕτη ἡ δίκη φόνου τετάρτη ἐν Ἀϑήναις ἐκρίϑη . Mit dieser Nachricht ,
soweit sie Talthybios betrifft , stimmt auch Dictys Cret . VI 2 überein .
Die letzten Worte des Nicolaos-Excerpts sind , wie C. Müller richtig
bemerkt , aus Hellanikos ( schol. Eur. Orestes 1643 . F H G. I p. 56
fr. 82 , vgl. Kirchhoff im Hermes VIII S. 184 ) geflossen . Daſs
auch die vorhergehende Erzählung ganz oder teilweise aus
Hellanikos stammt , läſst sich nicht behaupten , aber auch nicht
von vornherein abweisen . Für das Alter der Tradition von
Talthybios haben wir , auſser unseren Vasen , wenigstens ein in-
direktes Zeugnis in der Elektra des Sophokles sowohl wie der des
Euripides . Der παιδαγωγός des einen , der πρέσβυς des anderen
sind augenscheinlich die Weiterbildungen des in einer früheren
poetischen Behandlung vorkommenden Talthybios . Daſs sie
namenlos sind , beruht auf dem von Wilamowitz An. Eurip. p. 185
beobachteten und begründeten Gesetz , ut paucae tantum per-
sonae inducantur remota omni supervacanea turba , secundi vero
ordinis personae nomine certe careant . Deshalb wird auch bei
dem Pädagogen vermieden , auf sein Verhältnis zu Agamemnon
irgendwie hinzudeuten ; geschähe es , so würde er zu sehr hervor-
treten , statt des namenlosen Alten würde dann der Beschauer eine
bekannte Gestalt der Heroensage , den Talthybios , sehen , und dies
gerade soll vermieden werden . Aber sonst spielt der Paidagogos
des Sophokles in seinem Verhältnis zu Orestes genau dieselbe Rolle ,
wie der Talthybios bei Nicolaos . Er hat den Knaben , dem auch
der Tod drohte , gerettet , er der einzig treue im Hause des
Agamemnon ( V. 1351—1356 ) , er hat ihn nach Phokis geflüchtet ,
dort auferzogen und führt ihn nun als Rächer des Vaters zurück
( V. 11—14 ) . Es ist evident , daſs dies auch die Voraussetzung
für die Darstellung der Vasen ist . Auch nach der dort befolgten
Version ist augenscheinlich Talthybios nicht im Hause geblieben ,
sondern erst mit Orestes zurückgekehrt . Und noch ein Be-
rührungspunkt findet sich zwischen Sophokles und den Vasen .
Wie in der Elektra der Pädagog v. 1327 f. Wache steht und die
Beratung der Geschwister vor plötzlichem Überfall schützt , so
hat er auch hier Wache gehalten , während Orestes ins Gemach
des Aigisthos eindringt : nur so erklärt es sich , daſs er im Augen-
blick der Gefahr sofort zur Hilfe bereit ist . Man sieht , wie
viele Züge dieser alten poetischen Version Sophokles bewahrt
hat . Weiter entfernt sich Euripides von der poetischen Tradition ;
bei ihm ist aus Talthybios der πρέσβυς geworden , der zuerst
Agamemnon und dann Elektra erzogen hat Im Orestes hingegen läſst Euripides den Talthybios ein zweideutiges
Spiel spielen . ; aber wieder ist es
er , der den Orestes gerettet hat und bei der Vollführung der
Rache mit Rat und That hilft , wie in der alten Tradition Tal-
thybios . Sind wir einmal auf die groſse Bedeutung des Tal-
thybios aufmerksam geworden , so erhält auch das Auftreten des
κήρυξ im Agamemnon , der natürlich wieder kein anderer als
Talthybios ist , einen ganz anderen Nachdruck . So finden wir
also in der Kunst wie bei den drei groſsen Tragikern die ver-
einzelten Spuren dieses Talthybios , dessen Charakter gerade wie
der der Klytaimnestra in einer durchschlagenden poetischen Be-
handlung ausgebildet sein muſs , die jenseits des attischen Dramas
und diesseits des ionischen Epos fällt ; diese Dichtung aber näher
zu bestimmen , ist uns noch immer nicht gelungen .
Allein auch Elektra steht in der Darstellung der Vasen im
Einverständnis mit Orestes , sie muſs ihn also kennen und da sie
nicht , wie Talthybios , mit Orestes aus der Fremde kommt , so muſs
der auf den Vasen dargestellten Situation eine Scene des Wieder-
sehens und Wiedererkennens zwischen den beiden Geschwistern
vorangegangen sein ; es ist weiter mindestens wahrscheinlich ,
daſs diese Scene auſserhalb des Palastes vor sich ging , und dazu
muſste wieder motiviert werden , warum Elektra den Palast ver-
läſst . Diese Betrachtung führt uns auf den Schluſs , daſs dem
auf den Vasen dargestellten Moment eine Scene vorausgegangen
sein muſs sehr ähnlich oder identisch mit derjenigen , welche den
ersten Teil der Choephoren des Aischylos bildet . Dann würden
wir also wieder auf eine gemeinsame Quelle für Aischylos und
die Vasen geführt , und glücklicherweise läſst sich in der That
der monumentale Nachweis beibringen , daſs das Wiedersehen der
Geschwister am Grabe des Agamemnon nicht von Aischylos er-
funden , sondern schon einer älteren und zwar bedeutend älteren
Dichtung entstammt .
Conze hat in den Mon. d. Inst. VI tav. LVII ein aus Melos
stammendes dem entwickelten archaischen Stile angehöriges Relief
veröffentlicht , welches eine der Eingangsscene der Choephoren
ganz verwandte Situation zeigt . Der in tiefe schmerzliche
Gedanken versunken am Grabe ihres Vaters sitzenden Elektra
( . ) sind drei Männer genaht , von denen der erste ihr
zuzureden scheint , während die beiden anderen sich in bescheide-
ner Entfernung halten ; das dabeistehende Roſs und der Sack ,
welchen der dritte von ihnen — offenbar ein Diener — an
einem Stab über der Schulter trägt , zeigen , daſs sie sich auf
der Reise befinden . Der erste trägt auf dem Kopf — ebenso
wie der Diener — den Pileus der alten Form ( wie Talthybios auf
der Wiener Vase ) , er hat das Schwert an der Seite und in der
linken Hand einen Stab , dessen oberes Ende fehlt ; der zweite
offenbar jugendlichere hat das Schwert in der linken Hand , den
Petasos im Nacken , eine Tänie im Haar und hebt nachdenklich
und aufmerksam die rechte Hand an das Kinn , — es ist offenbar
der Vornehmste , ihm gehört auch wohl das Roſs . Neben Elektra
steht die Kanne mit der Totenspende , hinter ihr wird eine
ältliche Frau mit Kopftuch sichtbar — doch wohl die Amme . Daſs
nun diese Darstellung nicht auf die Choephoren zurückgeht , folgt
nicht sowohl aus den unerheblichen Abweichungen von Aischylos
— solche haben wir schon oft gefunden und werden sie noch gar
manchmal finden — sondern , wie bereits Conze hervorgehoben
hat , aus chronologischen Gründen . Der noch sehr altertümliche
Stil nötigt uns die Verfertigung dieses Reliefs vor die Aufführung
der Oresteia zu setzen . Wollte man nun auch einwenden , daſs sich
an abgelegenen Orten die Kunst länger auf einer altertümlichen
Stufe hält und daſs deſshalb sehr wohl das Relief geraume Zeit
nach 458 gefertigt sein könnte , so bliebe eben die Schwierigkeit ,
daſs an einem so abgelegenen Ort eine vom attischen Drama
geschaffene Situation so rasch Eingang finden und selbst in das
Kunsthandwerk eindringen konnte . Das Relief ist , wie der dorische
Dialekt der Beischriften zeigt , in einer dorischen Gegend gefertigt
worden und Nichts hindert uns anzunehmen , daſs der Fundort
auch der Fabrikort sei Vgl. über dieses und die verwandten Reliefs R. Schoene , Griech.
Reliefs S. 61. Fragmente , die von einer oder gar mehreren Repliken dieser
Darstellung herrühren , sind vor einigen Jahren im athenischen Kunsthandel
aufgetaucht . . Wer wird glauben wollen , daſs selbst
beim Beginn des peloponnesischen Krieges die aischyleische Version
bereits so das Volksbewustsein in ausserattischen Landschaften
durchdrungen habe , daſs selbst melische Thonarbeiter , sei es
mittelbar oder unmittelbar , unter ihrem Einflus standen ? Und
ein Blick auf die Gruppe rechts führt uns noch einen Schritt
weiter : der zweite Jüngling , der im Ephebenkostüm , ist offenbar
der Vornehmste , mithin Orestes , für den mir die nachdenkliche
Haltung besonders charakteristisch und schön erscheint Conze erklärt diese Figur für Pylades und den vordersten Mann für
Orestes . . Sollte
nun der andere Mann , der zu Elektra spricht , wirklich Pylades
sein ? ihm würde , sollte man meinen , die Anknüpfung des Gespräches
wenig ziemen . Mir scheint , die ganze bisherige Betrachtung
führt gebieterisch auf eine andere Benennung ; es ist Talthybios Die Unbärtigkeit ist kein entscheidender Gegengrund ; die Züge sind
— ebenso wie die des Dieners — offenbar mit Absicht härter und ältlicher , die
Gesichtsbildung knochiger , als die des fast jugendlich zarten Orestes . Im
Anbringen und Weglassen des Bartes ist bekanntlich die archaische Kunst
sehr frei . Es genügt an den bärtigen Troilos auf der korinthischen Vase
des Timonidas zu erinnern . Auf dem Kypseloskasten war bekanntlich der
eine der Dioskuren bärtig , der andere unbärtig . Daraus Schlüsse für die
entwickelte Kunst zu ziehen ist sehr bedenklich . .
Der Herold geht voran , er allein kennt Elektra , aus ihren Händen
hat er einst den kleinen Orestes empfangen ; ihm ziemt es die
Unterredung anzuknüpfen und die Erkennung herbeizuführen . Und
sollte nicht der Stab in seiner Linken ebenso gut , nein , besser
ein Kerykeion — etwa von der längeren Form , wie sie Hermes auf
den schwarzfigurigen Vasen trägt — sein können , als ein Speer ? Noch auf der späten unteritalischen Vase im Neapler Museum ( Heyde-
mann nr. 2858 , R. Rochette M. I. pl. 34 ) finden wir , wie auch Conze hervor-
hebt , im Gefolge des Orestes einen bärtigen Mann mit Stab und einen auf
dem Reisesack sitzenden Diener . Ob die Übereinstimmung eine zufällige ist
oder ob wirklich eine bildliche Tradition von dem melischen Terrakotta-
So haben wir wieder einen Punkt , der von Aischylos abweicht ,
aber auf dieselbe ältere poetische Version zurückweist , zu der uns
schon so viele Spuren leiten Auch das etwas jüngere , von Conze an derselben Stelle veröffentlichte
Thonrelief gehört zweifellos hierher , wie Conze sofort erkannt hat . Ich
hätte ( Arch. Zeit . 1875 S. 136 Anm. 7 ) noch rückhaltloser meine Zustimmung
aussprechen sollen . Orestes hat das Schwert gezogen , um es hier am Grabe
des Vaters zum Racheakt zu weihen . Es ist sehr wahrscheinlich , daſs auch
dieser Zug schon in der älteren poetischen Tradition , aus der Talthybios
stammt , vorkam . Den zweiten Jüngling aber wage ich wegen seiner Jugend-
lichkeit hier nicht anders zu benennen als Pylades . Zweifelnd äuſsert sich
Kekulé B. d. I. 1868 S. 56 . . In der Hauptsache liegt dem
Thonarbeiter dieselbe Sagentradition vor wie dem Aischylos , nur
hat letzterer die Rolle des Talthybios ausgemerzt ; das Thon-
relief gehört also auch hierdurch ganz mit den attischen Vasen
zusammen ; auf der einen Seite steht die konservative Kunst-
tradition , auf der andern die neuschaffenden Dichter Die neueste Deutung von Milchhöfer ( Mitth. der athen. Instituts V
S. 181 Anm. 3 ) auf Elektra und die Dioskuren kann ich so wenig für richtig
halten , wie seine Behauptung , daſs das Relief archaistisch und daſs die
Scene nach dem Typus , der auf den attischen Grab-Lekythen vorkommt , gebildet
sei . Wenn ein Zusammenhang zwischen letzteren und dem Relief wirklich
vorhanden ist , so würde ich mich keinen Augenblick scheuen , daraus die
Konsequenz zu ziehen , daſs der ursprünglich für Orestes und Elektra ge-
schaffene Typus auf Scenen des täglichen Lebens übertragen sei . Ich habe
eben von dem Einfluſs dichterischer Erfindungen auf die Volksvorstellung eine
andere Anschauung , als der Verfasser jenes Artikels . .
Am Grabe ihres Vaters sitzt Elektra auf dem Relief wie bei
Aischylos ; eine Spende will oder soll sie bringen hier wie im Drama ,
das zeigt der neben ihr stehende Krug . Bei Aischylos hat ihr
Relief bis zu der späten Basilikata-Vase reicht , wage ich bei dem Fehlen
aller Mittelglieder nicht zu entscheiden . Undenkbar aber wäre letzteres
nicht , obgleich natürlich die dem Vasenmaler vorschwebende Situation die
aischyleische aus den Choephoren ist . Noch auf römischen Sarkophagen , welche
die Ermordung des Aigisthos darstellen , erscheint der Typus der strengen
attischen Vasen beibehalten — vor allem Aigisthos auf dem Thron . Und
doch ist die zu Grunde liegende Version auch hier entschieden die aischy-
leische ; einer der vielen Fälle , wo die neue Sagengestaltung mit dem über-
lieferten auf ganz anderer Grundlage beruhenden künstlerischen Typus ein
Kompromiſs schlieſst .
die Mutter den Auftrag gegeben — und diesen Zug hat bekanntlich
auch Sophokles , nur daſs sie dort nicht Elektra , der sie miſstraut ,
sondern der von Sophokles als Folie derselben aus Ilias Ι 145
eingeführten Chrysothemis den Auftrag erteilt . Ein Traum ist es ,
der Klytaimnestra ängstigt und sie treibt , den Schatten des
gemordeten Gatten zu versöhnen ; aber den Inhalt des Traumes
geben beide Dichter verschieden an . Bei Sophokles träumt ihr ,
daſs Agamemnon wieder gekommen sei und die Rechte des Gatten
ausgeübt habe , dann habe er sein altes Szepter ergriffen , es in
die Erde gesteckt und ein Baum sei daraus hervorgewachsen , der
das ganze Mykenerland überschattet habe . Der letzte Zug ist ,
wie Classen Über die Beziehungen Sophokleischer Stellen zu der
Erzählung des Herodot ( in den Verhandlungen der Kieler Philo-
logenversammlung S. 114 ) bemerkt , der Erzählung des Herodot
vom Traum der Mandane ( I 108 ) nachgebildet ; er ist freie auf
den frischen Eindruck des Herodoteischen Werkes berechnete
Erfindung des Dichters und kommt daher für die poetische Tra-
dition nicht in Betracht . Aischylos läſst den Chor in der Parodos
nur andeutungsweise von dem ὀρϑόϑριξ φόβος δόμων ὀνειρόμαντις
sprechen , in dem die Traumdeuter den fortdauernden Groll der
Unterirdischen gegen die Mörder erblicken ; den Inhalt des Traumes
erzählen die Frauen erst V. 527—534 dem Orestes : es hatte
Klytaimnestra geträumt , daſs sie einen Drachen geboren und an
die Brust gelegt habe , da habe dieser Blut mit der Milch aus
ihrer Brust gesogen . Dies Motiv des Traumes der Klytaimnestra
können wir nun in einer früheren , aber nachepischen Behandlung
nachweisen und damit stoſsen wir zum ersten Mal auf festen
Boden ; es entstammt der Oresteia des Stesichoros : Plutarch de
sera numinis vindicta c. 10 p. 554 F ( = Bergk Poetae lyrici III
fr. 42 ) hat uns leider nur zwei Verse aus der betreffenden Partie
erhalten , welche an sich betrachtet eine verschiedene Deutung
zulassen und auch in der That erfahren haben :
τᾷ δὲ δράκων ἐδόκησε μολεῖν κάρα βεβροτωμένος ἄκρον ,
ἐκ δ̕ ἄρα τοῦ βασιλεὺς Πλεισϑενίδας ἐφάνη ·
im allein Zusammenhang der Sagenentwickelung betrachtet lassen ,
meine ich , die Worte nur eine Auffassung zu . Der Drache
selbst ist Agamemnon , das blutige Haupt deutet auf die Kopf-
wunde Vgl. Sophokles Elektra 98 :
μήτηρ δ̕ ἡμὴ χὠ κοινολεχής
Αἴγισϑος ὅπως δρῦν ὑλοτόμοι
σχίζουσι κάρα φονίῳ πελέκει . , die ihm Klytaimnestra versetzt hat ; in dem zweiten
Verse kommt nun nicht etwas Neues hinzu , nicht Orestes ist
gemeint , der gewiſs nicht βασιλεύς und schwerlich nach seinem
unberühmten Groſsvater Πλεισϑενίδας , höchstens nach dem
Stammvater des Geschlechts Πελοπίδας heiſsen würde ; das Traum-
bild verschiebt sich nur : „ Einen Drachen mit blutigem Haupt
glaubte sie auf sich zukommen zu sehen ; da wars auf einmal
Agamemnon “ . Ob und wie der Traum nun weiter ging , können
wir nur erraten ; aber die Vermutung scheint kaum zu gewagt ,
daſs in dem Traum bei Aischylos und in dem ersten Teil des
Traumes bei Sophokles auch inhaltlich Stücke dieser stesichoreischen
Erfindung vorliegen . Wenigstens entsteht , wenn man beide mit
dem Stesichoros-Fragment vereinigt , ein so harmonisches Ganze ,
daſs es mir schwer wird , an einen Zufall zu glauben : der Drache
mit dem blutigen Haupt , aus dem plötzlich Agamemnon wird ,
nähert sich Klytaimnestra und umarmt sie , und diese gebiert
von dem Drachen einen Drachen , der Blut mit der Milch aus
ihrer Brust trinkt . Wenn nun also der Traum , durch den bei
beiden Tragikern die Totenspende am Grab des Agamemnon moti-
viert und das Wiedersehen der Geschwister herbeigeführt wird ,
bei Stesichoros stand , so liegt der weitere Schluſs sehr nahe , daſs
auch die Folge dieses Traumes , die Scene am Grabe , die ja , wie
das melische Terrakottarelief beweist , älter als Aischylos sein
muſs , gleichfalls auf stesichoreischer Erfindung beruht , ja daſs ,
um gleich das letzte entscheidende Wort zu sprechen , das so
lange von uns gesuchte Dichtwerk , in dem jene gewaltige
Umgestaltung des Charakters der Klytaimnestra erfolgt ist , in dem
Talthybios eine so groſse Rolle spielte , kurz , auf das sowohl die
bildlichen Darstellungen wie die Behandlung des attischen Dramas
zurückgehen , kein anderes ist , als eben die Oresteia des Stesichoros .
Wir sind bisher von den attischen Vasenbildern Schritt für Schritt
zurückgehend ganz von selbst auf Stesichoros gekommen . Es fragt
sich , ob unter den dürftigen direkten Zeugnissen über die Oresteia
dieses Dichters nicht einige sich finden , welche diese Annahme
erhärten .
Zunächst scheint die Abhängigkeit des melischen Reliefs von
Stesichoros dadurch eine neue Stütze zu erhalten , daſs auf dem
Bildwerk eine Alte gegenwärtig ist und in dem Gedicht eine
Amme des Orestes — sie hieſs dort Laodameia — erwähnt war .
Wie geschickt sie bei Aischylos verwandt wird , ist bekannt , aber
das ist dramatisch und nicht episch . Am Grabe des Agamemnon ,
ihres alten Herren , beim Wiedersehen der Geschwister ist der
Platz , den ihr der Dichter anweisen muſs Aus der scharfen Kritik , welche Euripides an der Art , wie in den
Choephoren die Erkennung durch Fuſsstapfen , Haarfarbe und ein altes Ge-
wand herbeigeführt wird , ausübt , darf und muſs man doch wohl folgern , daſs
dies alles von Aischylos selbst erfunden ist . Gegen Stesichoros gerichtet
wäre die Polemik doch wirklich zu kindisch . Bei diesem haben vielmehr —
wenn die im Text ausgesprochenen Vermutungen richtig sind — die beiden
alten Diener , die sich natürlich kennen , die Amme des Orestes , Laodameia ,
auf Seiten der Elektra , Talthybios auf Seiten des Orestes das Wiedererkennen
vermittelt . Unter dem Einfluſs dieser stesichoreischen Episode hat dann so-
wohl Sophokles die Scene zwischen den Geschwistern und dem Pädagogen
Elektr. V. 1346—66 , als Euripides die derselben Personen mit dem Πρέσβυς
Elektr. V. 487—698 gedichtet . Man beachte , wie letzterer das stesichoreische
Motiv wieder aufnimmt , namentlich V. 567 βλέψον νυν ὡς τόνδ̕ ὦ τέκνον τὸν
φίλτατον u. οὐκ εὖ φρονῶ ̕γὼ σὸν κασίγνητον βλέπων . — Auch ist zu beachten ,
daſs Pindar Pyth. XI 25 der Amme — bei ihm Arsinoe genannt — die eigent-
liche Rettung des Orestes zuschreibt . So wird wohl ursprünglich d. h. bei
Stesichoros sie und nicht Elektra es gewesen sein , die den Knaben in die
Hände des Talthybios legte . Bei Pherekydes tötet Aigisthos den Sohn dieser
Amme im Wahne , den Orestes zu töten . , hier erkennt auch
sie ihren Pflegling : φίλον δ̕ Ὀρέστην , τῆς ἐμῆς ψυχῆς τρίβην ,
ὃν ἐξέϑρεψα μητρόϑεν δεδεγμένη .
Weiter ist Elektra selbst , die auf den Kunstwerken wie im
attischen Drama eine so hervorragende Rolle spielt , bekanntlich
dem Homer fremd und nichts berechtigt , sie in die Nosten zu
setzen . Die älteste Erwähnung derselben wäre die bei dem
Meliker Xanthos , wenn Aelians Quelle Glauben verdiente ; nach
Xanthos hätte , so erzählt Aelian V. H. IV 26 , Elektra ursprünglich
Laodike geheiſsen d. h. sie wäre identisch gewesen mit der
zweiten bei Homer erwähnten Tochter ; erst als sie unvermählt
nach der Ermordung ihres Vaters im Hause des Aigisth ein
traurig Dasein dahingeschleppt habe , sei ihr der Name Ἠλέκτρα
oder Ἀλέκτρα gegeben worden , eine Etymologie , die augenschein-
lich von einem dorischen oder wenigstens dorisch schreibenden
Manne herrühren muſs In Wahrheit hängt der Name natürlich mit Ἠλεκτρώνη zusammen ;
s. Wilamowitz im Hermes XIV S. 457 . . Es ist klar , daſs dies bereits ein
Versuch ist , die Elektra , die bereits in der poetischen Tradition
festen Fuſs gefaſst hat , mit dem Homervers in Einklang zu
setzen ; die Elektra müſste also schon in einem vor Xanthos
entstandenen Gedicht eine gewisse Rolle gespielt haben . Aber
wie steht es überhaupt mit diesem Xanthos ? Auſser Aelian
thut seiner nur noch Megakleides , wahrscheinlich ein Peripatetiker ,
Erwähnung , aus dem ein längeres Excerpt bei Athen . XII 513
steht . Da lesen wir denn unter Anderem , daſs Herakles ein
groſser Weichling gewesen sei , dem das Vergnügen am Essen ,
Trinken und schönen Frauen über Alles gegangen sei ; erst Stesi-
choros von Himera habe ihn zu dem wilden Gesellen gemacht ,
der wie ein Straſsenräuber mit einem Löwenfell bekleidet und
mit Keule und Bogen bewaffnet die Welt durchziehe . Noch der
Dichter Xanthos , der doch älter als Stesichoros sei , wie dieser
selbst bezeuge , habe ihm das homerische Gewand gegeben . Die-
sen Xanthos habe übrigens Stesichoros vielfach ausgeschrieben .
So sei auch die Oresteia ein Plagiat an Xanthos Mit Unrecht hat Westermann gegen Jonsius in Abrede gestellt , daſs
diese Bruchstücke in das Werk des Peripatetikers Megakleides περὶ Ὁμήρου
gehören , das in den Iliasscholien wiederholt und in den Odysseescholien ein-
mal citiert wird . Es lassen sich noch deutlich die Stellen der Ilias und
Odyssee nachweisen , auf welche sich die Fragmente beziehen . Das Fragment
bei Aelian stammt aus einer Besprechung von Ι 145 , das groſse Fragment
über die Weichlichkeit des Herakles bezieht sich auf Ε 640 , wo in den . Nun dieses
Peripatetiker-Geschwätz wird heute keinen Kundigen mehr
täuschen . Zunächst muſs konstatiert werden , daſs nach allen
Gesetzen der Quellenkritik auch die Aelian-Stelle auf Megakleides
zurückgeführt werden muſs , denn auch dort wird mit Nach-
druck hervorgehoben ἐγένετο δὲ οὗτος πρεσβύτερος Στησιχόρου τοῦ
Ἱμεραίου , wie es auch bei Athenaios heiſst Ξάνϑος δ̕ ὁ μελο-
ποιὸς πρεσβύτερος ὢν Στησιχόρου . So wird also dieser Dichter
in der erhaltenen Litteratur nur von Megakleides erwähnt ,
und ein Mann , den Stesichoros in so ausgiebiger Weise be-
nutzt hätte , sollte in der antiken Litteratur so ganz verschollen
Scholien des Venet. B sogar der Anfang der ganzen Auseinandersetzung steht ;
freilich hat der Venetus B Μενεκλῆς , aber C. Müller hat längst gesehen
( F H G IV p. 443 ) , daſs Μεγακλῆς zu schreiben und dieser dann natürlich mit
unserem Megakleides identisch sei . Daſs W. Dindorf das gänzlich ignoriert ,
wird Niemanden , der seine Ausgabe näher kennt , verwundern . Dort heiſst es
also : Μεγακλῆς φησὶν ἐψεῦσϑαι τὴν ἐπὶ Ἴλιον στρατείαν ( des Herakles )
und daran schloſs sich unmittelbar an , was bei Athenaios steht : Μεγακλεί-
δης ἐπιτιμᾷ τοῖς μεϑ̕ Ὁμηρον καὶ Ἡσίοδον ποιηταῖς , ὅσοι περὶ Ἡρακλέους
εἴρήκασιν ὡς στρατοπέδων ἡγεῖτο καὶ πόλεις ᾕρει . Bei dem zweiten
Fragment hat Athenaios ( XII. 513 B ) die betreffenden Verse der Odyssee
(ϑ 248 ) selbst beigeschrieben . Noch ein Wort über die in den Ilias-
scholien enthaltenen Fragmente ; zu Κ . 274 bringt er die λύσις für eine
ἀπορία des Zoilos ; ganz sinnreich ist die Bemerkung zu Π 140 : den Speer
müsse Achilleus zurückbehalten , weil der Dichter schon im Sinne habe , ihm später
neue Waffen von Hephaistos machen zu lassen ; einen Speer aber könne ihm
dieser nicht verschaffen , weil es im Himmel keine Bäume gebe . Charakteristisch
ist , daſs der Kampf zwischen Hektor und Achilleus für ein πλάσμα erklärt
wird ( schol. Il. Χ. 205 ) gerade wie oben die Eroberung Ilions durch
Herakles . Er geht also darauf aus , die poetische Fiktion von dem zu Grunde
liegenden historischen Kern zu scheiden . Ächt peripatetisch ist die Be-
hauptung , die Athenerinnen hätten sich nicht Ἀϑηναῖαι , sondern Ἀττικαὶ
γυναῖκες genannt , damit sich die Jungfrau Ἀϑηναία nicht durch die Gleich-
namigkeit mit Frauen verletzt fühlte ; als zuletzt doch der Name Ἀϑηναῖαι
durchgedrungen sei , habe man den Namen der Göttin in Ἀϑηνᾶ geändert
( Eustathius in Iliad. p. 84 ) . Dies genügt , um die Richtung des Mannes zu
charakterisieren . Man sieht , wenn auch Welcker ( ep. Cyclus I S. 189 ) mit
Recht davon Abstand genommen hat , den Namen überall in Ἡρακλείδης zu
ändern , ein Geistesverwandter des Herakleides Pontikos war er allerdings ,
und ein Verfahren , wie das oben im Text angenommene , ist ihm wohl zu-
zutrauen .
sein ? Ich sollte meinen , der Peripatetiker-Kniff , einen groſsen
Dichter des Plagiats zu zeihen und ein angeblich gänzlich ver-
nachlässigtes Gedicht , was entweder nie existiert hat oder früh
verloren gegangen ist , als Quelle zu präsentieren , wo möglich
einzelne Stellen von eigener Mache daraus zu citieren , wäre be-
kannt genug . Daſs Stesichoros wirklich von einem Xanthos ge-
sprochen , zu bezweifeln ist kein Grund ; aber wer weiſs , in
welchem Zusammenhang und ob es wirklich ein Dichter war ;
dies bot dem Megakleides die Handhabe für seine Fiktion .
