Die
Spatziergaͤnge
oder
die Kunſt ſpatzieren
zu gehen.
Von
Karl Gottlob Schelle.
Res severa est verum gaudium.
Senec.
Leipzig,
bey Gottfried Martini.
1802.
Sr. Durchlaucht
Leopold Friedrich Franz
regierendem Fuͤrſten
von
Anhalt-Deſſau.
Ew. Durchlaucht erwarben Sich
das ſchoͤne Verdienſt, mit der wohlthaͤ-
tigen Natur zu wetteifern, welche ihre
ernſtern Zwecke fuͤr das Wohl der
Menſchheit zugleich zu einer unver-
ſiegbaren Quelle des edelſten Ver-
gnuͤgens fuͤr dieſelbe macht. Dieß
wird die Kuͤhnheit eines Schriftſtel-
lers entſchuldigen, der es wagt,
Hoͤchſtdero erhabenen und verehr-
ten Namen einer Schrift vorzuſetzen,
welche die Abſicht hat, die Quellen ei-
nes Vergnuͤgens aufzuſuchen, das in
ſeiner Reinheit mit Adel und Wuͤrde
der Menſchheit auf das innigſte zuſam-
menhaͤngt. Jndem Ew. Durch-
laucht Jhr ganzes ſchoͤnes Land zu ei-
nem einzigen reitzenden Garten umſchu-
fen, noch Geiſt und Koͤrper des ent-
zuͤckten Wanderers auf offenen Stra-
ßen wie auf anmuthigen Luſtgaͤngen er-
quicken, ſtellten Hoͤchſtdieſelben
in dem Kreiſe Jhrer erhabenen Thaͤ-
tigkeit fuͤr ein großes Ganzes vereinig-
ter Menſchen ein Urbild des Schoͤnen
auf, welches mit den edelſten Gefuͤh-
len erfuͤllt und den mit Auffindung der
Quellen deſſelben beſchaͤftigten Be-
trachter das ſchoͤnſte moͤgliche Bey-
ſpiel zur Beſtaͤtigung ſeiner Jdeen
ſich zueignen zu duͤrfen, wuͤnſchen
laͤßt.
Jch erſterbe mit der tiefſten Ver-
ehrung
Ew. Durchlaucht
unterthaͤnigſter
Karl Gottlob Schelle.
Vorrede
an die Kunſtrichter.
Noch immer verweilt die Philoſophie zu
einſeitig in den Regionen der Spekulation;
nur ſehr wenige Denker laſſen ſich noch zu
Gegenſtaͤnden des Lebens herab. Gegen
einen Mann, der im Geiſt eines Mon-
taigne, Franklin, Hume denkt, laſſen
ſich Hunderte ſpekulativer Denker zaͤhlen.
Ein ſolches Verhaͤltniß iſt offenbar gegen
den Zweck der Natur. Unſere Nation,
allein in der philoſophiſchen Spekulation
groß, krankt jetzt im eigentlichſten Sinne
an der Spekulation. Gewiß ſind es keine
gleichguͤltigen Symptome dieſer Krankheit,
daß diejenigen, welche damit behaftet ſind,
Philoſophen wie Garve und Engel, deren
wir unſerer Nation recht viele wuͤnſchen
muͤßten, um die Beduͤrfniſſe des Lebens
mit den Angelegenheiten der forſchenden
Vernunft in Harmonie zu bringen, ſogar
als entſchiedene Unphiloſophen behandeln.
Jhren Einfluß bewaͤhrt die Philoſo-
phie, allgemein uͤberzeugend, erſt durch
Anwendung auf Gegenſtaͤnde des Lebens
und der Welt. Sie ſelbſt enthaͤlt nur die
Keime zur Befruchtung der weiten Ge-
filde der Menſchheit. Es iſt die Sache
des praktiſchen Philoſophen, dieſe Keime
fuͤr die mancherley Gegenſtaͤnde des Le-
bens aus der Philoſophie zu entwickeln.
Reichte man ſchon mit den hoͤchſten, erſten
Grundſaͤtzen der Philoſophie uͤberall aus,
wie ſich vielleicht mancher bloß ſpekulative
Philoſoph uͤberredet, ſo beduͤrfte es frey-
lich einer ſolchen Entwickelung nicht: aber
es verhaͤlt ſich keineswegs ſo. Jeder be-
ſondere Gegenſtand hat ſeine eigene Na-
tur, fuͤhrt auf beſondere Unterſuchungen,
worauf die Vernunft, ohne denſelben vor
Augen zu haben, nicht kaͤme, und derje-
nige, der ſich Unterſuchungen der Art un-
terziehe, bringt als Philoſoph die Gegen-
ſtaͤnde derſelben in Uebereinſtimmung mit
den Anſpruͤchen der Vernunft. Die Phi-
loſophie muß ſich vertraulich dem Kreiſe
des Lebens naͤhern, muß ſich anſpruchlos
zur unterhaltenden Geſellſchaft in Stun-
den der Erholung darbieten, muß ſich ſo-
gar mit den Vergnuͤgungen der veredelten
Menſchheit vermaͤhlen, um ihren Werth
auch der nichtphiloſophiſchen Welt fuͤhlbar
zu machen, und ihren Einfluß uͤber den
ganzen gebildeten Theil der Nation, des-
ſen Liebe ſie ſich erwirbt, zu verbreiten.
Gegenwaͤrtiger Verſuch ſoll nur einen
geringen Beytrag zu der ſo noͤthigen Ein-
fuͤhrung der Philoſophie in die Welt lie-
fern. Er hat die Abſicht, einen praktiſchen,
nicht unwichtigen Gegenſtand der Menſch-
heit, im Geiſt der Philoſophie zu behan-
deln; macht ſich aber dadurch nicht ver-
bindlich, auch die Manier großer Schrift-
ſteller in dieſem Fache zu erreichen, oder
auch nur zu befolgen. Es waͤre unbillig,
jemandem Vorzuͤge zur Pflicht zu machen,
auf die er ſelbſt Verzicht leiſtet: genug,
wenn er Dinge auf eine nicht zuruͤckſtos-
ſende Art ſagt, die ſich durch innere Wahr-
heit empfehlen.
Vorrede
an die Leſer.
Gewiſſe Dinge ſcheinen ſich ganz von
ſelbſt zu geben oder mit dem Begriffe
von Kunſt ſogar im Widerſpruch zu ſtehn.
Unter ſie moͤchte beym erſten Anblick auch
das Spatzierengehn zu gehoͤren ſcheinen.
Aber es ſchiene auch nur beym erſten An-
B
blick. Es bedarf keines langen und tiefen
Nachdenkens, um dieſen Schein ganz ver-
ſchwinden zu ſehn. Wer haͤtte nicht ge-
fuͤhlt, daß die geſellſchaftlichen Promena-
den einen ganz anderen Eindruck hervor-
bringen, als ein Spatziergang im Freyen?
Wer ſollte wohl das Vergnuͤgen des Spa-
tzieren Gehns-Fahrens- und Reitens fuͤr
gleich halten und nicht das Eigenthuͤmliche
eines jeden ſolchen Vergnuͤgens wenigſtens
durch ſeine Empfindung kennen? Wer
duͤrfte wohl glauben: er luſtwandele im-
mer auf dieſelbe Art, moͤge er nun am
Abhange eines Bergs oder in einem Thale,
auf einer Wieſe oder in einem Hain ſpatzie-
ren gehn? Nur dann, wenn dieß der Fall
waͤre, wenn die mannigfaltigen Eindruͤcke
der Natur und Geſellſchaft — wie auf
offnem Meere, im Anblick einer einfoͤrmigen
Waſſerwelt, oder wie in dunkler Nacht,
wo man auch nichts mehr davon zu unter-
ſcheiden vermag — auf das Gemuͤth ver-
loren gingen, waͤre das Spatzierengehn
die einfachſte Sache von der Welt. Da
dieß aber nicht der Fall ſeyn kann — man
muͤßte denn in dumpfem Traͤumen auf ſei-
nen Spatziergaͤngen herumſchleichen — :
ſo iſt der Wunſch ſehr natuͤrlich, ſich die
B 2
mannigfaltigen Eindruͤcke des Spatzieren-
gehns zu entwickeln, und durch Einſicht
in die Natur dieſes ſo vielſeitigen Vergnuͤ-
gens ſich daſſelbe zu vervielfaͤltigen, zu er-
hoͤhn. Nur dann wandelt man auf ſei-
nen Spatziergaͤngen nicht blind. Nur Ruͤckſichten des koͤrperlichen Wohl-
ſeyns entſcheiden fuͤr das Phyſiſche bey
dem Spatzierengehn. Welcher geiſtvolle
Menſch wuͤrde es ſonſt nicht gern fuͤr das
Geiſtige des Spatzierengehns hingeben,
wenn ſich dieſes ohne jenes haben ließe.
Beyde verhalten ſich zu einander wie ein
Schreiter zu einem Spatziergaͤnger, wie
die Schale zum Kern. Oder beſteht wohl
Bloß aus einer falſchen Vorſtellung,
die man von dem Begriffe Kunſt hegte,
koͤnnte man eine Kunſt ſpatzieren zu gehn
etwa fuͤr pedantiſch halten. Als dieß er-
ſchiene ſie nur dann, wenn ſie eine Kunſt
ſeyn ſollte, die Eindruͤcke des Spatzieren-
gehns urſpruͤnglich in ſich, mit dieſem Buch
in der Hand, hervorzubringen, zu em-
pfangen, und nicht, wie ſie es wirklich
iſt, eine Kunſt, ſich die Gruͤnde davon
im Bewegen der Haͤnde und Fuͤße, und
nicht vielmehr in den damit verbundenen
Gefuͤhlen der Seele das Vergnuͤgen
am Tanz?
fuͤr das deutlichere Bewußtſeyn ſeines
Vergnuͤgens nach deſſen mannigfaltigen
Eindruͤcken, ſo wie fuͤr deſſen jedesmalige
zweckmaͤßigſte Abwechſelung und Wahl
nach ſeiner verſchiedenen Natur zu entwi-
ckeln. Nur waͤre das keine Kunſt, ſon-
dern der hoͤchſte Grad von Unnatur.
Eine Kunſt ſpatzieren zu gehn wuͤrde fuͤr
alle gebildete Menſchen Jntereſſe haben,
denen es etwas werth iſt, mit Geiſt und
Sinn in der Natur, ſo wie im geſellſchaft-
lichen Kreiſe zu luſtwandeln, Natur und
Geſellſchaft auf ſeinen Spatziergaͤngen
ganz zu genießen; ſo wie eine Kunſt zu le-
ben fuͤr jeden Menſchen in vollem Sinne
des Worts ein Gegenſtand der Achtung
ſeyn muͤßte, wenn ihm das Leben etwas
mehr iſt, als ein bloßes Spiel.
Jn einer bewaͤhrten Kunſt zu leben,
der zufolge Anſtrengung und Erholung,
Ernſt und Spiel, Arbeit und Genuß in
einer bewaͤhrten Tagesordnung mit einan-
der abwechſeln, behauptet auch das Spa-
tzierengehn ſeinen Platz. Sie froͤhnt nicht
von der Bahn der Natur abgewichnen
Menſchen, die entweder bloß mit ihrem Koͤr-
per, oder bloß mit ihrem Geiſte thaͤtig ſind,
die bis zur Erſchoͤpfung angeſtrengt arbeiten
und dann in dumpfem Traͤumen ihre Er-
holung finden, die, um mich etwas ge-
mein, aber der Sache gemaͤß auszudruͤcken,
entweder buͤffeln oder vegetiren und fuͤr
die es mithin keinen Zuſtand einer wahr-
haft menſchlichen Exiſtenz giebt. Fuͤr ſol-
che, die gar kein aͤchtmenſchliches Leben
verleben, welches zwiſchen unuͤberſpannter
Geiſtesthaͤtigkeit und veredeltem Vergnuͤ-
gen, wobey der Geiſt noch ſeine Rechte
behauptete, getheilt waͤre, die entweder
nur Koͤrper oder Geiſt ſind, waͤre eine
Kunſt ſpatzieren zu gehn eben ſo wenig, als
eine Kunſt zu leben, die den ganzen Men-
ſchen umfaßte, eine reelle Kunſt. Aber
human gebildete Menſchen — die, wie
ſchon ein alter Roͤmer in ſeinen Buͤchern
von den Pflichten den Charakter der
Menſchheit angiebt, „wenn ſie von den
Beſchaͤftigungen und Sorgen fuͤr die Be-
duͤrfniſſe des Lebens frey ſind, noch ein
Verlangen haben, immer etwas zu ſehen,
zu vernehmen, zu lernen,“ die den Geiſt
auch noch mit koͤrperlichen Verrichtungen
in Verbindung zu ſetzen wiſſen und eine
maͤßig beſetzte Tafel in geſellſchaftlicher Un-
terhaltung den ausgeſuchteſten Gerichten,
die ſie einſam genießen muͤßten, vorziehn —
koͤnnen ſich von dem Bildenden des Spa-
tzierengehns ſehr wohl einen Begriff ma-
chen, koͤnnen es ſich ſehr wohl denken, wie
Bildung als Grund und Folge mit dem
Spatzierengehn zuſammenhaͤngt. Einwuͤrfe der Art wie die folgenden ei-
nes Schreiters gegen eine Kunſt ſpatzieren
zu gehn, wuͤrde der Verfaſſer, der ſie
nicht aus der Luft griff, ſo ſehr ſie aus
der Luft gegriffen ſind, nicht anders, als
man ſie hier beantwortet findet, zu be-
antworten wiſſen. — „Spatzierengehn iſt Waͤre
es mir gelungen, auch nur die Hauptzuͤge
eines Vergnuͤgens zu entwickeln, deſſen
ein bloßer Luxus. Die Zeit, wo man
an einem Ort ſpatzieren zu gehn an-
faͤngt, iſt die Anfangsperiode ſeines oͤko-
nomiſchen und merkantiliſchen Verfalls.“
O die Aufgabe waͤre einer Preisfrage
werth, wie es ſich einrichten ließe, um
von dem Spatzierengehn Renten zu ziehn.
„Das Spatzierengehn iſt doch die einfachſte
Sache von der Welt: es gehoͤren nur ein
Paar geſunde Fuͤße dazu. Was laͤßt ſich da
nun viel daruͤber ſchreiben?“ Freylich: die
Fuͤße thun dabey erſtaunlich viel, und vier
foͤrdern noch beſſer als zwey. „Eine
Kunſt ſpatzieren zu gehn kommt mir ſo vor,
Momente ſie nicht zu den verlornen
Stunden ihres Lebens zaͤhlen, ſo fuͤhlte
ich mich ſchon belohnt.
wie eine Kunſt zu ſchlafen.“ Sehr ver-
bunden, Herr Somnambuliſt; wohl be-
komm' Jhnen, waͤhrend Sie ſpatzieren
gehn, der Schlaf!
Jnhaltsverzeichniß.
Erſtes Kapitel.
Einleitung.
Zweytes Kapitel.
Das Spatzierengehn iſt nicht bloße Bewegung
des Koͤrpers.
Drittes Kapitel.
Gegenſtaͤnde des Luſtwandelns im Allge-
meinen.
Viertes Kapitel.
Jntereſſe des Geiſtes und Bedingungen beym
Luſtwandeln.
Fuͤnftes Kapitel.
Nothwendigkeit des gleichmaͤßigen Luſtwan-
delns in der Natur und auf oͤffentlichen
Promenaden.
Sechſtes Kapitel.
Einfluß des einſamen Spatzierengehns im
Freyen auf Entwickelung des eigenen
Geiſtes.
Siebentes Kapitel.
Oeffentliche Promenaden auf Alleen.
Das ſchicklichſte Lokal dafuͤr.
Achtes Kapitel.
Oeffentliche Promenaden auf Alleen.
Eindruck davon.
Neuntes Kapitel.
Luſtgaͤrten.
Zehntes Kapitel.
Spatzieren-Gehn-Reiten-und Fahren.
Eilftes Kapitel.
Uebergang zur beſondern Betrachtung der
Spatziergaͤnge im Freyen.
Einfluß derſelben auf das Herz.
Zwoͤlftes Kapitel.
Berge.
Dreyzehntes Kapitel.
Thaͤler.
Vierzehntes Kapitel.
Feld, Wieſe und Wald.
Funfzehntes Kapitel.
Phaͤnomene der Natur.
Tages- und Jahreszeiten.
Sechzehntes Kapitel.
Phaͤnomene der Natur.
Tages- und Jahreszeiten.
Siebzehntes Kapitel.
Die Natur nach Maaßgabe unſerer Empfin-
dungen.
Charaktere einzelner Parthien. Gegenſtaͤn-
de der Natur; Bewegung und Ruhe in
der Natur.
Achtzehntes Kapitel.
Einiges uͤber die phyſiſchen Bedingungen des
Spatzierengehns.
Erſtes Kapitel.
Einleitung.
Weſen zweyer Welten zu ſeyn; durch
ihr Leben die Wirkſamkeit vernuͤnftiger
Naturen zum Endzweck ſich aufgegeben zu
ſehn, und doch zugleich die Beduͤrfniſſe
phyſiſcher Weſen zu theilen: dieß beſtimmt
fuͤr Menſchen die Eigenthuͤmlichkeit eines
menſchlichen Daſeyns. Zufolge dieſer Ei-
genthuͤmlichkeit hat das Phyſiſche und
Geiſtige in uns den entſchiedenſten gegen-
ſeitigen Einfluß. Als Vernunftweſen
C
wuͤnſchen wir, unſerer Beſtimmung nach,
unſer geiſtiges Leben immer weiter auszu-
dehnen und, waͤre es moͤglich, uͤber un-
ſer ganzes Daſeyn zu verbreiten; wir
wuͤnſchen uns den beengenden Banden des
Phyſiſchen, ſo weit es unſere phyſiſche
Exiſtenz nur verſtattet, zu entziehn. Aber
eben die Geſetze des phyſiſchen Daſeyns
ſetzen unſerer vernuͤnftigen Wirkſamkeit im
Leben Schranken aller Art. Wir ſehen
uns von Klima, Nahrung, Bewegung,
Ruhe und Schlaf, koͤrperlichen und geiſti-
gen Leiden abhaͤngig gemacht. Vielen Be-
dingungen unſerer phyſiſchen Exiſtenz laͤßt
ſich nur wenig abdingen, waͤhrend andere
gar nicht von uns abhaͤngen; und beym
Ueberſchlag ſeiner Lebensjahre hat man
auch im gluͤcklichſten Fall kaum die Haͤlfte
des Lebens gelebt: wenn leben nichts an-
ders heißt, als wirken, ſich ſeines Daſeyns
empfindend, denkend und handelnd be-
wußt werden.
Eine der mancherley Bedingungen un-
ſers phyſiſchen Daſeyns iſt koͤrperliche Be-
wegung. Zwar iſt ſie nicht unmittelbare
Bedingung des Lebens, wie Nahrung und
Schlaf: wiewohl voͤlliger Mangel an Be-
wegung, waͤre es auch nur an innerer Be-
wegung durch das Spiel der Lebenskraͤfte,
dem Tode ſelbſt gleich kaͤme. Allein, wenn
Koͤrperbewegung auch nicht unmittelbar
Bedingung des Lebens iſt, und niemand
deshalb ſofort ſtirbt, wenn er auch z. B.
Jahre lang im Gefaͤngniß ſitzt: ſo iſt ſie
es doch mittelbar. Sie iſt unerlaßlich zur
C 2
koͤrperlichen Geſundheit, zum phyſiſchen
Wohlſeyn.
Doch nicht nur das koͤrperliche Wohl-
ſeyn haͤngt von Koͤrperbewegung mit ab:
auch das geiſtige Wohlbefinden beruht dar-
auf, vermoͤge des wechſelſeitigen Einfluſſes
zwiſchen Koͤrper und Geiſt. Wie manche
Chimaͤren in der gelehrten Welt, wie
manche kloͤſterliche Einrichtung, die dem
geſunden Verſtande Hohn ſprach, hatten
vielleicht im Maͤngel an Koͤrperbewegung
ihren Grund. Geſetzt aber auch, Man-
gel an Koͤrperbewegung und ſtetes Einath-
men dumpfer, verſchloßner Stubenluft er-
ſtickt nicht ſofort den geſunden Verſtand:
ſo erzeugt es doch, auch bey voͤlligem Ge-
brauch der Vernunft, einen ſiechen Geiſt.
Jn beyderley Hinſicht, in Abſicht auf
Koͤrper und Geiſt, iſt Koͤrperbewegung
ein nothwendiges Erforderniß der koͤrper-
lich-geiſtigen Geſundheit: aber ſie ſelbſt
iſt nur mechaniſcher, nicht geiſtiger Art.
An ſich iſt ſie mit keiner vernuͤnftigen Thaͤ-
tigkeit verbunden, iſt ſie fuͤr das unmittel-
bare geiſtige Leben Nichts, iſt nur phyſiſch
abhaͤngigen Weſen ein nothwendiges Huͤlfs-
mittel, die phyſiſchen Kraͤfte zur Friſtung
des menſchlichen Daſeyns im Spiel zu er-
halten: aber ſie ſelbſt erfuͤllt keinen geiſti-
gen Zweck. Sie kaͤme alſo in Abſicht ih-
res Werthes mit dem Schlaf, deſſen wir
auch nicht entbehren koͤnnen, deſſen ver-
laͤngerte Dauer aber auch baarer Verluſt
fuͤr unſer eigentliches Leben iſt, in eine
Klaſſe zu ſtehn. Haͤtte Spatzierengehn
nur dieſen eingeſchraͤnkten Werth, ginge
der Geiſt dabey ganz leer aus: dann waͤre
die naͤhere Betrachtung einer ſolchen me-
chaniſchen Bewegung ganz uͤberfluͤßig und
als phyſiſche Effect, der dem Geiſte kei-
nen Spielraum gaͤbe, auf das Leben ohne
allen praktiſchen Einfluß. Allein das Luſt-
wandeln iſt keineswegs bloß koͤrperlich, und
es laͤßt ſich ſein geiſtiger Werth ſehr wohl
retten.
Zweytes Kapitel.
Das Spatzierengehn iſt nicht bloße Bewegung
des Koͤrpers.
Luſtwandeln iſt nicht bloß phyſiſche Bewe-
gung des Koͤrpers, wobey der Geiſt ganz
unthaͤtig waͤre. Es verloͤre allen ſeinen
Reitz, wenn man ſich den Luſtwandler nur
als eine ſich bewegende Maſchine daͤchte,
deren Geiſt ſich, waͤhrend der Bewegung
des Koͤrpers, zur Ruhe begeben haͤtte.
Kein gemeiner Menſch, der ſeinen Geiſt
nicht kultivirt, fuͤhrt das Beduͤrfniß
darnach, und es wuͤrde ihm zur Laſt.
Der Grund davon iſt ſehr klar. Um von
den Reitzen des Luſtwandelns geruͤhrt zu
werden und ein Geiſtesbeduͤrfniß darnach
zu gewinnen, bedarf man eines Grades
von Bildung, eines Kreiſes von Jdeen,
die nicht jedermann beſitzt; und ſehr na-
tuͤrlich kann daher ein gemeiner Tagloͤhner
nicht das angenehme Vergnuͤgen eines
Spatzierganges empfinden. Jn dieſe
Klaſſe gehoͤrt aber auch der ganze Haufe
unempfindlicher Menſchen, deren Geiſt
nichts in Bewegung ſetzt noch ruͤhrt, und
die dasjenige nur mechaniſch thun, was
bey gebildeten Menſchen ein geiſtiges Be-
duͤrfniß erzeugt.
Welches iſt nun aber die Rolle, die
der Geiſt, der Natur gemaͤß, beym Luſt-
wandeln ſpielt? und welche Sphaͤre des
Geiſtes fuͤllt das Luſtwandeln ſelbſt aus?
Die Aufgabe hierbey iſt: geiſtige Thaͤ-
tigkeit mit koͤrperlicher zu verbinden, ein
bloß mechaniſches Geſchaͤft (des Gehens)
zu einem geiſtigen zu erheben. Allein das
erſchoͤpft ſie noch nicht. Koͤrperliche Be-
wegung ſoll fuͤr den Geiſt Erholung, fuͤr
den Koͤrper Befoͤrderungsmittel der Ge-
ſundheit ſeyn. Jede anſtrengende Geiſtes-
beſchaͤftigung wuͤrde dieſen doppelten Zweck
vereiteln. Deshalb iſt methodiſches und
ſtrenges Denken dem Luſtwandeln fremd.
Fuͤr den Geiſt waͤre es nicht Erholung,
ſondern neue Anſtrengung, ſo wie ein ſol-
ches Denken durch die doppelte, phyſiſche
und geiſtige Bewegung den Koͤrper ermat-
tet, nicht ſtaͤrkt. Ueberdieß muͤßte der
Geiſt beym Luſtwandeln den Stoff und
die Gegenſtaͤnde ſeiner unangeſtrengten
Thaͤtigkeit in dem Kreiſe des Luſtwandelns
ſelbſt finden. Nur dann naͤhme es eine
eigene Sphaͤre des Geiſtes und der Bil-
dung ein.
Spatziergaͤnge ſind nicht zu Verfol-
gung metaphyſiſcher oder phyſiſcher Unter-
ſuchungen, zur Aufloͤſung mathematiſcher
Probleme, zur Wiederholung der Ge-
ſchichte; kurz nicht zur Meditation be-
ſtimmt. Selbſt das ſchlaue, raffinirte
Beobachten der Menſchen auf Spatziergaͤn-
gen waͤre eben ſo ſehr gegen den Zweck des
Luſtwandelns, als geſpannte Beobachtung
der Natur.
Jn dem Kreiſe des Luſtwandelns muß
die Aufmerkſamkeit des Geiſtes nicht ge-
ſpannt; ſie muß mehr ein angenehmes
Spiel als Ernſt ſeyn. Sie muß uͤber den
Gegenſtaͤnden nur gleichſam leicht ſchwe-
ben, muß von den aͤußern Gegenſtaͤnden
mehr angeregt, als von dem Geiſte ihnen
aufgedrungen werden. Mit offener Em-
pfaͤnglichkeit muß der Geiſt die Eindruͤcke
der ihn umgebenden Dinge mehr ruhig
aufnehmen, als leidenſchaftlich ſich uͤber
etwas erhitzen, muß ſich mit heiterer Be-
ſonnenheit ihrem Strom mehr willig uͤber-
laſſen, als mit zu ſtark zuruͤckwirkender
Selbſtthaͤtigkeit, in ſeine eigenen Jdeen
verloren, ſich ihnen entziehn.
Eine ſolche Geiſtesthaͤtigkeit befoͤrdert
die koͤrperliche Geſundheit, bewirkt die
Erholung des Geiſtes von angeſtrengtern
Arbeiten, und erhaͤlt zugleich deſſen Kraͤfte
durch eine angenehme und leichte Beſchaͤf-
tigung wach, ohne einen Zuſtand der un-
terbrochenen geiſtigen Exiſtenz eintreten zu
laſſen.
Auch wird der Geiſt durch eine ſolche
Thaͤtigkeit nicht bloß beſchaͤftigt, gereitzt,
oder, wenn der bildliche Ausdruck erlaubt
iſt, angenehm geruͤttelt: er wird auf eine
weſentlich eigene Art, von weſentlichen
Seiten dadurch gebildet. Freylich erhaͤlt
er dadurch nicht ſeine hoͤchſten Grundſaͤtze,
ſeine edelſten Ueberzeugungen, ſeine nur
durch Anſtrengung und Muͤhe zu erwer-
bende intellektuelle und moraliſche Voll-
kommenheit: aber er tritt dadurch
in unmittelbare Gemeinſchaft,
mit Natur und Menſchheit,
welche die zarteſten Saiten ſei-
nes Weſens beruͤhrt. Jhre leiſe
Sprache zu verſtehen und ſich die rein-
ſten Freuden dadurch zu bereiten: dazu
hat die Natur dieſe anſtrengungsloſe,
durch nichts anders zu erſetzende Geiſtes-
thaͤtigkeit des luſtwandelnden Menſchen
beſtimmt.
Drittes Kapitel.
Gegenſtaͤnde des Luſtwandelns im All-
gemeinen.
Natur und Menſchheit, erſtere in ih-
ren mannigfaltigſten Scenen, letztere in
ihrer heiterſten Geſtalt, ſind der Schau-
platz und die Gegenſtaͤnde des Luſtwand-
lers. Und in der That: kann es wohl
fuͤr den Menſchen etwas wichtigeres geben,
als Natur und Menſchheit? Wer den
reinſten Begriff von Menſchheit und Na-
tur haͤtte, und in ſeinem Buſen bewahrte,
waͤre unſtreitig der gehaltvolleſte Menſch.
Man kann dem Luſtwandeln keinen hoͤhern
Rang anweiſen, als daß man es fuͤr die-
ſen großen Begriff hoͤchſt erſprießlich zeigt.
Bleiben wir zufoͤrderſt bey der Natur
ſtehn, ſo iſt es mehr die mannigfaltige und
ſchoͤne, als die einfoͤrmige und reitzleere
Natur des mit keinem Pflanzenreich uͤber-
kleideten Erdreichs, welche den Geiſt beym
Luſtwandeln auf mannigfaltige Weiſe har-
moniſch ſtimmt, und ihm eine Menge
der gemuͤthlichſten Erſcheinungen zufuͤhrt.
Selbſt hohe, aber nackte Felſen bewirken
einen mehr graͤßlichen, mehr zuruͤckſtoßen-
den, als einen erhabenen und anziehen-
den Eindruck. Nur die vegetabiliſche
Welt des Pflanzenreichs enthuͤllt die leiſe-
ſten und verſchiedenſten Schattirungen der
Natur. Wie todt, wie ohne alle Em-
pfindung muͤßte der Menſch ſeyn, der —
geſetzt es waͤre der Fall — ſeine Tage in
einer duͤrren Haide verlebte!
An Orten, welche in einer ſchoͤnen Ge-
gend liegen, worin Berg und Thal ab-
wechſeln, die mit Wieſe, Fluß und Wald
und mit allen Reitzen der Natur ausgeſtat-
tet iſt, wird der Geiſt des Luſtwandeln-
den uͤberall angezogen, und findet zu ſei-
nen Betrachtungen den mannigfaltigſten,
ſo wie den reitzendſten Stoff. Jn einer
ſolchen Gegend gewinnen ſogar Erſcheinun-
gen den hoͤchſten Reitz, welche auch das
empfaͤnglichſte Gemuͤth in einer duͤrren
Haide oder auf dem platten Lande unge-
ruͤhrt ließen. Das große Schauſpiel der
aufgehenden Sonne gewaͤhrt nur in einer
intereſſanten Gegend, auf hohen Bergen
einen ſo bezaubernden Anblick. Allmaͤh-
liger Uebergang von Nacht zu Tag findet
bey aufgehender Sonne nur da Statt, wo
es auf den Gipfeln der Berge zuerſt tagt,
waͤhrend es tiefer nur noch daͤmmert, und
das Thal gar noch in Dunkel eingehuͤllt
liegt. Jndeß hat die Natur auch in ei-
ner bergloſen Gegend, bey Wieſe und
Wald mit abwechſelnden lachenden Fluren,
noch hohen Reitz. Nur da, wo ihr auch
dieß fehlt, und bloßes einfoͤrmiges Land
den Blick ermuͤdet, den es nirgends feſthaͤlt,
erſcheint ſie ganz arm: und hier iſt der
luſtwandelnde Menſch — ſofern er das
noch ſeyn kann — ganz auf ſich ſelbſt ein-
geſchraͤnkt.
D
Nur muͤßte das Jntereſſe, das der
Luſtwandler an der Natur nimmt, kein
intellektuelles Jntereſſe ſeyn. Ein
ſolches ginge uͤber den bloßen Eindruck der
Dinge, ginge uͤber ihre reitzende Ober-
flaͤche hinaus und verwandelte das freye
Spiel der Vorſtellkraͤfte, wobey nur Er-
holung Statt faͤnde, in ein ernſtes, den
Geiſt anſtrengendes, ſo wie den Koͤrper er-
mattendes Geſchaͤft. Jhre volle reine
Wirkung zur Erheiterung des Geiſtes, ſo
wie zur treuen Aufnahme, zur vertrauten
Kenntniß ihrer Erſcheinungen, thut die Na-
tur nur in der fuͤr das Luſtwandeln einzig
guͤnſtigen Verfaſſung unſers Jnnern, wo
man ſich mit unbefangener Seele, aber
darum nicht bloß leidend, ihren Eindruͤcken
uͤberlaͤßt. Man darf wohl zweifeln, ob ein
Naturkundiger, der ſich gewoͤhnt hat,
die Naturdinge in ihre Beſtandtheile zu
zerlegen, und in Klaſſen zu ordnen, das
reine Jntereſſe des, dem bloßen Anblick
derſelben hingegebenen, unbefangenen Be-
trachters an der Natur zu nehmen ver-
mag. Jndeß waͤre das Jntereſſe, das
jemanden zur Betrachtung des wunderba-
ren Baues, ſo wie der ſchoͤnen Geſtalt eines
Jnſekts hinzoͤge, keineswegs bloß intellek-
tuell. Nicht der bloße Verſtand waͤre da-
bey beſchaͤftigt, und die, nicht bloß kalter
Neugier froͤhnende Betrachtung bliebe bey
dem aͤußern Eindruck ſtehn. Eines ſolchen
Jntereſſes an der Natur noch faͤhig zu
ſeyn, bewieſe bey dem Naturforſcher fuͤr
ſeine bewahrte Menſchheit.
D 2
Viertes Kapitel.
Jntereſſe des Geiſtes und Bedingungen beym
Luſtwandeln.