Allein die Notiz über Elektra sieht nicht nach Erfindung eines
Peripatetikers aus , und wenn Megakleides behauptete , daſs Stesi-
choros in der Oresteia sich genau an Xanthos angeschloſsen habe ,
so konnte er ja den Inhalt einer Stelle der Oresteia des Stesi-
choros ruhig unter Xanthos ’ Namen geben .
Sollte indessen auch wirklich das Gedicht des Xanthos
existiert haben , so würde eben aus der von Megakleides bezeugten
Übereinstimmung des Stesichoros und des Xanthos folgen , daſs
auch bei ersterem Elektra vorkam ; und die Art , wie wir sie im
fünften Jahrhundert plötzlich in den Mittelpunkt des Interesses
gerückt finden , läſst auf die Einwirkung eines schöpferisch wirken-
den und viel beliebten Dichters , also nicht des gänzlich ver-
schollenen Xanthos , sondern des sehr populären Stesichoros
schlieſsen . Wie sehr übrigens die Erkennungsscene der Ge-
schwister am Grabe gerade zur Behandlung in einem lyrischen
Gedichte geeignet war , brauche ich kaum besonders hervor-
zuheben .
Direkt bezeugt ist dann noch aus der Oresteia des Stesi-
choros , daſs Apollo dem Orestes einen goldenen Bogen als Waffe
gegen die Erinyen giebt , ein Zug , den Euripides bekanntlich in
seinem Orestes benutzt hat ( schol. Eur. Orestes 40 ) . Für Stesi-
choros lernen wir hieraus , daſs auch bei ihm schon die Erinyen
als Rächerinnen des Muttermordes auftraten , eine indirekte Be-
stätigung dafür , daſs auch bei Stesichoros Klytaimnestra von
der Hand ihres Sohnes fällt ; und weiter , daſs schon bei Stesi-
choros Apollo als Schützer des Orestes erscheint , woraus sich
unmittelbar der Schluſs ergiebt , daſs der Muttermord auch bei
ihm bereits , wie im attischen Drama , auf Geheiſs des Apollo ge-
schieht .
So zeigen auch diese wenigen direkten Zeugnisse keinen
Widerspruch , sondern in wesentlichen Punkten genaue Überein-
stimmung mit der Sagenentwickelung , die wir als Grundlage des
attischen Dramas wie der attischen Vasen und des melischen
Thonreliefs erkannt haben . Sagenentwickelung ? doch wohl Sagen-
behandlung ; denn auch der eifrigste Verteidiger der Rechte
mündlicher Volkstradition wird zugeben müssen , daſs eine so
durchgreifende Ausbildung der einzelnen Charaktere und ein so
detaillirtes Ausmalen der einzelnen Situationen das Eingreifen
einer dichterischen Individualität zur Voraussetzung hat , als welche
ich jetzt unbedenklich Stesichoros in Anspruch nehmen zu dürfen
glaube . Wie populär er und speziell seine Oresteia in Athen
war , dafür giebt es vielleicht kein besseres Zeichen , als daſs
Aristophanes in der Parabase des Friedens V. 775 die Eingangs-
worte der Oresteia Μοῦσα σὺ μὲν κλείουσα … ϑεῶν τε γάμους
ἀνδρῶν τε δαῖτας in die Ode verarbeitet , ohne Stesichoros zu
nennen ; denn wer den Gebrauch antiker Poesie kennt , weiſs ,
daſs Aristophanes hier kein Plagiat begehen , sondern auf eine
bekannte und beliebte Stelle anspielen will ; die Anspielung wäre
aber absurd , wenn er nicht die Worte als der groſsen Mehrzahl
des attischen Publikums bekannt voraussetzen dürfte . Für Euripides
ist die Anlehnung an Stesichoros im Orestes direkt bezeugt , in
der Helena ist sogar die ganze Sagenversion stesichoreisch . Für
Aischylos und Sophokles ergiebt sie sich uns jetzt aus dem oben
Gesagten . Wir dürfen aber jetzt noch weiter gehen und einzelne
Züge der aischyleischen Trilogie , solche namentlich , die nur kurz
angedeutet sind , also dem attischen Publikum ohne Weiteres
verständlich sein muſsten , während sie doch nicht aus dem Epos
stammen , für die Rekonstruktion der stesichoreischen Oresteia in
Anspruch nehmen . So vor Allem die ganze erste Tragödie der
Trilogie , namentlich die Version von Agamemnons Tod . Im Bade
tötet ihn sein Weib mit dem Beil , zwei Schläge giebt sie ihm , und
als er am Boden liegt den dritten τοῦ κατὰ χϑονὸς Διὸς νεκρῶν
σωτῆρος εὐκταίαν χάριν . Die von Klytaimnestra dem Agamemnon
versetzte Kopfwunde haben wir schon oben bei Stesichoros kon-
statiert . Jetzt ist es Zeit , darauf hinzuweisen , daſs in den Vasen-
darstellungen und also auch in der zu Grunde liegenden Dichtung
des Stesichoros ein tiefer poetischer Zug liegt : das Beil , welches
Klytaimnestra gegen ihren Sohn schwingt , ist dasselbe , mit dem
sie ihren Gatten erschlagen hat . Dies Beil spielt von nun an
überhaupt in Kunst und Poesie eine groſse Rolle : auf den römi-
schen Orestessarkophagen finden wir die drei Erinyen zusammen-
gekauert schlafen am Grabhügel des Agamemnon , in ihrer Mitte
liegt das Mordbeil , mit dem Agamemnon getötet worden ist Auf dem vatikanischen Sarkophag ( Visconti Museo Pio-Clement . V 22 )
dem giustinianischen ( Gall . Giustiniani II 130 ) und endlich auf dem Sarko-
phag von Husillos ( Museo español de antiguedades I 3 ) . Michaelis Arch .
Zeit . 1875 S. 107 hat das Verdienst , zuerst mancherlei verkehrten Aufstellungen
gegenüber mit Entschiedenheit betont zu haben , daſs die drei schlafenden
Erinyen eine selbständige Scene bilden und ganz an ihrem Platze sind .
Nur die Beziehung des Beiles scheint ihm entgangen zu sein . , oder
neben der Grabesthür , in welcher der Schatten des Agamemnon
steht Auf dem lateranensischen Sarkophag ( Benndorf und Schoene 415 ,
Garucci II , 1 ) und einem Fragment in Villa Albani . , liegt schlafend eine Erinys , aber auch neben ihr das
Beil der Klytaimnestra . Wenn Benndorfs ansprechende Kom-
bination , daſs diese Sarkophage auf den Bildercyklus des Theon
von Samos zurückgehen , das Richtige trifft , — und ich halte sie
in der That für sehr wahrscheinlich — so haben wir auch den
Urheber des ergreifend schönen Gedankens , daſs an dem Grabe
des Gemordeten die Erinyen schlafen und die mörderische
Waffe , das Symbol ungesühnten Verbrechens , als Mahnung zur
Rache Auf derselben Empfindung beruht es , wenn Goethe , der allein unter
allen deutschen Dichtern antik empfindet , in der Iphigeneia dichtet : Elektra
habe den Orestes zu der Stelle geführt , wo der Vater gefallen sei ,
„ wo eine alte leichte Spur des frech-
vergoss’nen Blutes oft gewaschnen Boden
mit blassen ahndungsvollen Streifen färbte “ . neben ihnen liegt , bis der Rächer naht und sie erwachen .
Nur wird man zur Rekonstruktion des Gemäldes die beiden Typen
Philolog. Untersuchungen V. 12
zusammennehmen müssen Dies deutet auch Michaelis a. a. O. S. 108 an , ohne sich jedoch be-
stimmt zu entscheiden . : in der Grabthüre stand der Schatten
des Agamemnon ; auf und um den Grabhügel gelagert schliefen
die drei Erinyen , in ihrer Mitte lag das Beil , als ob sie es be-
wachten .
An dieser Stelle muſs auch der kleinen Berliner Kylix G
gedacht werden . Klytaimnestra , das Beil in der Hand , eilt in
groſser Aufregung auf eine Thüre zu — die Thüre zu dem Bade-
gemach , in dem Agamemnon weilt . Am Beil erkannte jeder
antike Beschauer die Klytaimnestra , an ihrer wilden Bewegung ,
daſs sie im Begriffe stehe , das Verbrechen zu begehen ; die
richtige Deutung gab schon Millin ; wenn Jahn an Merope ,
denkt , so kann ich ihm darin hier so wenig wie bei F beistimmen
schon darum nicht , weil die Mythen der Herakliden in der Kunst
wohl überhaupt nicht und in der Poesie erst vom Drama behandelt
worden sind , und eine Einwirkung der Tragödie auf die Kunst
und das Kunsthandwerk im 5. Jahrh. nach dem früher Bemerkten
( Kap. IV ) weder nachweisbar noch wahrscheinlich ist . Der attische
Vasenmaler befolgte bewuſst oder unbewuſst die Version des
Stesichoros .
Wenn wir die bisher einzeln als stesichoreisch erkannten Züge
zusammenfassen , so würde sich als Inhalt der stesichoreischen
Oresteia etwa das Folgende ergeben , das ich in der Form einer
Hypothesis hersetzen will , wobei ich für jeden einzelnen Zug
die Quelle beifüge .
Klytaimnestra hat Agamemnon mit einem Beile erschlagen
( G , Aischylos , Sophokles ) ; den kleinen Orestes hat seine Amme
Laodameia den treuen Händen des Talthybios übergeben ( fr. 41.
Nicol. Damasc. , Dictys , Sophokles , vielleicht Pindar ) , der ihn flüchtet
( ob auch hier nach Phokis wegen Apollons ? ) . Zehn Jahre sind ver-
gangen , da träumt Klytaimnestra , daſs ein Drache mit blutigem Haupt
sich ihr nahe , aber auf einmal ist ’s kein Drache mehr , sondern
ihr gemordeter Gatte , der sich aufs Neue ihr vermählt ; sie gebiert
einen Drachen , aber als sie ihm die Brust reicht , trinkt er Blut
mit der Milch ( fr. 42 , Aischylos , Sophokles ) . Erschreckt erwacht
Klytaimnestra und sendet , da sie selbst nicht zu gehen wagt ,
Elektra mit einer Totenspende zum Grabe des Agamemnon
( Aichyl. Soph. Eur. melisches Relief ) , die alte Amme des Orestes
Laodameia begleitet sie ( fr. 40. melisches Relief ) . Als Elektra
traurig am Grabe ihres Vaters sitzt , naht ein Jüngling und ein
alter Mann , Orestes und Talthybios ( melisches Relief ) . Talthybios
und Laodameia erkennen sich und führen das Wiedererkennen der
Geschwister herbei ( Euripides in freier Umgestaltung , ähnlich
Sophokles ) , Orestes zieht sein Schwert und weiht es am Grabe
des Vaters zum Rachewerk ein ( zweites melisches Relief , Nach-
klänge bei Sophokles und Euripides ) , Orestes dringt in das
Gemach Unter welchem Vorwand gelangte bei Stesichoros Orestes in den Palast
und zu Aigisthos ? Da auf allen Vasen auſser D Elektra gegenwärtig ist und
zwar hinter dem Stuhl des Aigisthos steht , während Klytaimnestra erst
hereingeeilt kommt , so liegt die Vermutung nahe , daſs nach der Meinung der
Vasenmaler und also auch wohl nach der Dichtung des Stesichoros Elektra
es ist , die den Orestes als unbekannten Fremdling zu Aigisthos geführt hat .
Vielleicht gab sie vor , daſs er eine Nachricht bringe , vielleicht sogar die-
selbe , wie bei Aischylos und Sophokles , die fingierte von seinem eigenen
Tod . Auffallend und schwerlich zufällig ist es , daſs Orestes zweimal , auf A
und B , gerüstet erscheint ; denn Gedankenlosigkeit des Vasenmalers ist bei
der sorgfältigen und durchdachten Komposition kaum anzunehmen ; gab etwa
Orestes vor , daſs er aus der Schlacht komme und dort den Tod des Orestes
gesehen habe ? oder gar , daſs er selbst ihn erschlagen habe ? So heiſst es bei
Hygin. fab. 119 von Orestes : dicitque se Aeolium hospitem esse nuntiatque
Orestem esse mortuum quem Aegisthus populo necandum demandaverat ; und
daſs auf den Kopf des Orestes von Aigisthos ein Preis gesetzt worden sei ,
findet sich auch in der Elektra des Euripides V. 33. Wilamowitz vermutet
ansprechend , daſs das Motiv aus dieser Sage durch Euripides auf die Kres-
phontes-Sage übertragen worden sei . , während Talthybios drauſsen Wache hält , und ermordet
den Aigisthos , der auf dem Thron des Agamemnon sitzt Auch auf diesen stesichoreischen Zug hat Aischylos eine Anspielung ,
die gewiſs jeder antike Hörer verstand . Zwar wird bei ihm Aigisthos erst
herbeigerufen und empfängt den Todesstoſs , als er ins Gemach tritt ; aber
vorher , als Orestes dem Chor seinen Plan mitteilt , sagt er V. 558 :
εἰ δ̕ οὖν ἀμείψω βαλὸν ἑρκείων πυλῶν
κἀκεῖνον ἐν ϑρόνοισιν εὑρήσω πατρός , .
12*
Klytaimnestra eilt dem Aigisthos zu Hilfe mit demselben Beil , mit
dem sie einst Agamemnon erschlagen hat ; ein Zuruf der Elektra
warnt den Orestes , aber schon hat Talthybios die Klytaimnestra
ergriffen und hält ihre Arme fest ( A—F ) . Der Muttermord muſs
hierauf unmittelbar gefolgt sein .
Von dem weiteren Verlauf wissen wir nur so viel , daſs die
Erinyen den Orestes verfolgten und daſs dieser sich gegen sie mit
dem ihm von Apollo geschenkten Bogen verteidigte . Ob Pylades
erwähnt war , wissen wir nicht ; da er auf den Vasenbildern fehlt
— denn den bärtigen Mann auf D dürfen wir jetzt unbedenklich
Talthybios nennen — ist es wahrscheinlich , daſs er auch bei
Stesichoros nicht vorkam , zumal er neben Talthybios überflüssig
war . Die Tragiker haben ihn aus den Nosten beibehalten , wie
Aischylos die Kassandra aus der Odyssee Aus der Odyssee hat Aischylos bekanntlich auch den φύλαξ , der den
Prolog spricht :
Θεοὺς μὲν αἰτῶ τῶνδ̕ ἀπαλλαγὴν πόνων
φρουρᾶς ἐτείας μῆκος ,
und später 36 βοῦς ἐπὶ γλώσσῃ μέγας
βέβηκεν :
vgl . δ 524 τὸν δ̕ ἄρ̕ ἀπὸ σκοπιῆς εἶδε σκοπός , ὅν ῥα καϑεῖσεν
Αἴγισϑος δολόμητις ἄγων · ὑπὸ δ̕ ἔσχετο μισϑόν
χρυσοῦ δοιὰ τάλαντα · φύλασσε δ̕ ὅ γ̕ εἰς ἐνιαυτόν .
Aristophanes von Byzanz sagt freilich : Θεράπων Ἀγαμέμνονος ὁ προλογιζόμενος ,
οὐχὶ ὁ ὑπὸ Αἰγίσϑου ταχϑείς , was aber die Herleitung des Motivs nicht aus-
schlieſst . . Keine auch noch
ἢ καὶ μολὼν ἔπειτά μοι κατὰ στόμα
ἀρεῖ , σάφ̕ ἴσϑι , καὶ κατ̕ ὀφϑαλμοὺς βαλεῖ ,
πρὶν αὐτὸν εἰπεῖν · ποδαπὸς ὁ ξένος ; νεκρὸν
ϑήσω , ποδώκει περιβαλὼν χαλκεύματι .
Was bei Stesichoros nach unserer Vermutung als wirklich geschehen berichtet
ward und was wir auf den Vasen dargestellt sehen , erwähnt Aischylos als
bloſse Möglichkeit . Es ist genau derselbe Fall , wie der oben bei Vers 882
konstatierte . Zur Änderung mochte Aischylos unter Anderem durch die Er-
wägung bewogen werden , daſs ein auf dem Throne sitzender König von
Waffenträgern umgeben sein müsse , die des Orestes ’ That hindern würden .
Deshalb wird V. 749—753 Sorge dafür getragen , daſs Aigisthos allein und
ohne δορυφόροι dem Orestes gegenüber trete .
so schwache Spur führt uns zu einer Hypothese über die schlieſs-
liche Lösung . Daſs wir die attische Tradition von dem Gericht
auf dem Areopag bei Stesichoros nicht suchen dürfen , bedarf kaum
der ausdrücklichen Erwähnung ; aber dieselbe hat später haupt-
sächlich durch die Eumeniden des Aischylos eine solche Allein-
herrschaft in der poetischen und künstlerischen Phantasie erhalten ,
daſs alle früheren Behandlungen vergessen sind . Nur vermuten
dürfen wir , daſs Stesichoros sich enger an die peloponnesische Lokal-
sage anschloſs , die den Orestes dahin gelangen läſst , wo er gewiſs
ursprünglich zu Hause ist , nach der Parrhasia zur Stadt Orestheia ,
wo er im Heiligtum der Artemis Ἱέρεια vor den Erinyen Schutz
findet Wenigstens in einer Note mag folgende Kombination einen Platz
finden . Am Schlusse des euripideischen Orestes befiehlt Apollo 1643 f .
σὲ δ̕ αὖ χρεών ,
Ὀρέστα , γαίας τῆςδ̕ ὑπερβαλόνϑ̕ ὅρους
Παρράσιον οἰκεῖν δάπεδον ἐνιαυτοῦ κύκλον .
κεκλήσεται δὲ σῆς φυγῆς ἐπώνυμον
Ἀζᾶσιν Ἀρκάσιν τ̕ Ὀρέστειον πέδον ( Valckenaer . καλεἵν d. Hdschr. ) .
ἐνϑένδε δ̕ ἐλϑὼν τὴν Ἀϑηναίων πόλιν
δίκην ὑπόσχες αἵματος μητροκτόνου
Εὐμενίσι τρισσαῖς κτλ .
Der sehr unterrichtete Scholiast bemerkt , daſs diese einjährige Verbannung
nach der Parrhasia nur bei Euripides sich finde (ἰδίως ὁ Εὐριπίδης ἐνιαυτίσαι
τὸν Ὀρέστην ἐκεῖ φησίν ) , während er sonst entweder überhaupt dort bleibe
oder erst später nach dem Gericht auf dem Areopag dorthin gelange . Mir
scheint dies doppelte Motiv nicht glücklich und eher störend . Man versteht
nicht , wozu erst das Jahr Verbannung , bevor die Anrechte der Erinyen
auf dem athenischen Areopag geprüft sind . Es ist sehr wahrscheinlich , daſs
Euripides hier zwischen zwei Versionen vermittelt , der attischen einerseits
und der peloponnesischen andererseits . Aber welche Veranlassung konnte
ein attischer Dichter haben , vor einem attischen Publikum , dem die heimische
Tradition noch durch Aischylos besonders vertraut war , der peloponnesischen
überhaupt zu gedenken ? Ich denke , das erklärt sich , wenn sie in einer
Dichtung vorkam , welche dem attischen Publikum lieb und vertraut war ,
und an die der Dichter selbst sich bei der Abfassung des Stückes anlehnt .
Beides trifft für die Oresteia des Stesichoros zu . Auch mag darauf hin-
gewiesen werden , daſs der Schauplatz des stesichoreischen Gedichtes Lake- ( Pherekydes im schol Eur. Orest . 1645. vgl. Pausan. VIII
44 , 2 ) und später als siebzigjähriger Greis durch den Biſs
einer Schlange getötet wird ( Asklepiades im schol. Orest . 1. 1. ) .
Für einen früheren Moment hingegen bietet vielleicht die
Notiz einen schwachen Anhalt , daſs im zweiten Buch der Oresteia
Palamedes erwähnt war ( Bekker Anecd. II 783 , 14. Stesichoros fr.
31 Bergk ) . So wenig ich verkenne , wie trügerisch im Allgemeinen
Schlüsse sind , die sich auf eine solche gelegentliche und lakonische
Notiz stützen , und so gern ich zugebe , daſs gerade in einem
lyrischen Gedicht Personen Mythen Gegenstände aller Art erwähnt
sein konnten , die mit dem eigentlichen Gang der Handlung gar
Nichts zu thun haben , so scheint mir doch in diesem Falle geboten ,
wenigstens auf eine Möglichkeit hinzuweisen , in welchem Zusammen-
hang Palamedes erwähnt gewesen sein könne . Das Schicksal des
Palamedes und sein schmählicher Untergang vor Ilion wird all-
mählich in eine enge Verbindung gesetzt mit dem Verderben
Agamemnons und seines Hauses . Wie sicher bei Sophokles ,
vielleicht schon in den Nosten Nauplios es ist , der , um seinen
Sohn zu rächen , den Schiffbruch bei den kaphareischen Felsen ,
sei es herbeiführt , sei es ausnutzt , so finden wir in der späteren
Poesie und Kunst seine Söhne Oiax und Nausimedon als Gegner
des Orestes auf Seiten des Aigisthos und der Klytaimnestra .
Auf einem in dem später als Pinakothek verwandten Nord-
flügel der Propyläen befindlichen Gemälde war dargestellt ( Paus.
I 22 , 6 ) Ὀρέστης … Αἴγισϑον φονεύων καὶ Πυλάδης τοὺς παῖδας τοὺς
Ναυπλίου βοηϑοὺς ἐλϑόντας Αἰγίσϑῳ . Es darf heute wohl als
sicheres Resultat der Forschung Daſs der unfertige Zustand der Wände der Pinakothek jeden Ge-
danken an Wandgemälde ausschlieſst , hat schon Ivanoff ( Ann. d. Inst. 1861
S. 278 ) konstatiert und Leop. Julius ( Mitt. d. athen. Instituts II S. 192 ) aufs
Neue hervorgehoben ; die in jenem Gemach befindlichen Bilder müssen also
Tafelbilder gewesen sein . Dies zeigt auch schon der Name dieses Gebäude- betrachtet werden , daſs dies
daimon ist ( schol. Eurip . Orest. 46 ) , also für Orestes die Flucht nach der
Parrhasia besonders nahe liegt . — Gelegentlich mag bemerkt werden , daſs
die Ausführung des Pausanias VIII 34 , 4 , wie die jetzt ganz in der Luft
schwebende Erwähnung des Tyndareos beweist , augenscheinlich auch aus
einem Kommentar zu unserer Stelle des Orestes stammt .
Gemälde so wenig wie irgend eines der übrigen in der Pinakothek be-
findlichen Tafelbilder mit Polygnotos etwas zu thun hat , daſs vielmehr
die beiden einzigen Gemälde , die Pausanias an jener Stelle als
von Polygnotos herrührend erwähnt , Achill auf Skyros und Odys-
seus bei Nausikaa , sich gar nicht in der Pinakothek befanden ,
sondern nur als Beispiele für die Abhängigkeit oder Abweichung
der bildenden Kunst von Homer erwähnt werden , eine Frage ,
die vermutlich in der Quelle des Pausanias noch ausführlicher
erörtert war . Wir kennen also weder den Maler noch die Ent-
stehungszeit des erwähnten Bildes ; eine gewisse Wahrscheinlichkeit
spricht dafür , daſs es nicht älter ist , als die Vollendung der
Propyläen ( Ol. 86 , 4. 433 ) , zumal es kein eigentliches Votivgemälde
gewesen zu sein scheint . Denn bei einem solchen wäre allerdings
der Fall denkbar , daſs es ursprünglich etwa im Parthenon auf-
gestellt gewesen , dann aber , als dort der Raum zu enge war , in
einem besonderen Raum der Propyläen untergebracht worden
wäre , die ja auch , wie überhaupt die ganze Burg , der Athena
heilig waren . So kann das Gemälde ebenso wohl in dem vierten
ja in einem noch späteren Jahrhundert gemalt worden sein , als
in den letzten Jahrzehnten des fünften : an einen Zusammenhang ,
der an der Spitze dieses Kapitels aufgezählten Vasen mit diesem
teils Πινακοϑήκη , ein Indicium , das Viele , vor allem der hochverdiente
Letronne , mit Unrecht abschwächen wollten . Ist es nun denkbar , daſs
Polygnot Tafelbilder gemalt hat ? Tafelbilder , die durchaus Votivgemälde
waren , allerdings ; so gut wie Aglaophon die eben in der Pinakothek be-
findlichen Votivgemälde für Alkibiades . Aber auch Tafelbilder mythologischen
Inhalts ? Ich denke , wenn man nicht jede Entwickelungsgeschichte der
griechischen Malerei leugnen und unseren Quellenschriftstellern allen Glauben
absprechen will , muſs dies unbedingt verneint werden . Denn wie will man
die Notiz über Apollodor von Athen ( Plin. 35 , 60 ) neque ante eum tabula
ullius ostenditur quae teneat oculos mit dem Ruhm und der Gröſse Polygnots
in Einklang bringen , wenn auch dieser Tafelbilder gemalt hat ? Die that-
sächlichen Verhältnisse haben hier bestätigt , was Gottfried Hermann ( Opusc.
V 207 ) durch einfache philologische Interpretation der Stelle des Pausanias
längst festgestellt hatte , ohne , wenigstens bei der archäologischen Forschung
den verdienten Glauben zu finden , daſs die Bilder des Polygnot nicht als
in der Pinakothek befindlich , sondern nur als Beispiele angeführt werden .