Eigentlich muͤßte das Jntereſſe des Luſt-
wandlers an der Natur das aͤſthetiſche
ſeyn. Nur bey der aͤſthetiſchen Anſicht der
Natur findet ein freyes Spiel der Ge-
muͤthskraͤfte Statt: nur ſie kann fuͤr die Be-
kanntſchaft mit der Natur, mit der Man-
nigfaltigkeit ihrer Erſcheinungen auf ihrer
reitzenden Oberflaͤche wuchern. Sie wird
auch das moraliſche Jntereſſe an der Na-
tur mittelbar, durch die Eindruͤcke ih-
rer erhabenen und ruͤhrenden Scenen be-
foͤrdern: anſtatt daß die Thaͤtigkeit des
Geiſtes, wenn die Betrachtung von rein-
intellektuellem und moraliſchem Jntereſſe
ausginge, aus dem fuͤr den Zweck des
Luſtwandelns ſo noͤthigen freyen Spiel der
Gemuͤthskraͤfte in ein ernſtes Geſchaͤft
uͤberginge.
Aeſthetiſch muͤßte aber auch das Jn-
tereſſe des Luſtwandlers an der Menſchheit
ſeyn: wenn aͤſthetiſch jede freye Beſchaͤfti-
gung der Gemuͤthskraͤfte genannt zu wer-
den verdient, wo die ganze Thaͤtigkeit auf
einem ergoͤtzenden Jdeenſpiele beruht. Es
giebt Menſchen, welche eines ſolchen Jn-
tereſſe's an der Menſchheit kaum faͤhig zu
ſeyn ſcheinen: welche das bunte Gewuͤhl
einer froͤhlichen, auf Spatziergaͤnge ſich
ergießenden Menge nicht leicht betrachten
koͤnnen, ohne ſogleich von dem gefallenden
Eindruck glaͤnzender Geſtalten, woran ſich
der Gemeinſinn eines unbefangenen Ge-
muͤths haͤlt, ſich in moraliſche und intel-
lektuelle Betrachtungen uͤber Luxus, Ver-
fall der Sitten, Fortſchritte der Kultur
zu verlieren. Bey wem dieß herrſchende
Stimmung iſt, der duͤrfte auch des Luſt-
wandelns im Kreiſe der Menſchheit kaum
faͤhig ſeyn: er wird nicht Stoff in ihrer
Mitte finden, ſein krankes Gemuͤth zu er-
heitern; er verſtimmt ſich nur noch mehr.
Dieß war gewiſſermaßen ein Fehler Rous-
ſeaus, und daher erklaͤrt ſich ſein zu ein-
ſeitiger Umgang mit der Natur. Man
darf nur auf eine ſolche einſeitige Richtung
des Gemuͤths aufmerkſam gemacht ſeyn,
um ſich, durch Verſetzung in beyderley La-
gen mit dem Beſtreben nach Unbefangen-
heit des Gemuͤths, davor zu verwahren.
Von Seiten des Luſtwandelnden be-
darf das Spatzierengehn, als innerer
Bedingung, der Unbefangenheit des
Gemuͤths. Es laͤßt ſich nicht mit ſorgenvol-
lem Gemuͤth oder bekuͤmmerter Seele luſt-
wandeln, und man muß ſich ſeiner Sor-
gen und ſeines Kummers entſchlagen koͤn-
nen, um des erquickenden und wohlthaͤti-
gen Eindrucks eines Spatziergangs theil-
haftig zu werden. Allein das iſt noch
nicht genug, um von einem Spatziergange
wirklich einen ſolchen Eindruck zu erhalten.
Es bedarf dazu auch aͤußerer Bedin-
gungen von Seiten des Orts, die
nicht in der Gewalt des Luſtwandlers
ſtehn. Sie finden ſich aber nur in einer
groͤßern, volkreichen Stadt. Hier, wo
ſich nicht jedermann, wie in einer kleinen
Stadt kennt, wirken die Menſchen nur
durch ihren Anblick auf einander als Men-
ſchen, nicht als dieſer oder jener beſondere
Menſch, mithin die ganze Menge der
Spatzierenden nicht als bloßer Bekannt-
ſchaftskreis. Dieß laͤßt dem Gemuͤthe
ſeine Freyheit; und nur da kann man ſich
auf einem oͤffentlichen Spatziergange ſo
zerſtreut und erheitert fuͤhlen, wie in kei-
ner kleinen Stadt. Beym Anblick von
Menſchen, die wir kennen, bleiben wir
nie ſtehn: unſere Gedanken nehmen ſo-
gleich eine andere Richtung, und zwar
eine Richtung nach innen; wir erinnern
uns ſofort ihres Standes, ihrer Den-
kungsart, ihrer Verbindungen, ihres naͤ-
hern oder entferntern Verhaͤltniſſes zu
uns. Jn einer groͤßern Stadt koͤnnen
die wenigſten ſich begegnenden Spatzier-
gaͤnger Bekannte ſeyn.
Unter die aͤußern Bedingungen des
Luſtwandelns, die nicht bloß von dem
Orte ſeines Aufenthaltes abhaͤngen, muß
man auch die zaͤhlen, daß der Luſtwan-
delnde ſich durch nichts ſonſt in ſeiner
Freyheit beſchraͤnkt fuͤhle. So waͤre
eine Verbindlichkeit, an einem gewiſſen
Orte, zu einer beſtimmten Zeit, in einer
nicht ſelbſtgewaͤhlten Geſellſchaft, oder
gar unter Aufſicht zu luſtwandeln, et-
was das ſich ſelbſt widerſpricht. Spatzie-
rengehn iſt ein freyes Vergnuͤgen und be-
ſteht mit keinem Zwang. Das ange-
nehmſte, was es fuͤr den freyen Men-
ſchen giebt, — und das ſind Spatzier-
gaͤnge doch gewiß — wird unter gefeſſel-
ten Verhaͤltniſſen eine wahre Laſt. Ver-
haͤltniſſe, die jede freye Bewegung mechani-
ſchen Regeln und ſklaviſchem Zwange unter-
werfen, verhindern, zumahl in den fuͤr
die Bildung ſo wichtigen Jugendjahren,
die freye Entwickelung eigner Menſchheit
und erzeugen die Unfaͤhigkeit zu einem
vernuͤnftigen Selbſtgebrauch der Frey-
heit. — Schon ungebetene Geſellſchafter
auf Spatziergaͤngen verſetzen jemanden in
die Lage des Horaz, dem ſich, in der hei-
ligen Straße, auch der Gelehrten einer
zum Geſellſchafter aufdrang. Eben ſo
wenig wuͤrde derjenige mit voͤllig freyer
Seele ſpatzieren gehn, welcher auf ſeinem
Spatziergange gewiſſen Perſonen zu be-
gegnen fuͤrchtete, deren unangenehmen
Anblick er zu vermeiden wuͤnſchte; und
das Luſtwandeln im Freyen wuͤrde ſeine
Reitze verlieren, wenn Furcht (zum Bey-
ſpiel vor Raͤubern oder wuͤthenden Thie-
ren) den Eindruck des Vergnuͤgens
ſchwaͤcht. Deshalb bedarf es zuvoͤrderſt
der innern und aͤußern Bedingungen des
Luſtwandelns, um im Kreiſe der einla-
dendſten Gegenſtaͤnde des Spatzierengehns
wirklich zu luſtwandeln, und nur, wenn
dieſe unerlaßlichen Bedingungen Statt
finden, koͤnnen die Gegenſtaͤnde des Luſt-
wandelns — die beſuchteſte Promenade,
die ſchoͤnſte Naturgegend, der heiterſte
Tag — mit aller ihrer Staͤrke auf das
Gemuͤth des Luſtwandlers wirken.
Jſt nun die Bedingung der innern
und aͤußern Freyheit beym Luſtwandeln
unter Menſchen vorhanden: ſo zerſtreut
und erheitert ſchon der bloße Anblick von
Menſchen das Gemuͤth. Es iſt naͤmlich
eine Eigenheit unſerer Natur, uns nur,
abgeſondert von Menſchen, in der freyen
Natur oder auf unſerm Zimmer, einſam
zu fuͤhlen. Sobald wir in der tiefſten
Einſamkeit, welche die Gegenwart keiner
andern Gattung von Geſchoͤpfen unter-
bricht, auch nur einen Menſchen erblicken,
empfinden wir uns nicht mehr einſam.
Wie freuet es den einſamen Reiſenden,
auf einen Menſchen zu treffen! Und ein
ſolcher Anblick von Menſchen iſt ihm
nicht bloß ſeiner Sicherheit wegen
lieb. — Dieſe zerſtreuende Wirkung
wird durch den Anblick mehrerer Men-
ſchen verſtaͤrkt; und ſie wird es durch den
Anblick froher luſtwandelnder Menſchen,
die ſich ihrer Sorgen entſchlagen haben
und ſich angenehm unterhalten, Um ſich auf oͤffentlichen Spatziergaͤngen
durch den Anblick von Menſchen ange-
nehm zerſtreut (nicht bloß aus ſeiner
Einſamkeit, und wohl gar auf eine wi-
drige Art, geriſſen) zu fuͤhlen: darf
man ſie nicht in Geſchaͤften, und noch
weniger mißvergnuͤgt ſehn. Es wuͤrde ge-
wiß nichts weniger als eine bloß ange-
nehm zerſtreuende Wirkung thun, wenn
man in den Alleen die Ausſicht auf die noch
ungleich mehr.
Sehr wahr ſchildert ein beliebter
Dichter den Einfluß, den der Anblick
von Menſchen, aber nicht bloß auf den
Hypochondriſten aͤußert.
Der Zaͤnker mit ſich ſelbſt, der zum
Skelet ſich denket,
Manch Traumbuch uͤber ſich befragt,
Unſchluͤßig was er wuͤnſcht, unwiſſend
was ihn kraͤnket,
Arbeitstiſche, Comptoire, Toiletten der
Stadt haͤtte. Nicht minder gewiß iſt,
daß fremdes Mißvergnuͤgen anſteckt oder
doch den Frohſinn ſchwaͤcht. Schon ein
gleichguͤltiges Geſicht wirkt auf das Ge-
muͤth nicht vortheilhaft, wenn es daſſelbe
auch nicht ſofort verſtimmt. Nun ent-
binden aber oͤffentliche Spatziergaͤnge die
Menſchen von ihren Geſchaͤften und la-
den ſie zum Vergnuͤgen ein: und ſolche
verfehlen deshalb auch nicht ihren erhei-
ternden Eindruck.
Und ungewiß was ihm behagt —
Der ſuche Menſchen auf! Jn ihren
Kreis verſchlungen,
Hat oft ein fliegend Wort, das im
Tumult der Zungen
Gleich einem Blitz voruͤber faͤhrt,
Des Herzens Labyrinth durchdrungen,
Und ſeine Tiefen aufgeklaͤrt. Thuͤmmels Reiſe in die mittaͤgli-
chen Prov. v. Frankreich Th. I. S. 73.
Fuͤnftes Kapitel.
Nothwendigkeit des gleichmaͤßiger Luſtwan-
delns in der Natur und auf oͤffentlichen
Promenaden.
Beyde Arten von Luſtwandeln, im
Freyen der Natur und auf oͤffentlichen
Spatziergaͤngen einer Stadt, erfuͤllen den
Zweck des Luſtwandelns; nur erfuͤllt ihn
jede nicht ganz. Es muͤſſen beyde mit
einander verbunden werden, wenn das
Luſtwandeln alle die Vortheile gewaͤhren
ſoll, welche ſich davon fuͤr unſere geiſtige
Exiſtenz verſprechen laſſen. Wer ſtets
nur auf oͤffentlichen Spatziergaͤngen luſt-
wandelte, wuͤrde wenig Sinn fuͤr die
Natur verrathen, und derjenige muͤßte
die Vortheile der Geſellſchaft fuͤr allſeitige
Bildung wenig zu ſchaͤtzen wiſſen, wel-
cher, im einſamen Umgange mit der Na-
tur, alle oͤffentlichen Spatziergaͤnge gefliſ-
ſentlich miede.
Sowohl der gehaltleere Geck, der auf
allen oͤffentlichen Promenaden erſcheint,
den man aber nie im Freyen der Natur
erblickt, als der duͤſtere Kopf, der nur
immer das Dunkel der Waͤlder oder das
freye Feld zu gewinnen ſucht, wo er hof-
fen darf, daß ihm Niemand in den
Wurf komme, zieht von dem Luſtwandeln
einen ſehr einſeitigen Vortheil. Erſterer
C
wird bey ſeinem Luſtwandeln ſchwerlich
ein anderes Jntereſſe, als das der Eitel-
keit kennen, ſo wie letzterer die Unbefan-
genheit des Gemuͤths, die dazu erforder-
lich iſt, ein unintereſſirtes Wohlgefallen
an Menſchen zu empfinden, endlich
ganz verliert.
Legt man ſich nun die Frage vor,
welches Verhaͤltniß zwiſchen beyderley Ar-
ten von Spatziergaͤngen Statt finden muͤſſe:
ſo darf man, um ſie ſich zu beantworten,
nur auf Zweck und Wirkung einer jeden
von ihnen zuruͤckgehn.
Spatzierengehn ins Freye unterhaͤlt
die Bekanntſchaft mit der Natur. Der
Staͤdter iſt leicht in Gefahr, den Sinn
fuͤr die Natur zu verlieren, und er muß
dieſer Gefahr durch Spatzierengehn ins
Freye von Zeit zu Zeit vorbeugen. Staͤd-
tiſche Verhaͤltniſſe engen uͤberdieß den
Geiſt, der ſich ihnen nie entzieht, endlich
ganz ein; man muß deshalb durch erha-
bene Eindruͤcke der Natur ſeinen Geiſt bis-
weilen erheben und erweitern. Die gro-
ßen und freyen Anſichten der Natur ent-
feſſeln von den kleinlichen Verhaͤltniſſen
des ſtaͤdtiſchen Zwanges.
Es leuchtet von ſelbſt ein, daß der
Geiſt einer ſolchen Erhebung nicht ſo haͤu-
fig als der Zerſtreuung von Geſchaͤften be-
darf. Eine ſolche baldige Zerſtreuung
und Erholung bewirkt ſchon ein kurzer
Spatziergang auf einer oͤffentlichen, mit
E 2
Menſchen bedeckten Wandelbahn. Auch
wuͤrden die großen Eindruͤcke der Natur
gar bald ihre Kraft auf unſer Gemuͤth ver-
lieren, wenn man immer unter ihnen
lebte. Um ſich Sinn fuͤr die Natur zu
erhalten, ſeinen Geiſt zuweilen durch ihre
großen erhabenen Verhaͤltniſſe zu erwei-
tern, unternimmt man am beſten von
Zeit zu Zeit eine Reiſe in eine Gegend,
welche große und erhabene Gegenſtaͤnde
der Natur darbeut; und ſie muͤßte eigent-
lich zu Fuß gemacht werden, muͤßte ein
wirkliches Luſtwandeln, nicht ein beſchwer-
liches Reiſen ſeyn, um ſich vollen Genuß
davon zu verſprechen. Aber zu den ge-
woͤhnlichen Spatziergaͤngen ins Freye be-
darf es nicht der großen Natur. Sie
fordert die Thaͤtigkeit des Geiſtes zu ſtark
auf, als daß man ſich ihr immer naͤhern
moͤchte. Wer wuͤrde gern ſtets unter
Alpen luſtwandeln?
Jm Allgemeinen naͤhert ſich das Luſt-
wandeln im Freyen mehr der Einſamkeit,
ſo wie das Spatzierengehn auf beſuchten
Spatziergaͤngen einer volkreichen Stadt
den Charakter des geſelligen Lebens an-
nimmt. Man braucht im Freyen nicht
gerade allein zu gehn, und kann doch
mehr einſam ſeyn, als auf einem oͤffentli-
chen Spatziergang. Die wenigen Spa-
tziergaͤnger in einer Flur ſind zu ſehr zer-
ſtreut, als daß ſie ſich in ihren Gefuͤhlen
ſo nahe, als auf einem eng umſchraͤnkten
Spatziergange, beruͤhren koͤnnten. Auch
duͤrfen ſie dieß nicht; denn ſonſt wuͤrde
der Zweck des Spatzierengehns im Freyen,
der ruhigen unbefangenen Betrachtung der
Natur, durch den zerſtreuenden Anblick
von Menſchen verloren gehn.
Sechstes Kapitel.
Einfluß des einſamen Spatzierengehns im
Freyen auf Entwickelung des eigenen
Geiſtes.
Ob man gleich im Freyen der Natur,
um den Zweck des Luſtwandelns im Freyen
zu erfuͤllen, nicht allein zu gehn braucht
und man ſehr gut mit einem gleichge-
ſtimmten Geſellſchafter in einem ruhigen
Geſpraͤch von leidenſchaftloſem Charakter
uͤber Gegenſtaͤnde des allgemeinen Men-
ſchenlebens, der Literatur, oder uͤber oͤf-
fentliche Ereigniſſe waͤhrend des Spatzie-
rengehens im Freyen begriffen ſeyn kann,
ohne die Eindruͤcke der Natur auf das Ge-
muͤth zu verlieren: ſo muß doch derjenige,
der nicht der bloße Wiederhall aͤußerer Ein-
druͤcke ſeyn will, der vielmehr aus inne-
rem Triebe ein Beduͤrfniß fuͤhlt, auch ſei-
nem eigenen Genius ſich zu uͤberlaſſen und
mit ſich ſelbſt zu leben, bisweilen einſam
luſtwandeln. Wer gar kein ſolches Be-
duͤrfniß empfande, waͤre ein gemeiner, ge-
haltloſer Menſch. Die eigene Natur,
die eigenen Gedanken eines Menſchen ent-
wickeln ſich nur in Stunden, wo er, von
fremden Geiſtern unberuͤhrt, ſeinen Geiſt
ſich ſelbſt wiedergiebt. Kaum gewinnt
man, bey dem beſten Willen, dazu eine an-
dere Zeit, als die des Spatzierengehns.