Gemälde zu denken , wie man wohl gethan hat , ist nach dem
Gesagten schlechterdings unmöglich .
In der erhaltenen Litteratur begegnet uns die Spur einer
ähnlichen Version zuerst im Orestes des Euripides ; in dem Gespräch
zwischen Menelaos und Orestes entgegnet dieser auf die Frage
V. 431
τίνες πολιτῶν ἐξαμιλλῶνταί σε γῆς ;
mit den Worten
Οἴαξ , τὸ Τροίας μῖσος ἀναφέρων πατρί ,
und Menelaos versteht sofort den Beweggrund seines Handelns
ξυνῆκα ·Παλαμήδους σε τιμωρεῖ φόνου .
Hier erscheint also Oiax als der eigentliche Gegner des Orestes ,
der die Rache für Klytaimnestra übernimmt und auf Ver-
bannung des Orestes dringt , und so , meine ich , könnte sehr
wohl Stesichoros gedichtet haben und die Erwähnung des Pala-
medes im zweiten Buch , also offenbar einer späteren Partie ,
fände ihre Erklärung . Wenn es feststände , daſs die citierte Stelle
wirklich von Euripides herrührte , so hätten wir abermals eine
Anlehnung an Stesichoros , wie sie in demselben Stück für V.
268 bezeugt und von uns für V. 1645 vermutet worden ist
( s. Anm. 31 ) . Doch kann ich nicht verhehlen , daſs die offenbaren
Widersprüche , welche die Verse 431—438 nicht bloſs gegen das
übrige Stück , sondern gegen die unmittelbar vorhergehenden und
folgenden Fragen und Antworten enthalten , mir so stark erscheinen ,
daſs sie selbst durch die vorausgesetzte Beziehung auf die Oresteia
des Stesichoros nicht entschuldigt werden und daſs an dem Ver-
dacht nicht-euripideischen Ursprungs festgehalten werden muſs S. den Excurs : Euripides Orestes 431—438 . ;
natürlich haben wir es mit einer ursprünglich an den Rand ge-
schriebenen Parallelstelle aus einem anderen Stück zu thun ;
denn ein Interpolator , der die Verse erst dichtete , würde sich
wohl genauer an den Inhalt des ächten Gespräches angeschlossen
haben ; auch wäre die Absicht , die er mit dieser Erweiterung
verband , absolut unerfindlich . Die spätere Poesie scheint die
Gestalt des Oiax noch mehr ausgebildet und ihn namentlich in
ein nahes Verhältnis zu der Tochter des Aigisthos Erigone ge-
setzt zu haben Dies scheint der Fall zu sein in dem Dulorestes des Pacuvius und
also auch dem vorauszusetzenden griechischen Original desselben . Bekannt-
lich hat O. Jahn ( Hermes II 229 ) nachgewiesen , daſs der Inhalt dieses Stückes
die Ermordung des Aigisthos sei , und den Gang der Handlung , nament-
lich auch die Rolle des Oiax , im Ganzen endgültig festgestellt . Ribbecks
abermalige reifliche Erwägung des „ sehr unsicheren “ Materials ( Röm. Trag.
S. 239 ) hat den Gegenstand nicht gefördert . Nur in einem Punkte muſs
ich von O. Jahn abweichen . An dem Tage , an welchem das Stück spielt ,
soll eine Hochzeit gefeiert werden fr. I. II. ; O. Jahn glaubt zwischen
Oiax und Elektra . Aber ist es glaublich , daſs Aigisthos und Klytaimnestra
dem gefährlichen auf Rache sinnenden Mädchen solchen Gatten geben
sollten ? Vergebens müht man sich , ein solches Verfahren zu motivieren .
Nein , nicht Elektra , sondern Erigone , die Tochter des Aigisthos und
der Klytaimnestra ( Hyg. fab. 122 ) , ist die Braut . Denn daſs die Ehe des
Aigisthos und der Klytaimnestra kinderlos gewesen sei , braucht doch nicht
notwendig , wie Ribbeck will , aus fr. XV zu folgen . Die Worte vel cum illum
videas sollicitum orbitudine können , wenn wir denn einmal mit bloſsen Möglich-
keiten operieren wollen , beispielsweise auch der groſsen Streitscene zwischen
Elektra und Klytaimnestra , in die ja auch fr. VII ( vgl. Soph. Elektr. 552—555 )
gehört , zugeteilt und auf die traurige elternlose Jugend des Orestes bezogen
werden ; vgl. Soph. Elektr. 601 ὁ δ̕ ἄλλος ἔξω χεῖρα σὴν μόλις φυγών τλή-
μων Ὀρέστης δυστυχῆ τρίβει βίον . Man wird ferner zugeben , daſs fr . II
gnatam despondit , nuptiis hanc dat diem
passender von Aigisth und Erigone als von Aigisth und Elektra gesagt werde .
Endlich darf auf den wirkungsvollen Gegensatz zwischen der glücklichen
Erigone und der einsamen Elektra hingewiesen werden ; letzterer gehört viel-
leicht fr. I hymenaeum fremunt aequales „ aber ich habe keinen Teil an der
Festfreude “ , wie man den Gedanken ergänzen könnte . . Auf einem römischen Sarkophag , der von
den übrigen Orestessarkophagen unabhängig eine eigene Klasse
repräsentiert , eilt Erigone dem Aigisthos , Oiax der Klytai-
mnestra Ich meine den Sarkophag Lezzani ( Visconti Museo Pio-Clementino V A
M. d. I. VIII tav. XV ) , dessen Darstellungen zuerst Benndorf richtig auf-
gefaſst hat . Die Scene links zeigt die Ermordung des Aigisthos , die Haupt- zu Hilfe .
Wenden wir von diesen unsicheren Versuchen , für die Rekon-
struktion der letzten Hälfte des stesichoreischen Gedichtes Anhalts-
punkte zu gewinnen , den Blick auf das Ganze , wie wir es als die
eigentlich maſsgebende poetische Behandlung des Stoffes vor dem
attischen Drama und voll des weitgreifendsten Einflusses auf
dieses selbst und die Kunstdarstellungen nachzuweisen gesucht
haben , so wird man den Eindruck gewinnen , daſs wir es mit
einer epochemachenden dichterischen Erscheinung zu thun haben ,
der sich an Einfluſs auf die Sagenvorstellung des ganzen helle-
nischen Volkes nur wenige an die Seite stellen können . So hoch
ich nun die freie dichterische Schöpfung gerade des Stesichoros
anschlagen zu müssen glaube , und so kühn und rücksichtlos
derselbe auch nachweislich sonst mit der volkstümlichen und
poetischen Tradition gebrochen hat , so wird es mir doch in diesem
Falle schwer , mir die ungeheure Umgestaltung des Stoffes , wie sie
die stesichoreische Oresteia den homerischen Gedichten gegenüber
darstellt , als das Werk eines einzigen Mannes vorzustellen , wenn
nicht wenigstens hier und da in dem Volksbewuſstsein und in der
späteren epischen Poesie sich eine solche Umwandlung vorbereitet
gruppe nach demselben Typus , wie auf den rotfigurigen attischen Vasen , ein
Umstand , auf welchen schon oben ( Anm. 16 ) hingewiesen wurde ; allein an Stelle
der Klytaimnestra erscheint ein Mädchen mit Haube , das statt des Beiles einen
Fuſsschemel gegen Orestes schwingt . Sie für Klytaimnestra zu halten , ver-
bietet teils ihre zu groſse Jugendlichkeit , teils der Umstand , daſs diese in
der zweiten Scene in ganz anderer Gewandung erscheint . Dies sah Benndorf ,
begnügte sich jedoch , die Figur allgemein als una partigiana di Egisto zu
bezeichnen . Nach dem im Text Bemerkten wird man gewiſs der Benennung
Erigone eine gröſsere Probabilität nicht absprechen können . Ebenso kommt
in der Scene rechts der niedergesunkenen Klytaimnestra ein nackter Jüng-
ling , der in den erhobenen Händen ein Gefäſs schwingt , zu Hilfe ; un servo
nach Benndorf . Allein für einen solchen erscheint die Figur doch zu sehr
hervorgehoben ; auch pflegen Sklaven , wie der auf den übrigen Orestes-
sarkophagen , mit der Exomis dargestellt zu werden ; Nacktheit hingegen
deutet immer den vornehmen heroischen Jüngling an . Man wird deshalb die
Deutung auf Oiax vorziehen . — Ein seltsames Zusammentreffen ist es aller-
dings , daſs auf den etruskischen Urnen in derselben Stellung , wie hier
Erigone und gleichfalls mit einem Schemel bewaffnet , Klytaimnestra bei der
Ermordung des Agamemnon erscheint ( Brunn , Urne etrusche LXXIV ) .
hatte . Der Schwerpunkt dieser Veränderung scheint mir in der
Umgestaltung der Charaktere der Klytaimnestra , die zur Gatten-
mörderin , und des Orestes , der zum Muttermörder wird , zu liegen ;
und ähnliche Wandlungen erfährt auch der Mythos von der Vorge-
schichte des Atridenhauses , die ja überhaupt erst in der Zeit des ab-
sterbenden Epos im Einzelnen ausgebildet worden ist . Während die
Ilias bekanntlich weder von einer Einwanderung des Geschlechtes Das wird wohl heute allgemein zugestanden : von Hermes hatte Pelops
das Szepter erhalten , nicht also die Herrschaft usurpiert , und wie wäre es
denkbar , daſs in dem ganzen homerischen Epos niemals darauf hingewiesen
würde , daſs der Schauplatz des Krieges der alten Heimat des Atridengeschlechts
nahe liegt , wenn die Sage von der Einwanderung des Pelops dem Sänger und
dem Hörer bekannt gewesen wäre . Und Oinomaos und Hippodameia ? Dem
homerischen Epos sind sie bekanntlich fremd , und wenn ich die dürftigen ,
aber laut genug sprechenden Reste einer von der vulgären Anschauung ab-
weichenden älteren Überlieferung richtig deute , so gehören beide ursprüng-
lich nach Lesbos , und nach der ältesten Sagenversion freite nicht der lydische
Ankömmling Pelops die einheimische peloponnesische Königstochter Hippo-
dameia , sondern der einheimische Herrscher von Argos , Pelops , raubte sich
aus dem fernen Lesbos die Braut . Die freilich ziemlich jungen Münchener
Scholien zum Orestes 990 nennen Oinomaos König von Lesbos . Auf Lesbos
liegt Killa und das Heiligtum des Apollo Killaios , Stätten , die zur Er-
dichtung des Wagenlenkers des Pelops , Killos , Veranlassung gegeben haben ,
und deren Gründung dann umgekehrt die aus dem Theopompos erhaltene
lokale Stiftungssage mit dem Tod dieses Killos in Verbindung bringt ( schol.
Il. Α 38 ) . Die Stätte , an welcher die eigentliche Katastrophe , der Tod des
Myrtilos , haftet , das Vorgebirge Geraistos an der Südspitze von Euboia ,
liegt weit ab von Elis , auch dem Isthmos , der später das Endziel der Wett-
fahrt ist , nicht allzu nahe , aber für den , der auf geradem Wege von Argos
nach Lesbos oder von Lesbos nach Argos gelangen will , ist es unver-
meidlich . In Poesie und Kunst hat Pelops von Poseidon göttliche Rosse ,
die über das Meer laufen können ( Cic. Tusc. II 27 , 67 ) , auch auf dem
Kypseloskasten geflügelt dargestellt waren . Die wirklich alte gute Sage
pflegt mit solchen wunderbaren Motiven äuſserst ökonomisch zu verfahren ;
sie erdichtet sie nur dann , wenn sie wirklich nötig sind . Wenn daher die
Rosse des Pelops , sei es vermöge der Beflügelung , sei es vermöge einer ihnen
von Poseidon eigens verliehenen Wundergabe , über das Meer laufen können ,
so muſs Pelops mit ihnen auch wirklich über das Meer gefahren sein , wie
es ja auch die herrliche Vase von Arezzo ( M. d. I. VIII taf . 3 ) darstellt ,
und auch , wie dort , mit Hippodameia . Man hat diese Abweichungen von der
noch von einer Feindschaft zwischen Atreus und Thyestes weiſs ,
sondern nur von einer ruhigen Herrscherfolge , in welcher sich
das Szepter , das einst Hermes dem Ahnherrn Pelops verliehen
hat , friedlich vom Vater auf den Sohn , vom Bruder auf den Bruder
vererbt , erscheint in der Mythengestaltung , die das attische Drama
bereits zeitig übernimmt , das Geschlecht der Pelopiden als das
fremde zugewanderte , das sich durch Verrat der Herrschaft
bemächtigt hat und dessen Geschichte eine Reihe von Frevlern
und eine Häufung von Gräueltaten aufzuweisen hat , wie sie sich
sonst nur bei dem Labdakidenhause , dort aber schon in der ältesten
Sagenform , finden . Mir scheint , dies ist Alles so ausgesprochen
tendenziös gefärbt , daſs es nicht zweifelhaft sein kann , welchem
Stamm und welcher Zeit diese Umbildung angehöre . Die alten
Sagen , wie sie die Tisameniden auf Lesbos von ihren Ahnherrn ,
die für sie — ob mit Recht oder Unrecht , das zu erörtern , muſs
mir hier ganz fern liegen — die alten Herren von Mykene und Sparta
waren , erzählten , die Sagen , die in der Form , welche ihnen der
ionische Heldensang gab , bald Gemeingut von ganz Hellas wurden ,
muſsten dem dorischen Einwanderer , der auf denselben von Sage
und Lied verherrlichten Stätten saſs , ein Dorn im Auge sein .
Die peloponnesischen Dorer sind es , in deren Sagen immer neue
Schmach auf das Haus der Pelopiden gehäuft wird , während
gleichzeitig die Mythen von Herakles in immer hellerem Lichte
strahlen . Schon in den späteren Partien der Ilias macht sich
dieser Einfluſs , der hier offenbar von der dorischen Hexapolis
ausgeht , geltend : lange vor Agamemnon hat schon Herakles Troia
erobert ; die stolze Herrin des goldreichen Mykene , die Schützerin
der Atriden , Herakles hat sie verwundet ; und so dichtet die Sage
späteren Vulgärsage längst erkannt , aber der Versuch sie dadurch zu er-
klären , daſs Pelops mit der Hippodameia nach Lydien zurückgekehrt sei ,
steht auf derselben Stufe , wie der des Theopomp die lesbische Tradition
durch die Fabel zu erklären , daſs Killos auf der Reise von Lydien nach
Argos umgekommen sei . Es versteht sich , was auch schon von Anderen ge-
bührend hervorgehoben ist , daſs es sich ursprünglich um einen Brautraub
handelt , bei dem Myrtilos verräterischer Weise hilft , und daſs die Umwandlung
zu einem Wettrennen erst in Olympia entstanden ist .
fort und fort , bis es dahin kommt , daſs selbst der tapferste
der Neliden , der kühne Argonaut und starke Schützer von Theben
Periklymenos , dem Herakles unterliegt und gar der alte Tyndareos
seine Herrschaft nur der Groſsmut des Herakles verdankt . Den
poetischen Niederschlag dieser Umbildung und Neubildung ent-
hielten die geneologischen Epen des Hesiod ; ob durch Vermitte-
lung der schon erwähnten kleinasiatischen Dorer , wie Wilamowitz
scharfsinnig vermutet , mag hier unentschieden bleiben . An Hesiod
aber knüpft , bald zustimmend , bald abweichend , unmittelbar
Stesichoros an , und in diesem höheren Sinne hat die — doch
wohl peripatetische — Legende , die ihn einen Sohn des Hesiodos
nennt , vollkommen Recht . Dem Hesiod entnimmt Stesichoros
z. B. die Sage vom Fluch , den Aphrodite aus Zorn darüber ,
daſs Tyndareos ihrer beim Opfer vergessen , auf seine drei
Töchter legt , dem Fluch , in Folge dessen sie ihre Gatten ver-
lassen und dem Verführer folgen ; so geht Timandra von Echemos
weg zu Phyleus — man beachte : von dem einheimischen arka-
dischen Herrscher , dem Feind der Herakliden , von dessen Hand
Hyllos fällt ( Paus. VIII 5. vgl. Apollod. III 10 , 6 ) , zu Phyleus
dem Augeiassohn , dem Freund des Herakles , dem Liebling der
olympischen Götter , wie Hesiod nachdrücklich hervorhebt , —
und so bricht Klytaimnestra dem Agamemnon , Helena dem Mene-
laos die Treue ( schol. Eur. Orest . 249 = Hesiod. fr. 112 Kink .
Stesichoros fr. 35 ) . Von Hesiod weicht Stesichoros ab z. B.
im Kyknos ( vgl. das Hypothesisfragment des stesichoreischen
Kyknos in den Scholien zu Pind. Ol. X 19. Fr. 12 mit der er-
haltenen Ἀσπίς ) ; aber er unterläſst nicht ausdrücklich die Ab-
weichung zu markieren , das schlieſse ich aus den Worten der
Hypothesis der hesiodeischen Ἀσπίς : ὡσαύτως δὲ καὶ Στησίχορός
φησιν Ἡσιόδου εἶναι τὸ ποίημα . Denn wo anders sollte sich diese
Erwähnung haben finden können als im Kyknos , und wie anders
ist sie zu erklären , als dadurch daſs Stesichoros auf die abweichende
Behandlung des Hesiod Bezug nahm und dieselbe kritisierte ?
Daſs nun im Κατάλογος des Hesiod wie überhaupt die Geschichte
des Atridengeschlechtes so auch die Ermordung des Aigisthos
erzählt war , ist von vorne herein wahrscheinlich und wird durch
die Fragmente 108. 111. 113 bei Marckscheffel ( 112. 115. 116
Kinkel ) bestätigt , Fragmente , die freilich zu dürftig sind , um
über die Version ein Urteil zu gestatten . Doch scheint es immerhin
bedeutsam , daſs Aerope als Gemahlin des Atreus und ihr Sohn
Pleisthenes in die Königsliste eingeschoben waren , — auch bei
Stesichoros heiſst Agamemnon Πλεισϑενίδας , — denn beide Personen
werden immer genannt , wenn von den Gräueln des Pelopidenhauses
die Rede ist ; sie scheinen gleichzeitig mit der oben erwähn-
ten dorischen Umgestaltung der Sage in die Genealogie dieses
Geschlechtes eingefügt worden zu sein . Andererseits deutet die
Erwähnung der Mutter des Pylades , der Anaxibia , als Schwester
des Agamemnon und des Menelaos auf die Einführung des
Freundschaftsverhältnisses von Orestes und Pylades hin , einen
Punkt , in welchem Stesichoros , wenn die oben vorgetragene Ver-
mutung richtig ist , von Hesiod abwich .
Wenn ich es nach dem Gesagten für sehr wahrscheinlich
halten muſs , daſs gewisse allgemeine Züge der stesichoreischen
Oresteia schon bei Hesiod sich fanden und daſs Stesichoros auch in
diesem Gedicht in eine bewuſste Abhängigkeit von seinem Vorgänger
trat , so fürchte ich nicht , andererseits dem Einwand zu begegnen ,
daſs unter dieser Voraussetzung ja auch das Gedicht des Hesiodos
es gewesen sein könnte , welches auf das attische Drama und die
attischen Vasen sowie auf das melische Relief vorzugsweise be-
stimmend eingewirkt hätte ; denn solche Züge , wie das Wiedersehen
der Geschwister am Grabe , Züge , die für die poetische und künst-
lerische Tradition gerade vorzugsweise bestimmend geworden sind ,
kann man sich im Ramen des geneologischen Epos nur schwer
denken , sie weisen auf eine mächtig und eigenartig gestaltende
Dichterinduvidualität hin und scheinen gerade für die Lyrik eines
Stesichoros besonders passend .
Fragen wir nun , indem wir zum Schluſs wieder zum Ausgangs-
punkt unserer Betrachtung , den attischen Vasen , zurückkehren ,
in welcher Zeit der dort vorliegende bildliche Typus geschaffen
worden ist , so läſst sich eine sichere Antwort darauf nicht geben .
Konstatiert muſs werden , daſs auf schwarzfigurigen Vasen der
Typus sich bis jetzt noch nicht gefunden hat ; das kann Zufall
sein , allein , beachtet man die ächt dramatische , auf einen Moment
der höchsten Krisis koncentrierte Komposition , so wird man der
Ansicht einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit zuerkennen
müssen , daſs der Typus diesen Charakter nicht erst nachträglich
bekommen , sondern von Anfang an gehabt hat , mit andern
Worten , daſs seine Schöpfung dem fünften Jahrhundert angehört
und mit der Thätigkeit der polygnotischen Schule in Verbindung
gebracht werden darf .
EXCURS I .
DIE LAOKOONSAGE .
Der Mythos von dem Tode des Laokoon und seiner beiden
Söhne , der heute , Dank der vatikanischen Gruppe , zu den
populärsten Sagen gehört , scheint sich im Altertum keineswegs
der gleichen Beliebtheit und Verbreitung erfreut zu haben ; wie
es keine bildliche Darstellung desselben giebt , die mit Sicherheit
für älter zu halten wäre , als Vergil , so sind auch die Er-
wähnungen desselben in der Litteratur recht vereinzelt und
dürftig . Es erscheint , namentlich einigen neueren Besprechungen
gegenüber , nicht überflüssig , das Wenige , was sich über die Ent-
wickelungsgeschichte des Mythos erkennen läſst , hier in Kürze
zusammenzustellen .
Die älteste Erwähnung des Mythos in der Litteratur ist die
bei Arktinos ; in der Inhaltsangabe des Proklos heiſst es : τρα-
πέντες δὲ εἰς εὐφροσύνην εὐωχοῦνται ὡς ἀπηλλαγμένοι τοῦ πολέ-
μου · ἐν αὐτῷ δὲ τούτῳ δύο δράκοντες ἐπιφανέντες τόν τε Λαο-
κόωντα καὶ τὸν ἕτερον τῶν παίδων διαφϑείρουσιν · ἐπὶ δὲ τῷ
τέρατι δυσφορήσαντες οἱ περὶ τὸν Αἰνείαν ὑπεξῆλϑον εἰς τὴν
Ἴδην Daſs Tzetzes zu Lykophron 344 und Posthom . 714 den Proklos ausschreibt ,
also als selbständiger Zeuge nicht in Betracht kommt , würde ich nicht er-
innern , wenn nicht Welcker , Griech. Trag. S. 155 und Stark , Arch . Zeit . 1879
S. 169 auf diese Stellen Gewicht zu legen schienen ; von „ Eudokia “ p. 31
ganz zu geschweigen . . Charakteristisch ist an dieser Fassung vor Allem die
Verbindung von Laokoons Tod mit dem Auszug des Aineias , und
diese Verbindung war auch augenscheinlich für die Form der
Sage bestimmend ; denn das τέρας symbolisiert das Schicksal
Troias und des Geschlechtes des Tros ; wie Laokoon und sein
einer Sohn untergeht , so auch Troia und das Geschlecht des
Priamos , d. h. der auf Ilos , den ältesten Sohn des Tros , zurück-
gehende Zweig ; aber wie der jüngere Laokoonsohn gerettet wird ,
so zieht , durch das τέρας gewarnt , Aineias und sein Geschlecht ,
d. h. der auf Assarakos , den jüngeren Sohn des Tros , zurück-
gehende Zweig , aus der Stadt aus und wird gerettet . Ent-
sprechend der Zahl der Opfer werden zwei Schlangen eingeführt .
Ob und in welcher Weise Arktinos den geretteten Laokoontiden
verwante , ob er ihn mit Aineias ausziehen oder in der Nykto-
machie umkommen lieſs , entzieht sich unserer Kenntnis , und ist
auch im Grunde ziemlich gleichgültig . Das Wesentliche ist , daſs
die ganze Episode nur um des Aineias Willen eingefügt gewesen
zu sein scheint , es ist deshalb weder notwendig noch nach der
Verfahrungsweise des Epos wahrscheinlich , daſs der Untergang
des Laokoon durch eine von ihm begangene Schuld noch beson-
ders motiviert war .
Nach langem Zwischenraum finden wir die Sage dann wieder
bei Bakchylides ; wir lesen darüber in den vortrefflichen Vergil-
scholien des Fuldensis zur Aen. II 201 : Sane Bacchylides de Lao-
coonte et uxore eius vel de serpentibus a Calydnis insulis
venientibus atque in homines conversis dicit , Worte , die , so
kaum verständlich , erst im Verlauf der Untersuchung Licht er-
halten werden .
Wir gehen deshalb gleich zum Laokoon des Sophokles
über , einem Stück , von dem kürzlich vermutet worden ist , daſs
es „ das Dramatische des Stoffes aus der epischen Erzählung
poetisch einheitlicher und abgeschlossener herausgehoben und den
bildenden Künstlern gewissermaſsen vorgebildet , dazu die Sage
ethisch tiefer begründet haben möge “ , während von anderer Seite
versichert wird , „ daſs eben durch den Laokoon des Sophokles
alle Kunstdarstellungen der Sage inspiriert worden seien “ . Dar-
nach könnte es scheinen , als ob wir über den Inhalt dieser Tra-
Philolog. Untersuchungen V. 13
gödie sehr genau unterrichtet wären ; dies ist indessen keines-
wegs der Fall . Die verbreitete Vorstellung von dem Inhalt des
sophokleischen Laokoon beruht vielmehr einzig auf der zuerst
von Heyne ausgesprochenen und von Welcker acceptierten An-
nahme , daſs uns Hygin fab . 135 die Hypothesis dieser Tragödie
überliefere . „ Daſs Hygin den Inhalt der sophokleischen Tragödie
wiedergebe “ , sagt Overbeck Plastik II 2 S. 237 , „ ist noch nicht
bestritten worden , geschweige denn widerlegt “ . Ja , aber auch
noch nie bewiesen ; denn wenn auch ein Teil der Hyginschen
Fabeln teils eigentliche ὑποϑέσεις , teils aus solchen abgeleitet
sind , so gilt dies doch keineswegs von allen und muſs in jedem
einzelnen Fall besonders bewiesen werden . Hygins Erzählung Sehr merkwürdig ist die Stelle , die Hygin der Laokoonfabel gegeben
hat ; sie steht nicht etwa mit den übrigen troischen Sagen zusammen , sondern
hinter den Abenteuern des Dionysos und vor der Geschichte des Polyeidos .
Für letztere Zusammenstellung war vielleicht der Umstand maſsgebend , daſs
in beiden Erzählungen zwei Schlangen die Hauptrolle spielen , und zwar
— wenn wir annehmen dürfen , daſs die Laokoonfabel in dem ursprünglichen
Werk ausführlicher erzählt war — beide Male eine männliche und eine weib-
liche Schlange .
lautet : Laocoon Capyos Acoetis Micyllus ; dieser Name ist aus der vorhergehenden Fabel 133
( Tyrrheni ) , wo der Steuermann so heiſst , hier aus Versehen wiederholt ; man
hätte also an sich völlige Freiheit , jeden anderen Namen einzusetzen ; aber
die Worte Anchisae pater zwingen mit unabweisbarer Notwendigkeit , nach
Munckers Vorgang Capyos zu schreiben . filius Anchisae frater Apollinis sacer-
dos contra voluntatem Apollinis cum uxorem duxisset atque
liberos procreasset , sorte ductus ut sacrum faceret Nep-
tuno ad litus , Apollo occasione data a Tenedo per fluctus
maris dracones misit duos , qui filios eius Antiphatem et
Thymbraeum necarent ; quibus Laocoon cum auxilium
ferre vellet , ipsum quoque nexum necaverunt . quod
Phryges idcirco factum putarunt , quod Laocoon
hastam in equum Troianum miserit . Die letzten beiden
Sätze stimmen nach Inhalt und Fassung in auffälliger Weise mit
Vergil Aen. II 216 überein :
post ipsum auxilio subeuntem ac tela ferentem
corripiunt spirisque ligant ingentibus ,
und mit 229
scelus expendisse merentem
Laocoonta ferunt , sacrum qui cuspide robur
laeserit et tergo sceleratam intorserit hastam .
Auf letztere Übereinstimmung hat auch schon M. Schmidt hin-
gewiesen ; aber auch schon vorher stimmt , wie derselbe Heraus-
geber bemerkt , der Satz sorte ductus — Neptuno ad litus fast
wörtlich mit Vergil überein , er ist einfach Paraphrase von 201 :
Laocoon ductus Neptuno sorte sacerdos ,
und ebenso wird man die Worte a Tenedo per fluctus maris ,
gleichfalls nach Schmidts Vorgang , auf 203 :
ecce autem gemini a Tenedo tranquilla per alta
zurückzuführen haben . Ob diese Zusätze aus Vergil von Hygin
selbst oder einem späteren Interpolator herrühren , der das Fabel-
buch mit dem Hauptgedicht der Schullektüre gerade so in Ein-
klang setzen wollte , wie die griechischen Schulmeister ihre
mythologischen Handbücher mit Homer , ist für die hier be-
handelte Frage zunächst gleichgültig . Letzteres für das richtige
zu halten , veranlaſst mich nicht sowohl die vielleicht nur subjek-
tive Überzeugung S. Eratosthenes p. 15. 232 . , daſs in dem ursprünglichen Werk des Hygin
auf die römische Litteratur überhaupt fast keine Rücksicht genom-
men ward , als die sprachlich wie sachlich gleich anstöſsige Ver-
bindung der Worte Laocoon — occasione data ; sprachlich , denn
selbst durch Schmidts Vorschlag , essetque vor ductus einzusetzen ,
wird nur ein sehr holpriger Satz und eine sehr ungelenke Aus-
druckweise hergestellt ; sachlich , denn es ist absolut unerfindlich ,
warum der Moment , wo Laokoon am Meere dem Poseidon
opfert , eine besonders passende Gelegenheit für Apollo sein soll ,
die Strafe an ihm zu vollziehen . Vielmehr steht occasione data
13*
hier wie öfter , um anzudeuten , daſs der Autor auf die ausführliche
Darlegung der näheren Umstände verzichtet Hygin schreibt auch so occasione nacta , s. Muncker zu Fab. I Anm. e . . Hygin kann also
das Opfer nicht erwähnt haben .
Es ist klar , daſs , um die ursprüngliche griechische Sagen-
form zu erhalten , zunächst diese sämtlichen Zusätze aus Vergil
auszuscheiden sind . Dann lautet die Fabel folgendermaſsen :
Laocoon Capyos filius Anchisae frater Apollinis sacerdos contra
voluntatem Apollinis cum uxorem duxisset atque liberos pro-
creasset , Apollo occasione data dracones misit duos , qui filios
eius Antiphatem et Thymbraeum necarent . Der Schluſs ist offen-
bar durch die Interpolation verdrängt ; es kann diesem Um-
stand zugeschrieben werden , daſs von einem Zusammenhang mit
dem Auszug des Aineias nicht die Rede ist , aber andererseits
muſs darauf hingewiesen werden , daſs nach dieser Fassung ein
solcher Zusammenhang auch nicht notwendig war , ja daſs es gar
nicht gesagt ist , ob die Katastrophe gerade mit dem Unter-
gang Ilions zusammentrifft ; sie kann lange vorher , vielleicht
überhaupt vor die Ankunft der Griechen , gefallen sein . Das
Charakteristische dieser Version ist , daſs Laokoon eine Schuld
auf sich geladen hat und für sie büſst ; Apollo hat dem Laokoon
verboten , sich zu vermählen — ein aus der Laiossage bekanntes
Motiv ; — da er dies Verbot übertritt , rächt Apollo den Un-
gehorsam an der Frucht dieses Ehebündnisses , und darum müssen
nach dieser Version beide Söhne , nicht einer , wie bei Arktinos ,
sterben ; aber auch , wenigstens nach der Absicht des Gottes , nur
die Söhne . Es wäre zwar möglich , daſs auch in dieser Version
der Vater umkam , sei es , daſs er , wie bei Vergil , den Knaben
Hilfe bringen wollte und dabei selbst von den Schlangen um-
strickt wurde , sei es , daſs er sich aus Verzweiflung über den
Tod seiner Söhne selbst den Tod gab ; aber Nichts berechtigt
uns , diese Möglichkeit als sichere Thatsache hinzustellen , zumal
auch Quintus Smyrnaeus den Laokoon seine Söhne überleben
läſst — gewiſs nach älterer poetischer Tradition .
Dieselbe oder eine sehr ähnliche Sagenform , wie wir sie
hier bei Hygin kennen lernen , muſs nun auch Bakchylides be-
folgt haben ; das zeigen die bereits oben citierten Worte der
Vergilscholien : sane Bacchilides de Laocoonte et uxore eius …
dicit ; da nun Bakchylides in den mythologischen Handbüchern Apollod. bibl. II 5 , 5 , 2 = Bakchyl. fr. 60 ( schol. Od. φ 295 ) .
notorisch benutzt ist , so hat er mindestens den gleichen An-
spruch , für den Urheber der von Hygin berichteten Erzählung
zu gelten , wie Sophokles .
Unter diesen Umständen empfiehlt es sich , nicht von der
Erzählung Hygins , sondern von solchen Zeugnissen , die ausdrück-
lich auf das sophokleische Stück Bezug nehmen , auszugehen .
Hier gebührt der erste Platz der Stelle des Dionysios
Arch. I 48 : Σοφοκλῆς μὲν ὁ τραγῳδοποιὸς ἐν Λαοκόωντι δράματι
μελλούσης ἁλίσκεσϑαι τῆς πόλεως πεποίηκε τὸν Αἰνείαν ἀνασκευα-
ζόμενον εἰς τὴν Ἴδην , κελευσϑέντα ὑπὸ τοῦ πατρὸς Ἀγχίσου κατὰ
τὴν μνήμην , ὧν Ἀφροδίτη ἐπέσκηψε , καὶ ἀπὸ τῶν νεωστὶ γενο-
μένων περὶ τοὺς Λαοκοωντίδας σημείων τὸν μέλλοντα ὄλεϑρον
τῆς πόλεως συντεκμηράμενον ; worauf dann ein Stück der Boten-
erzählung , das von dem Auszug des Aineias handelt , ausgeschrieben
wird . Wie im Epos also ist die Katastrophe des Laokoon ein
Wahrzeichen für Aineias , nur daſs bei Sophokles nicht ein , son-
dern beide Söhne umkommen ; aber freilich , wenn man die Worte
des Dionysios genau nimmt , nur die Söhne und nicht der Vater .
Nichts aber berechtigt uns , mit Welcker dem Dionysios eine
Ungenauigkeit des Ausdrucks zuzutrauen , zumal wir dieselbe
Version schon zweimal gefunden haben und noch öfter finden
werden .
Weiter hilft uns die Notiz der Fuldaer Vergilscholien zur
Aen. II 204 , daſs in dem Stück die Namen der Schlangen er-
wähnt waren : horum sane draconum nomina Sophocles in Lao-
coonte dicit . Dieselben Scholien bemerken zu II 211 : hos
dracones Lysimachus † curifin et periboeam dicit . Es ist augen-
scheinlich , daſs wir hier ein und dieselbe Notiz vor uns haben ;
daſs also Lysimachos d. i. der bekannte Verfasser der Νόστοι Vgl. unten den Excurs Lesches und Arktinos .
hier die sophokleischen Namen giebt , und daſs auch die erste
Notiz über Sophokles , wahrscheinlich auch die über Bakchylides
und die über den sonst unbekannten Tessandros ( schol. Aen. II
211 ) auf Lysimachos zurückgeht , der in seinem Werke die ver-
schiedenen Sagenformen nebeneinander gestellt hatte . Die in den
Vergilscholien verderbten Namen hat Madvig zweifellos richtig zu
Porkes und Chariboia hergestellt . So lauten dieselben in den
alten Lykophronscholien zu V. 347 : Πόρκης καὶ Χαρίβοια ὀνό-
ματα · οἳ πλεύσαντες ἐκ τῶν Καλυδνῶν νήσων ἦλϑον εἰς Τροίαν
καὶ διέφϑειραν τοὺς παῖδας Λαοκόωντος ἐν τῷ τοῦ Θυμ-
βραίου Ἀπόλλωνος νεῷ . ὁ δὲ Λαοκόων υἱὸς ἦν Ἀντήνορος . τοῦτο
δὲ γέγονε σημεῖον τῆς Ἰλίου ἁλώσεως . Derselbe Lysimachos , den
wir in den Vergilscholien citiert finden , ist wahrscheinlich auch
in den Lykophronscholien , freilich ohne Nennung des Namens ,
benutzt , und so liegt es nahe , die angeführte Stelle direkt auf
die Νόστοι dieses Schriftstellers zurückzuführen ; indirekt ist aber
unbedingt Sophokles die Quelle ; auf ihn dürfen wir nicht nur
die Namen , sondern auch die übrigen hier berichteten Züge um
so unbedenklicher zurückführen , als zwei derselben auch durch
Dionysios von Halikarnass bezeugt sind ; einmal , daſs die Kata-
strophe ein Zeichen für den nahen Untergang Troias ist , dann
weiter , daſs nur die Söhne sterben . Denn es wäre bare Willkür ,
annehmen zu wollen , daſs sowohl Dionysios als Lysimachos oder
der Lykophronscholiast aus Ungenauigkeit den Tod des Vaters
übergangen hätten . Auch Lykophron selbst sagt V. 347 :
καὶ παιδοβρῶτος Πορκέως νήσους διπλᾶς
offenbar gleichfalls nach Sophokles . Ich kann mich nicht enthalten ,
hier gleich die unabweisbare Schluſsfolgerung zu ziehen , daſs die
vatikanische Gruppe mit dem sophokleischen Stück in keinem
Falle etwas zu thun haben kann Was Lessing Laokoon S. 53 als allgemein griechische Anschauung an-
nahm , ist also vielmehr die Version des Sophokles , vielleicht auch die des
Bakchylides . .
Wie aber kam Sophokles dazu , den Schlangen Namen zu
geben ? Die von C. Keil Anal. epigr. p. 191 Anm. angeführten
Analogieen , der Drache Λάδων oder der Πύϑων , treffen nicht zu ,
da es sich nicht um bekannte Tiere , die als Wächter bestellt
sind , sondern um plötzlich erscheinende Ungeheuer handelt , die
im Drama nur von dem Boten erwähnt werden konnten ; woher
aber konnte dieser ihre Namen kennen ? und wie seltsam , daſs
der eine Name männlich , der andere weiblich ist ! es handelt
sich also um ein Schlangenpaar . Und nun lese man noch ein-
mal das Lykophronscholion : Niemand würde aus diesen Worten
allein erraten , daſs von Schlangen die Rede ist ; ja der Ausdruck
πλεύσαντες ist , von Schlangen gebraucht , kaum erträglich . Aus
diesen Schwierigkeiten giebt es , soviel ich sehe , nur einen Aus-
weg ; man wird sich zu der Annahme entschlieſsen müssen , daſs
Porkes und Chariboia bei Sophokles Personen waren , die von
den kalydnischen Inseln herüberkommen , sich aber plötzlich in
Schlangen verwandeln ; von einer Verwandlung , nur freilich um-
gekehrt der Schlangen in Menschen , wuſste auch Bakchylides ,
wenn dem lakonischen Ausdruck der Vergilscholien zu trauen
ist . Einmal aufmerksam gemacht wird man auch den auffallenden
Zug der Vergilschen Schilderung , daſs die Schlangen als Schlangen
über das Meer schwimmen , bemerken , ein Motiv , für das man
in der griechischen Mythologie schwerlich ein Analogon finden
wird . Das κῆτος schwimmt über das Meer , der ὄφις haust in
den dunklen Winkeln der Tempel oder in Höhlen oder unter der
Erde . Diese Anschauung verbietet uns , das Vergilsche Motiv ,
daſs die Schlangen über das Meer herbeischwimmen , auch schon
für Arktinos vorauszusetzen , zumal auch Proklos kein Wort da-
von sagt . Wenn Sophokles im Gegensatz zu Arktinos die
Schlangen oder vielmehr die Menschen , aus denen später Schlan-
gen werden , von den kalydnischen Inseln herkommen läſst , so
liegt hier , mag nun Sophokles das Motiv erfunden oder , wie wir
nach dem Vergilscholion fast notwendig anzunehmen gezwungen
sind , von Bakchylides übernommen haben , eine Weiterbildung
vor ; sie kommen von derselben Stelle , wo die Achaierflotte verborgen
liegt und von wo sich das Verderben über ganz Ilion nahen wird .
Noch einen weiteren Anhalt bietet uns das Scholion zu Lykophron
durch die Angabe , daſs der Ort der Katastrophe das Heiligtum
des thymbräischen Apollo war ; daſs dieselbe bei Gelegenheit eines
Opfers eintrat , wird nicht gesagt , ist aber in hohem Grade wahr-
scheinlich . Es ist unabweislich , damit in Verbindung zu bringen , daſs
sowohl bei Hygin als bei Servius Laokoon Priester des Apollo ist , und
daſs bei ersterem auch der eine Sohn nach dem Gotte Thymbraeus
heiſst . Und wenn nun weiter Hygin erzählt , daſs der Gott den
Ungehorsam des Vaters durch den Tod der beiden Söhne , der Spröſs-
linge aus dem verbotenen Ehebündnis , straft , so liegt es nahe genug ,
dasselbe oder ein ähnliches Motiv für Sophokles vorauszusetzen , bei
dem ja gerade wie bei Hygin beide Söhne , aber auch nur diese
ohne den Vater umkommen ; und dies um so mehr , da im Drama ,
wie namentlich Welcker mit Recht gefordert hat , die Katastrophe
durch eine Schuld des Laokoon motiviert sein muſs . Und so
befinden wir uns von neuem der Frage gegenüber , ob nicht doch
in jener Hyginschen Fabel , natürlich in der reinen und un-
verfälschten Gestalt , wie ich sie oben abgedruckt habe , wenigstens
der Anfang einer Hypothesis von Sophokles Laokoon erhalten sei .
Diese Frage zu verneinen , veranlaſst mich eine doppelte Er-
wägung . Erstens paſst zu der Katastrophe im thymbräischen
Heiligtum noch weit besser , als die von Hygin überlieferte , die-
jenige Version von Laokoons Schuld , die in den Vergilscholien
( Aen. II 201 ) erzählt wird : hic ( Laocoon ) piaculum com-
miserat ante simulacrum numinis ( Thymbraei Apollinis )
cum Antiopa sua uxore coeundo ; denn bekanntlich ist es ein
sehr beliebtes tragisches Motiv , daſs die Strafe an demselben
Orte erfolgt , an dem die Schuld begangen ist , hier also im
thymbräischen Heiligtum . Nimmt man aber diesen Zug , wie man
konsequenter Weise muſs , für Sophokles in Anspruch , so kann
man andererseits Hygins Erzählung nicht mehr auf Sophokles
zurückführen . Denn anzunehmen , daſs mit Rücksicht auf den
Zweck der fabulae als Schulbuch das anstöſsige Motiv entfernt
worden sei , geht aus dem Grunde schwerlich an , weil in anderen
fabulae Dinge enthalten sind , die sich nach unseren Begriffen
noch viel weniger zur Schullektüre eignen . Zweitens aber kann
die Fabel auch deshalb nicht auf Sophokles zurückgehen , weil
bei diesem Laokoon Sohn des Antenor war , wie das nach unserer
Annahme unmittelbar auf Lysimachos mittelbar auf Sophokles
zurückgehende Lykophronscholion lehrt . Nun ist ja freilich bei
Hygin der ächte Vatername durch einen falschen verdrängt und
Capyos nur erst durch Koniektur eingesetzt worden . Allein
die Worte Anchisae frater , auf denen letztere beruht , machen
die Ergänzung Antenoris zu einer reinen Unmöglichkeit . Den
uralten Anchises zum Sohne des Antenor zu machen , hätte sich
selbst der ungenierteste Genealog nicht herausgenommen . Er-
innert man sich nun , daſs die Geschichte bei Hygin von den
übrigen troischen Fabeln getrennt steht , daſs in ihrer ursprüng-
lichen Fassung gar kein Hinweis auf irgend welchen Zusammen-
hang mit Ilions Fall sich findet , sondern einfach Laokoons Schuld
und Strafe erzählt wird , so wird man ein gleiches auch für die
poetische Quelle voraussetzen , mag dies nun Bakchylides sein ,
für welchen alle unsere Voraussetzungen sehr gut zutreffen
würden , oder ein anderer .
Doch kehren wir zu Sophokles zurück ; daſs bei ihm Laokoon
ein Sohn des Antenor war , giebt mancherlei zu denken . Zunächst
wird man es recht passend finden , daſs auf diese Weise der
Apollo-Priester Laokoon der Sohn der Athena-Priesterin Theano
ist . Und wenn man weiter erwägt , daſs unter den zahlreichen
Antenoriden der Ilias sich die Namen Koon und Laodokos finden ,
so liegt die Vermutung nahe , daſs aus diesen beiden oder auch
nur aus dem ersten die jüngere Sage oder das spätere Lied sich
den Laokoon gebildet und daſs somit Sophokles seine Genea-
logie von Arktinos übernommen habe . Allein Sophokles hatte
ja auch ein besonderes Stück Ἀντηνορίδαι geschrieben , welches
gerade wie der Laokoon unmittelbar vor und während der Er-
oberung Troia’s spielte , in welchem die Antenoriden auszogen ,
wie Aineias im Laokoon ; und man beachte , daſs in der Aufzählung
der sophokleischen Stücke aus dem troischen Sagenkreis , die in der
ὑπόϑεσις zum Aias erhalten ist , wohl die Ἀντηνορίδαι , nicht aber
der Laokoon genannt wird . Ich muſs mich mit diesen Andeu-
tungen begnügen ; denn zu einer Entscheidung der sich nach
allem diesem unwillkürlich aufdrängenden Frage , ob nicht Ἀντηνορί-
δαι und Λαοκόων verschiedene Titel für daſselbe Stück seien ,
reicht unser Material nicht aus , und die Strabostelle XIII p. 608
würde , wenn sie sich wirklich auf die Antenoriden bezieht , der
Annahme der Identität nicht günstig sein .
So wenig sich also im Einzelnen über den Gang des sophok-
leischen Stückes erkennen läſst , so ist doch die Stelle , die es in
der Entwickelungsgeschichte der Sage einnimmt , klar bezeichnet :
es vereinigt die Version des Arktinos mit der des Bakchylides ;
vom ersteren entlehnt Sophokles den Zusammenhang des τέρας mit
dem Auszug des Aineias , vom letzterem die Schuld des Laokoon
und den Tod der beiden Söhne .
Auf den attischen Tragiker folgt sofort der römische Epiker .
Vergil war durch die ganze Tendenz seiner Dichtung zu weit-
greifenden Umgestaltungen der Laokoonepisode genötigt . In-
dem er einerseits ängstlich bemüht ist , auch jeden Schein der
Feigheit von seinem Helden fern zu halten , und es andererseits
nach der ganzen Anlage des Gedichtes unumgänglich ist , daſs
Aineias als Augenzeuge die Eroberung Ilions erzählt , verlegt
er den Auszug desselben , den sämmtliche alten und ursprüng-
lichen Berichte vor die eigentliche Eroberung , in die Zeit
zwischen die Einführung des hölzernen Pferdes und das Feuer-
signal des Sinon , setzen , ans Ende derselben und läſst Aineias
an der Nyktomachie tatkräftigen Anteil nehmen . Dadurch ver-
liert aber die Laokoonepisode ihren Charakter als Warnungs-
zeichen für Aineias , den sie bei Arktinos und Sophokles hat .
Und da das Schicksal des Laokoon an sich , seine Schuld und
seine Strafe , wie sie Bakchylides und Sophokles erzählen ,
für die Schilderung des Vergil völlig ohne Belang ist , weil
sie auſser jeder Beziehung zu Ilions Untergang steht , so hätte
man erwarten sollen , daſs Vergil die ganze Episode einfach
fallen lieſse . Er hat dies nicht gethan . Die Katastrophe , deren
Schilderung ja für die Eigenart des Vergilschen Talentes ganz
besonders verlockend sein muſste , behielt er bei , aber die Moti-
vierung derselben , wie sie die griechischen Lyriker und Tragiker
geschaffen hatten , lieſs er fallen , und setzte eine andere , frei er-
fundene an deren Stelle . In der Odyssee singt Demodokos ϑ 507 f. ,
daſs hinsichtlich des hölzernen Pferdes die Meinung der Troer
dreifach geteilt war :
ἠὲ διαπλῆξαι κόϊλον δόρυ νηλέϊ χαλκῷ ,
ἢ κατὰ πετράων βαλέειν ἐρύσαντας ἐπ̕ ἄκρης ,
ἢ ἐάαν μέγ̕ ἄγαλμα ϑεῶν ϑελκτήριον εἶναι .
Arktinos wich nur in dem ersten Vorschlag ab ; Proklos sagt :
καὶ τοῖς μὲν δοκεῖ κατακρημνίσαι αὐτόν , τοῖς δὲ καταφλέγειν ,
οἱ δὲ ἱερὸν αὐτὸν ἔφασαν δεῖν τῇ Ἀϑηνᾷ ἀνατεϑῆναι . Beide
Versionen combiniert Vergil , so daſs bei ihm im Ganzen vier
Vorschläge gemacht werden , und zwar der unbesonnene duci
intra muros … et arce locari durch Thymoetes , die drei übrigen
durch Capys und seine Sinnesgenossen :
aut pelago Danaum insidias suspectaque dona
praecipitare iubent subiectisque urere flammis
aut terebrare cavas uteri et temptare latebras .
Aber Vergil geht noch einen Schritt weiter und läſst das an
dritter Stelle vorgeschlagene Experiment auch wirklich durch
Laokoon ausführen . Indem nun diese That aufgefaſst und dar-
gestellt wird als eine Entweihung des von Pallas selbst er-
sonnenen und ihr geweihten Pferdes , also als ein Verbrechen ,
gewinnt Vergil eine Motivierung für die über Laokoon herein-
brechende Katastrophe ; und in äuſserst geschickter Weise wird
diese Katastrophe wieder benützt , um die endgültige Entschlieſsung
der Troianer über das hölzerne Pferd herbeizuführen und zu
bestimmen ; sie wird von den Troianern aufgefaſst als eine gött-
liche Beglaubigung für die Heiligkeit des Pferdes .
Um dies zu erreichen , ist jedoch Vergil genötigt , in seiner
Dichtung mit der Laokoonsage noch einige weitere Änderungen
vorzunehmen . Zunächst kann es bei ihm nicht mehr Apollo sein ,
der die Schlangen sendet , denn weder ist dieser bei Vergil durch
Laokoon beleidigt , noch will es sich für den energischsten gött-
lichen Schützer Troias ziemen , wenn auch nur indirekt durch
Erweckung einer falschen Vorstellung , zur Aufnahme des hölzer-
nen Pferdes innerhalb der Mauern und somit zum Fall von Ilion
beizutragen . Vielmehr sendet Athena , die daſs Roſs ersonnen
hat , der es geweiht ist und die sich also durch Laokoons Lan-
zenstoſs beleidigt fühlt , die Schlangen . Daſs dies die Meinung
Vergils ist , zeigen V. 225—227 , wo die Schlangen sich unter
dem Schild des Athenabildes bergen zur Genüge , und Quintus
Smyrnaeus XII 448 hat dies vollkommen richtig erkannt , wenn
er auch hier , wie stets , seine Schilderung zum Ungeheuerlichen
steigert .
Auch der Zeitpunkt der Katastrophe muſs etwas verschoben
werden . Nicht als das hölzerne Pferd bereits in die Stadt hin-
eingeführt worden ist , wie im Epos und doch wohl auch bei
Sophokles , sondern schon vorher müssen die Schlangen erscheinen ,
da ja eben durch Laokoons Tod die Entscheidung der Troer
hinsichtlich des Pferdes wesentlich mitbestimmt werden soll . Auch
der Ort der Katastrophe wird dadurch ein anderer , sie spielt
nicht in der Stadt , sondern vor den Mauern in Gegenwart der
das hölzerne Pferd umdrängenden Troianer , also an der Stätte ,
wo das Griechenlager stand , am Gestade des Meeres . Und zu
dieser Verlegung konnte sich Vergil um so leichter entschlieſsen ,
als sich mit ihr das sophokleische Motiv , daſs die Schlangen von
Tenedos her über das Meer kommen , leichter in Einklang bringen
lieſs , wobei freilich an Stelle des später in Schlangen verwandel-
ten Menschenpares von vornherein ein Schlangenpaar gesetzt wird .
Nun erfolgte , wie wir sahen , die Katastrophe bei Sophokles im
Tempel des thymbräischen Apollo und zwar wahrscheinlich bei
einem Opfer . Wollte Vergil auf letzteres äuſserst wirksame Motiv
nicht verzichten , so muſste er , da ein Opfer am Meerestrand doch
schwerlich dem thymbräischen Apollo gelten konnte , zu noch
weiteren Änderungen sich entschlieſsen ; das Opfer am Strande
wird dem Poseidon dargebracht , und Laokoon wird aus einem
Apollopriester zu einem Priester des Poseidon .
In der ganzen Tendenz der Vergil’schen Sagenbehandlung
liegt es , daſs wieder , wie einst bei Arktinos , Laokoon selbst
seinen Frevel gegen Athena durch den eigenen Tod büſsen muſs ;
aber sein Tod würde auch an sich genügen , und es ist wohl kein
Zweifel , daſs Vergil , wenn er die Episode frei erfunden hätte ,
niemals darauf verfallen wäre , auch die beiden Söhne mit um-
kommen zu lassen . Da aber Vergil nicht frei erfindet , sondern
aus der poetischen Traditon schöpft , nach welcher in ihrer letzten
auf Sophokles zurückgehenden Gestaltung beide Söhne umkommen ,
so behält er diesen Zug bei , zumal er ihm Gelegenheit zu einer
prächtigen Schilderung bietet . Ihn aufzugeben , hatte er ja auch
keine direkte Veranlassung ; noch weniger aber konnte er sich
versucht fühlen , auf die älteste epische Version zurückzugreifen ,
nach welcher der eine Sohn gerettet wird .