Nur zu ſelten kommt der Geiſt bey unſe-
rer ſo ſehr verwickelten Kultur, unſerer
ſo ſehr erweiterten Literatur und Geſellig-
keit zu ſich ſelbſt; waͤre es auch nur, die
fremden Eindruͤcke durch innere ruhige
Selbſtbearbeitung in ſein Eigenthum zu
verwandeln! Luſtwandeln im Freyen, wo
die Naturgegenſtaͤnde die Thaͤtigkeit des
Geiſtes ſanft anregen und ſie durch ihren
Wechſel in einem angenehmen Spiel er-
halten, befoͤrdert den Umgang mit ſich
ungemein, und zwar ohne die Peinlich-
keit, die mit dem Selbſtumgange auf dem
Zimmer fuͤr die Laͤnge verknuͤpft waͤre.
Einſames Spatzierengehn im Freyen
der Natur von Zeit zu Zeit, in der Ab-
ſicht, ſich ſelbſt zuweilen von den zerſtreuen-
den Eindruͤcken der Geſellſchaft und Lite-
ratur zuruͤckgegeben zu werden, waͤre frey-
lich nicht der unmittelbare Zweck des Luſt-
wandelns in der Natur: aber dieſer leidet
auch nicht dadurch. Das wuͤrde nur dann
der Fall ſeyn, wenn man ſich bey einem
ſolchen Luſtwandeln in der Natur ſo ganz
in ſich ſelbſt verſenkte oder verloͤre, daß
auch alle Eindruͤcke, aller Genuß der Na-
tur fuͤr das Gemuͤth verloren gingen.
Allein da die Art der Geiſtesthaͤtigkeit
beym Spatzierengehn immer leicht und an-
ſtrengungslos ſeyn muß, um ihren Zweck
zu erfuͤllen: ſo iſt dieß einſame Spatzie-
rengehn auch nur von einem freyen
Selbſtumgange zu verſtehn. Nur da
wird ſich auch der Geiſt auf Wirkun-
gen uͤberraſchen, die er ſich nicht abnoͤ-
thigen laſſen wuͤrde.
Ganz auf dieſelbe Art, wie bey einem
freyen Selbſtumgang in der Natur ver-
haͤlt man ſich beym eigentlichen Zwecke des
Spatzierengehns im Freyen, wo man mit
unbefangenem Gemuͤth ſich bloß den Ein-
druͤcken von den Erſcheinungen der Natur
uͤberlaͤßt. Auch da ſteht der Geiſt mit
der Natur noch in Wechſelwirkung, beruͤhrt
ſie nicht unmittelbar, ſondern nur mittel-
bar durch die Art ſeiner geiſtigen Exiſtenz,
ſeiner Stimmung, ſeiner Jdeen und Ge-
fuͤhle, die er, nur jeder in einem eigenen
Maaß, zum Anblick derſelben mitbringt.
Denn bloßes, blindes Anſchauen der Na-
tur wuͤrde ohne damit verknuͤpfte Gefuͤhle
und Jdeen, wodurch die Betrachtung
derſelben erſt Sinn und Bedeutung erhaͤlt
und deren mannigfaltigeres Spiel bey ei-
nem groͤßern Reichthum des Geiſtes und
Herzens den Genuß erhoͤht, nur ein dum-
pfes Traͤumen, aber kein Luſtwandeln
ſeyn. Nur bleibt die Betrachtung und
der Genuß der Natur auch beym einſamen
Spatzierengehn im Freyen immer Haupt-
zweck, weil nur da der Eindruck der Na-
tur uͤberwiegt, weil nur da die Seele de-
ren wandelbare Erſcheinungen im Flug
ergreift. Wenn jemand immer nur ſich
in der Natur ſaͤhe oder ſie bloß zur Folie
brauchte, ſeine eigenen, von ihr unabhaͤn-
gigen Jdeen zu verfolgen; koͤnnte er dieß
auch auf ſeinem Zimmer thun. Sie ſelbſt
ſpraͤche dann nicht mehr zu ſeinem Geiſt
und Herzen, und er faßte nicht mit Liebe
ihr Bild treu auf. Auch dazu bedarf
man, beym Luſtwandeln im Freyen, bis-
weilen der Einſamkeit. Wer nicht von
Zeit zu Zeit das Beduͤrfniß des einſamen,
unbefangenen Umgangs mit der Natur
fuͤhlt, der iſt nur ein gemeiner Menſch,
bey dem ſeine innerſte Natur nicht zur
Zeitigung kam.
Es iſt doch gewiß ein ſehr treues
Bild von den Erſcheinungen der Natur
im Freyen, welches Goͤthe in folgen-
der Stelle des Werther davon ent-
wirft. Um die Natur ſo treu wie hier
Goͤthe oder Thomſon in ſeinen
Jahrszeiten zu mahlen, muß man die-
ſelbe aus eigener Anſchauung und einſa-
mer Selbſtbetrachtung kennen, worin ſich
ihr Bild der Seele nur ſo beſtimmt ein-
praͤgt, und wovon auch das Gemaͤhlde
des vaterlaͤndiſchen Dichters, wie die
Jahrszeiten des Britten, offenbar zeugt:
„Wenn ich vom Felſen uͤber den
Fluß bis zu jenen Huͤgeln das fruchtbare
Thal uͤberſchaute, und alles um mich her
keimen und quellen ſah; wenn ich jene
Berge, vom Fuß bis zum Gipfel, mit
hohen dichten Baͤumen bekleidet, jene
Thaͤler in ihren mannigfaltigen Kruͤm-
mungen von den lieblichſten Waͤldern be-
ſchattet ſah, und der ſanfte Fluß zwiſchen
den lispelnden Roͤhren dahin gleitete und
die lieben Wolken abſpiegelte, die der
ſanfte Abendwind am Himmel heruͤber
wiegte; wenn ich dann die Voͤgel um
mich den Wald beleben hoͤrte, und die
Millionen Muͤckenſchwaͤrme im letzten ro-
then Strahle der Sonne muthig tanzten,
und ihr letzter zuckender Blick den ſum-
menden Kaͤfer aus ſeinem Graſe befreyte;
und das Schwirren und Weben um mich
her mich auf den Boden aufmerkſam
machte, und das Moos, das meinem har-
ten Felſen ſeine Nahrung abzwingt, und
das Geniſte, das den duͤrren Sand-
huͤgel hinunter waͤchſt, mir das innere,
gluͤhende, heilige Leben der Natur er-
oͤffnete: wie faßte ich das alles in
mein warmes Herz, fuͤhlte mich in der
uͤberfließenden Fuͤlle wie vergoͤttert, und
die herrlichen Geſtalten der unendlichen
Welt bewegten ſich allbelebend in meiner
Seele.“
Man wuͤrde ſich ſehr irren, wenn
man aus bloßen Beſchreibungen, ſelbſt
aus der ſchoͤnſten Schilderung, wie die
gegenwaͤrtige, die vollen geſchilderten Na-
tureindruͤcke zu erhalten glaubte!
Siebentes Kapitel.
Oeffentliche Promenaden auf Alleen.
Das ſchicklichſte Lokal dafuͤr.
Unter die weſentlichen Beduͤrfniſſe des
geſelligen Lebens gehoͤren unſtreitig die oͤf-
fentlichen Spatziergaͤnge einer Stadt.
Wo in Staͤdten von einigem Umfang und
Wohlſtand fuͤr dieſen unentbehrlichen Theil
des allgemeinen Vergnuͤgens nicht geſorgt
waͤre, haͤtte die Civiliſation ſehr geringe
Fortſchritte gethan. An einem Orte, wo
die Menſchen in groͤßerer Menge auf ei-
nem Raum zuſammen wohnen; welcher
F
nicht, wenigſtens nicht in groͤßern Staͤd-
ten Haͤuſer mit Gaͤrten in ſich ſchließt, wo
man ſich uͤberdieß bey gewecktem Beduͤrfniß
der Geſelligkeit durch das Zuſammenwir-
ken mehrerer Menſchen und Menſchenklas-
ſen auf einander, nach anſtrengenden Ar-
beiten innerhalb der Wohnungen, nicht
mit der einſamen Natur begnuͤgt, mit
der nicht jeder zu ſprechen weiß und nicht
jeder, der dieß wuͤßte, immer nur ſie —
und ſie weniger in Stunden der Erholung,
als wenn man ſich nicht ſo abgeſpannt
fuͤhlt — zu ſprechen wuͤnſcht: da kann die
Sorge fuͤr das Luſtwandeln nicht bloß der
Natur uͤberlaſſen bleiben. Schwerlich
faͤnden da, wo dieß der Fall waͤre, die
Menſchen zu ihren Spatziergaͤngen einen
gemeinſchaftlichen Vereinigungspunkt und
die Art von gegenſeitiger freyer Einwir-
kung derſelben auf einem ſolchen haͤtte da
gar nicht ſtatt. Da, wo es an Spatziergaͤn-
gen fehlt, worauf man ſich auf die leich-
teſte Art, durch den Anblick luſtwandeln-
der Menſchen, zerſtreuen koͤnnte, fehlt es
an dem unentbehrlichſten Beduͤrfniß einer
gebildeten Stadt.
Auch iſt das Beduͤrfniß nach Spatzier-
gaͤngen ſelbſt in kleinern Staͤdten nicht ganz
unbefriedigt geblieben; und freylich kann
es oft nicht in einem ausgezeichnetern
Grade befriedigt werden, weil der Anle-
gung zweckmaͤßiger Spatziergaͤnge Natur,
Lokal, und geſellſchaftliche Verhaͤltniſſe
entgegenſtehn. Aber im Allgemeinen
duͤrfte der Mangel zweckmaͤßig angelegter
F 2
Spatziergaͤnge, den man haͤufig noch druͤ-
ckend genug fuͤhlt, ſeinen Grund darin
haben, daß man noch ſelbſt auf einer zu
niedrigen Stufe der Kultur ſteht, welche
das Beduͤrfniß darnach nicht erregt. Es
giebt Staͤdte, wo die wirklich angenehmen
Spatziergaͤnge nur ſelten und von aͤußerſt
wenigen Luſtwandlern beſucht werden,
ohne daß die Bewohner derſelben etwa
ein zu reger Sinn fuͤr die Natur ins
Freye riefe. Wo das geiſtleere Vergnuͤ-
gen am Kartenſpiel allen Sinn fuͤr die ed-
lern, gehaltvollern Vergnuͤgungen der
Natur und Geſelligkeit erſtickt: darf man
ſich da noch der Kultur ruͤhmen? Leipzig,
das ſo viele Huͤlfsmittel der Kultur in ſich
vereinigt, bewaͤhrt ſeine Kultur auch da-
durch, daß es in gleichem Sinn der Hu-
manitaͤt, der deſſen ſchoͤne Alleen ins Da-
ſeyn rief, das auf ihnen durch Luſtwan-
deln moͤgliche Vergnuͤgen in vollem Maaße
genießt und gewaͤhrt.
Am zweckmaͤßigſten befinden ſich die
Spatziergaͤnge eines Orts ſogleich unmit-
telbar vor den Thoren der Stadt, wo ſie
ſich um dieſelbe herumziehn. Entferntere
Spatziergaͤnge, die nicht um die Stadt
herumliefen, wuͤrden zur Folge haben,
daß man das Vergnuͤgen des Spatzieren-
gehns auf einer mit Menſchen bedeckten
Wandelbahn erſt weit ſuchen muͤßte. Das
machte ſolche Spatziergaͤnge unbequem,
ermuͤdend; und ſchwerlich waͤren ſie mit
Menſchen bedeckt. Von welchem Punkt
einer bequem gelegenen, gebauten und
umgraͤnzten Stadt man dagegen auch aus-
geht: immer befindet man ſich ſogleich
auf den oͤffentlichen Spatziergaͤngen und
in erheiternder Geſellſchaft. Große Staͤdte
ſind wegen ihres ungeheuern Umfangs
eben ſo wenig, als kleine Staͤdte wegen
des Mangels an Jntereſſe und innerer
Freyheit, welche die zu genaue Bekannt-
ſchaft der Bewohner derſelben unter ſich
nicht gewinnen laͤßt, dazu geſchickt, das
Vergnuͤgen oͤffentlicher Spatziergaͤnge in
vollem Maaße zu gewaͤhren. Pflanzt man
auch Alleen innerhalb der großen Stadt,
ſo gewaͤhren ſie doch — geſetzt auch, der
Mittelpunkt der Stadt waͤre fuͤr ſie be-
ſtimmt, und alle Hauptſtraßen liefen dar-
auf aus — keineswegs alle Bequemlichkeit
und allen Vortheil von den Alleen einer
maͤßig großen, damit umſchloſſenen Stadt.
Naͤhert ſich letztere der Muſterform fuͤr
eine (bequem gebaute) Stadt und bildet
ſie ein voͤlliges oder laͤnglichtes Rund: ſo
fuͤllen ſich ihre Alleen von allen Seiten auf
die leichteſte Art mit Luſtwandlern, die ſie
eben ſo leicht und bald ihren Wohnungen
wiedergeben, ſo wie Geſchaͤfte ſie davon
abrufen oder ſie das Beduͤrfniß nach Ruhe
empfinden; ſie wandeln in ſtets andern
und andern Richtungen, wo ſich nach aus-
waͤrts der Blick ins Weite oͤffnet, ohne
ſich von dem gemeinſchaftlichen Mittel-
punkt ihres Aufenthalts zu entfernen; ſie
bewegen ſich nicht ſtets vor einander auf
und ab, ohne daß es doch fuͤr jemanden
unmoͤglich wuͤrde, mit Perſonen, die er
auf der Allee weiß, wieder zuſammen zu
treffen, ſobald er die entgegengeſetzte Rich-
tung nimmt, welches nicht ſo leicht der
Fall ſeyn koͤnnte, wenn ſich die Stadt in
lange Schweife hier und da hinauszoͤge,
wo auch das Wohlverhaͤltniß zwiſchen der
Zeit wegfiele, welche dazu gehoͤrte, die
Runde um eine ſolche unfoͤrmliche Stadt
zu machen, und zwiſchen derjenigen,
welche das Beduͤrfniß der Luſtwandelnden
erheiſcht.
Selbſt die ſanfte Abſchuͤſſigkeit ei-
ner Stadt wuͤrde durch ihre hoͤher und
niedriger gelegenen Theile von verſchie-
denen Seiten, ohne daß ſie doch eigent-
lich an einen Berg ſich anlehnte und
dadurch das Luſtwandeln um ihren Um-
kreis verleidete, wo nicht unmoͤglich
machte, das Vergnuͤgen der Spatzier-
gaͤnger erhoͤhn. Leipzig enthaͤlt fuͤr ſeine Alleen, abge-
rechnet nach außen Ausſichten ins Weite,
alle Bedingungen eines ſolchen Lokals.
Achtes Kapitel.
Oeffentliche Promenaden auf Alleen.
Eindruck davon.
Beym Luſtwandeln in ſchoͤn bepflanzten Al-
leen einer, fuͤr den Zweck des geſelligen Spa-
tzierengehns ganz geeigneten Stadt, wirkt
die Natur auf das Gemuͤth nicht bloß als
Natur. Man nimmt da an ihr nicht be-
ſonders oder gar, wie im Freyen, einzig
Antheil. Vielmehr dient ſie den Luſt-
wandlern nur als Folie, um die Gemuͤ-
ther derſelben durch den ſanften Reitz ihres
erquickenden Gruͤns, das in immer an-
dern und andern Geſtalten der verſchiede-
nen Gewaͤchſe und Blaͤtter auf die man-
nigfaltigſte Weiſe anzieht, mehr fuͤr Ge-
ſelligkeit zu beleben. Jm Winter entbehrt die luſtwandelnde
Welt dieſes belebenden Reitzes und das
Spatzierengehn iſt da mehr phyſiſcher
als geiſtiger Art. Sie iſt der gruͤne
Grund, der das Gemaͤhlde der luſtwan-
delnden Welt hebt.