Der hier gemachte Versuch die Abweichungen Vergils von
den griechischen Versionen der Laokoonsage , und speziell der
sophokleischen , einfach aus der Tendenz des Dichters und dem
Zusammenhang der Ereignisse im zweiten Buch der Aeneis zu
erklären , wird gewiſs Manchem bedenklich erscheinen . Na-
mentlich wird man einwenden , daſs einige von den Zügen , die
ich eben als Neuerung des Vergil bezeichnet und zu erklären
gesucht habe , sich schon bei Euphorion fanden ; daſs also
vielmehr diesem ein sehr wesentlicher Einfluſs auf die Ent-
wickelung der Laokoonsage zuzuschreiben sei und daſs nament-
lich Vergil in sehr wesentlichen Punkten sich dem Euphorion
angeschlossen habe . Dies ist in der That die heute wohl von
den Meisten vertretene Ansicht , die einerseits in der bekannten
Verehrung Vergils und seiner Zeitgenossen für Euphorion , ander-
seits in der häufigen Erwähnung des Euphorion bei Servius scheinbar
eine nicht geringe Stütze hat . Die eigentliche Grundlage für die
ganze Hypothese bilden die Worte des Servius zu Vergils Aen. II
201 : Ut Euphorion dicit , post adventum Graecorum sacerdos Nep-
tuni lapidibus occisus est , quia non sacrificiis eorum vetavit
adventum ; postea abscedentibus Graecis cum vellent sacrificare
Neptuno , Laocoon Thymbraei Apollinis sacerdos sorte ductus
est , ut solet fieri , cum deest sacerdos certus . hic piaculum com-
miserat ante simulacrum numinis cum Antiopa sua uxore
coeundo , et ob hoc immissis draconibus cum suis filiis in-
teremptus est . historia quidem hoc habet , sed poeta interpretatur
ad Troianorum excusationem , qui hoc ignorantes decepti sunt .
alii dicunt quod post contemptum semel a Laomedonte Neptunum
certus eius sacerdos apud Troiam ( l. Troianos ) non fuit ; unde
putatur Neptunus etiam inimicus fuisse Troianis et , quod illi
meruerint , in sacerdote monstrare .
Schon Heyne ( V. Excurs zu Verg. Aen. II p. 333 ) und nach
ihm Meineke Anal. Al. p. 153 sehen in dem ersten Teil dieses
Scholions bis zu den Worten interemptus est die Erzählung
des Euphorion wiedergegeben . Wenn das richtig wäre , so
hätte sich also Euphorion zwar wesentlich an Sophokles an-
geschlossen , aber im Einzelnen schon selbständig geneuert ; vor
Allem wären schon bei ihm der Vater und beide Söhne umge-
kommen und auch bei ihm schon wäre die Katastrophe bei
einem dem Poseidon dargebrachten Opfer erfolgt ; letztere Än-
derung wäre indessen etwas auffallend gewesen ; denn da bei
ihm Laokoon durch Entweihung des thymbräischen Heiligtums
schuldig wird , hätte man erwarten sollen , daſs er auch das
Motiv , die Katastrophe an dem Orte des Frevels , also im
thymbräischen Heiligtum , erfolgen zu lassen , beibehalten hätte .
Denn für ihn lag kein Grund vor , hierin von der poetischen
Tradition abzuweichen , während ein solcher für Vergil oben
nachgewiesen ist . Es wäre ferner unter der Voraussetzung , daſs
Heyne und Meineke Recht haben , in der That der Schluſs nicht
abzuweisen , daſs Vergil den Euphorion benutzt hätte ; namentlich ,
daſs Laokoon Poseidonpriester war , würde Vergil von Euphorion
entnommen haben . Allein gerade hier ist , wie ich glaube , der
Punkt , wo die Kritik einzusetzen hat . Euphorion hätte also , so
ist die verbreitete Ansicht , erzählt , da kein Poseidonpriester
vorhanden gewesen , habe man den Apollopriester Laokoon durchs
Los zur Vollziehung des Opfers für Poseidon bestimmt : cum
vellent sacrificare Neptuno , Laocoon Thymbraei Apollinis
sacerdos sorte ductus est , sagt Servius und fast mit den-
selben Worten lesen wir bei Vergil Aen. II 201 Laocoon ductus
Neptuno sorte sacerdos ; aber mit keiner Silbe deutet Vergil an ,
daſs Laokoon eigentlich Apollopriester sei , und aus den Worten
sorte ductus allein würde Niemand etwas Anderes entnehmen ,
als daſs Laokoon ein durchs Los zu besetzendes Priestertum be-
kleidet hätte ; denn daſs er das Amt nur zur Aushilfe versieht ,
würde gewiſs Niemand erraten ; und so hat auch Petron die
Sachlage aufgefaſst , wenn er 89 V. 18 an Stelle der Vergilschen
Worte sagt :
namque Neptuno sacer
crinem solutus omne Laocoon replet
clamore vulgus .
Ich meine es ist augenscheinlich , daſs nur Jemand , der schon
von anderswoher wuſste , daſs Laokoon eigentlich Apollopriester
war , die Worte sorte ductus anders faſsen konnte ; daſs aber Vergil ,
wenn er die Sache so hätte darstellen wollen , wie es Euphorion
wirklich oder vermeintlich that , sich deutlicher und unzweideutiger
ausgedrückt haben würde , ist nicht minder klar . Ich meine , hiermit
ist uns der Schlüssel zur richtigen Auffassung des Serviusscholions
gegeben . Die Kommentatoren nahmen Anstoſs daran , daſs bei
Vergil Laokoon Priester des Poseidon ist , während er in den
mythologischen Handbüchern , die von Arktinos oder Bakchylides
oder Sophokles abhingen , Priester des Apollon genannt wurde .
Die einfachste Lösung für dies Problem , daſs Vergil hier frei
geändert habe , wird man bei einem Kommentator der Kaiserzeit
von vornherein nicht erwarten dürfen ; die Lösungen muſsten
durch Citate oder wenigstens durch Anlehnung an mythologische
Handbücher begründet werden . Zwei solche λύσεις hat uns
Servius in der oben ausgeschriebenen Stelle erhalten . Die
erste beginnt mit ut Euphorion und schlieſst mit deest sacerdos
certus ; da nun Niemand glauben wird , daſs im Euphorion sich
die λύσεις zu ἀπορίαι fertig vorfanden , so ist klar , daſs das
Euphorioncitat nur für den ersten Satz gilt . Euphorion hatte
erzählt , daſs die Troer ihren Poseidonpriester nach der Ankunft
der Griechen gesteinigt hätten , weil er nicht seinen Gott durch
Opfer bewogen hatte , die Ankunft der Achaier zu verhindern .
Hieraus zieht der Grammatiker den Schluſs : also war kein be-
stimmter Priester da , und der Apollopriester Laokoon wurde zur
Aushilfe bestellt . In diesem dem Grammatiker gehörigen Teil
( postea-certus ) findet sich sowohl das wörtliche Vergilcitat , wie
die kecke Behauptung : ut solet fieri , cum deest sacerdos certus .
Die zweite λύσις beginnt mit alii dicunt ; ähnlich wie bei der
ersten wird vorausgesetzt , daſs die Troer einen eigentlichen
Poseidonpriester nicht gehabt hätten , nur wird dieser Umstand ,
Gott weiſs nach wessen Vorgang , durch das feindliche Verhältnis
zwischen Poseidon und Laomedon motiviert .
Der zwischen diese beiden λύσεις eingeschobene mittlere
Abschnitt ( hic piaculum — decepti sunt ) ist durchaus selb-
ständig ; er behandelt eine andere , allerdings verwante ἀπορία
und sucht sie auch mit ähnlicher Methode zu lösen . Wieder geht
der Anstoſs aus von dem Widerspruch der Vergil’schen Sagen-
form mit den mythologischen Handbüchern ; nach letzteren
büſst Laokoon für die Entweihung des Heiligtums , davon findet
sich bei Vergil keine Spur . Servius führt nun zunächst die
historia , wie es scheint , wesentlich nach Sophokles an , nur
daſs , wie bekanntlich häufig in den Scholien , die mythische Ge-
schichte dem Vergiltext noch besser angepaſst wird , indem er-
zählt wird , daſs der Vater und die beiden Söhne umgekommen
seien . Das sei nun , sagt Servius , auch nach Vergils Meinung
der wahre Grund von Laokoon’s Tod gewesen ; die Troer aber
hätten das Ereigniſs anders aufgefaſst und seien dadurch betrogen
worden . Genau in denselben Gedankenzusammenhang gehören
die Worte , welche wir jetzt hinter der zweiten λύσις lesen :
quod autem ad arcem ierunt serpentes , id est ad templum Mi-
nervae , aut quod et ipsa inimica Troianis fuit , aut signum
fuit periturae civitatis Die Überlieferung ist vollkommen untadelig ; natürlich ist zu dem
ersten Teil des Nachsatzes factum est zu ergänzen , aber es einzusetzen , wie
Thilo will , ist man deshalb noch lange nicht berechtigt . . Gegen die gezwungene und offenbar falsche
Erklärung , daſs auch bei Vergil Laokoon zur Strafe für eine
frühere Schuld umkomme , konnte man nämlich den sehr triftigen
Einwand erheben , daſs die Schlangen von Athena gesandt sein
müſsten , da sie sich später zu ihr flüchten . Diesem Einwand
suchen die angeführten Worte zu begegnen , indem sie für diesen
Zug zwei anderweitige Erklärungsversuche beibringen , beide gleich
gesucht und gleich verkehrt .
Die Analyse der Serviusstelle hat uns also gelehrt , daſs nur
die Worte post adventum Graecorum sacerdos Neptuni lapidibus
occisus est , quia non sacrificiis eorum vetavit adventum sich
auf die Erzählung des Euphorion beziehen . Wir haben also kein
Zeugnis dafür , daſs Euphorion die Laokoonsage behandelt hat ,
und es ohne Zeugnis anzunehmen , haben wir weder Grund noch
Recht .
Nur der Vollständigkeit halber sei hier noch Quintus Smyr-
naeus genannt ; es ist bekannt , daſs er im Wesentlichen sich an
Vergil anschlieſst ; wenn er aber nur die Söhne und nicht Laokoon
selbst von den Schlangen getötet werden läſst , so kehrt er damit
zu der alten Sagenversion zurück , die er aus einer Hypothesis des
sophokleischen Laokoon oder aus einem mythologischen Hand-
buch , wie Hygins Fabulae , kennen konnte .
Die Betrachtung des Entwickelungsganges , den die Laokoon-
sage in der Poesie zurücklegt , hat uns also gezeigt , daſs noch heute
das alte Wort , das Lessing im Laokoon S. 54 ausgesprochen hat ,
zu vollem Rechte besteht : „ Vergil ist der erste und ein-
zige , welcher sowohl Vater als Kinder von den Schlan-
gen umbringen läſst “ . Ich brauche es nicht auszusprechen ,
welche Schluſsfolgerung sich daraus für die vatikanische Gruppe
ergiebt . Wohl aber muſs kurz des neuesten Erklärungsversuches Nach Andeutungen von Stark ausgeführt von Brunn Arch. Zeit . 1879
S. 167.
gedacht werden , nach welchem es „ die Absicht der rhodischen
Künstler wäre , den älteren Sohn als dem Untergange nicht ge-
weiht darzustellen “ , und also das Epos des Arktinos die poetische
Quelle für die vatikanische Gruppe wäre . Auf die naive Vor-
stellung , als ob das Epos des Arktinos in der alexandrinischen
und römischen Zeit noch einem weiteren Leserkreise bekannt ge-
wesen wäre , will ich nicht näher eingehen . Nur auf die Be-
trachtung der Gruppe selbst verweise ich . Wollte man selbst
zugeben , daſs der Knabe die Schlange vom linken Fuſs ab-
streifen könnte , der rechte Arm ist fest umstrickt ; und gesetzt
auch „ die Schlinge , wie wir sie sehen , könnte überhaupt keine
Philolog. Untersuchungen V. 14
Tötung , sondern höchstens einen Armbruch herbeiführen “ , so
würde das vollständig ausreichen , den Knaben an der Flucht zu
verhindern , und das genügt zu seinem Verderben . War es die
Meinung der rhodischen Künstler , daſs der ältere Sohn am Leben
bleiben sollte , so haben sie es meisterhaft verstanden , ihre Ge-
danken zu verstecken ; und wir haben um so weniger Ursache ,
uns unserer „ Blindheit “ zu schämen , als schon sämtliche antike
Nachbildner der Gruppe in das gleiche Miſsverständnis ver-
fallen sind .
Es darf nun vielleicht darauf hingewiesen werden , daſs es
kein Zufall ist , wenn gerade die römische Kunst diese Sage bildlich
gestaltet hat ; denn wegen der engen Verbindung , in welcher
dieselbe seit alten Zeiten mit der Aineiassage steht , muſsten
gerade die Römer an ihr ein hervorragendes Interesse haben .
Bei den Griechen hingegen scheint sie nie besonders populär ge-
wesen zu sein , und dazu stimmt es , wenn sie von der griechischen
Kunst nicht dargestellt wird .
Diese letzte Beobachtung ist freilich hinfällig , wenn Klein die
bekannte Darstellung auf dem Kantharos Pourtalès ( abgeb. Raoul-
Rochette Mon. inéd. pl. 40. Panofka Cab. Pourtalès pl. 7. Arch.
Zeit . 1880 S. 189 ) mit Recht auf Laokoon gedeutet hat . Klein
meint , daſs die Wunde des sterbenden Jünglings , wie ihre Form
zeige , nicht von dem Schwert des Mannes auf dem Altar , sondern
von dem Biſs der Schlange , die jetzt auch jenen umringelt hat
und in die Schulter beiſst , herrühre . Man mag dies zugestehen ,
obgleich sich für das Fehlen des frischen roten die Schwertwunde
andeutenden Strichs immerhin Analogien anführen lieſsen , z. B.
bei dem Priamos auf der Brygosvase , dem Memnon auf der Duris-
schale und durchweg bei den Verwundeten auf einer unpublizier-
ten Schale des letzteren Malers im Berliner Museum . Klein hält
nun dies und die Erinnerung an die Version des Arktinos für
ausreichend , um die Deutung auf Laokoon zu sichern . Diesen
selbst erkennt er in dem schlangenumwundenen Manne auf dem
Altar , der sterbende Jüngling sei der ältere Sohn , den Thanatos
in seinen Armen auffange ; der königliche Mann endlich , der mit
einem Stein in der Hand , zum Wurf bereit , herbeieilt , sei Laokoons
Bruder Anchises ( nach Hygin ) . Ich will nicht zu viel Gewicht
darauf legen , daſs ein Künstler , der die Version des Arktinos
hätte darstellen wollen , doch füglich den zweiten Sohn des
Laokoon , der gerettet wird , nicht auslassen durfte ; man mag
das für eine Ungeschicklichkeit des Vasenmalers erklären ; aber
ich muſs behaupten , daſs weder die dargestellte Situation noch
die einzelnen Figuren mit der Laokoonsage und den dabei betei-
ligten Personen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit haben .
Bei allen unseren Gewährsmännern von Arktinos bis auf Quintus
Smyrnaeus erscheinen zwei Schlangen , auf der Vase nur eine ;
in allen dichterischen und bildlichen Darstellungen sind die Söhne
des Laokoon noch Kinder , hier ist der angebliche Laokoontide
ein kräftiger Jüngling . Und Laokoon selbst ? Wie kommt der
Apollopriester zu dem wirren Haar und dem struppigen Bart ,
zu dem wilden und trotzigem Aussehen , das so auffällig an den
verbrecherischen Ixion der Rückseite erinnert ? Gebietet der Maler
über so geringe Mittel , daſs er nicht im Stande ist , den beklagens-
werten Apollopriester , der sich einmal nur vergessen , von dem
ruchlosen Gotteslästerer äuſserlich zu unterscheiden ? Und wie
kommt der Apollopriester zu Chlamys und Schwert ? Denn nicht
das ist das Auffällige , daſs er neben dem Schwert auch die
Scheide hat , wofür Klein nicht erst nach Schriftstellerbelegen zu
suchen brauchte , sondern das , daſs er schon jetzt das Opfer-
schwert hält in einem Augenblick , da „ die Vorbereitungen zum
Opfer noch nicht im Gange , priesterliche Gewänder noch nicht
angethan , Opfergerät und Opfertier noch nicht herbeigeführt sind “ ,
und daſs er neben dem „ Opfermesser “ die dem Priester nicht
ziemliche Chlamys trägt . Daſs endlich der vermeintliche Anchises
( der übrigens viel priesterlicher aussieht , als der „ Priester “ selbst )
in keiner Weise dem gebeugten , vom Blitz gelähmten Alten , den
sein Sohn auf dem Rücken aus Troia tragen muſs , entspricht ,
will ich zu sehr nicht betonen , da die Benennung dieser Figur
von der Deutung des Vorgangs im Allgemeinen unabhängig ist .
Und nun vergegenwärtige man sich die ganze Situation . Laokoon
hat mit seinem erwachsenen Sohn am Altar gestanden , Gott weiſs
zu welchem Zweck , bereits mit dem Schwert in der Hand . Da
14*
erscheint eine Schlange , die den Sohn umringelt und tötet ,
Laokoon zieht das Schwert und flüchtet sich auf den Altar , zu
welchem Zweck ist wiederum nicht klar , wie es auch unver-
ständlich ist , warum er sich des gezückten Schwertes nicht zur
Verteidigung seines Sohnes bedient hat oder jetzt , da die Schlange
ihn selbst umringelt , zu seiner eigenen bedient . Aber noch im
letzten Augenblick naht unerwartete Hilfe ; sein Bruder Anchises
eilt herbei und schleudert einen Stein auf die Schlange . Leider
wird es ihm nicht gelingen sie zu töten , ohne daſs er gleichzeitig
seinem Bruder Laokoon die Schulter zerschmettert .
Sollte dieser Erklärungsversuch im Stande sein , den eben aus-
gesprochenen Satz umzustoſsen , daſs eine Darstellung der Laokoon-
sage in der Blütezeit der griechischen Kunst bis zur Stunde noch
nicht nachgewiesen ist ?
EXCURS II .
ΟΠΛΩΝ ΚΡΙΣΙΣ .
Als Beispiel für den allmählichen Fortschritt , den die rot-
figurige Vasenmalerei sowohl in der Charakteristik der einzelnen
Heroen wie in der scharfen Präcisierung des gewählten Momentes
macht , habe ich oben ( S. 29 ) die Darstellungen des Streites
zwischen Aias und Odysseus um die Waffen des Achilleus an-
geführt , deren richtige Auffassung wir dem glänzenden Scharf-
sinn von Brunn und Klein Verhandlungen der XXIX Philologen-Versammlung in Innsbruck 1874
S. 152—158 . Übrigens hat bereits Birch Archaeologia XXXII p. 153 auf diese
Deutung hingewiesen , sie aber selbst wieder aufgegeben . verdanken . Die wenigen neben-
sächlichen Berichtigungen , die ich im Folgenden geben zu können
glaube , sind , wie ich mir selbst am Besten bewuſst bin , lediglich
der von diesen beiden Männern gegebenen Anregung entsprungen ,
und es ist als rein zufällig zu betrachten , daſs dieselben nicht
von den Entdeckern der richtigen Erklärung selbst erkannt wor-
den sind .
Die Streitscene liegt uns bis jetzt , so weit bekannt , auf
sieben rotfigurigen Vasen vor S. das Verzeichnis derselben bei Roulez A. d. I. 1867 p. 153 . ; allen ist derselbe Typus ge-
meinsam : links Aias , rechts Odysseus , die wütend auf einander
losstürzen wollen , aber beide von je zwei Achaiern zurückgehalten
werden , welche sie mit äuſserster Kraftanstrengung umklammern
und ihnen die Schwerter zu entwinden suchen ; in der Mitte
Agamemnon , der die Wütenden zu beschwichtigen sucht . Auf
der ältesten Der Harcontur ist noch eingeritzt . dieser Vasen ( Br. Mus. 830 , abgeb. Archaeologia
XXXII pl. 10 ) ist das Objekt des Streites , die Waffen des
Achilleus , überhaupt nicht angegeben ; Aias und Odysseus halten
bereits beide das gezückte Schwert in der Hand . Auch auf der ihr
zeitlich zunächst stehenden Leydener Amphora ( Roulez Choix de
vases pl. 13 ) , auf welcher Aias und Odysseus behelmt , Aga-
memnon sogar vollständig gerüstet erscheint , und auf jeder Seite
nur ein Achaier die Streitenden zurückhält , fehlt jede Andeutung
der Waffen des Achilleus . Dieselben begegnen uns in der rot-
figurigen Vasenmalerei zum ersten Male auf einer Trinkschale
des Britischen Museums ( No. 829 , abgeb. Archaelogia XXXII
pl. 11 , darnach wiederholt in den Wiener Vorlegeblättern Ser. VI
T. 2 ) , auf welcher sie in sinnreicher Weise zur Ausfüllung des
leeren Raumes unter den Henkeln verwant sind . Auf dieser
Vase wird auch zum ersten Mal der Versuch gemacht , die beiden
streitenden Helden etwas näher zu charakterisieren . Der be-
dächtige Odysseus ist erst im Begriff , das Schwert aus der
Scheide zu ziehen ; Aias hat es schon gezogen ; derselbe ist sowohl
hier wie auf der Darstellung der Rückseite durch starken Haarwuchs
auf der Brust charakterisiert , der bei Odysseus nur leicht ange-
deutet ist ; in der Abbildung ist das nicht genügend wiedergegeben .
Duris endlich ( M. d. I. VIII 41 , Wiener Vorlegebl. Ser. VI T. 1 , dar-
nach die nebenstehende Abbildung ) , der gleichfalls Odysseus das
Schwert erst ziehen läſst , legt die umstrittenen Waffen in die Mitte
zwischen Aias und Odysseus , und das ist weitaus das natürlichste
und schönste . Auſserdem aber trägt bei ihm Aias einen Panzer ,
dessen rechte Schulterklappe jedoch lose in die Höhe steht .
Klein meint , derselbe habe mit so plötzlicher Heftigkeit das
Schwert aus der Scheide gerissen , daſs die Achselklappe seines
Panzers aufgesprungen sei . Allein etwas höhere Vorstellungen
dürfen wir uns doch wohl von der Kriegsbrauchbarkeit home-
rischer Montierungsstücke machen . Überdies darf man bei einem
Werk des Duris die Frage aufwerfen , wie es denn komme , daſs
Aias bei einer doch offenbar im Lager spielenden Scene den
Panzer trägt , und zwar er allein von allen anwesenden Achaiern ?
Diese Schwierigkeiten fallen weg , wenn wir , wie im ersten
Kapitel geschehen ist , annehmen , daſs Aias , als der durch Tapfer-
keit wie durch seine Abstammung dem Achill am nächsten stehende ,
sich sofort der Waffen des Toten bemächtigt hat und , wie eben
durch die eine noch offene Schulterklappe angedeutet wird , im
Begriff ist , sie anzulegen , als sich Odysseus naht und die Waffen
für sich beansprucht . Eine Bestätigung dieser Auffassung bietet
das Innenbild , auf dem , wie Brunn scharfsinnig erkannt hat , die-
selben Waffen von Odysseus dem Neoptolemos übergeben werden ;
dort entspricht der Panzer dem auf dem Auſsenbilde von Aias
getragenen im Wesentlichen genau ; die geringe Verschiedenheit
in der Bildung der Schuppen hat in der verschiedenen Decoration
des Helmbügels eine ausreichende Analogie ; vgl. auch die Rüstung
des Achilleus auf dem Innen- und Auſsenbilde der Troilosschale
des Euphronios , die im Allgemeinen übereinstimmt , im Detail
mannigfach abweicht . Auch der Umstand , daſs unter den an der
Erde liegenden Waffen sich noch ein zweiter Panzer befindet ,
kann gegen unsere Auffassung nicht geltend gemacht werden ; es ist
ein ϑώραξ στάδιος , während der von Aias angezogene ein ϑώραξ
φολιδωτός ist . Duris meint offenbar , daſs Achilleus zwei ver-
schiedenartige Panzer besessen habe , wie auch unter den Waffen
des Patroklos auf der M. d. I. IX 32. 33 publicierten Vase diese
beiden Panzerarten erscheinen .
Diese Vase des Duris repräsentiert uns die weitaus glück-
lichste und charakteristischste Auffassung des Vorganges ; mit
ihr hat der Typus den Höhepunkt seiner Entwickelung erreicht .
Schon die Olla Feoli , die ich freilich nur aus Brunns Beschrei-
bung ( B. d. I. 1865 p. 13 ) kenne , scheint in der Charakteristik
des Vorganges weit hinter ihr zurückzubleiben ; und die beiden
noch übrigen rotfigurigen Vasenbilder ( Tischbein I 23 Zuerst von Birch Archaeologie XXXII p. 151 richtig gedeutet . und
Bröndstedt Descr . of 32 anc. greek paint . vas. 25 p. 50 Von O. Jahn ( Ber. d. sächs. Ges. 1853 S. 26 ) als in diesen Kreis ge-
hörig erkannt . ) , welche
die Darstellung auf die drei Hauptfiguren beschränken und wieder ,
wie es schon in früherer Zeit gewöhnlich war , die Waffen des
Achilleus einfach weglassen , repräsentieren bereits den Verfall .
Auf den älteren schwarzfigurigen Darstellungen der Scene
ist natürlich von einer feineren Charakteristik der Helden über-
haupt noch nicht die Rede , so daſs zweimal Odysseus , einmal sogar
Agamemnon bartlos erscheint . Daſs die Waffen des Achilleus
nicht dargestellt werden , ist hier einfach die Regel ; eine ganz
vereinzelte Ausnahme macht die Darstellung auf einer Lekythos
im Berliner Museum ( No. 709 H. O , 23 ) , welche die beifolgende
Abbildung verkleinert wiedergiebt .
Hier sehen wir als Andeutung der umstrittenen Waffen einen
Helm , einen Schild und einen Speer in der Mitte liegen . Der
kleine Raum zwang den Künstler , die einschreitenden Achaier
wegzulassen und die Scene auf Aias , Odysseus und Agamemnon
zu beschränken , gerade wie es auf den eben erwähnten späten
rotfigurigen Vasen geschehen ist .
Ob Klein übrigens Recht daran getan hat , die Münchener
Vase ( No. 330 , publiziert Arch . Zeit . 1854 Taf. LXVII ) aus dieser
Reihe auszuschlieſsen , erscheint mir mehr als fraglich . Klein
wendet ein , daſs der König fehle , daſs die Krieger bewaffnet ,
nicht Streitende , sondern Streiter seien und endlich , daſs zwei
Greise ( also ein charakteristisches Moment ) sie trennen . Allein ,
daſs Agamemnon fortgelassen ist und zwei der einschreitenden
Achaier als Greise , also etwa als Nestor und Phoinix charak-
terisiert sind , geht nicht über das Maſs der Änderungen hinaus ,
die ein phantasievoller Vasenmaler sich überhaupt mit den über-
lieferten Typen gestattet . Bedenklicher könnte die Bewaffnung
scheinen , allein auch auf dem Leydener Krater haben wir Ähnliches
gefunden , und nicht bei jedem Vasenmaler dürfen wir ein so
ausgebildetes Gefühl für das der Situation Angemessene erwarten ,
wie bei einem Duris . Daſs jedenfalls Kleins eigene Deutung auf
den von Welcker vermuteten „ aufgehobenen Zweikampf zwischen
Achilleus und Hektor “ jetzt nach Luckenbachs Auseinandersetzung
nicht mehr haltbar ist , wird derselbe wohl selbst zugeben .
Als unmittelbare Fortsetzung dieser Streitscene ist die Dar-
stellung zu fassen , welche zweimal sowohl bei Duris als auf der
zweiten Londoner Schale ( Br. Mus. 829 , abgeb. Archaeologia
XXXII pl. XI ) als Gegenstück mit derselben zusammengestellt
ist ; auch dies hat Klein richtig erkannt , allein entschieden irrig
ist seine Auffassung des Vorgangs . Schon der Satz , mit dem
Klein seine Deutung einleitet , daſs „ die Lösung durch das einzige
nach griechischem Sinne noch übrige Mittel , durch göttliche Ent-
scheidung erfolge “ ist höchst befremdlich . Denn kein Dichter
weiſs von einer solchen , bei Allen erfolgt die Entscheidung durch
Abstimmung , und das ist ein absolut notwendiger , unveräuſser-
licher Zug der Sage , weil durch ihn allein der Haſs des Aias gegen
die Atriden und sein späterer Wahnwitz motiviert wird . Doch
fassen wir die Darstellung , zunächst die des Duris , näher ins Auge .
Die Mitte nimmt eine ziemlich niedrige Basis ein , auf welcher links
eine gröſsere , rechts eine geringere Anzahl kleiner rundlicher Gegen-
stände liegt . Hinter der Basis steht Athena mit erhobener Rechten
auf das Lebhafteste ihre Teilnahme kundgebend . Von beiden Seiten
ist je ein bärtiger Mann zur Basis herangetreten , jeder beugt sich
nieder und scheint je einen jener kleinen rundlichen Gegenstände
auf die Basis legen zu wollen . Hinter dem zur Rechten naht
ein dritter Mann , gleichfalls mit einem rundlichen Gegenstand
zwischen den Fingern ; ihm entspricht auf der linken Seite ein
Mann mit Chiton , Himation und Speer — also in der Gewandung
dem Agamemnon der Vorderseite ähnlich — welcher sich eiligen
Schrittes von der Basis entfernt , aber den Kopf nach ihr zurück-
wendet . An den beiden Enden der Darstellung finden wir
rechts einen Mann , der in tiefster Betrübnis sich abgewant hat ,
während er zugleich die Stirne in die Hand stützt und sich das
Gesicht verhüllt , links hingegen einen Mann , der starr auf die
Basis hinblickt und voll Freude beide Arme erhebt . Nach Klein
haben wir in den beiden an der Basis stehenden Figuren Aias
und Odysseus zu erkennen . „ Beide Helden “ , so sagt er , „ sind
vor der Athena mit dem Würfeln der Loose beschäftigt , jener Art
von Orakel , von der wir nur zwei , aber hier sehr passende Punkte
wissen : daſs es das spezielle Orakel dieser Göttin war ( ? ) und daſs
es nicht immer die Wahrheit sprach ( ? ) ; der Künstler hat die Ent-
scheidung schon durch die verschiedene Anzahl der Würfel auf
beiden Seiten , noch mehr aber durch die Haltung der Athena
ausgedrückt ; die Spannung macht an den Enden auf der Seite
des Aias dem Schmerze , auf der des Odysseus der Freude Platz . “
Es ist mir nicht gelungen zu ermitteln , wie Klein sich den Vorgang
bei dem Würfelorakel denkt , namentlich in welchem Zusammenhang
die verschiedene Zahl der Würfel mit dem Ausgang stehen soll .
Doch sei dem wie ihm wolle ; mir däucht , es ist klar , daſs die
Männer nicht würfeln , sondern die „ Würfel “ niederlegen ; da nun
überdieſs auch noch ein dritter einen Würfel in der Hand hält ,
so ist die Deutung Kleins unhaltbar . Kein Würfelorakel , sondern
eine Abstimmung ist dargestellt ; links liegen die für Odysseus ,
rechts die für Aias abgegebenen Stimmsteine ; einer nach dem
andern treten die Achaier zur Basis , um unter Athenas Aufsicht
abzustimmen . Schon hat Odysseus die entschiedene Majorität ,
Aias , — denn so dürfen wir jetzt unbedenklich die rechte Eck-
figur benennen — wendet sich traurig ab und verhüllt sein
Gesicht ; Odysseus — das ist der Mann an dem linken Ende der
Darstellung — erhebt freudig die Hände . Auf ihn eilt Agamemnon ,
der eben für ihn gestimmt hat , zu . In scharfer Erfassung des
Momentes und feiner Charakteristik der einzelnen Figuren steht
die Darstellung derjenigen der Vorderseite durchaus nicht nach .
Die Darstellung der Londoner Vase unterscheidet sich wesent-
lich dadurch , daſs die Bewegungen der vier abstimmenden Achaier ,
unter denen Agamemnon entweder fehlt oder wenigstens nicht
besonders gekennzeichnet ist , weniger charakteristisch sind , ferner
dadurch , daſs Aias zwar im Allgemeinen in derselben Stellung
wie bei Duris , aber der Mitte zugewant erscheint , Odysseus
endlich auf seinen Stab sich lehnend in aufmerksam gespannter
Haltung und mit offenem Mund die Abstimmung beobachtet .
Dieselbe Scene begegnet uns endlich auch auf einer in Leyden
befindlichen Trinkschale ( Roulez Choix de vases pl. II ) , dort ist
sie aber auf die Figur der Athena und dreier abstimmenden
Achaier beschränkt , wie auch auf dem Innenbild dieselbe Scene
in ganz verkürzter Gestalt : Athena und ein Achaier , wiederkehrt .
Die in dieser Scene fehlenden Gestalten des Aias und Odysseus
hat aber der Vasenmaler benutzt , um auf der Rückseite eine
neue selbständige Scene zu bilden ; dort sehen wir nämlich die
beiden Helden im Augenblick nach erfolgter Entscheidung . Aias
in der typischen Haltung des tief Gebeugten , wie bei Duris und
auf der Londoner Vase , wird von einem Genossen getröstet .
Odysseus steht mit den frisch errungenen Waffen geschmückt da
und empfängt aus der Hand eines jugendlichen Genossen das
letzte Stück der Rüstung , die Chlamys .
Nach dem Gesagten bedarf es keiner besonderen Auseinander-
setzung mehr , daſs die namentlich auf schwarzfigurigen Vasen
häufigen Darstellungen zweier Helden , meist Aias und Achilleus ,
die sich in Gegenwart der Athena oder auch allein am Brett-
oder Würfelspiel ergötzen , mit der in Rede stehenden Scene ganz
und gar nichts zu thun haben . Auf schwarzfigurigen Vasen ist
dieselbe bis jetzt überhaupt noch nicht gefunden worden , und
darauf gründet sich die oben S. 30 ausgesprochene Vermutung ,
daſs sie erst von der rotfigurigen Vasenmalerei , und zwar als
Gegenstück zur Streitscene , geschaffen sein möge .
Wir lernen also durch diese Vasen eine Sagenversion kennen ,
nach welcher Aias und Odysseus um die Waffen des Achilleus
in heftigen thätlichen Streit gerieten , so daſs es nur mit Mühe
Agamemnon und den übrigen Achaiern gelang , sie zu trennen . Es
wird beschlossen , den Streit durch Abstimmung zu entscheiden ,
bei welcher dann Odysseus siegt . Es ist klar , daſs diese oder eine
sehr ähnliche Sagenversion die Voraussetzung des sophokleischen
Aias bildet ; sie ist so bekannt , daſs Sophokles es unterlassen
kann , den Vorgang überhaupt zu erzählen . Behandelt hatte die
Sage bekanntlich auch Aischylos in der Ὅπλων κρίσις . Die
äuſserst dürftigen Fragmente lassen nur erkennen , daſs die
Schmähreden , wie sie die spätere Rhetorik und nach ihrem Vor-
gang die römische Tragödie und zuletzt Ovid kennt , schon im
attischen Drama vorkamen . Daſs aber auch in diesem Fall nicht
etwa Aischylos die Quelle für die Vasenmalerei ist , wie man
wohl behauptet hat , beweist für die Streitscene das Vorkom-
men derselben schon in der schwarzfigurigen Vasenmalerei , für
die Abstimmung das Zeugnis des Pindar , der Nem. VIII 26 be-
reits diese Sagenversion kennt , wenn er sagt :
κρυφίαισι γὰρ ἐν ψάφοις Ὀδυσσῆ Δαναοὶ ϑεράπευσαν ,
χρυσέων δ̕ Αἴας στερηϑεὶς ὅπλων φόνῳ πάλαισεν .
Diese einfache Fassung sind wir nun wohl berechtigt auch
für die älteste zu halten und für die Aithiopis vorauszusetzen ;
die sehr gekünstelte Fassung der kleinen Ilias ist gewiſs nicht
ursprünglich , sondern aus dem Bestreben hervorgegangen , die
frühere poetische Behandlung zu überbieten . Daſs der Inter-
polator von Odyssee λ 547 gerade diese Version im Sinne hat ,
sich aber ungeschickt ausdrückt , scheint mir klar . Die Erklärung
des Scholiasten , daſs Agamemnon die gefangenen Troer habe
richten lassen , ist augenscheinlich erst aus dem Odysseevers er-
schlossen . In keinem Falle haben wir ein Recht , dieselbe für
Arktinos vorauszusetzen .
EXCURS III.
ARKTINOS UND LESCHES .
Unter diesem Titel sollen aphoristisch einige teils auf den
Inhalt und die Verbreitung der beiden Fortsetzungen der Ilias ,
teils auf die Traditionen über ihre Verfasser bezügliche Be-
merkungen zusammengestellt werden , Bemerkungen , die zwar ge-
wiſs schon von Vielen gemacht , aber meines Wissens noch nicht
mit genügender Entschiedenheit ausgesprochen worden sind , und
die ich hier um so weniger übergehen kann , als sie für einige
der in diesem Buche gegebenen Darlegungen die notwendige
Voraussetzung bilden .
Bereits K. O. Müller Kl. deutsche Schriften I 401 und neuer-
dings wieder Th. Schreiber im Hermes X S. 312 haben mit Recht
darauf hingewiesen , daſs Proklos vor allem darauf ausgeht , eine
zusammenhängende Erzählung des troianischen Krieges zu geben .
Um dies zu erreichen , war er gezwungen , wenn etwa dasselbe
Ereignis in zwei verschiedenen Epen erzählt war , nur die Fas-
sung des einen aufzunehmen , die des anderen zu verwerfen .
Um für eine summarische Übersicht über die Ereignisse des
troischen Krieges benutzt zu werden , muſsten sich die Hypothe-
seis der einzelnen Epen mindestens erhebliche Kürzungen , viel-
leicht auch Änderungen anderer Art gefallen lassen , wobei es
zunächst unerörtert bleiben mag , ob Proklos selbst zuerst diese
Operation vornahm oder ob er sie bereits in irgend einer mytho-
graphischen Quelle vollzogen vorfand . So viel ergiebt sich ohne
Weiteres aus dem Gesagten , daſs man von den sogenannten
Proklosexcerpten weder Vollständigkeit noch überhaupt Auf-
klärung über die Ausdehnung der einzelnen Epen erwarten darf .
In der That wäre das Bild , das wir aus Proklos allein von
den unter Arktinos und Lesches Namen gehenden Epen gewinnen
würden , ein unglaublich verschrobenes ; Arktinos würde darnach zwei
Epen gemacht haben , die Aithiopis , welche sich unmittelbar an die
Ilias angeschlossen und mitten in der Erzählung vom Streit um
die Waffen des Achilleus noch vor der Entscheidung abgebrochen
hätte , und die Iliupersis , die mit dem Moment , da die Troer
staunend und ratlos das hölzerne Pferd umstehen , begonnen
haben würde . Die Ereignisse , welche zwischen das Ende der
Aithiopis und den Anfang der Iliupersis fallen , hätte dann
Lesches in einem besonderen Gedicht behandelt , der kleinen Ilias ,
welche mit dem Waffengericht begonnen und der Verfertigung des
troischen Pferdes und der Abfahrt der Griechen nach Tenedos
geendet , also so genau in die Lücke der Epen des Arktinos ge-
paſst hätte , daſs die Vermutung nicht abzuweisen wäre , jenes
Gedicht sei eben zum Zweck der Vervollständigung des von
Arktinos hintergelassenen Epos geschrieben worden . Seit Welcker
zweifelt Niemand daran , daſs diese Vorstellungen durchaus irrige
sein würden . Man ist sich darüber einig , daſs , wie einerseits die
kleine Ilias bis zur Zerstörung von Ilion ging , so andererseits die
Aithiopis keineswegs mitten im Waffenstreit abbrach , sondern auch
die Entscheidung desselben enthielt , ja einfach mit der Iliupersis
ein zusammenhängendes Epos bildete . Auſser der Ὅπλων κρίσις
und dem sich daran schlieſsenden Wahnsinn und Tod des Aias ,
für dessen Vorkommen bei Arktinos wir zwei ausdrückliche Zeug-
nisse ( schol. Pind. Isthm. III 53. schol. Il. Λ 515 ) besitzen , muſs
in jenem mittleren Teile des Gedichtes , für den uns Proklos im
Stich läſst , mindestens noch der Tod des Paris und die Abholung
des Neoptolemos , da dieser bei der Eroberung und Zerstörung
die Hauptrolle spielt , berichtet gewesen sein . Daſs auch der
Palladionraub erzählt war , wissen wir durch Dionysios von
Halicarnaſs Arch. I 69 . Wie von dem Gedicht des Arktinos die
Mitte , so fehlt bei Proklos von der kleinen Ilias Anfang und Ende ;
über letzteres geben Pausanias und Lysimachos einzelne Notizen ,
von ersterem setzt man voraus , daſs er doch wenigstens noch
den Ausbruch des Zwistes zwischen Aias und Odysseus enthalten
habe . Aber man wird noch weiter gehen und die Möglichkeit
zugeben müssen , daſs auch noch früher fallende Ereignisse , wie
der Tod des Achill , in diesem Gedicht behandelt gewesen sein
können . Ich weiſs wohl , daſs man gegen diese Annahme zweierlei
einwenden kann und einzuwenden pflegt . Einmal die Dar-
stellungen der capitolinischen tabula iliaca , auf welcher der
der kleinen Ilias gewidmete Streifen mit dem in Wahnwitz ver-
sunken dasitzenden Aias beginnt ; aber derselbe Streifen endet
auch mit der Einführung des troischen Pferdes , stimmt also
im Anfange und Ende sowie auch in den einzelnen Scenen
genau mit dem Bericht des Proklos über die kleine Ilias
überein , ein Zusammentreffen , aus welchem bereits Michaelis
den in der That unabweisbaren Schluſs gezogen hat , daſs Proklos
nicht erst selbst jene Kürzung und Umarbeitung der Hypotheseis
vorgenommen hat , sondern sie bereits in mythologischen Hand-
büchern vorfand , und daſs auf diese selben Handbücher eben auch
die Darstellungen der tabulae iliacae zurückgehen . Zweitens
könnte man entgegnen , daſs unter den Stoffen , welche Aristoteles
an der bekannten Stelle seiner Poetik aufzählt , der früheste die
Ὅπλων κρίσις ist . Allein einmal ist Vollständigkeit an jener
Stelle von Aristoteles nicht zu erwarten , denn er zählt natürlich
nur die klassischen Stücke auf , und dann haben wir in der That
keine Kunde davon , daſs einer der groſsen Tragiker den Tod
des Achilleus behandelt habe , auch nicht Aischylos , denn die be-
rühmte , unvergleichlich schöne Klage der Thetis ( fr. 340 Nauck )
setzt man mit Recht in die Ὅπλων κρίσις . So bleibt es eben
dabei , daſs wir nicht wissen , inwieweit noch Ereignisse , die vor
den Waffenstreit fallen , in der kleinen Ilias erzählt waren .
Aithiopis und kleine Ilias stellen sich somit als zwei selb-
ständig nebeneinander stehende Fortsetzungen der Ilias dar , die
sich nicht ergänzen , sondern ausschlieſsen , und zwar in dem
Sinne , daſs das zweifellos jüngere von beiden Gedichten , die
kleine Ilias , mit Bewuſstsein gewisse Züge des älteren ändert und
mildert . Das hat mir Wilamowitz an einem einzigen , aber durch-
schlagenden Beispiel nachgewiesen . In der Aithiopis — ich
gebrauche den Namen von dem ganzen Epos , ob nach Vorgang
der Alten weiſs ich freilich nicht — in der Aithiopis also tötet
Neoptolemos den Priamos am Altar des Zeus Herkeios , in der
kleinen Ilias reiſst er ihn vom Altar weg und tötet ihn an der
Schwelle ; der Frevel gegen die Gottheit wird dadurch zwar nicht
aufgehoben , aber doch in etwas gemildert .
Daſs die Aithiopis ein Werk des Arktinos von Milet sei ,
scheint für die Alten eine ebenso unumstöſsliche Thatsache gewesen
zu sein , wie daſs Homer der Verfasser der Ilias sei , und wir
Neueren haben uns diesen Sprachgebrauch in demselben Sinne und
mit derselben Reserve , wie bei Ilias und Odyssee , angeeignet . Wenn
wir aber in gleicher Weise Lesches als Verfasser der kleinen Ilias
nennen , so thun wir dies nicht in Übereinstimmung mit der An-
schauung des Altertums , wenigstens nicht des gesamten Altertums .
An der einzigen Stelle , wo Aristoteles dieses Gedichtes gedenkt , sagt
er : ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα ποιήσας , und diese Ausdrucksweise beweist
wenigstens so viel , daſs er entweder eine Tradition über den
Verfasser dieses Gedichtes überhaupt nicht kannte oder derselben
keinen Glauben schenkte . Erst im späteren Altertum finden wir
die Meinung allgemein verbreitet , daſs Lesches , der Sohn des Aischy-
linos aus der Stadt Pyrrha auf Lesbos , der Verfasser der kleinen
Ilias sei . Auf der tabula iliaca sowohl wie in den Excerpten
des Proklos wird Lesches als Verfasser dieses Gedichtes genannt ;
seine Autorschaft war also in der römischen Kaiserzeit ein Dogma
der Litteraturgeschichte geworden , und so kann es nicht ver-
wundern , wenn in den Pindarscholien ( Nem. VI 85 ) Λέσχου μικρὰ
Ἰλιάς , und in den Aristophanesscholien ( Lysistr. 155 ) Λέσχης
ὁ Πυρραῖος ἐν τῇ μικρᾷ Ἰλιάδι citiert wird , und wenn Tzetzes den
Namen Lesches auch an solchen Stellen einfügt , wo seine Quelle
nur τὸν τὴν περσίδα συντεταχότα oder τὸν τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γρά-
ψαντα kennt Tzetzes zu Lykophr. 344 aus schol. Eurip. Hekabe 910 , zu Lykophron
1263 aus schol. Eurip. Troiades 10 , in den alten Scholien zu Lykophron heiſst
zu V. 780 der Verfasser ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα γράψας . . Endlich spricht Pausanias im X. Buch mit Vorliebe
Philolog. Untersuchungen V. 15
von der Iliupersis des Lescheos , wie er sich den Nominativ zu
dem in seiner Quelle vorgefundenen Genetiv Λέσχεω gebildet hat Dies hat zuerst Wilamowitz bemerkt . .
Der Verdacht , daſs dieser Lescheos derselbe Verfasser ist , den er
vorher III 26 , 9 als τὸν τὰ ἔπη ποιήσαντα τὴν μικρὰν Ἰλιάδα aus
einer anderen Quelle citiert hat , scheint ihm nicht gekommen zu
sein . Dieser Lesches nun begegnet uns zum ersten Mal bei dem
Peripatetiker Phanias von Eresos . Die überaus wichtige Angabe
ist uns bei Clemens Alexandrinus I 21 erhalten , wo derselbe über
die Lebenszeit des Terpandros spricht . Sie lautet : Ἑλλάνικος
γοῦν τοῦτον ( den Terpandros ) ἱστορεῖ κατὰ Μίδαν γεγονέναι ,
Φανίας δὲ πρὸ Τερπάνδρου τιϑεὶς Λέσχην τὸν Λέσβιον̕ Αρχιλόχου
νεώτερον φέρει τὸν Τέρπανδρον , διημιλλῆσϑαι δὲ τὸν Λέσχην Ἀρ-
κτίνῳ καὶ νενικηκέναι . Wenn man nun auch den Wettkampf mit
Arktinos sofort in das Reich der litterarhistorischen Mythenbildung ,
der auch der Wettkampf desselben Dichters mit Hesiod ( Plut.
conviv . VII sap . 153 F. vgl. Wilamowitz im Hermes XIV S. 161 )
angehört , verweisen und in dem Sieg des Lesbiers über den Mi-
lesier einen Ausdruck des Lokalpatriotismus erkennen wird , so
scheint doch dies Zeugnis zu beweisen , daſs eine alte auf Lesbos
bestehende Überlieferung , der zu miſstrauen kein Grund ist und
der denn auch das ganze spätere Altertum Glauben schenkte , die
kleine Ilias für das Werk eines Lesbiers Namens Lesches er-
klärte ; die genauen Angaben , daſs dieser Mann aus Pyrrha ge-
wesen und sein Vater Aischylinos geheiſsen habe , hat zwar Cle-
mens Alexandrinus nicht ; aber man wird sie an sich unbedenklich
gleichfalls für alte Tradition halten dürfen .
Leider aber tritt dem Zeugnis des Phanias das eines
anderen Lesbiers entgegen . Wir lesen in den Scholien zu
Eurip . Troad. 821 , daſs der Tragiker in der Angabe über die
Abstammung des Ganymedes übereinstimme mit τῷ τὴν μικρὰν
Ιλιάδα πεποιηκότι , ὃν οἱ μὲν Θεστορίδην Φωκέα φασίν , οἱ δὲ
Κιναίϑωνα Λακεδαιμόνιον , ὡς Ἑλλάνικος , οἱ δὲ Διόδωρον
Ἐρυϑραῖον . Also Hellanikos , der doch selbst aus Mytilene war ,
erklärt die kleine Ilias nicht für das Werk seines Landsmannes ,
sondern für das eines Spartaners oder vielmehr eines in Sparta
lebenden Chiers . Da nun kein Besonnener annehmen wird , daſs
Hellanikos von einer solchen in seiner Heimat lebenden Über-
lieferung Nichts gewuſst habe , so folgt aus dieser Angabe des Scho-
liasten mit unabweisbarer Notwendigkeit , daſs entweder zu Hellani-
kos’ Lebzeiten , also am Ende des fünften Jahrhunderts , die Tra-
dition von Lesches noch nicht existierte oder daſs sie dem Hellanikos
ganz unglaubhaft schien : in letzterem Falle müssen es sehr
starke und jedenfalls absolut entscheidende Gründe gewesen sein ,
die dem Lokalpatriotismus des Hellanikos das Geständnis ab-
nötigten , daſs der Ruhm , das Vaterland der kleinen Ilias zu
sein , nicht seiner Heimat , sondern Sparta oder Chios gebühre .
Weitaus wahrscheinlicher ist aber die erste Annahme . Dann
würde Lesches , der Mann , der die alten Fabeln in der λέσχη
erzählt , der litterarhistorischen Mythenbildung des vierten Jahr-
hunderts angehören ; denn daſs Phanias ihn erfunden haben sollte ,
stimmt nicht zu dem wissenschaftlichen Charakter des Mannes ;
dazu paſst vortrefflich , daſs ihn Aristoteles nicht kennt . Lesches
ist die Gestalt , welche lesbischer Lokalpatriotismus dem Geschöpf
der ionischen Legende , Thestorides von Phokaia , entgegenstellt .
Thestorides — der Name ist doch wohl aus dem Patrony-
mikon des Kalchas entstanden — Thestorides , der Schulmeister
von Phokaia , ist bekanntlich ziemlich früh in die Homerlegende
eingedrungen . Ob er stets den häſslichen Charakter gehabt hat ,
den ihm die vita Homeri giebt , ist mindestens zweifelhaft .
Worauf die Angabe , daſs der ganz unbekannte Diodoros von
Erythrai der Verfasser sei , beruht , läſst sich nicht entscheiden ,
ebensowenig welche Gründe Hellanikos für Kinaithon’s Autor-
schaft hatte . Kein Besonnener wird heute sich vermessen , die
Frage nach dem Autor der kleinen Ilias beantworten zu wollen .
Sollen aber doch einmal die Ansprüche abgewogen werden , so
ist sowohl Diodoros als Kinaithon weit eher berechtigt , für den
Verfasser der kleinen Ilias zu gelten , als Lesches .
Wenn Phanias den Lesches nicht erfunden hat , so scheint
er ihn doch in die Litterarhistorie eingeführt zu haben Der ausgedehnte Gebrauch , den das Drama von dem Sagenstoff der . Na-
15*
mentlich am Hofe von Pergamon scheint man sich für den
Dichter Lesches begeistert zu haben ; unter Eumenes dem Ersten
finden wir dort den Dichter Leschides , und so wird es wohl
auch ein pergamenischer Altertumsforscher gewesen sein , aus
welchem Pausanias seine Angaben über das Verhältnis der
Polygnotischen Iliupersis zu Lesches geschöpft hat .
Allein nicht überall scheint man so gläubig gewesen zu sein ;
auch nach Phanias ’ Zeit begegnet uns die besonnene Citierweise
ὁ γράψας τὴν περσίδα und ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα συντεταχώς , und
der gelehrte Forscher , auf welchen das oben citierte Euripides-
scholion zurückgeht , hält die Hypothese von Lesches ’ Autorschaft
nicht einmal der Erwähnung für wert . Wir können diesen Mann
mit Wahrscheinlichkeit noch heute nachweisen . Es ist kein
anderer , als Lysimachos , der bekannte Verfasser der Νόστοι ,
dessen mythographische Schriften in den Scholien zur Andro-
mache , zu den Troerinnen und zum Rhesos vielfach benutzt sind ;
und es läſst sich sogar , worauf mich Wilamowitz hingewiesen
hat , unschwer der Nachweis führen , daſs , abgesehen von den
Angaben des Pausanias , die übrigen Fragmente und Notizen aus
der kleinen Ilias , denen wir in der antiken Litteratur begegnen ,
alle oder fast alle dem Lysimachos entnommen sind .
In dem Scholion zur Hekabe 910 steht ein Auszug aus des
Lysimachos ’ Auseinandersetzung über das Jahr und den Tag von
Troias Fall ; in derselben wird ohne Nennung des Autors der Vers
νὺξ μὲν ἔην μέσση , λαμπρὴ δ̕ ἐπέτελλε σελήνη
citiert . Denselben Vers mit Nennung des Lesches citiert Tzetzes
zu Lykophron 344 ; in den alten Scholien fehlt das Citat . Ich
muſs es , bevor Scheer’s Ausgabe der Lykophronscholien vorliegt ,
unentschieden lassen , ob Tzetzes das Euripidesscholion vollstän-
diger las oder ob er das Citat aus einem vollständigeren Exem-
plar der Lykophronscholien entnahm . Letztere Möglichkeit ist
nicht ausgeschlossen , da auch die alten Lykophronscholien zu
V. 780 die kleine Ilias citieren und Lysimachische Bestandteile in
kleinen Ilias macht , fiel schon dem Aristoteles auf ; da ist es denn kein
Wunder , wenn man dem Lesches einen „ kleinen Aischylos “ zum Vater gab .
diesen Scholien bereits oben , im ersten Excurs S. 198 , nachgewiesen
worden sind . Den Lesches aber hat , wie schon oben bemerkt ,
Tzetzes selbst eingesetzt ; Lysimachos schrieb : ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα
γράψας .