Alleen zum Luſtwandeln vor den
Thoren einer Stadt vereinigen demnach
den doppelten Eindruck der Natur und
Menſchheit; aber auf eine eigene Art ge-
miſcht. Die Natur erſcheint durch den
ſchnellen Uebergang zu ihren freyen Ver-
haͤltniſſen von dem Schauplatz menſchli-
cher Kuͤnſtlichkeit, der dem Gemuͤthe auf
den Promenaden in beſtaͤndigem Anblick
der Stadt noch immer gegenwaͤrtig bleibt,
in Kontraſt mit der Kunſt. Wenigſtens
iſt dieß der dunkele, freylich oft unempfun-
dene oder unbeachtete Eindruck, den ein
ſo ſchneller Wechſel und ein ſo nahes Be-
ruͤhren von Natur und Kunſt im Anblick
einer Stadt und des ſie umgebenden Na-
turparks ſeiner Natur nach macht und den
nur die Gewohnheit, beyde ſtets da bey-
ſammen zu ſehn, endlich verwiſcht. Aber
ſelbſt bey demjenigen, der, mit ausgebil-
detem Geiſte, den Eindruck beyder in die-
ſer Naͤhe zum erſten Mahle an ſich erfuͤhre,
muͤßte ſich dieſer Gegenſatz, auf der Pro-
menade, in den reinen Eindruck des Luſt-
wandelns auf einem oͤffentlichen Spatzier-
gange aufloͤſen; er muͤßte denn ein
verſtimmter Grillenfaͤnger wie Rouſſeau
ſeyn, der den Anklang eines erſten auffal-
lenden Gefuͤhls ſelbſt unter tauſenderley
Veranlaſſungen zur Freude nicht verwinden
koͤnnte.
Jener reine Eindruck des Luſtwan-
delns auf einer oͤffentlichen Promenade
aͤußert ſich nun durch ein unintereſſirtes
Wohlgefallen an Menſchen, ihrem Seyn
und Thun: der Anblick des Frohſinns,
der guten Laune, des heitern Scherzens,
des geſchmackvollen Anzugs, der angeneh-
men Haltung des Koͤrpers der ſchoͤnen
Welt, des wechſelnden Spiels der Geſtal-
ten, des ganzen regen Lebens und bunten
Menſchengewuͤhls; alles, ſelbſt die Pos-
ſierlichkeit eines naiven Kindes ſpricht den
Luſtwandelnden gemuͤthlich an und beſchaͤf-
tigt ohne allen Zwang deſſen geſelligen
Sinn. Je beſuchter und lebenvoller die-
ſer die oͤffentlichen Spatziergaͤnge findet:
deſto mehr fuͤhlt er ſich ſelbſt erheitert und
zerſtreut.
Nur muͤßte der Luſtwandler, um ſich
nicht ſelbſt auf den beſuchteſten Alleen noch
einſam zu fuͤhlen, nicht ganz allein gehn;
muͤßte in Geſellſchaft, die durch angenehme
Unterhaltung ſich gegenſeitig leicht beſchaͤf-
tigte, ohne die Eindruͤcke der ſie umgeben-
den Welt zu verlieren, die voͤllige Frey-
heit des Gemuͤths und den vollen Genuß
des Luſtwandelns gewinnen. Unterhal-
tung mit andern beſchaͤftigt den Geiſt durch
den Wechſel der Jdeen Mehrerer, die ſie
fuͤhren, und durch das gegenſeitige Jn-
tereſſe der Perſonen dabey weit freyer, als
wenn man nur ſelbſt Jdeen verfolgt, wo-
bey man nur zu leicht vom Eindruck der
Dinge weggleitet und ſich nur zu leicht
in eine davon unabhaͤngige Jdeenreihe
verliert.
So wie beym Spatzierengehn im
Freyen, ſelbſt wenn man nicht allein geht,
der Eindruck der Natur uͤberwiegt: ſo
wird man dagegen bey genauerer Aufmerk-
ſamkeit auf ſeine Gefuͤhle finden, daß waͤh-
rend des, ſelbſt einſamen Spatzierengehns
auf Alleen um eine Stadt die Jdee des
geſelligen Lebens, ſchon durch den Ein-
druck des Lokals in den Empfindungen der
Seele vorſticht. Nur wird man beym
einſamen Spatzierengehn in den Alleen ei-
ner Stadt weit mehr als in Geſellſchaft
veranlaßt, der Natur eine ungetheiltere
Aufmerkſamkeit zu widmen. Jn ſolchen
Augenblicken entdeckt man Anſichten, die
man ſonſt uͤberſah, macht man Bemer-
kungen uͤber dieſen oder jenen Eindruck,
der ſonſt verloren ging.
Faßt man den Charakter des Luſtwan-
delns auf oͤffentlichen Promenaden einer
Stadt, der Natur der Sache gemaͤß,
als den Eindruck eines geſelligen Luſtwan-
delns unter ſchoͤnen Anlagen von Scenen
und Parthien der Natur: ſo wird man
es ſich leicht erklaͤren koͤnnen, daß Frauen-
zimmer dieſe geſelligen Promenaden ſo
ſehr lieben. Das weibliche Geſchlecht lebt
weit lieber, als in der Natur, in der ge-
ſelligen Welt. Die Natur naͤhert ſich der
Einſamkeit; und die Einſamkeit iſt dem
zweyten Geſchlecht viel zu duͤſter und
furchtbar, als daß es ſie lange zu ertra-
gen vermoͤchte. Hoͤchſtens in Momenten
der Liebe, die ihrer Natur nach die Ein-
ſamkeit ſucht, findet man Frauenzimmer
— am Arm des Geliebten oder eines ge-
liebten Freundes in der Natur. Aber wo
die Natur dem weiblichen Geſchlecht mit
Geſellſchaft gepaart erſcheint, wie auf oͤf-
fentlichen Promenaden einer Stadt —
ſeyen es nun Alleen, die ſich um die Stadt
ziehn, oder Gaͤrten oder ein nahgelege-
ner Waldgang, wo die geſellige Welt zu
luſtwandeln pflegt — da iſt ſie ihm
willkommen.
G
Neuntes Kapitel.
Luſtgaͤrten.
Gaͤrten von einigem Umfang in der Naͤhe
einer groͤßern Stadt muͤſſen ganz anders
beurtheilt werden, als die Gaͤrten einer
kleinern Stadt. Letztere, wenn ſie ſoge-
nannte Luſtgaͤrten ſind, findet man mehr
fuͤr den Nutzen, als fuͤr das unmittelbare
Vergnuͤgen berechnet: Kuͤchengewaͤchſe,
Weingelaͤnder, Blumenbeete, auf einen
engen Raum zuſammengedraͤngt, machen
da mit Einſchluß einer gruͤnen Hecke, die
den Garten umgraͤnzt, die ganze Ausſtat-
tung der Natur aus; und ſie befriedigen
ſchon einigermaßen den Naturſinn. Der
groͤßte Vortheil dabey iſt, daß der Garten
ſeinem Beſitzer ſogleich zu Gebot ſteht,
ohne daß er befuͤrchten muͤßte, in ſeinem
Privatumgange mit der Natur geſtoͤrt zu
werden.
Jn groͤßern Staͤdten findet man nicht
nur Gaͤrten von groͤßerm Umfang; ſie
machen auch einen ganz andern Eindruck.
Schon ihre Geraͤumigkeit giebt dem Geiſte
mehr Freyheit und Spielraum: man
braucht darin nicht einſam zu ſeyn,
um ſich immer noch frey und ungenirt zu
fuͤhlen. Was darin noch fuͤr den bloßen
Nutzen berechnet ſcheinen koͤnnte, wie
Beete mit Kuͤchengewaͤchſen, wie Frucht-
G 2
baͤume, welche hier und da ſtehn, be-
merkt man da kaum; die Hand der ge-
ſchaͤftigen Kunſt wird durch die große und
freye Natur, welche darin waltet, Man darf nur in Erinnerung bringen,
daß jetzt in Schriften nur noch von Gaͤr-
ten nach freyern engliſchen Anlagen die
Rede ſeyn kann. in
den Gefuͤhlen der Luſtwandler verdraͤngt.
Gaͤrten dieſer Art ſind Luſtgaͤrten im ei-
gentlichſten Sinn.
Jſt der in dieſem Geſchmack angelegte
Garten oͤffentlich und wird er von der ge-
ſelligen Welt zu beſtimmten Zeiten be-
ſucht — in welchem Fall es zum guten
Ton gehoͤren wuͤrde, ſich da einzufinden, —
ſo waͤre das Vergnuͤgen des Luſtwandelns
darin ein geſellſchaftlicher Genuß der Na-
tur. Man naͤhme an der Natur zwar
keinen beſondern Antheil, aber man er-
hielte doch von ihr den allgemeinen Ein-
druck, den der Garten auf die Luſtwan-
delnden machte. Dieſer wuͤrde aber mehr
ſchauerlich ſeyn, als in den Alleen der
Stadt. Es waͤre da, zumahl in heißen
Sommertagen, wo ein bewaͤſſerter und
kuͤhler Garten zum Spatzierengehn ſehr
willkommen ſeyn muͤßte, eine ſolche
Gewohnheit der geſelligen Welt fuͤr das
Vergnuͤgen wahrer Gewinn. Schade,
daß es in vielen Staͤdten keinen eigentli-
chen oͤffentlichen Garten giebt.
Mehr einſam wuͤrde das Vergnuͤgen
des Spatzierengehns in einem Privatgar-
ten ſeyn. Denn wenn es auch andern als
den Perſonen von der Familie des Be-
ſitzers erlaubt waͤre, darin zu luſtwandeln,
ſo wuͤrde ſich doch nicht die geſellige Welt
zu regelmaͤßigen Spatziergaͤngen dahin
ziehn. Behielte ſich vollends der Beſitzer
des Gartens den Genuß deſſelben aus-
ſchließlich vor: ſo herrſchte da in Stun-
den, wo er keine Geſellſchaft bey ſich ſaͤhe,
eine noch tiefere Einſamkeit. Es laͤßt ſich
gar wohl denken, wie jemand, der mit
Sinn fuͤr die Natur begabt iſt, in der
Naͤhe der Stadt einen Zufluchtsort zu der
ungekuͤnſtelten Natur fuͤr ſich zu beſitzen
wuͤnſcht, wohin er ſich aus den Feſſeln
der großen Welt leicht retten kann. Um
ſo mehr Achtung verdient deſſen Huma-
nitaͤt, wenn er, mit dieſem Sinn fuͤr
die Natur, das Vergnuͤgen ſeines Gar-
tens mit der uͤbrigen Welt theilt.
Konzertmuſik in Gaͤrten macht das ge-
ſellſchaftliche Luſtwandeln darin mehr an-
genehm und zerſtreuend, ob ſie gleich als
Kunſt dadurch verliert. Allein ſie iſt auch
da, wo nicht, wie in einem zweckmaͤßig
gebauten Saal, die vollen Toͤne das Ohr
der Zuhoͤrer erreichen, ſondern in die weite
Luft verhallen und die Zuhoͤrer, durch die
Eindruͤcke der Natur und Geſellſchaft zer-
ſtreut, ihr keine ungetheilte Aufmerkſam-
keit widmen, nur fuͤr die Zerſtreuung und
Erhoͤhung des geſellſchaftlichen Vergnuͤ-
gens, nicht fuͤr die Bildung des Kunſt-
ſinns berechnet. Vorzuͤglich wenn man
in einiger Entfernung von den Muſikern
luſtwandelt, macht die Muſik auf den
Spatziergaͤngen in Gaͤrten, zumahl wenn
es ein Konzert mit Blasinſtrumenten iſt,
einen ſehr guten Eindruck.
Und doch hoͤrt man Muſik in Gaͤrten
nur in Geſellſchaft der da verſammelten
geſelligen Welt noch gern. Floͤtenſpielern,
die man auf einem einſamen Spatziergange
im Vorbeygehn bey einem Gartenhauſe
ohne Anſtoß hoͤrte, wuͤrde man in offenen
Gaͤrten noch immer ein Konzert von
Spatzen vorziehn. Die angenehme Empfindung, mit der
man im Freyen — z. B. in ſuͤdlichen
Laͤndern, wie Jtalien, am Abhang eines
Huͤgels oder am Meer — einen Floͤten-
ſpieler hoͤrt, hat einen andern Grund.
Sie haͤngt zuſammen mit Jdeen einer
idealiſchen (idylliſchen) Welt, wo der
Ein ſtark bewohnter Garten in der
Naͤhe der Stadt zeigt dem Luſtwandler,
wenn auch nur im Anblick der Gartenhaͤu-
ſer, eine Art von laͤndlicher Welt. Man
findet da, mit Ausnahme der Arbeiten,
Geraͤthſchaften, des Zuchtviehs, kurz der
ganzen Lebensweiſe des Landmanns, alles
Reitzende der Natur vereinigt. Um je-
doch die voͤllige Ueberzeugung hervorzu-
bringen, er befinde ſich, geborgen aus den
zwangvollen Verhaͤltniſſen der Stadt, auf
dem Lande, muͤßte der Staͤdter ſelbſt auf
dem Lande wohnen. Jn dieſer Hinſicht
haͤtten die laͤndlichen Spatziergaͤnge deſſel-
ben, wo jeder Blick auf die laͤndlichen Ar-
beiten, Werkzeuge, kurz auf die ganze
Menſch, bey einem mildern Himmel,
unmittelbar in der offenen Natur lebt.
Lebensweiſe des Landmanns, das Bewußt-
ſeyn des laͤndlichen, von ſtaͤdtiſchen Ver-
haͤltniſſen unberuͤhrten Lebens in ihm un-
terhielte, noch einen eigenen Reitz. Es
iſt eigentlich nicht das Landleben fuͤr ſich
(denn kein Staͤdter wuͤrde ſeinen Stand
mit dem Stande des Landmanns vertau-
ſchen wollen), ſondern der Zuſammen-
hang deſſelben mit der bloßen Natur und
der in ihm ſich darſtellende Abſtich von
den Verhaͤltniſſen der Stadt, was dem
Leben und den Spatziergaͤngen des Staͤd-
ters auf dem Lande ſo große Annehmlich-
keiten verleiht.
Große Gaͤrten, die eine geraͤumige
Flaͤche von Stunden und Meilen einneh-
men, laſſen ſich nicht bloß als einer Stadt
einverleibte, von einander geſchiedene Na-
turparthien zur Befriedigung des Natur-
ſinns in den Graͤnzen der Stadt und Kunſt
betrachten. Man muß ſie als verſchoͤnerte
Landſchaften anſehn. Die Jdee ei-
nes Gartens bringt es ſchon mit ſich, daß
der Eindruck deſſelben, bey aller Freyheit
der darin waltenden Natur, auf ſein Da-
ſeyn — durch und fuͤr Menſchen fuͤhrt.
Dieſer Eindruck wird durch zweckmaͤßig an-
gebrachte Gebaͤude, Statuͤen, Bruͤcken, Lau-
ben, Nieſchen, Huͤtten, Ruhebaͤnke, Sitze
bewirkt. Aber ſie muͤſſen immer in einem
untergeordneten Verhaͤltniß zur Natur blei-
ben, und dieſe muß in der groͤßten Man-
nigfaltigkeit erſcheinen, ohne daß dem
Luſtwandler ſein Vergnuͤgen durch eine
vorgeſchriebene Ordnung ſeiner Prome-
naden, ſklaviſch zugemeſſen wuͤrde. Alle
dieſe Bedingungen erfuͤllt der beruͤhmte
Garten von Woͤrlitz.
Zehntes Kapitel.
Spatzieren- Gehn- Reiten- und Fahren.
Reiten und Fahren zum Vergnuͤgen,
nicht aus Beduͤrfniß, gehoͤren in die allge-
meine Klaſſe des Gewinns, den der Geiſt
von der Bewegung des Koͤrpers zieht,
und ſie machen nur beſondere Arten deſſel-
ben aus. Jm Allgemeinen beſteht der
Unterſchied zwiſchen Spatzierengehn und
Spatzierenreiten ſo wie Spatzierenfahren
nur darin, daß die Bewegung des Koͤr-
pers beym Spatzierengehn durchaus
Selbſtbewegung ohne ein erborgtes Huͤlfs-
mittel iſt, das Spatzierenreiten und Spa-
tzierenfahren dagegen durch ein ſolches
Surrogat die Koͤrperbewegung groͤßten-
theils oder gaͤnzlich leidend macht. Aus
dieſer Verſchiedenheit ergiebt ſich die ver-
ſchiedene Art, wie ſich der Geiſt bey jeder
ſolchen Bewegung verhaͤlt.
Spatzierengehn iſt die natuͤrlichſte Art
des Luſtwandelns, weil ſie ganz von uns
ſelbſt abhaͤngt und uns ganz uns ſelbſt
uͤberlaͤßt. Wir befinden uns beym Spatzie-
rengehn in voͤlliger Freyheit, mit aller
Ruhe des Gemuͤths die Gegenſtaͤnde nach
Belieben zu betrachten; wir koͤnnen die
Bewegung des Koͤrpers dem Beduͤrfniß
des Geiſtes ganz gemaͤß einrichten, und
mit unſerer Betrachtung, wenn es dar-
auf ankommt, uns eine augenblickliche
Umſicht zu verſchaffen, durch eine leichte
Wendung des Koͤrpers den ganzen Hori-
zont umfaſſen; wir koͤnnen, ohne alle Un-
terbrechung unſerer Aufmerkſamkeit auf ei-
nen beachteten Gegenſtand, ſofort ſtill-
ſtehn oder gehn, ſo wie es das Beduͤrfniß
unſers Geiſtes mit ſich bringt.