Genau dasselbe Verhältnis besteht zwischen Tzetzes zu Ly-
kophron 1263 und dem schol. Eur. Androm. 10 ; letzteres , dessen
genaue Lesung sowohl als Emendation wir Wilamowitz de Rhesi
scholiis p. 4 verdanken , enthält die Angaben des Lysimachos
über den Tod des Astyanax und schlieſst mit den Worten Στη-
σίχορον μὲν γὰρ ἱστορεῖν , ὅτι τεϑνήκοι καὶ τὸν τὴν περσίδα
συντεταχότα κυκλικὸν ποιητὴν , ὅτι καὶ ἀπὸ τοῦ τείχους
ῥιφείη . Welcker Epischer Cyklus II S. 528 bezieht diese Angabe
auf Arktinos , und der neueste Herausgeber der Epikerfragmente
ist ihm darin gefolgt . Ist diese Annahme schon an sich be-
denklich , weil die Lysimachosfragmente zwar vielfache Be-
nutzung der kleinen Ilias , hingegen von einer Bekanntschaft
mit Arktinos nirgends eine Spur aufweisen , so wird sie zur
baren Unmöglichkeit dadurch , daſs die betreffenden Verse der
kleinen Ilias , auf welche Lysimachos sich bezieht , erhalten sind .
Denn wollte man auch annehmen , daſs bei Arktinos nur der
Mörder des Kindes ein anderer , Odysseus statt Neoptolemos ,
die Todesart aber dieselbe gewesen wäre , so bliebe es doch un-
begreiflich , daſs Lysimachos nicht beide Gedichte citiert und
in diesem einen Fall die sonst so vielfach von ihm benutzte
kleine Ilias ignoriert hätte . Jene Verse der kleinen Ilias hat
nun aber eben Tzetzes a. a. O. erhalten ; ob er sie aus
einem vollständigeren Exemplar der Lykophronscholien oder aus
einem besser erhaltenen Euripidesscholion hat , mag auch hier
dahingestellt bleiben , doch ist letzteres in diesem Falle darum
das wahrscheinlichere , weil das von Tzetzes mit diesen Versen
zusammengeschweiſste Simmiasfragment gleichfalls den Euripides-
scholien entnommen ist ; könnten nicht die fünf unleserlichen
Zeilen , welche im Marcianus auf ῥιφείη folgen , das Citat ent-
halten haben ? In diesem Falle wäre die Entlehnung aus Lysi-
machos sicher , im anderen wenigstens im höchsten Grade wahr-
scheinlich .
Dagegen ist sowohl der Name Lysimachos als das Citat aus der
kleinen Ilias erhalten in dem Scholion zu V. 31 der Troerinnen ; denn
nach dem eben Gesagten bedarf es keines besonderen Beweises mehr ,
daſs auch hier unter ὁ τὴν περσίδα πεποιηκώς der Verfasser der
kleinen Ilias zu verstehen ist , während Welcker auch dies Frag-
ment dem Arktinos zuteilt , aber wenigstens hier die Möglichkeit ,
daſs es auch in die kleine Ilias gehören könne , zugiebt .
Sind nun diese drei in den Euripidesscholien stehenden
Fragmente nachweislich dem Lysimachos entlehnt , so dürfen wir
dasselbe auch für das vierte ebendort ( schol. Eur. Troades 821 )
erhaltene Fragment ohne Weiteres voraussetzen , zumal auch diesmal
in echt lysimacheischer Weise ὁ τὴν μικρὰν Ἰλιάδα πεποιηκώς
citiert wird . In diesem Scholion sind aber auch , und zwar un-
lösbar mit dem Citat verknüpft , die verschiedenen Dichter , die
für Verfasser der kleinen Ilias gelten , aufgezählt , wobei indessen
Lesches offenbar absichtlich übergangen ist ; und hieraus erhellt
eben , was ich schon oben ausgesprochen habe , daſs auch diese
Angaben auf Lysimachos zurückgehen .
Von den übrigen Fragmenten stehen III ( Welcker ) bei Eusta-
thios ( 285 , 34 ) , IV in den Iliasscholien (Τ 326 ) , V in den Pindar-
scholien ( Nem. VI 85 ) , VIII in den Lykophronscholien 780 und
IX im Hesych ( s. v. Διομήδειος ἀνάγκη ) , also in lauter Werken ,
welche notorisch auch sonst Bestandtheile lysimacheischer Gelehr-
samkeit enthalten Den Lysimachos citiert Eustathios zur Od. 1796 , 10 ( fr. 17 Müller ) ,
die Pindarscholien zu Isthm. IV 104 und Pyth. V 108 ( fr. 7 , 9 ) , Hesychios s. v.
Σκῦρος ( fr. 12 ) ; für die Iliasscholien folgt die Benutzung aus Eustathios ;
über die Lykophronscholien siehe oben . . Daſs speziell fr. IV , welches von Achills
Landung auf Skyros handelt , aus Lysimachos entnommen ist ,
wird auch durch die bei Hesych s. v. Σκῦρος erhaltene Notiz ,
nach welcher Lysimachos eine Etymologie des Namens Skyros
gegeben hatte , erwiesen .
Sehen wir von den in der vita Homeri stehenden Anfangs-
versen ab , so bleiben noch drei sichere Fragmente der kleinen
Ilias übrig ; zwei davon stehen in den Aristophanesscholien , die-
selben müssen aber verschiedenen Quellen entstammen , da das
eine Mal ( Equites 1056 ) in der Weise des Lysimachos ὁ τὴν μικρὰν
Ἰλιάδα πεποιηκώς , das andere Mal ( Lysistrate 155 ) Λέσχης ὁ
Πυρραῖος ἐν τῆ μικρᾷ Ἰλιάδι citiert wird . Das dritte endlich
steht bei Pausanias III 26 , 9 und muſs , da nicht „ Lescheos “ ,
sondern ὁ τὰ ἔπη ποιήσας τὴν μικρὰν Ἰλιάδα citiert wird , einer
anderen Quelle entnommen sein , als die Citate des zehnten
Buches .
Wenn sich so mit verschwindend geringen Ausnahmen alle
aus der kleinen Ilias erhaltenen Fragmente und Notizen auf nur
zwei Quellen , Lysimachos und die von Pausanias ausgeschriebene
Periegese von Delphi ( Polemon ? ) , zurückführen lassen , so beweist dies ,
daſs die Kenntnis dieses Gedichtes keine sehr verbreitete gewesen
sein kann . In der That , so populär eine Zeitlang die sog. kyk-
lischen Epen gewesen sein müssen , so scheinen dieselben doch
mehr und mehr zurückgetreten zu sein , seit das attische Drama
die aus ihnen entnommenen Stoffe in einer eigenartigen Weise be-
handelt hatte und die von diesem geschaffene Sagenversion die popu-
läre geworden war . Nur Ilias und Odyssee behaupteten ihren alten
Rang und werden ihn behaupten für alle Zeit . Die übrigen Epen
kennt man seit dem dritten Jahrhundert nicht sowohl aus eigener
Lectüre , als aus den Hypotheseis und gelegentlichen Citaten in den
mythographischen Handbüchern und den Dichterkommentaren Dafür liefert Ovid ein artiges Beispiel . Wir wissen aus der Hypo-
thesis zu Euripides Medeia , daſs in den Nosten Medeia den Aison verjüngte ;
dieselbe Geschichte erzählt Ovid Met. VII 159—296 . Hat also Ovid die
Nosten gelesen ? Keineswegs , er kannte die Notiz eben daher , woher wir sie
auch kennen , aus der Medeia-Hypothesis , und seine Schilderung enthält da-
her absolut nichts Sagenstoffliches , nichts , worauf nicht ein römischer Dich-
ter von selbst hätte kommen können , nichts als eine lange prächtige Aus-
malung des in der Medeia-Hypothesis citierten Nosten-Verses φάρμακα πόλλ̕
ἕψουσ̕ ἐπὶ χρυσείοισι λέβησιν . Daſs nun Ovid seine ganze Kenntnis von jener
Sage aus dieser Hypothesis nicht bloſs entnehmen konnte , sondern daſs er sie
auch wirklich daher entnommen hat , beweist folgender Umstand mit aller
nur denkbaren Evidenz . Auf das Citat aus den Nosten folgen in der Hypo-
thesis die Worte : Αἰσχύλος δὲ ἐν ταῖς Διονύσου τροφοῖς ἱστορεῖ , ὅτι καὶ τὰς
Διονύσου τροφοὺς μετὰ τῶν ἀνδρῶν αὐτῶν ἀνεψήσασα ἐνεοποίησεν . Und Ovid
fährt , nachdem er die Verjüngung des Aison erzählt hat , folgendermaſsen fort .
Noch in weit höherem Grade , als von der kleinen Ilias , gilt das von
der Aithiopis . Wenn Aristoteles neben der Ilias Kyprien und kleine
Ilias nennt , so hat er damit in seinem Sinne die den troischen Krieg
behandelnden Gedichte Homerica Antehomerica und Posthomerica
erschöpft ; Arktinos existiert für ihn nicht . Ebensowenig nehmen
Lysimachos und der Perieget der delphischen Lesche auf Arktinos
die mindeste Rücksicht . Und dazu stimmt es denn vortrefflich ,
daſs , nachdem die beiden in den Euripidesscholien erhaltenen Frag-
mente der kleinen Ilias zugefallen sind , nur noch vier Fragmente
aus der Aithiopis übrig bleiben , also nicht einmal der fünfte
Teil von den Fragmenten der kleinen Ilias .
viderat ex alto tanti miracula monstri
Liber , et admonitus iuvenes nutricibus annos
posse suis reddi , capit hoc a Colchide munus .
Hier ist es wo möglich noch klarer , daſs Ovid die aischyleische Tragödie mit
keinem Auge gesehen hat ; schon die Dürftigkeit der Behandlung zeigt , daſs
er nicht mehr von der Sage wuſste , als in der Hypothesis steht ; geradezu
gravierend ist aber , daſs er den Vorgang in der Reihenfolge der Ereignisse
zeitlich nach der Verjüngung des Aison setzt und ihn in einen Causalnexus
mit der letzteren bringt ; dazu konnte ihn nur der Umstand veranlassen , daſs die
Sage in der natürlich nicht chronologisch gemeinten Aufzählung der Hypo-
thesis ihren Platz hinter der Verjüngung des Aison erhalten hatte . Daſs bei
Aischylos das Alles ganz anders gewesen sein muſs , versteht sich von selbst .
Wie sollten auch die Hyaden nach Iolkos kommen ?
EXCURS IV .
DIE JUGEND DES PARIS .
Die oben ( S. 94 ) bei Gelegenheit der Deutung der Brygos-
schale ausgesprochene Behauptung , daſs die uns geläufige Sage
von der Aussetzung und Wiedererkennung des Paris dem Epos
fremd und erst im fünften Jahrhundert entstanden sei , wird zu-
nächst gewiſs manchem Leser bedenklich erscheinen . Die Sagen-
version , die den späteren Kunstwerken zu Grunde liegt und welche ,
wie teils die Bruchstücke teils andere Anzeichen lehren , von Sopho-
kles und Euripides in ihrem Alexandros dramatisch behandelt war ,
hat man sich nach Welckers Vorgang ( Ep. Cykl. II S. 90 ) gewöhnt ,
auch für die Kyprien vorauszusetzen , obgleich Proklos von dem Vor-
gang schweigt . Welckers Argumentation ist folgende : Paris „ ist bei
ihm ( Proklos ) wie nach den Bruchstücken selbst , als er richtet , auf
dem Ida in ländlicher Abgeschiedenheit , … nicht in der Stadt ,
wo die Scene sich gar nicht denken läſst , und nachher wahrsagt
ihm Helenos , sein Bruder , der zu dem freien Landmanne , dem
unbekannten Heerdenbesitzer und Jäger im Gebirge keine Be-
ziehung hatte . Demnach hatte die Tragödie Alexandros von
Sophokles und Euripides in den Kyprien ihre Grundlage , wie viel
auch hinzugedichtet sein mag . Paris , der von Hekabe ausgesetzt
und von Hirten im Gebirg erzogen worden war , folgt seinem
ihm weggeführten Stier in die Königsburg , wird zu den Wett-
kämpfen zugelassen , als Sieger erkannt und wider die Wahr-
sagung der Kassandra in seine Familie aufgenommen “ . Allein
mir scheint , es bedarf nur eines geringen Nachdenkens , um einzu-
sehen , daſs diese ganze Argumentation auf einer falschen Voraus-
setzung beruht . Daraus , daſs Paris auf dem Lande weilt und
die Heerde weidet , daſs , wie es in der bekannten wahrscheinlich
schon im Hinblick auf die Kyprien oder des zu Grunde liegenden
Liedes gedichteten Stelle des letzten Buches der Ilias (Ω 29 ) heiſst ,
die Göttinnen zum Gehöft des Paris kommen , folgt doch noch
keineswegs , daſs der Dichter der Kyprien auch von der Aussetzung
des Paris und dem Traum der Hekabe weiſs . Auch Anchises
weilt auf dem Lande und weidet die Heerde , als Aphrodite ihm
erscheint . Ganymed wird in der späteren Sage konsequent als
Hirte gedacht . Antiphos und Isos , die Priamiden , weiden am Ida
die Schafheerden , als Achilleus sie überfällt (Λ 106 ) , Demokoon ,
der Bastardsohn des Priamos (Δ 500 ) , und Melanippos , der Sohn
des Hiketaon , haben bis zum Ausbruch des Krieges die Pferde-
heerden geweidet (Ο 547 ) , ja auch Aineias wird von Achill am Ida
bei den Heerden überfallen (Υ 89 ) . An Aussetzung kann doch in
allen diesen Fällen nicht gedacht werden . Nicht also eine Aus-
nahme , sondern ein ganz gewöhnlicher , übrigens recht beachtens-
werter Zug der Sage ist es , daſs die jungen Troer vor dem
Beginn des Krieges drauſsen die Heerden weideten ; und es be-
durfte also gar keiner besonderen Motivierung , wenn die Göttinnen
Paris auf dem Ida bei seiner Heerde fanden .
Ja man darf noch weiter gehen : es ist überhaupt sehr
zweifelhaft , ob die Sage vom Traume der Hekabe und der Aus-
setzung des Paris älter ist , als das 5. Jahrhundert , vielleicht
läſst sich sogar der Zeitpunkt ihrer Entstehung noch näher be-
stimmen . Fest steht zunächst , daſs sie dem 415 aufgeführten
Alexandros des Euripides zu Grunde lag , und in welcher Form ,
das lehren uns auſser den Fragmenten vor Allem zwei Stellen des
erhaltenen dritten Stückes der Trilogie , der Troerinnen ; denn mit
offenbarem Hinblick auf das erste Stück sagt V. 597 Andro-
mache zur Hekabe : das Unglück hat begonnen , ὅτε σὸς γόνος
ἔκφυγεν Ἅιδαν , und noch klarer spricht Helena in der groſsen
Streitscene mit Hekabe V. 919 :
πρῶτον μὲν ἀρχὰς ἔτεκεν ἥδε τῶν κακῶν
Πάριν τεκοῦσα · δεύτερον δ̕ ἀπώλεσε
Τροίαν τε κἄμ̕ ὁ πρέσβυς οὐ κτανὼν βρέφος ,
δαλοῦ πικρὸν μίμημ̕ Ἀλέξανδρόν ποτε .
Daraus lernen wir , daſs Euripides diesen Teil der Sage in der-
selben Version kannte und in seinem Alexandros in derselben Weise
behandelt hatte , wie er dem späteren Altertum geläufig war .
Hekabe träumt , daſs sie eine Fackel gebiert ; die Wahrsager ( oder
Kassandra ? ) deuten den Traum auf den neugeborenen Paris ,
dieser soll getötet werden , aber der Greis , dem der Mord auf-
getragen wird , erbarmt sich seiner und setzt ihn aus . Von dem
Alexandros des Sophokles besitzen wir nur wenige Fragmente ,
darunter aber ein absolut entscheidendes fr. 91 :
βοτῆρα νικᾶν ἄνδρας ἀστίτας . τί γάρ ;
Dies zeigt , daſs die Kampfspiele vorkamen , daſs Paris als Hirt ,
also unerkannt , die Städter , das sind seine Brüder die Priamiden ,
besiegte , und für diese Situation bildet die Aussetzung des Paris
die unumgängliche Voraussetzung . Wir konstatieren also , So-
phokles und Euripides kennen den Mythos in der uns geläufigen
Version . Um so mehr muſs es befremden , daſs Euripides in
einem früheren Stück diese Version nicht kennt oder wenigstens
sie als nicht bekannt oder nicht populär genug nicht befolgt .
In der zur Zeit des Archidamischen Krieges aufgeführten Andro-
mache singt der Chor V. 293—300 :
Ἀλλ̕ εἴϑ̕ ὑπὲρ κεφαλὰν ἔβαλεν κακὸν
ἁ τεκοῦσά νιν Πάριν ,
πρὶν Ἰδαῖον κατοικίσαι λέπας ,
ὅτε νιν παρὰ ϑεσπεσίῳ δάφνᾳ
βόασε Κασάνδρα κτανεῖν ,
μεγάλαν Πριάμου πόλεως λώβαν .
τίν̕ οὐκ ἐπῆλϑε , ποῖον οὐκ ἐλίσσετο
δαμογερόντων βρέφος φονεύειν ;
Der Sinn dieser Worte kann nur der sein : vergebens fleht
Kassandra , daſs man das Kind töte , vergebens fleht sie zu den
Ältesten der Stadt , man schenkt ihr kein Gehör und keinen
Glauben — das ist ja der Fluch , den Apollo auf ihre Propheten-
gabe gelegt hat , — und das Kind bleibt leben . Der Scholiast
freilich faſst als Gegensatz des Tötens die Aussetzung , wenn er
sagt : κατ̕ ὄναρ ϑεασαμένη Ἑκάβη , ὅτι λαμπάδα ἅμα τῷ τεχϑῆναι
τὸν Ἀλέξανδρον ἐγέννησεν , ἐδυσφόρει καὶ ἤρετο τοὺς μάντεις . οἱ
δὲ ἔφασκον χρῆναι τὸ τεχϑὲν φονεύειν . ἡ δὲ ἐξέϑηκεν αὐτὸ μή
τολμῶσα φονεῦσαι . Allein dies kann unmöglich die Meinung
des Dichters gewesen sein ; denn durch die Aussetzung bezweckt
ja Hekabe wirklich , das Kind zu töten , so gut wie Laios und
Iokaste den Oidipus . Weiter ergänzt sich jeder unbefangene
Hörer als Gegensatz zu κτανεῖν : σῶσαι und empfängt den Ein-
druck , daſs Kassandras Bitten vergeblich gewesen , also dem
Kinde überhaupt kein Leid geschehen sei ; wenn dies nicht die
Meinung des Dichters war , so hätte er sich anders und klarer
ausdrücken müssen . Endlich wäre , wenn es sich um die Gegen-
sätze „ aussetzen “ oder „ töten “ handelte , gerade der Ausdruck
εἴϑ̕ ὑπὲρ κεφαλὰν ἔβαλεν sehr schlecht gewählt ; denn derselbe
würde auch auf die Aussetzung ebenso gut , ja sogar in noch
viel eigentlicherem Sinne passen . Über den Kopf wirft man
das , wovon man nichts mehr wissen will ; man kümmert sich nicht
darum , was daraus werde . Für den Ausdruck läſst sich ver-
gleichen Herodot IV 188 : ἐπεὰν τοῦ ω̕τὸς ἀπάρξωνται τοῦ κτήνιος ,
ῥιπτέουσι ὑπὲρ τὸν ὦμον ( nach Reiskes schöner Emendation
für ὑπὲρ τὸν δόμον ) vgl. auch Nauck Euripideische Studien II
S. 99 .
Nach dem Gesagten glaube ich zu der Annahme berechtigt
zu sein , daſs Euripides hier einer anderen Version folgt , als im
Alexandros und den Troerinnen ; nach dieser versuchte Kassandra
bei der Geburt des Paris vergebens , ihre Eltern und den Rat der
Geronten zur Tötung des Kindes zu bewegen ; der Fluch Apollons
bewährt sich , sie findet keinen Glauben . Das Kind bleibt am
Leben und wächst in der Königsburg auf ; als es gröſser ge-
worden , wird es , wie die anderen Königskinder von Troia , auf
das Land zu den Heerden am Ida geschickt . Da nahen sich
ihm eines Tages drei göttliche Frauen u. s. w. Daſs diese Version
als die einfachere auch die ältere ist , bedarf keines ausführlichen
Beweises , und wir dürfen somit die Existenz der Sage in dieser
oder einer sehr ähnlichen Form für das Epos , speziell für die
Kyprien voraussetzen . Und wenn Euripides sich dieser Version
in einem Chorlied anschlieſst , so dürfen wir unbedenklich daraus
den Schluſs ziehen , daſs auch den Zuhörern diese Version ent-
weder allein bekannt oder doch vorzugsweise geläufig war , und
das noch zur Zeit des peloponnesischen Krieges . Hierdurch
wird es aber immer wahrscheinlicher , daſs die uns geläufige
Version von der Aussetzung des Paris erst durch das Drama ge-
schaffen und dann populär geworden ist und daſs es eben eines
der oben genannten Stücke , entweder der sophokleische oder
euripideische Alexandros , war , in welchem die neue Version
zuerst poetisch bearbeitet worden ist . Wäre die Andromache in
Athen selbst aufgeführt worden , so würde ich mich zu der
Folgerung berechtigt glauben , daſs der Alexandros des Sophokles
später gegeben sei , als die Andromache , wie wir dies ja von
dem euripideischen Alexandros mit Bestimmtheit wissen . Da
aber die Andromache nicht zuerst in Athen , sondern aller Wahr-
scheinlichkeit nach in Argos aufgeführt ist , und Euripides nicht
voraussetzen konnte , daſs eine vom attischen Drama geschaffene
Version bereits bis nach Argos gedrungen und dort populär
geworden sei , so verlieren wir diesen Anhalt für die Datierung
des sophokleischen Alexandros . Welchem der beiden Dichter die
Priorität gehört , läſst sich mit Sicherheit nicht entscheiden , da
uns bekanntlich beide Stücke verloren sind und die Aufführungs-
zeit nur für das euripideische Stück feststeht . Ein Umstand
jedoch , der mir zu Gunsten des Sophokles zu sprechen scheint ,
soll nicht verschwiegen werden . Die Ähnlichkeit der — wir
dürfen jetzt wohl unbedenklich sagen — dramatischen Version
von dem Schicksal des jungen Paris mit der herodoteischen Er-
zählung von der Jugend des Kyros ist oft bemerkt und hervor-
gehoben worden . Wenn nun , wie ich zu zeigen gesucht habe ,
diese Version erst im fünften Jahrhundert entstanden ist , so wird
es wahrscheinlich , daſs die Übereinstimmung im Schicksale beider
Helden nicht auf der verschiedenen Verwendung desselben alt-
überlieferten mythischen Motivs , sondern auf direkter Abhängig-
keit beruht , und zwar kann es dann nicht zweifelhaft sein , daſs
Herodots Werk die Quelle ist , aus welcher der attische Tragiker
mit freier und kühner Umgestaltung der dort gegebenen Motive
schöpft . Nun ist es bekannt , welch tiefen Eindruck gerade auf
Sophokles das Werk des Herodot gemacht hat ; und wie gerade
bei ihm mehrfache Benutzung desselben nachzuweisen und ge-
wiſs noch viel öfter vorhanden ist , als wir es merken . Darum
scheint es mir gerade für Sophokles besonders passend , daſs er
mit Benutzung der herodoteischen Erzählung von Kyros die
Jugendgeschichte des Paris so total umgestaltet .
Es mag auch noch darauf hingewiesen werden , wie sowohl
die ganze Fassung der Sage eine durchaus dramatische als
namentlich der Zug , daſs für den tot geglaubten Paris Wett-
kämpfe veranstaltet werden sollen , und dieser selbst dabei er-
scheint und den Sieg erringt , eine höchst glückliche dramatische
Erfindung ist , auch für den äuſseren Aufbau des Dramas höchst
glücklich ; denn der Dichter hatte dadurch ungesucht Veranlassung ,
den Zuschauer in die Vorgeschichte des Dramas einzuweihen .
Da die Wettspiele und die Wiedererkennung natürlich die
Aussetzung des Paris zur unerläſslichen Voraussetzung haben ,
so ist es selbstverständlich , daſs auch diese Züge dem attischen
Drama ihre Entstehung verdanken , dem Epos also durchaus fremd
sind . Die Fassung der Kyprien läſst sich aus den Worten des
Proklos sehr gut rekonstruiren ; nach der Erwähnung des Streites
der Göttinnen heiſst es : καὶ προκρίνει τὴν Ἀφροδίτην ἐπαρϑεὶς
τοῖς Ἑλένης γάμοις Ἀλέξανδρος , ἔπειτα δὲ Ἀφροδίτης ὑποϑεμένης
ναυπηγεῖται καὶ Ἕλενος περὶ τῶν μελλόντων αὐτῷ προϑεσπίζει
καὶ ἡ Ἀφροδἰτη Αἰνείαν συμπλεῖν αὐτῷ κελεύει . καὶ Κασσάν-
δρα περὶ τῶν μελλόντων προδηλοῖ . Im Gegensatz zu Welckers
Anschauung muſs ich behaupten , daſs eine durch eine Reihen-
folge zufälliger Ereignisse herbeigeführte Wiedererkennung des
Paris durch diesen Wortlaut ausgeschlossen erscheint . Viel-
mehr folgen sich die Ereignisse Schlag auf Schlag ; auf
den Richterspruch des Paris unmittelbar die Maſsregeln der
Aphrodite zur Erfüllung ihres Versprechens . Freilich ist Paris
beim Richterspruch auf dem Ida , unmittelbar darauf in Troia ; aber
dieser Wechsel des Lokals hat nur für denjenigen Hörer oder Leser
etwas Auffallendes , der von der Aussetzung des Paris etwas weiſs .
Fällt diese weg , so bedarf es keiner besonderen ausführlichen
Motivierung , daſs Paris vom Ida , wo er auf das Geheiſs des Pria-
mos die Heerden weidet , zur Stadt zurückkehrt , der Dichter konnte
das mit wenigen Worten abmachen ; da aber im Folgenden
Aphrodite dem Paris als geschäftige Helferin zur Seite steht ,
da sie ihm beim Schiffsbau hilft und ihm ihren Sohn Aineias
zum Begleiter mitgiebt , so lag es für den Dichter nahe , auch
bei dem unerwartet plötzlichen Entschluſs des Paris , der doch
auf Widerstand bei Priamos stoſsen muſste , Aphrodite eingreifen
zu lassen ; und wenn der Dichter sich dieses Motiv entgehen lieſs ,
hatte der Künstler das Recht , es in solcher Weise zu ver-
wenden , wie es auf der Vase des Brygos geschehen ist . Diese
aber ist somit ein wichtiges Dokument für die ältere epische
Fassung der Sage .
EXCURS V.
EURIPIDES ORESTES V. 431—436 .
Meinen S. 184 geäuſserten Verdacht , daſs diese Verse inter-
poliert seien , will ich hier etwas näher begründen . Ich setze die
Stelle von V. 427 in ihrem Zusammenhang her :
Μ . τὰ πρὸς πόλιν δὲ πῶς ἔχεις δράσας τάδε ;
Ο . μισούμεϑ̕ οὕτως ὥστε μὴ προσεννέπειν .