Beym Spatzierenreiten ſo wie beym
Spatzierenfahren hat der Geiſt nicht dieſe
ganze volle Freyheit, ſich eben ſo leicht
und behend nach allen Richtungen hin von
der ihn umgebenden Welt zu unterrichten;
es ſind Spatzierreitenden ſo wie Spatzier-
fahrenden ſogar viele Gegenſtaͤnde der Be-
trachtung unzugaͤnglich, die dem Spa-
tziergaͤnger das hoͤchſte Vergnuͤgen gewaͤh-
ren. Die Ausſicht auf einem Berge, der
nur erſtiegen werden kann, das Luſtwan-
deln auf deſſen Ruͤcken, wohin nur Fuß-
gaͤnger gelangen, ſo wie der volle ruhige
Genuß der Ausſicht, ſind etwas, das ſich
durch keine Spatzierfahrt, durch keinen
Spatzierritt verſchaffen laͤßt.
Dagegen ſind dem Spatzierenfahren,
ſo wie dem Spatzierenreiten wieder Vorzuͤge
anderer Art eigen. Zuerſt ermuͤdet man bey
dem Spatzierenreiten und Spatzierenfah-
ren nicht ſo leicht, als wenn man zu Fuße
geht. Es verdient deshalb eine Spatzier-
fahrt oder ein Spatzierritt von mehr als
einer Meile vor dem Spatzierengehn offen-
bar den Vorzug. Ein zweyter Vorzug
des Spatzierenreitens und Spatzierenfah-
rens vor dem Spatzierengehn iſt der, daß
man uͤber unanmuthige und genußloſe
Strecken und Gegenden in der moͤglichſt
kurzen Zeit ohne alle Unbequemlichkeit nur
auf einem Spatzierritt oder einer Spatzier-
fahrt gelangen kann.
Erwaͤgt man dasjenige, was dem
Spatzierreiten, in Abſicht auf geiſtigen
Werth, eigen iſt: ſo theilt die rege Be-
wegung auf einem belebten Thier den Ge-
genſtaͤnden, die man erblickt, ſelbſt Be-
wegung und Leben mit und belebt dadurch
den Geiſt. Jn der hoͤhern Stellung,
worin ſich der Reitende auf ſeinem Roß
befindet, uͤberſchaut er leichter einen be-
H
ſtimmten Kreis Aus dieſem Grunde laͤßt es ſich zwiſchen
hohen wallenden Saaten, die man zu
Fuße nicht uͤberſchauen kann, mit weit
mehr Vergnuͤgen ſpatzieren reiten, als
gehn. auch kann er ſich
ſchneller als zu Fuß in die Naͤhe der Ge-
genſtaͤnde verſetzen, welche ſeine Aufmerk-
ſamkeit auf ſich ziehn. Ueberdieß fuͤhlt
man ſich zu Pferd — was beym Spatzie-
renfahren nicht der Fall iſt, wo man ſich
hoͤchſtens nur vorwaͤrts frey fuͤhlt — von
keinen, wenn auch zum Theil eingebilde-
ten, die freye Bewegung des Koͤrpers
nicht beſchraͤnkenden, Schranken beengt.
Luſtfahrten haben vor dem Spatzier-
reiten den Vorzug groͤßerer Geſelligkeit.
Unmoͤglich koͤnnen Spatzierreitende ſo
leicht und zwanglos ſich unterhalten, als
zwey zuſammen fahrende Perſonen,
welche ohne alle Unbequemlichkeit dieſelbe
Chaiſe faßt. Auch giebt die ganz leidende
und leichte Bewegung, die beym Spa-
tzierenfahren Statt findet, anſtatt daß
das Spatzierenreiten noch immer mit ei-
nem Grad von ſelbſtthaͤtigem Kraftaufwand
verknuͤpft iſt, dem Geiſte mehr Freyheit
und Luſt, ſich mitzutheilen, ſo wie die
noch immer mit Bewegung verknuͤpfte
Ruhe des Koͤrpers zur Folge hat, daß
der Geiſt die Eindruͤcke der Dinge mit
deſto groͤßerer Empfaͤnglichkeit aufnimmt.
Nur muͤßte man, um das Spatzie-
renfahren nicht zu einer bloß mechaniſchen
Bewegung des Koͤrpers herabzuwuͤrdigen,
H 2
bey Spatzierfahrten nicht allzuweit und
nicht anders, als in offenen Chaiſen fah-
ren. Neſter von ganzen Kutſchen ſind
bloße Werkzeuge des phyſiſchen Beduͤrf-
niſſes, um gegen Staub, Regen und un-
freundliche Witterung zu ſchuͤtzen (und da
giebt es keine Luſtfahrt) und zum Spa-
tzierenfahren gegen allen geſunden Ge-
ſchmack. Schlimmer als die Kaͤfige ein-
geſperrter Thiere, welche ihnen doch die
verſchloßne Welt noch ſehen laſſen, brin-
gen ſolche Kerker eines menſchlichen
Vergnuͤgens ihre Gefangnen ſogar um
den Anblick der Welt.
Auch Waͤgen mit Ruͤckſitzen ſind bloße
Werkzeuge des Beduͤrfniſſes, erwecken,
bey aller Pracht, die Jdee von Aermlich-
keit und thun der Freyheit des Vergnuͤ-
gens Abbruch. Es kann hier nicht von dem intereſſirten
Vergnuͤgen, wobey man ſich gerne vis à
vis ſieht, die Rede ſeyn. Fuͤr den Ruͤckſitzenden
iſt die Bewegung ſowohl ein phyſiſcher als
geiſtiger Krebsgang. Abgeſehn davon,
daß viele Perſonen eine Bewegung der
Art nicht vertragen koͤnnen, erſtickt eine
ſolche Lage in den ſo zuſammengeſchichteten
Perſonen jedes freye Gefuͤhl, ſo wie die
ruͤckwaͤrts Sitzenden, denen die gerade
Ausſicht ins Freye ohnehin benommen
waͤre, auch den vorwaͤrts Sitzenden die
freye Ausſicht rauben.
Zu Waſſer ſind Spatzierfahrten ſchon
ihrer Natur nach von jedem ſolchen
Zwange frey. Die Geſelligkeit beguͤnſti-
gen ſie in vollem Maaß. Sie ſind bey
der ſchwebenden ſanften Bewegung, in
offenen Fahrzeugen, wo man die Ausſicht
auf die ganze umliegende Natur hat, un-
gemein angenehm. Nur muß der Fluß
nicht zu breit ſeyn, (oder man muͤßte
nicht tief vom Ufer hinein auf ihm fahren
— wo man aber doch nur von einer Seite
die Ausſicht auf das nahe Land haͤtte —)
um von beyden Seiten der vollen Ausſicht
aufs Land zu genießen.
Eilftes Kapitel.
Uebergang zur beſondern Betrachtung der
Spatziergaͤnge im Freyen.
Jeder gebildete Menſch, der mit regem
Sinn fuͤr die Natur, den Beytrag nicht
verkennt, den ſie zur allſeitigen Ausbil-
dung ſeiner ganzen Menſchheit leiſtet, muß
unter ihren veredelnden Einfluͤſſen leben.
Es iſt nicht genug, daß man in Beſchrei-
bungen von der Natur vieles leſe, um ihr
Einfluß auf ſich zu verſchaffen: Beſchrei-
bungen geben nicht die Sache ſelbſt, und
Kenntniß der Natur aus Buͤchern iſt nur
eine todte Kenntniß, wie die bloße Kennt-
niß derſelben aus dem Naturalienkabinet.
Zeichnungen und Beſchreibungen fremder
Naturprodukte, die man in Natur nicht
zu ſehen bekommen kann, haben ihren
nicht zu verkennenden Werth: aber wer
wollte alle Gegenſtaͤnde der Natur bloß
aus Abbildungen und Beſchreibungen ken-
nen lernen? Wer wollte die ganze Natur,
die vorzuͤglich durch den Geſammteindruck
ihrer Erſcheinungen auf das Gemuͤth ſo
maͤchtig und bezaubernd wirkt, in iſolirten
todten Naturprodukten, wie ſie die Na-
turgeſchichte liefert, ſich kaͤrglich zueinzeln
laſſen? Selbſt Landſchaftgemaͤhlde wirken
in der Kunſt ganz anders, als ihre Ge-
genſtaͤnde in der Natur. Es iſt ein großer Fehler, daß man Kin-
der Naturgeſchichte nicht in und aus der
Unter den Einfluͤſſen der Natur leben,
heißt aber nicht gerade auf dem Lande
wohnen. Der Landmann lebt in der Na-
tur, wandelt ſtets unter ihren Erſcheinun-
gen, und empfindet doch am wenigſten
fuͤr ſie. Stumpft auch deſſen Lebensart
ſeine Gefuͤhle ab: ſo wuͤrde doch auch je-
der, der ſtets auf dem Lande lebte, ohne
daß er deshalb das Gewerbe des Oekono-
men triebe, endlich unempfindlich fuͤr
die Natur werden. Gewohnheit benimmt
jeder Sache ihren Reitz. Nur wer ab-
wechſelnd auf dem Lande und in der Stadt
lebt, erhaͤlt ſich den Sinn fuͤr die Natur,
Natur ſelbſt lernen laͤßt. Man darf ſich gar
nicht wundern, daß verdorbene Zoͤglinge
der Naturgeſchichte kein Jntereſſe an der
Natur nehmen.
ohne ihre Eindruͤcke zu ſchwaͤchen; und
bleibt im Zuſammenhange mit der gebilde-
ten Welt, in deren Verhaͤltniſſen nur,
ſelbſt ein ſo reges Beduͤrfniß fuͤr die Na-
tur erwacht.
Wie man immer ſich fortbilden, mit
fortleſen muß, um in dem Zuſammen-
hange der Kultur und Literatur zu bleiben:
ſo muß der Freund der Natur immer mit
ihr fortleben, um ſich nicht von ihr zu
entfremden. Die Natur iſt nicht allein
ſo mannigfaltig und wandelbar, daß ſie
uͤberall anders erſcheint, und auf demſel-
ben Schauplatz ihre Erſcheinungen wech-
ſelt: der menſchliche Geiſt bedarf auch,
um ein waches Jntereſſe fuͤr die Natur
ſich zu erhalten, der ſteten Belebung ſei-
nes Sinnes fuͤr die Natur. Der Sinn
fuͤr die Natur will durch Umgang mit ihr
wie die Freundſchaft ſtets in Uebung er-
halten ſeyn, ohne welche das Gefuͤhl fuͤr
Freundſchaft ſo wie fuͤr die Natur, auch
in der gefuͤhlvollſten Bruſt, endlich ganz
erliſcht. Sie, die Natur, gleicht einem
Schauſpiel, das aus mehrern Acten,
und jeder Act aus noch mehrern Scenen
beſteht. Haͤtte wohl ein Zuſchauer das
Ganze gefaßt, der nur bey einzelnen Sce-
nen gegenwaͤrtig waͤre, und in dieſen wohl
gar, unaufmerkſam, die Zeit verplau-
derte? Selbſt derjenige, der, um der
Natur naͤher zu ſeyn, in der ſchoͤnen Jah-
reszeit auf dem Lande wohnte, haͤtte ſich
durch ſeinen laͤndlichen Aufenthalt nur Ge-
legenheit verſchafft, naͤhern Umgang mit der
Natur zu pflegen. Bey der bloßen Gele-
genheit muͤßte er es aber nicht bleiben las-
ſen, um von ſich ſagen zu koͤnnen, er lebe
unter den Einfluͤſſen der Natur.
Oeftere Spatziergaͤnge im Freyen er-
halten den Sinn fuͤr die Natur und geben
ihr auf das Gemuͤth wohlthaͤtigen Einfluß.
Jeder nicht unedle Menſch fuͤhlt ſich im
Freyen reiner und menſchlicher geſtimmt.
Alles Gute ſeiner Natur entfaltet ſich da.
Empfindungen, die jemand in Verhaͤlt-
niſſen der Stadt und Geſellſchaft aus
Wohlſtand in ſeinem Jnnern verſchloß
oder deren er ſich daſelbſt nicht bewußt
war, erwachen und uͤberraſchen ihn mit
aller ihrer Wahrheit und urſpruͤnglichen
Lauterkeit in der Natur. Wohlwollen,
Herzlichkeit, Offenheit nehmen im Freyen
die erweiterte Bruſt ein; die Menſchheit,
die hier nicht auf den großen Schauplaͤtzen
des Neids, der Verfolgung, der Selbſt-
ſucht auftritt, erſcheint im Spiegel der
Natur in einem reinern Lichte. Ein un-
entarteter Menſch wird ſich wie beklommen
fuͤhlen, wenn er einige Zeit nicht ins
Freye kam.
Zweytens unterhalten oͤftere Spatzier-
gaͤnge im Freyen die Bekanntſchaft mit
der Natur. Wie ſo gar nicht ſind viele
Staͤdter mit der Natur bekannt! — Sie
wiſſen nie, wann die Baͤume bluͤhn, ſehen
nie die aufgehende Saat, nie die gereifte
Frucht, bevor ſie ſelbige auf die Maͤrkte ein-
gebracht ſehn, ahnden nichts von der
Aerndtezeit des Jahrs. Unempfunden ge-
hen ihnen die lieblichſten Erſcheinungen der
Natur voruͤber und das erfreuliche Fort-
ſchreiten ihres großen Schauſpiels von ei-
ner Scene zur andern haben ſie nie mit
eigenen Augen bemerkt. Wie vieler edeln
Freuden ſie dadurch verluſtig gehn, bedarf
keines weitern Fingerzeigs. Nur dem
Freunde der Natur, der mit ihr fortlebt
und unter ſeinen Augen ſie ſich in tauſend-
faͤltige Geſtalten bilden und umwandeln
ſieht, werden ihre Freuden zu Theil.
Endlich hat jede Gegend, jede Par-
thie, jede Anſicht der Natur ihren beſon-
dern Charakter, der ſich durch gewiſſe
eigene Gefuͤhle, die ſie in uns erregen,
zu erkennen giebt. Naturſcenen koͤnnen an
ſich hohes Jntereſſe haben, und doch der
Stimmung, in der man ſich befindet, nicht
zuſagen. Wollte man ſolche bloß nach ſei-
ner zufaͤlligen Stimmung beurtheilen,
wollte man ohne unbefangene Reflexion
uͤber den Naturcharakter jeder beſondern
Parthie, ſich in jeder Stimmung einer je-
den naͤhern oder auch nach einem einſeiti-
gen Geſchmack Scenen von erhabenem oder
heiterm oder ſchauerlichem Charakter ganz
fliehn: ſo wuͤrde das Urtheil uͤber ſie ſehr
truͤglich ausfallen, man wuͤrde in ſeinen
laͤndlichen Wanderungen aus Mangel an
Kenntniß ſeiner Selbſt und der Natur,
nicht mit moͤglichſter Zweckmaͤßigkeit ver-
fahren, wuͤrde ſeinem Geſchmack eine ſehr
einſeitige Richtung geben.
Zwoͤlftes Kapitel.
Berge.
Keine der kleinſten Zierden einer Gegend,
worin ſie Statt finden, ſind Berg und
Thal. Die Natur hat da nicht die er-
muͤdende Einfoͤrmigkeit, wodurch eine
große Strecke platten Landes in Schlum-
mer wiegt. Vielmehr wird der Geiſt
durch die Abwechslung von Berg und
Thal geſpannt und erquickt und alſo durch
den verſchiednen Eindruck beyder geweckt
und belebt.
Berge — dieſe Auswuͤrflinge uͤber die
gerade Oberflaͤche der Erde — ſind an ſich
keine Zierde des Orts, wo ſie ſtehn.
Gleich den Maulwurfshaufen auf einer
Wieſe, geben ſie der Erde, wie die Po-
cken dem menſchlichen Geſicht, eigentlich
eine widrige Geſtalt. Von einem Luft-
ſchiffe herab durch ein Fernrohr betrachtet,
machten ſie unfehlbar dieſen widrigen Ein-
druck. Auch verhindern oder erſchweren
ſie die Communication. Allein was ſie im
Urtheil des Verſtandes verlieren: das ge-
winnen ſie im aͤſthetiſchen Urtheil. Jhre
erhabenere Lage ſetzt die Einbildungskraft
in ungewoͤhnliche Thaͤtigkeit und macht die
Natur durch Mannigfaltigkeit und Staͤrke
der Eindruͤcke anziehend.
J
Wiefern wir naͤmlich nach dem Plan
der Natur die Oberflaͤche der Erde bewoh-
nen, nicht gleich den Voͤgeln in den Luͤften
leben, koͤnnen wir uns die Unfoͤrmlichkeit,
welche Berge der Erde geben, nur den-
ken; aber wir empfinden ſie nicht. Die
Berge erſcheinen uns nur nach unſerer
Lage, in der wir uns gegen ſie befinden,
und daher beſtimmt nur dieſer ſinnliche
Natureindruck unſer Urtheil uͤber ſie.
So wie Berge die Gemeinſchaft zwi-
ſchen ihnen gelegener Oerter erſchweren:
ſo verſetzen ſie oft die entfernteſten Gegen-
den in der Einbildungskraft desjenigen,
der auf ihrem Gipfel eine Menge Doͤrfer
und Staͤdte uͤberſchaut, in eine taͤuſchende,
ideale Gemeinſchaft. Auch dadurch wirken
ſie vermittelſt der Phantaſie aͤſthetiſch vor-
theilhaft. Sie verknuͤpfen, wie z. B.
der Aetna, durch anſchauliche Wahrheit
und unmittelbaren ſinnlichen Eindruck in
der Einbildungskraft ganze Gegenden und
Laͤnder, die ungeheure Zwiſchenraͤume
trennen; wodurch ſie die Einbildungskraft
ins Unendliche erweitern.
Erſteigt man im Spatzierengehn einen
Berg, um auf ſeiner Scheitel einer hohen
Ausſicht zu genießen: ſo tritt die unter
ihm liegende Landſchaft immer mehr her-
vor, ſo wie man von deſſen Fuß hoͤher
aufſteigt. Wer in einem fortſtiege, ohne ſich
umzuſehen, der verloͤre dieſe ſich ſtets ver-
wandelnde Ausſicht. Er ſtrebte bloß nach
einem zu erreichenden Ziel, und bedaͤchte
J 2
nicht, daß er ſchon auf dem Wege dahin
ſich mannigfaltigen Genuß bereiten koͤnnte.
Wirklich muͤßte da ein eigentlicher Spa-
tziergang, der wo moͤglich in kein an-
ſtrengendes Geſchaͤft, in keine bloß koͤrper-
liche Bewegung ausarten darf, zu ſolchen
Ruhepunkten einladen, die ſelbſt das Er-
ſteigen eines Bergs durch das gemaͤchliche
Gehn und durch die Unterhaltung des
Geiſtes dabey zu einem wirklichen Luſt-
wandeln erheben wuͤrden. Der Anblick
einer ſich immer mehr ausbreitenden Land-
ſchaft iſt ein ganz eigener Geiſtesgenuß.
Spatziergaͤnge auf einem Berge, oder
auf einer Bergkette, die ſolche ohne Be-
ſchwerlichkeit geſtatten und eine weite Aus-
ſicht eroͤffnen, erheben den Geiſt ungemein.
Wie ſollte dieß auch nicht das ſtolze Be-
wußtſeyn, in den hoͤhern Regionen der
Erde, im Angeſicht des Himmels zu wan-
deln, und noch mehr der Blick in eine
ganze, unter ihnen ausgebreitete Welt?
Wie ſollte ſich nicht die traͤgſte Einbildungs-
kraft durch eine Mannigfaltigkeit von Ge-
genſtaͤnden und Anſichten ergriffen fuͤhlen,
welche kein anderer Spatziergang darbeut?
Beym Luſtwandeln, wo man nicht lange
uͤber demſelben Anblick verweilt, erhaͤlt
man eine ſtets veraͤnderte Anſicht, erhaͤlt
von dieſen Gegenſtaͤnden den leichten Ge-
nuß, der das zum Spatzierengehn noͤthige
Spiel der Gemuthskraͤfte nicht aufhebt,
anſtatt daß ein ſtillſtehender Betrachter
ſich leicht in hohen Ernſt, in erhitzende
Phantaſien, und in ein, uͤber den Ein-
druck der Dinge hinausgehendes Nach-
denken verſenkt.
Auf gleiche Weiſe wie das Erſteigen
eines Bergs, zeigt das Herabſteigen von
einem Berge die Landſchaft in einer eige-
nen, immer veraͤnderten Geſtalt. Der
einzige Unterſchied dabey iſt, daß beym
Herabſteigen die vorher, auf dem Berge,
ganz ausgebreitet daliegende Landſchaft in
dem Maaße ſich den Blicken entzieht, als
ſie beym Erſteigen des Bergs ſich denſelben
entfaltete. Nur uͤberraſcht der Eindruck
der hervortretenden Landſchaft beym Erſtei-
gen eines Bergs mehr, als die Empfindung
von ihrem allmaͤhligen Verſchwinden waͤh-
rend des Herabſteigens, wo man von ei-
nem umfaſſendern Anblick zu einem be-
ſchraͤnktern uͤbergeht und die Gegenſtaͤnde
durch den erſtern Eindruck des Aufſteigens
ſchon kennt, uͤberraſchen kann. Wollte
man ſich auch hier die Neuheit des Ein-
drucks ſichern: ſo muͤßte man auf einer
andern Seite vom Berge herabſteigen als
der, worauf man zu ihm emporſtieg.
Jndeß hat auch noch das Herabſteigen von
derſelben Seite als man emporſtieg, ſei-
nen Reitz, um die Wirkung an ſich zu
erproben, die derſelbe Weg, nur in um-
gekehrter Richtung, auf den Geiſt her-
vorbringt.
Befindet man ſich von einem ſolchen
Bergluſtgange wieder am Fuß des erſtiege-
nen Berges, und betrachtet dieſelben ihn
umgebenden Gegenſtaͤnde, die auf deſſen
Gipfel in ganz verjuͤngtem Maaßſtabe er-
ſchienen: ſo wird man erſtaunen, wie ſich
da alles ſo ſehr ausbreitet und erhebt,
was vorher ganz zuſammenzufließen und
ſich der Erde zu naͤhern ſchien.
Dreyzehntes Kapitel.
Thaͤler.
Thaͤler machen auf diejenigen, welche in
ihnen luſtwandeln, einen den ſie begraͤn-
zenden Bergen gerade entgegengeſetzten Ein-
druck. Wenn Berge die darauf gerichtete
Vorſtellkraft aufrufen und von dem Bo-
den entfeſſeln, der den Koͤrper traͤgt: ſo
fuͤhlt man ſich dagegen, wenn man ſich
beym Luſtwandeln in einem ſchoͤnen Thal
deſſen Eindruck uͤberlaͤßt, im Kreiſe ſeines
Daſeyns feſtgehalten und an die umgeben-
den Gegenſtaͤnde mit ruhigem Wohlgefal-
len dahingegeben. Zwar giebt es auch
Thaͤler von melancholiſchem, ſchauerlichem
Eindruck: aber das ſind gerade diejenigen,
welche die ſie umgebenden Gebirge nicht
bloß begraͤnzen, ohne ſich ſelbſt in die
Vorſtellungen und Gefuͤhle des darin Luſt-
wandelnden gewaltſam einzudraͤngen; die
vielmehr, in einer engen Naͤhe von beyden
Seiten hoch und ſchroff uͤberhangend, dem
Gemuͤthe die Freyheit nicht laſſen, ſeine
Aufmerkſamkeit bloß den im Thal befindli-
chen Gegenſtaͤnden zu widmen. Solche
Thaͤler ſind nur Thaͤler einer beſondern
Art. Man kann ſie mit den hohen Ge-
birgen vergleichen, die ſie bilden: der
Eindruck beyder iſt zu feyerlich und groß,
als daß man ſolche zum Schauplatz ſeiner
gewoͤhnlichen Spatziergaͤnge machen moͤchte;
aber bisweilen wird man ſich ihnen gern
naͤhern, weil man ſich bisweilen ſehr
zweckmaͤßig mit großen, ſchauerlichen Ein-
druͤcken der Natur erfuͤllt.
Nicht jede Niederung, jede Ebene
am Fuß eines Berges iſt ein Thal. Ein
einſam daſtehender Berg, und wenn er
ſich gleich dem Aetna, bis hoch uͤber die
Wolken erſtreckte, macht die unter ihm
liegende Landſchaft nicht dazu. Auch
macht eine ſolche Ebene nicht den von ei-
nem Thal empfangenen Eindruck. Dieſer
beſteht nicht in maͤchtig erregter Aufmerk-
ſamkeit auf einen einzelnen frappirenden
Gegenſtand. Jm Gegentheil giebt der
Eindruck eines anmuthigen Thales das
Gefuͤhl ruhiger Geborgenheit von der
uͤbrigen Welt, in einem von der Natur
ſelbſt bereiteten und gleichſam durch natuͤr-
liche Waͤlle verwahrten Zufluchtsort.
Die auf beyden Seiten eines Thales
fortlaufenden Gebirge, die es begraͤnzen,
machen den Eindruck deſſelben gefaͤlliger,
wenn ſie, wie die meiſten Thaͤler, nicht
in gerader Richtung fortgehn; ſie kruͤm-
men, verengen, erweitern ſich auf man-
nigfaltige Art. Die Natur ſelbſt hat da-
durch aufs Beſte fuͤr Mannigfaltigkeit
und Vergnuͤgen geſorgt. Nur muͤßten
die Berge, welche ein maͤßig großes Thal
umſchließen, nicht zu hoch, und das Thal
muͤßte nicht zu enge ſeyn, um einen ſanf-
ten erquickenden Eindruck zu machen, wie
man ihn fuͤr ſeine gewoͤhnlichen Spatzier-
gaͤnge wuͤnſcht.
Auch in einem weit ausgebreiteten
Thale bewirken hohe Berge — und dieſem
ſind ſie ganz angemeſſen — den Ein-
druck des Erhabenen, des Großen, des
Weiten, worin man ſich ſelbſt verliert. Von dieſer Art iſt die Gegend um Dres-
den mit ihrer großen Natur.
Man kann ſich in einem ſo großen Thale,
das eher fuͤr den gewoͤhnlichen Aufenthalt
eines hoͤhern Genius gemacht ſcheinen
koͤnnte, nicht ſo einheimiſch, ſo gemuͤth-
lich fuͤhlen, als in einem Thale von maͤßi-
gem Umfang. Hier duͤnkt man ſich gleich-
ſam in ſeiner Heimath; und dieſes einhei-
miſche Gefuͤhl giebt dem Gemuͤthe alle
Freyheit, den Reichthum von Gegenſtaͤn-
den der Natur, womit es ausgeſtattet iſt,
mit ruhigem und heiterm Sinne in ſich
aufzunehmen.
Jn einem zu engen Thale ſchweifen
zwar die Blicke nicht, wie in einem zu
weit ausgedehnten Thale ins Grenzenloſe
hinaus! ſie werden in einem beſtimmten
Kreiſe feſtgehalten; aber man fuͤhlt ſich da-
gegen zu ſehr eingeengt. Kommen dazu noch
hohe, ſchroffe Felſen, welche daſſelbe um-
ſchließen: ſo verleiden ſie das angenehme
Luſtwandeln, wobey man ſich erheitern
und zerſtreuen will, noch weit mehr.
Aber ſie gewinnen fuͤr ſeltnere Stunden,
wo wir dieſer Eindruͤcke faͤhig ſind, durch
ehrfurchtsvolle Schauerlichkeit.
Vorzuͤglich angenehm und erfreulich
iſt der Eindruck eines Thals, wo ſich auf
der einen Seite die Berggegend, die es
da einſchließt, nicht auf einmahl erhebt,
ſondern allmaͤhlig ſanft aufſteigt. Dieß iſt mit der Gegend von Naumburg
an der Saale der Fall.
Dieſe ſanfte Erhoͤhung oͤffnet es gleich-
ſam der uͤbrigen Welt, wovon ſonſt ein
Thal abgeſondert ſcheint, und mildert
den Eindruck des Berges, der es von die-
ſer Seite begraͤnzt, waͤhrend die Berg-
kette, die ſich auf der entgegengeſetzten
Seite hinzieht, einen ſtaͤrkern Eindruck
hervorbringt.
Ein Fluß, der durch ein Thal ſtroͤmt,
giebt ihm viel Reitz. Jſt deſſen Lauf
nicht allzutraͤg, ſo wirkt er ſehr angenehm
auf unſer Gefuͤhl, dem keine todte Ruhe
zuſagt. Dieſe Wirkung empfaͤnde man
aber nur, wenn man in der Naͤhe deſſel-
ben luſtwandelt. Beym Luſtwandeln an
groͤßern Fluͤſſen wuͤrde ſie jedoch durch die
große Waſſermaſſe verlieren, die ſich da
der Seele unwillkuͤhrlich aufdraͤngt und da-
durch die Freyheit des Gemuͤths be-
ſchraͤnkt. Von einer benachbarten Anhoͤhe
herab geſehn, verſchoͤnert das Silber ſei-
ner Gewaͤſſer, das dem Beſchauer aus
dem Flußbett entgegenblitzt, und gegen
das Gruͤn des Thals ſo angenehm abſticht,
ein Thal ungemein. Zur Erhoͤhung die-
ſes Reitzes traͤgt das Schlaͤngeln der Fluͤſſe
und der ungerade Lauf der Berge ſelbſt,
worin ſie fortſtroͤmen, noch vieles bey.
Man braucht gerade kein großer Ken-
ner der Natur zu ſeyn, um in einem an-
muthigen Thale zu luſtwandeln, ohne
Mangel an Unterhaltung zu empfinden.
Man braucht dieß eben ſo wenig zu ſeyn,
als man es zu ſeyn braucht, um den Ein-
druck einer Gebirgsgegend zu empfinden;
ich ſage zu empfinden, nicht, ſich ihn
auch zu entwickeln! Einer ſolchen Unter-
haltung mit der Natur faͤhig zu ſeyn,
braucht man noch nicht ihre verſteckten
Schoͤnheiten entraͤthſeln zu koͤnnen, die
nur der geuͤbte Denker entdeckt. Der
Reichthum und die Verſchiedenheit von
Gegenſtaͤnden, die ſich da dem Blick des
Freundes der Natur von ſelbſt darbieten,
liefern hinlaͤnglichen Stoff zur Beſchaͤfti-
gung der Sinne, der Einbildungskraft
K
und des Herzens; dieſe bringen ſie nicht
allein ins Spiel; ihr ſanfter und gemuͤth-
licher Eindruck, der die Seele zu keiner
ſtarken Kraftaͤußerung auffordert und nicht
aus der freyen Gemuͤthsſtimmung heraus-
reißt, worin ſie an den Naturgegenſtaͤnden
nur ſo viel Antheil nimmt, als ſie ihnen
freywillig widmet, erhaͤlt ſie auch in die-
ſem ergoͤtzenden Spiel.
Hoͤchſt angenehm iſt das Luſtwandeln,
in einer Gegend, die ſolche Spatziergaͤnge
geſtattet, von Thal zu Berg und von
Berg zu Thal. Die Mannigfaltigkeit und
Abwechslung der Eindruͤcke, und mithin
das Vergnuͤgen des Spatzierganges ſelbſt
gewinnt dadurch. Solche Spatziergaͤnge
ſind aber nicht ohne Unbequemlichkeit
moͤglich, wo es zu hohe und ſchroffe Berge
giebt. Selbſt ein Thal, das von einem
Fluſſe durchſchnitten wird, laͤßt ſich nicht
beliebig nach allen Richtungen durch-
wandeln.
Schoͤne Thaͤler theilten den Ruhm
des Alterthums und der neuern Zeit.
Wer erinnert ſich nicht des Theſſaliſchen
Tempe und der beruͤhmten Thaͤler Jta-
liens? Das Campanerthal hat ſich ſogar
literariſch merkwuͤrdig gemacht.
K 2
Vierzehntes Kapitel.
Feld, Wieſe und Wald.
Faſt keinen Schritt kann man auf Spa-
tziergaͤngen im Freyen thun, wo man ſich
nicht von Feld, Wieſe oder Wald umge-
ben ſaͤhe. Auch in Gegenden, welchen
es an Berg und Thal fehlt, findet man
ſie noch, wenn auch nicht uͤberall zugleich,
und ſie theilen Berg und Thal ihren eige-
nen Charakter mit. Bald befindet man
ſich in ihrer Mitte, bald ſieht man eine
dieſer Naturparthien nur aus der Fern.
Jn beyden Faͤllen machen ſie einen andern
Eindruck.
Felder intereſſiren auf mehr als eine
Art. Sie intereſſiren zufoͤrderſt durch un-
mittelbar vortheilhaften Eindruck ihrer
Gegenſtaͤnde. Dieß iſt vorzuͤglich im
Fruͤhling und Herbſt der Fall, wo man
mit Wohlgefallen beym Anblick der gruͤnen,
ſie bedeckenden Saaten verweilt. Jn bey-
den Faͤllen iſt der Anblick neu und gefaͤllt
alſo um ſo mehr. Saatfelder tragen im
Fruͤhling das erſte Gruͤn, und ſie erzeu-
gen wieder friſches Gruͤn, wann die
uͤbrige Vegetation ſchon laͤngſt ihre leb-
hafte gruͤne Farbe verlor.
Wieſen und Saatfelder unterſtuͤtzen ſich
in Abſicht des moͤglichſt vortheilhaften Ein-
drucks auf das Gemuͤth des Luſtwandlers
zur Zeit des Fruͤhlings und Herbſts nicht
genug. Jm Fruͤhling ſtechen ſie nicht ge-
nug von einander ab und gewaͤhren alſo
einen zu einfoͤrmigen Anblick; indeß die
Wieſen im Herbſt, wo die Felder wieder
friſches Gruͤn zeigen, ihre Rolle auf dem
Schauplatz der Natur ſchon ausgeſpielt
haben. Es kann hier nur vom deutſchen Klima
die Rede ſeyn. Zur Sommerzeit, wann das
gelbliche Getreide reift, bieten ſich Wieſe
und Feld, wo ſie ſich unmittelbar beruͤhren,
freundſchaftlichere Hand.