Μ . οὐδ̕ ἥγνισαι σὸν αἷμα κατὰ νόμον χεροῖν ;
430 Ο . ἐκκλῄομαι γὰρ δωμάτων ὅπῃ μόλω .
Μ . τίνες πολιτῶν ἐξαμιλλῶνταί σε γῆς ;
Ο . Οἴαξ , τὸ Τροίας μῖσος ἀναφέρων πατρί .
Μ . συνῆκα · Παλαμήδους σε τιμωρεῖ φόνου .
Ο . οὗ γ̕ οὐ μετῆν μοι · διὰ τριῶν ἀπόλλυμαι .
435 Μ . τίς δ̕ ἄλλος ; ἦ που τῶν ἀπ̕ Αἰγίσϑου φίλων ;
Ο . οὗτοι μ̕ ὑβρίζουσ̕ ὧν πόλις τὰ νῦν κλύει .
Μ . Ἀγαμέμνονος δὲ σκῆπτρ̕ ἐᾷ σ̕ ἔχειν πόλις ;
Ο . πῶς , οἵτινες ζῆν οὐκ ἐῶσ̕ ἡμᾶς ἔτι ;
Μ . τί δρῶντες ὅ τι καὶ σαφὲς ἔχεις εἰπεῖν ἐμοί ;
440 Ο . ψῆφος καϑ̕ ἡμῶν οἴσεται τῇδ̕ ἡμέρᾳ
Μ . φεύγειν πόλιν τήνδ̕ ἢ ϑανεῖν ἢ μὴ ϑανεῖν ;
Ο . ϑανεῖν ὑπ̕ ἀστῶν λευσίμῳ πετρώματι .
Ich behaupte nun , daſs die Verse 431—436 in schreiendem
Widerspruch zu dem Vorangehenden und zu dem Folgenden
stehen , denn man beachte : V. 427 weiſs Menelaos Nichts von den
Maſsregeln , die der Staat gegen Orestes ergreifen will ; V. 431
weiſs er plötzlich , daſs dem Orestes die Verbannung droht , und
fragt , wer diese hauptsächlich betreibe ; hingegen V. 441 ist er
auf einmal wieder im Unklaren darüber , ob die Bürger den
Orestes nur verbannen oder töten wollen . Und nun Orestes !
V. 432 hat er ohne Weiteres zugegeben , daſs ihm Verbannung
bevorstehe , V. 442 erklärt er auf einmal , daſs man ihm nicht
mit Verbannung , sondern mit dem Tode drohe . Und weiter : wie
absurd ist es , daſs Menelaos , der doch zu wissen scheint , daſs
Orestes verbannt werden soll ( V. 431 ) , der eben gehört hat , daſs
die Leiter des Staates den Orestes miſshandeln ( V. 436 ) , an den-
selben Orestes die Frage richtet , ob ihm die Stadt die väter-
liche Herrschergewalt gelassen habe ? Das könnte doch nur der
bitterste Hohn sein ; allein wie paſste der hierher ? Nun han-
delt es sich aber im ganzen Stück um den Tod , nicht um die
Verbannung des Orestes ; die Verse stehen also zu dem ganzen
Stück in ebenso grellem Widerspruch wie zu dieser einzelnen Scene .
Weniger Gewicht würde ich darauf legen , daſs Oiax sonst im
Stück nicht erwähnt wird und namentlich in der Volksversamm-
lung ( V. 866—956 ) gar keine Rolle spielt . Denn dort kommt
es dem Dichter wesentlich darauf an , Typen aus der athenischen
Volksversammlung vorzuführen . Streicht man die bezeichneten
sechs Verse , so schlieſst V. 437 sehr passend an 430 an , und
die Fragen des Menelaos folgen sich ohne jeden Widerspruch
und in logischer Reihe : Wie behandeln dich die Bürger ? bist
du entsühnt ? läſst man dir das Scepter ? droht dir Tod oder
Verbannung ?
Philolog. Untersuchungen V. 16
EXCURS VI .
ZU DEN HYPOTHESEIS .
Wilamowitz hat ( Analect. Euripid. p. 186 ) die tiefeinschnei-
dende Bemerkung gemacht , daſs die Namen , welche vom Dichter
namenlos gelassene Personen in den Hypotheseis erhalten , von
späteren Grammatikern , die ihre Kenntnis nicht sowohl der
Lektüre der Dichtung selbst als der Hypothesis verdanken oder
wenigstens im gegebenen Fall sich begnügen , die letztere nach-
zuschlagen , statt die erstere aufs neue durchzulesen , dem Dichter
selbst zugeschrieben werden . So erklärt es sich , um nur eins
der von Wilamowitz angeführten Beispiele herauszugreifen , daſs
nach dem Zeugnis der Pindarscholien ( Isthm. IV 104 ) bei Euripi-
des die drei Söhne des Herakles Therimachos Deikoon und
Aristodemos geheiſsen haben sollen , während sie , wie der er-
haltene Herakles , auf den sich die Notiz allein beziehen kann ,
zeigt , bei Euripides namenlos waren . Allein diese Beobachtung be-
schränkt sich nicht bloſs auf die Namen ; auch andere , der Dich-
tung fremde Zusätze pflegen die Hypotheseis zu haben ; so , um
von der Angabe abweichender Versionen in anderen Dichtungen
zu schweigen , namentlich eine mehr oder minder ausführliche
Erzählung der Ereignisse , welche vor den Zeitpunkt , mit dem
das Stück beginnt , fallen und die Voraussetzung desselben
bilden ; natürlich ist man bei Abfassung derselben darauf bedacht ,
sie möglichst vollständig aus den im Stücke selbst über die
Vorgeschichte gegebenen Andeutungen zusammenzustellen ; allein
nicht immer gelingt es , auf diesem Wege über jeden ein-
zelnen Punkt Aufklärung zu erhalten , und gerade in solchem
Falle ist eine ausführliche Darlegung der Vorgeschichte doppelt
im Interesse des Lesers . Die Aufgabe ist nun , der Sagenversion ,
die der Dichter als die seinem Publikum vertraute und bekannte
voraussetzte , möglichst nahe zu kommen und sich vor Allem
nicht in Widerspruch mit dem Stücke selbst zu setzen . Die so
entstandene Erzählung wird aber in der mythographischen Litte-
ratur , ebenso gut wie die hinzugefügten Namen , dem Dichter
selbst auf Rechnung gesetzt und unter seinem Namen citiert .
Ein lehrreiches Beispiel dafür bieten die Scholien zur Ilias Ξ 325 ,
in welchen der die Vorgeschichte behandelnde Anfang einer
Hypothesis von Euripides Bakchen ausgeschrieben ist mit dem
Citat ἡ ἱστορία παρ̕ Εὐριπίδῃ ἐν Βάκχαις. Ed. Schwartz hat
in seiner vortrefflichen Schrift : de scholiis Homericis ad histo-
riam fabularem pertinentibus commentatio ( p. 49 des Separat-
abdrucks ) darauf hingewiesen , daſs dies ganze Stück wörtlich in
Apollodors Bibliothek III 4 , 3 wiederkehrt und daſs der dort zu-
nächst folgende Satz sich unverkennbar als Paraphrase einiger
Verse ( 26—31 ) des Prologs zu erkennen giebt . Nach dem oben
Gesagten würden wir daraus die Schluſsfolgerung ziehen , daſs
eben der Verfasser der Bibliothek die Hypothesis noch weiter
abgeschrieben hat , während der Scholiast an der Stelle abbrach ,
wo von Dionysos ’ Einnähung in den Schenkel des Zeus die Rede
ist ; und in der That finden wir in der Bibliothek wenige Para-
graphen ( III 5 , 2 ) weiter eine wirkliche ὑπόϑεσις von Euripides
Bakchen , die sich als solche durch die genaue Anlehnung an die
Verse des Stückes , namentlich des Prologs , ohne Weiteres zu er-
kennen giebt In den ersten Worten διελϑὼν δὲ Θρᾴκην κτλ . ist die dem Euripides
und also auch der Hypothesis fremde Erwähnung von Thrakien von dem
Verfasser der Bibliothek selbst eingesetzt mit Rücksicht darauf , daſs die
Hypothesis der aischyleischen Lykurgeia unmittelbar vorhergeht ; die folgen-
den Worte sind nicht mit Hercher zu streichen , sondern nach Piersons
( Verisimilia p. 120 ) Vorschlag in τελετὰς ἐκεῖ καταστήσας zu ändern . Die auf
die Erzählung der Katastrophe folgenden Worte δείξας δὲ Θηβαίοις , ὅτι ϑεός . Zu ganz anderen Resultaten kommt Ed. Schwartz ;
16*
er nimmt an , daſs auch in den Iliasscholien auf die Worte ἐνέρ-
ραψε τῷ μηρῷ einst dieselben Worte gefolgt seien , wie bei
Apollodor : ἀποϑανούσης δὲ Σεμέλης , αἱ λοιπαὶ Κάδμου ϑυγατέρες
διήνεγκαν λόγον , συνηυνάσϑαι ϑνητῷ τινὶ Σεμέλην καὶ καταψεύ-
σασϑαι Διὸς , καὶ ὅτι διὰ τοῦτο ἐκεραυνώϑη . Auf diese aus dem
Prolog V. 26—31 entlehnte Angabe habe sich ursprünglich das
Citat Εὐριπίδης ἐν Βάκχαις bezogen ; irrtümlich habe man es
später von der ganzen Erzählung verstanden und zuletzt sei gar
der einzige wirklich auf Euripides bezügliche Satz ausgefallen .
Diese Annahme , die , wie gar nicht geleugnet werden kann , auf
den ersten Anblick etwas sehr Bestechendes hat , unterliegt in-
dessen groſsen Bedenken . Der Scholiast , mag er nun aus einer
Hypothesis oder anderswoher schöpfen , erzählt die Geschichte von
der Geburt des Dionysos gerade so weit , als sie zu der Illustration
des Iliasverses Ξ 325 ἡ δὲ Διώνυσον Σεμέλη τέκε , χάρμα βροτοῖσιν
dienen kann , d. h. bis zur Einnähung des Kindes in den Schenkel
des Zeus . Was später noch weiter auf Erden sich zutrug , wie die
verläumderischen Reden der Kadmostöchter , hat weder für den
Iliaskommentator noch für den Leser irgend ein Interesse , und es
ist daher mit guter Überlegung geschehen , wenn der Scholiast
gerade an dieser Stelle abbricht . Es ist nun gewiſs nicht un-
bedenklich , durch Einfügung eines weiteren Satzes die Erzählung
noch weiter zu führen und das Interesse auf Dinge rege zu
machen , die weder mit dem zu kommentierenden Iliasverse in
Verbindung stehen noch überhaupt erzählt werden . Was veran-
laſst nun überhaupt Schwartz zu seiner Annahme ? Er bemerkt
zuerst , daſs von der Erzählung des Scholiasten sich Nichts bei
ἐστιν , ἧκεν εἰς Ἄργος entsprechen dem Prolog V. 47 s. :
ὧν εἵνεκ̕ αὐτῷ ϑεὸς γεγὼς ἐνδείξομαι
πᾶσίν τε Θηβαίοισιν · εἰς δ̕ ἄλλην χϑόνα
τἀνϑένδε ϑέμενος εὖ μεταστήσω πόδα .
Der Schluſs der Hypothesis , das Schicksal des Kadmos , folgt dann etwas
später III 5 , 4 . So bildet von III 4 , 3 bis III 5 , 4 die Hypothesis der euripi-
deischen Bakchen den Grundstock der Erzählung , in den die übrigen Dionysos-
abenteuer mit mehr oder weniger Geschick eingefügt sind .
Euripides finde ; und weiter , daſs auch nicht etwa eine nachlässig
geschriebene Bakchen-Hypothesis die Quelle des Scholions sein
könne , weil in einer solchen nicht sowohl von Semele als von
Pentheus die Rede sein müsse . Letzteres Argument bekenne ich ,
nicht zu verstehen . Die Frage nach der göttlichen Geburt des
Dionysos ist so sehr der Angelpunkt des ganzen Stückes , daſs
der Verfasser der Hypothesis gar nicht anders konnte , als die
Erzählung von der Liebe des Zeus zur Semele an die Spitze zu
stellen . Im Stücke selbst fand er darüber nur kurze An-
deutungen ; nur das Einnähen der Frühgeburt in den Schenkel
des Zeus als der dem fünften Jahrhundert anstöſsigste Punkt
wird immer und immer wieder hervorgezogen , teils in poetischer
Ausmalung 521 , teils als ἱερὸς λόγος 88—97 , teils als Objekt
etymologisierend-allegorischer Pfaffenerklärung 286—297 ; letztere
konnte natürlich für die Hypothesis absolut nicht verwant werden ,
und bei den übrigen Stellen genügte es , aus aller poetischen Aus-
schmückung die nackte Thatsache herauszuschälen : Σεμέλης δὲ
διὰ τὸν φόβον ἐκλιπούσης , ἑξαμηνιαῖον τὸ βρέφος ἐξαμβλωϑὲν ἐκ
τοῦ πυρὸς ἁρπάσας ἐνέρραψε τῷ μηρῷ . Im Übrigen war der
Verfasser der Hypothesis auf sich selbst angewiesen ; er erzählt
die verbreitete Sagenform , welche aber nicht nur keinen Wider-
spruch mit dem Stück enthält , sondern wahrscheinlich eben diejenige
war , welche dem Dichter und dem attischen Publikum vor-
schwebte . Nicht also eine nachlässige , sondern eine sehr gute
Hypothesis ist die Quelle des Iliasscholions und der Anstoſs ,
den Schwartz nahm , erledigt sich durch die Erklärung , daſs
auch in diesem Falle , wie bei den Namen , die Angaben der
Hypothesis stillschweigend auf Rechnung des Dichters gesetzt
werden .
Dieser Punkt ist also bei Benutzung der Hypotheseis für die
Rekonstruction verlorener Dichtungswerke wohl im Auge zu be-
halten . Während aber diese vom ursprünglichen Verfasser her-
rührenden Angaben und Zusätze wenigstens Nichts enthalten ,
was mit der Dichtung direkt im Widerspruch stände , werden
die Hypotheseis von dem Moment an , wo sie von der Dichtung
losgelöst gewissermaſsen ein selbständiges Dasein als mytho-
graphische Schriften zu führen beginnen , im Detail mancherlei Modi-
fikationen unterworfen , durch die sie zuweilen direkt in Widerspruch
zu derjenigen Dichtung treten , deren Inhalt sie doch eigentlich
wiedergeben wollen . Sobald die Hypotheseis in den mythologischen
Handbüchern zu einer zusammenhängenden Darstellung der Hel-
densage zusammengestellt werden , ist es ganz natürlich , daſs
man die zwischen den einzelnen Hypotheseis bestehenden Wider-
sprüche , soweit es sich mit leichter Hand thun läſst , auszu-
gleichen oder wenigstens zu mildern bemüht ist . Beispiele dafür
liefern die Bibliothek des Apollodor und die Fabeln des Hygin
fast auf jeder Seite . Da ferner diese mythographischen Hand-
bücher wesentlich Schulzwecken dienen , so wird eine möglichst
enge Anlehnung an das wichtigste Buch der Schullektüre , an
die homerischen Gedichte , erstrebt und durch Änderung des
Wortlautes der ὑποϑέσεις , oft nur in Kleinigkeiten , auch wirklich
erreicht . Ein recht augenfälliges Beispiel dafür findet sich in
der apollodorischen Bibliothek . Ich habe schon früher ( de Apol-
lodori bibliotheca p. 77 ) darauf hingewiesen , daſs die in jener
Schrift vorliegende Darstellung der Argofahrt gröſstenteils auf
Apollonios zurückgeht ; insbesondere die Episode von den Symple-
gaden lehnt sich auch im Ausdruck genau an die Verse des
Apollonios an ( Apollodor I 9 , 22 Apollon . Β 549—618 ) . Um so
auffälliger ist die Abweichung in einem scheinbar ganz gering-
fügigen Punkt . Bei Apollonios giebt Athena , bei Apollodor Hera
dem Schiffe den helfenden Stoſs . Wie kommt Apollodor zu dieser
Änderung ? Ich wuſste mir früher dieser Schwierigkeit gegenüber
so wenig zu helfen , daſs ich einen Schreibfehler entweder des
Verfassers selbst oder seiner Abschreiber annehmen zu müssen
glaubte . Erst später habe ich erkannt , daſs der Odysseevers μ 72
ἀλλ̕ Ἥρη παρέπεμψεν , ἐπεὶ φίλος ἦεν Ἰήσων
die Veranlassung zu der Änderung gewesen ist . Konkordanz mit
Homer soll , soweit es irgend geht , hergestellt werden .
Dieser Art von Umarbeitung oder , wenn man will , Inter-
polation waren aber mehr , als alle anderen , die Hypotheseis der
kyklischen Epen ausgesetzt , zumal seit sie als Einleitung zu der
Homerlectüre in die Handschriften der Ilias aufgenommen wor-
den waren . Es ist längst bemerkt , daſs die Hypothesis der
Kyprien in ihrer Erzählung von der Rückfahrt des Paris sich
mit den Kyprien selbst im entschiedensten Widerspruch befindet ,
hingegen mit der Ilias genau übereinstimmt . Herodot II 117 be-
zeugt mit teilweise wörtlicher Anführung , daſs in den Kyprien
Paris nach dreitägiger Fahrt „ mit günstigem Wind und bei
ruhiger See “ in Ilion anlangte ; er macht auf den Widerspruch
dieser Darstellung mit der Ilias Ζ 290 f. aufmerksam und be-
gründet damit seine Behauptung , daſs die Kyprien von einem
anderen Verfasser herrühren müſsten , als die Ilias . Bei Proklos
hingegen lesen wir : χειμῶνα δὲ αὐτοῖς ἐφίστησιν Ἥρα · καὶ προσ-
ενεχϑεὶς Σιδῶνι ὁ Ἀλέξανδρος αἱρεῖ τὴν πόλιν , Worte , welche
zu den Iliasversen Ζ 289—292 :
ἔνϑ̕ ἔσαν οἱ πέπλοι παμποίκιλοι , ἔργα γυναικῶν
Σιδονίων , τὰς αὐτὸς Ἀλέξανδρος ϑεοειδής
ἤγαγε Σιδονίηϑεν ἐπιπλὼς εὐρέα πόντον
τὴν ὁδὸν , ἣν Ἑλένην περ ἀνήγαγεν εὐπατέρειαν
aufs Beste stimmen , aber sich mit der Angabe Herodots auf
keine Weise in Einklang setzen lassen . Schon Wüllner de cyclo
epico p. 73 erkannte diese willkürliche Änderung und ihren
Grund ; und wenn er die angeführten Worte deshalb für Inter-
polation erklärt , so hat er auch von dem heutigen Standpunkt
unserer Kenntnisse aus Recht ; nur ist der Urheber derselben nicht
der , qui hoc argumentum e Proclo excerpsit ( also Photios ? ) , son-
dern der , welcher zuerst diese Hypothesis in die Iliashandschriften
aufnahm , wo sie auch Proklos las . Ich denke , die bei dieser Ände-
rung maſsgebende Absicht liegt auf der Hand . Etwas Ähnliches
scheint aber auch in der Hypothesis der Νόστοι vorzuliegen .
Der erste Teil derselben Ἀϑηνᾶ Ἀγαμέμνονα — ἐν τῷ πελάγει
entspricht genau mit zuweilen wörtlicher Anlehnung den Erzäh-
lungen des Nestor (γ 132—183 u. 254—328 ) , und auch an an-
deren Stellen zeigt sie gleiche Übereinstimmung mit der Odyssee .
Es ist also bei dem Mangel anderweitiger Zeugnisse schlechterdings
nicht auszumachen , ob in der That Nosten und Odyssee in diesen
Erzählungen aufs genaueste übereinstimmten oder ob diese Über-
einstimmung erst durch Umarbeitung und Interpolation der Hypo-
thesis entstanden ist ; so lange aber bleibt unser Urteil über
diesen Teil der Nosten ein äuſserst schwankendes .
Dies habe ich im Sinne gehabt , als ich in meiner Schrift
über Thanatos S. 5 sagte , nur wer die Hypotheseis richtig zu
behandeln verstehe , könne über die sogenannten kyklischen Epen
ein einigermaſsen sicheres Urteil fällen . Da diese Bemerkung
Miſsdeutungen erfahren hat , habe ich nicht versäumen wollen ,
meine Ansichten an dieser Stelle etwas ausführlicher vorzulegen .
NACHTRÄGE .
Zu S. 59 f. In der während des Druckes ausgegebenen
Lieferung des XI. Bandes der Monumenti dell ’ Instituto ist auf
Taf. XIV. XV ein in Bologna gefundener rotfiguriger Krater
schönen Stiles veröffentlicht ( bespr. von Michaelis A. d. I. 1880
p. 270 ) , welcher in diese Reihe gehört . Auf der Vorderseite
ist der Tod des Priamos und Astyanax dargestellt , aber dem
Raum entsprechend durch zwei symmetrisch die Darstellung ein-
fassende Krieger , einen Achaier und einen Troianer , erweitert ;
auſserdem erscheint links von Neoptolemos ein kleines fliehen-
des Mädchen mit Trinkschale und Weinschlauch in den Händen ,
eine Figur , welche der Erklärung groſse Schwierigkeit macht .
Auf der Rückseite ist Aias ’ Frevel an Kassandra mit der Auf-
findung der Aithra zu einer einheitlichen Scene zusammen-
gefaſst ; also gerade die beiden Eckscenen der Darstellung auf
der Vivenziovase .
Zu S. 78 . Die hier erwähnte Trinkschale ist jetzt in den
Monumenti dell ’ Instituto XI T. XX publiziert und von Kekulé
A. d. I. 1880 p. 150 besprochen . Das Innenbild , ein bärtiger
Mann mit Chiton , Himation und Speer , welcher eine ihm zag-
haft folgende Frau mit sich fortführt , gehört in eine Reihe mit
den S. 56 besprochenen Darstellungen und stimmt namentlich
mit dem S. 58 erwähnten Innenbilde der Londoner Schale ( Brit.
Mus. 829 ) aufs Genaueste überein , nur daſs der Mann auf der
Londoner Schale einen Petasos trägt . Die Darstellung würde
demnach , wenn meine oben gegebene Darlegung richtig ist , auf
Paris und Helena zu deuten sein . Anders urteilt Kekulé a. a. O.
p. 156 .
Zu S. 128 . Auf die Frage , welche Gesetze über die Aus-
wahl der einzelnen Scenen walteten , hat , soweit sie die archaische
Kunst betrifft , unterdessen Löschcke in der Arch. Zeit . 1880
S. 50 eine Antwort gegeben , mit der ich mich vollständig ein-
verstanden erklären kann . Sie lautet : „ Diejenigen Scenen er-
hielten unter dekorativ sonst gleich verwendbaren den Vorzug ,
die sich mit schon vorhandenen und den Handwerkern geläufigen
Figuren ausdrücken lieſsen oder wenigstens eine nur geringe
Modifikation derselben heischten “ . Gegenüber dem letzten Satze
des Artikels aber muſs ich behaupten , daſs es für die Frage
nach der Popularität des Epos völlig gleichgültig ist , ob ein
fertiger Typus auf eine Scene der Ilias übertragen oder die
bildliche Darstellung derselben durch Kombinierung fertiger
Figuren oder endlich durch Neuschöpfungen erzielt wird . Die
Bekanntschaft mit dem Sagengehalt der homerischen Gedichte
bildet in gleicher Weise die unumgängliche Voraussetzung für
alle drei Fälle , so verschieden sie auch sein mögen . Vermittelt
kann aber diese Bekanntschaft nur sein durch eine , wenn auch
noch so flüchtige Kenntnis der homerischen Gedichte , welche die
Vasenmaler jener Zeit zwar gewiſs nicht gelesen , aber ebenso
gewiſs häufig gehört hatten . Denn wenn Löschcke an einer
andern Stelle ( Archäologische Miscellen . Dorpater Programm
1880 ) bezweifelt , daſs ein schwarzfiguriger oder gar ein korin-
thischer Maler Ilias und Odyssee gekannt habe , so möchte ich
auf den Kebriones der S. 23 Anm. 21 erwähnten korinthischen
Vase und das dort Bemerkte verweisen . Wollte man selbst zu-
geben , was ich indessen durchaus in Abrede stellen muſs , daſs
eine Anzahl besonders drastischer und volkstümlicher Geschichten
dem Stoffe nach ( also unabhängig von ihrer poetischen Behandlung )
überall bekannt waren , wollte man mit anderen Worten zu-
geben , daſs die von den Griechen aus dem griechischen Mutter-
lande nach Kleinasien mitgenommenen Sagenstoffe durch die
Behandlung im ionischen Epos nur unwesentliche Veränderungen
erfahren hatten , was ich , wie ich wiederhole , nun und nimmer-
mehr glauben kann ( Theseus—Helena in der Peloponnes ,
Alexandros—Helena in Kleinasien ) , so ist doch der Heros einer
in der Troas gelegenen Stadt , Kebrene , eben nicht nach Klein-
asien mit hinübergenommen , sondern aus Kleinasien nach dem
Mutterland herübergekommen . Nun ist Kebriones doch alles
Andere als eine volkstümliche oder drastische Figur ; und die
Form , in welcher solche Sagenstoffe wandern , ist eben die
des Liedes . Wenn wir also auf einem korinthischen Bild-
werk selbst einem ganz beliebigen Manne den Namen Kebriones
beigeschrieben fänden , so müſsten wir schon daraus auf eine
Einwirkung der Ilias auf die korinthische Kunst schlieſsen .
Noch viel zwingender wird dieser Schluſs aber dann , wenn
Kebriones , wie auf der Vase , in derselben Rolle erscheint , wie
in der Ilias , als Wagenlenker des Hektor . Wie ein korin-
thischer Vasenmaler auf diesen Einfall kommen soll , wenn er
nicht Θ—Π , in welcher Gestalt es immer sei , gehört hatte , ist
völlig unerfindlich .
Zu S. 141. Daſs auch das einzelne Motiv der Verhüllung
des Achilleus nicht durch das Drama in die Kunst eingedrungen ,
sondern älter ist , beweist eine im Berliner Museum befindliche
kleine schwarzfigurige Amphora aus Boiotien , auf welcher die
Darstellung der πρεσβεία auf die beiden Hauptfiguren Achilleus
und Odysseus beschränkt ist , ersterer aber genau so verhüllt
da sitzt , wie auf den rotfigurigen Darstellungen . Die Vase wird
zusammen mit dem S. 95 erwähnten Aryballos im 2. Hefte des
laufenden Jahrgangs der Archäologischen Zeitung von mir ver-
öffentlicht und besprochen werden .
Zu S. 173 . Zu Megakleides giebt mir Wilamowitz folgenden
Nachtrag : im schol. Hesiod. scut. 1 wird aus Megakles berichtet
erstens , daſs er das Gedicht für hesiodeisch hielt , weiter aber ,
daſs er die Ungeschicklichkeit des Hesiod tadelte , der den He-
phaistos für die Feinde seiner Mutter Hera Waffen machen
lässt . Die Bemerkung kann entweder in der Abhandlung über
Herakles zu Ε 640 oder in der Bemerkung zu Μ 14 gestanden
haben .
Zu S. 178 . Es hätte noch ausdrücklich darauf hingewiesen
werden sollen , daſs der Erfindung des Stesichoros der religiöse
Glaube an das Fortleben der Verstorbenen in Schlangengestalt
zu Grunde liegt .