Ohne Hinſicht auf Wieſe und Wald,
die es umgeben, kann das Feld ſchon
ſelbſt eine gewiſſe Mannigfaltigkeit der
Eindruͤcke gewaͤhren. Dieß iſt der Fall,
wo gereiftes Wintergetreide zwiſchen gruͤ-
nem Sommergetreide, Kuͤchengewaͤchſen
u. a. ſteht. Auch friſch gepfluͤgtes brau-
nes Feld zwiſchen gruͤnenden Saaten ge-
waͤhrt, zumahl in einiger Entfernung,
und noch mehr auf einer Anhoͤhe, wenn
man es aus der Tiefe ſieht, einen gefaͤlli-
gern Anblick, als bloßes einfoͤrmiges Gruͤn.
Je mannigfaltiger ſich die Gegenſtaͤnde,
womit das Feld bebaut iſt, in ihrem An-
blick zeigen, ohne daß ſie doch durch zu
grell abſtechende Farben widrig wuͤrden,
mit deſto groͤßerm Wohlgefallen luſtwan-
delt es ſich in einer bebauten Flur.
Da wo ſich Feld und Wald in einer
Flur beruͤhren, ohne daß die Flur rings
von Wald eingeſchloſſen waͤre, wie es in
Waldgegenden der Fall iſt, wirken die Ein-
druͤcke beider ganz eigen auf das Gemuͤth.
Auf der einen Seite erfuͤllt die offene Land-
ſchaft daſſelbe mit lachenden Jdeen, waͤh-
rend auf der andern, gleichſam im Hin-
tergrunde, ſich im Anblick des Waldes
eine ernſtere und verſchloßnere Natur an-
kuͤndigt. Beyde Eindruͤcke vermiſchen ſich,
doch ſo, daß der hellere Ton der offnen
Landſchaft, worin man luſtwandelt, vor
dem tiefern des entferntern Waldes in den
Empfindungen der Seele vorſticht. Jn
einer Waldgegend findet der umgekehrte
Fall Statt; daher auch das Gemuͤth
derer, die da leben, durch den Ton der
ſie umgebenden Natur ſich zur Melancho-
lie ſtimmt.
Auf einer Wieſe, die an einen Wald
graͤnzt, wandelt es ſich wie auf einem
gruͤnen Teppich, der den Goͤttern des
Waldes, als ſey er der Vorgrund ihrer
Haine, ausgebreitet zu ſeyn ſcheint. Es
wandelt ſich auf dem weichen Boden der
Wieſen mit aller Behaglichkeit, waͤhrend
das Gruͤn derſelben den Augen wohlthut.
Jn der Ebene laſſen ſich auf einer Wieſe,
wo man luſtwandelt, leichte Jdeenſpiele
verfolgen oder man kann geſellſchaftlicher
Geſpraͤche pflegen, ohne die Eindruͤcke der
Natur zu verlieren Geſellſchaftliches Geſpraͤch auf Spatzier-
gaͤngen im Freyen verdient vor dem Leſen
in einem Buche bey weitem den Vorzug.
Wenn man gehend lieſt, verliert man
nicht nur die Natureindruͤcke; man macht
das Luſtwandeln auch zu einem Geſchaͤft,, da ſie hier allein
nicht genug Stoff zur Unterhaltung dar-
bietet.
Gleichen Eindruck einer romantiſchen
Natur macht eine Wieſe im Walde oder
an einem Berge, deſſen Gipfel ein ſie
umgebender Wald kroͤnt. Nur macht
eine ſolche, am Abhang eines Berges ge-
legene Wieſe, aus der Fern, einen lachen-
dern Eindruck, als wenn man unmittel-
bar darauf luſtwandelt. Zwiſchen gepfluͤg-
tem Felde ſcheint eine um einen Berg lau-
fende Wieſe ihn wie mit einem Guͤrtel zu
umfaſſen. Einzelne Flecken gruͤnen Feldes
oder einer Wieſe am Abhang eines Berges
und, durch die doppelte, koͤrperliche und
geiſtige Bewegung, zu einem peinlichen
Geſchaͤft.
glichen in der Fern den Feldern eines
Schachbrets.
Selbſt gewiſſe Waͤlder machen einen
romantiſchen Eindruck. Jn der Jdee ei-
nes romantiſchen Waldes liegen die Keime
des Begriffes Hain. Die Jdee eines
Hains entſtand bey den Alten nicht zufaͤl-
lig; ſie ging aus wirklichen Natureindruͤk-
ken hervor. Nichts als kleine Buͤſche,
nichts als kurzes Geſtraͤuch, Weiden u. ſ. f.
erregen keineswegs die Jdee eines Hains;
wohl aber erregt ſie ein ehrwuͤrdiger Ei-
chenwald mit andern ſchauerlichen, ſchlan-
ken und dichtbelaubten Baͤumen unter-
miſcht, welcher die Jdee eines heiligen
Dunkels, einer heeren Feyerlichkeit, einer
tiefen Einſamkeit erweckt. Trifft man da
beym Luſtwandeln, uͤberraſcht, noch auf
ein bedeutungsvolles Kunſtwerk, eine Sta-
tuͤe eines hoͤhern Weſens: ſo iſt der Ein-
druck des Hains, als geweihten Aufent-
halts hoͤherer Weſen in der Phantaſie
vollendet.
Zum Waldluſtwandeln uͤberhaupt —
auch wenn man ſich nicht in die hoͤhere
idealiſche Stimmung eines Hains zu ver-
ſetzen wuͤnſcht — eignet ſich am beſten ein
hoher, dichtbeſchatteter Eichenwald. Er
gewaͤhrt die angenehme Kuͤhlung, ohne
die in heißen Sommertagen ein Spatzier-
gang aufhoͤrt, wirkliches Luſtwandeln zu
ſeyn. Durch ſeine hohen Eichbaͤume mit
ihren Wipfeln und Aeſten und andere
ſchlanke, ſehr verſchiedenblaͤttrige Zwiſchen-
baͤume, welche unter den Eichen ſtehn, ge-
winnt er — was die unbedeckte, von maͤch-
tigen Sonnenſtrahlen weißgefaͤrbte Land-
ſchaft entbehrt — die mannigfaltigſten
Gruppirungen von Schatten und Licht.
Keinen von beyden Vortheilen gewaͤhrt
das Spatzierengehn am Abhange eines,
mit kleinem Gehoͤlz bewachsnen Bergs.
Die einzelnen groͤßern Baͤume ohne weit-
verbreitete Aeſte, die darin ſtehn, ſind
weit entfernt, ein einziges dichtes Gewoͤlbe
uͤber dem Haupte des Luſtwandelnden zu
bilden, der uͤberdieß nur muͤhſam ſich durch
das Gehoͤlz windet. Spatziergaͤnge darin
haben aber doch auch ihren eigenen Reitz.
Ungeachtet des beſchwerlichen Gehns auf
dem ungeraden und verwachsnen Boden,
gewaͤhren ſolche Gehoͤlze an kuͤhlern und
truͤbern Tagen, wo das Luſtwandeln in ei-
nem dichten Eichenwalde zu melancholiſch
ſeyn wuͤrde, oder Abends und Morgens,
ein eignes Vergnuͤgen, durch die reitzende
Kleinheit der umgebenden Gegenſtaͤnde
und durch die weite lichte Ausſicht in die
offene Landſchaft.
Ein bloßer Tannenwald iſt zum Luſt-
wandeln, wenn ſeine Lage ihn nicht un-
bequem macht, bequem und nicht ohne
allen Reitz. Man braucht ſich nicht erſt
muͤhſam durch einen ſolchen hindurchzuar-
beiten, und man hoͤrt das angenehme
Rauſchen in den Gipfeln der Tannen bey
nur einigem Winde gar nicht ungern.
Aber bey allem gemaͤchlichen Gehen darin
iſt man doch nicht genug gegen die Sonne
geſchuͤtzt, und ein Tannenwald macht auf
die Laͤnge einen zu unfreundlichen, duͤſtern
Eindruck. Dagegen erweckt ein Tannen-
wald, wenn er ſich dem Luſtwandler von
fern, im Hintergrunde, auf einem Ge-
birge zeigt, die angenehme, obgleich mehr
idealiſche Vorſtellung eines heiligen Hains.
Um alles moͤgliche Vergnuͤgen von
Spatziergaͤngen im Walde, ſo wie auf
Wieſe und Flur zu ziehn: bedarf man
Kenntniß der Botanik. Nur muß man
die Botanik nicht als beſtimmtes Geſchaͤft,
als obliegendes Gewerb treiben. Botani-
ſche Spatziergaͤnge muͤſſen Luſtwanderun-
gen im eigentlichſten Sinne wie die Rous-
ſeauſchen ſeyn. Auf Spatziergaͤngen muß
man nicht darauf ausgehn, dieſe oder jene
beſtimmten Pflanzen und Kraͤuter zu fin-
den und einzig mit dem Gedanken daran
beſchaͤftigt ſeyn: dieß ſtaͤnde im Wider-
ſpruch mit der freyen Geiſtesbeſchaͤftigung
eines Spatziergangs. Man haͤtte dann
fuͤr nichts anders in der umgebenden Na-
tur Sinn. Aber abgeſehn davon: welche
Quellen von Unterhaltung und Vergnuͤgen
eroͤffnet eine naͤhere Kenntniß der am Bo-
den, wo man luſtwandelt, zu Tauſenden
ſtehenden Produkte der Natur. Der
Nichtkenner derſelben entbehrt eine ganze
unbekannte Welt von Genuß.
Jetzt noch einiges uͤber den allgemei-
nen Eindruck von Feld, Wieſe und Wald.
Das Feld erweckt durch ſeinen Anblick die
Jdee des menſchlichen Kunſtfleißes und der
darauf gegruͤndeten Hoffnungen in einer
naͤhern oder entferntern Zukunft. Beym
Anblick einer Wieſe erhaͤlt man durch ihre
ſanfte Einfoͤrmigkeit das Gefuͤhl ruhiger
Gleichmuth und ſtiller Zufriedenheit. Der
Wald ſcheint uns in ſeiner heiligen Schat-
ten aufzunehmen, um ohne alle Stoͤrung
unſerer ſelbſt und der Natur zu ſeyn.
L
Funfzehntes Kapitel.
Phaͤnomene Phaͤnomene werden hier nicht im Sinn
der reinen Philoſophie fuͤr Gegenſtaͤnde
der Erfahrung, der menſchlichen Erkennt-
niß uͤberhaupt; ſondern im Sinn der Phy-
ſiker genommen, wo ſie den feſten und ſte-
henden Naturprodukten als bloßen Mas-
ſen entgegenſtehn. der Natur.
Tages- und Jahreszeiten.
Mit den ſtehenden Produkten der Na-
tur kann ſich der Naturfreund nicht be-
gnuͤgen; ginge ſeine Kenntniß und ſein
Jntereſſe an der Natur nicht uͤber dieſel-
ben hinaus: ſo waͤre er dieſes Namens
nicht werth. Die ſtehenden Naturpro-
dukte ſind, wie die Baͤume im Winter,
nur die Pfeiler, nur das Knochengebaͤude
der Natur; kaͤmen ihre wechſelnden Er-
ſcheinungen nicht hinzu, um ihnen Reitz
und Leben zu ertheilen; ſo wuͤrde ſie nur
eine todte Mumie ſeyn. Freylich: das
Jndividuelle dieſer Phaͤnomene der Natur
laͤßt ſich durch keine Schilderung unmittel-
bar mittheilen; es laͤßt ſich nur durch ein-
zelne aus jeder Sphaͤre der Naturerſchei-
nungen herausgegriffene Beyſpiele und
Entwickelungen einzelner Eindruͤcke darauf
aufmerkſam machen, um die eigene Re-
flexion im Kreiſe der Natur zu leiten.
L 2
Jm Allgemeinen giebt es Naturphaͤ-
nomene einer doppelten Art. Entweder
ſolche, die taͤglich, oder ſolche, die jaͤhr-
lich, in gewiſſen Perioden des Jahrs,
wiederkehren. Die erſtern ſind die Zier-
den und geiſtigen Lebensquellen des Tages;
die leztern verſchoͤnern die Jahreszeiten
und mahlen das große periodiſche Fort-
ſchreiten der Natur.
Die Phaͤnomene des Tags beſchreiben
den großen Lichtraum und Lebenskreis der
Natur. Aufgang und Untergang der
Sonne ſind die hervorſtechendſten Punkte
des doppelten Wendekreiſes, der Kataſtro-
phen des Tags. Morgen und Abend ver-
ſetzen die Natur aus Dunkel, todter Ruhe
und Einſamkeit in hellen Tag, reges Le-
ben, allgemeine Thaͤtigkeit und fuͤhren ſie
darein zuruͤck. Bisweilen ſcheint der
Mond, wann er bald nach Sonnen-Un-
tergang aufgeht, die kaum entſchlummerte
Welt zu einem Nachſpiel des Lichts und
Lebens einzuladen.
Unſtreitig iſt es eines der edelſten
Vergnuͤgen, die mannigfaltigen Scenen
der Natur zu bemerken, wodurch ſie aus
einem ihrer Zuſtaͤnde in den andern uͤber-
geht oder wodurch man ſie aus dem einen
in den andern ſchon uͤbergegangen findet.
Welche Verſchiedenheit findet an demſelben
Orte den Tag uͤber nur in Abſicht des
Lichts und Schattens Statt. Gegenden, die
man des Morgens noch voͤllig unbeleuchtet
findet, ſieht man Nachmittags im vollen
Glanz der Sonne, und diejenigen, die
das Tages- und Sonnenlicht ſchon fruͤh
erhellte, haben doch nie dieſelbe Beleuch-
tung zu jeder Zeit des Tags. Die langen
Schatten, welche Berge und Baͤume fruͤh
und Abends werfen, ſind des Mittags,
an hohen Sommertagen, faſt verſchwun-
den. Welche mannigfaltige Beleuchtun-
gen, welchen Wechſel ihres ſchnellern oder
traͤgern Gangs, welche Verſchiedenheit
ihrer Geſtalt und Dichtheit, vom leichten,
lichten, wolligten Woͤlkchen, das an dem
Himmel wie hingeblaſen ſchwimmt, bis zu
den feurigen ſchweren Gewitterwolken mit
dunkelblauem und grauem Grunde ent-
huͤllen nicht die Wolken. Und welche
eigne Reitze hat, durch einen uͤber die
Natur verbreiteten, magiſchen Duft und
durch ein heiliges Dunkel, ſo mancher
truͤber Tag. —
Nur der Freund der Natur, der auf
ſeinen Spatziergaͤngen zu den verſchiedenen
Zeiten des Tags die Natur unter jeder
Geſtalt kennen lernte, erwarb ſich eine
vertraute Bekanntſchaft mit ihrem taͤgli-
chen Schauſpiel. Er kennt aus eigenem
Anſchaun, und beobachtete auf ſeinen fruͤ-
hen Spatziergaͤngen nicht bloß in einer und
derſelben Gegend ihr allmaͤhliges Erwa-
chen, unter dem Konzert der Voͤgel, im
perlenden Thau. Jhm blieb das Ver-
gnuͤgen nicht unempfunden, zur Zeit der
Daͤmmerung des Abends im Freyen ſpa-
tzieren zu gehn, dem erſt da recht hoͤrbar
werdenden Geraͤuſch der lebenden Welt
auf Wegen und Straßen, ſo wie dem
fernen Laͤuten der Abendglocken zu hor-
chen. Selbſt Spatziergaͤnge in lauen
Naͤchten, nach Untergang der Sonne,
wie z. B. auf einem nahgelegenen Berge
haben ihm die Natur in eigenen Situati-
onen gezeigt: wie namentlich der erſt nach
voͤllig umnachteten Himmel aufgehende
Mond mit einmahl die oberen Regionen
der Luft erhellt, waͤhrend ſelbſt die Berge
noch in Dunkel eingehuͤllt liegen; wie nach
und nach die hoͤhern Punkte der Erde ſich
in einem Daͤmmerlicht, im Abſtich mit
den niedrigern, voͤllig dunklen Gegenden
zeigen, und wie auch dieſe endlich ſich mit
jenen in Harmonie ſetzen.
Allerdings bringt auch die verſchiedene
Jahreszeit eine Verſchiedenheit in den Tag.
Ein Fruͤhlingstag iſt ein anderer als ein
Herbſttag, und ein Sommertag ein ande-
rer als beyde, ſo wie kein Tag in den vier
Jahreszeiten dem andern ganz aͤhnlicht;
aber ſie bleiben ſich doch in Abſicht ihrer
allgemeinen Erſcheinungen gleich.
Ohne Zweifel verdient der Fruͤhling
unter den periodiſchen Naturphaͤnomenen
den erſten Rang. Zwar hat jede Jahrs-
zeit ihre eigenen Reitze, und der Fruͤhling
verdankt unſtreitig zum Theil ſeinen allge-
faͤlligen Eindruck dem Reitze der Neuheit.
Aber wer getraute ſich deſſen ganze Annehm-
lichkeit auf den Reitz der Neuheit zuruͤck-
zufuͤhren? Der Lerche erſtes Wirbeln in
den rauhen Tagen des Hornung, das Er-
blicken der erſten Fruͤhlingsblumen, die in
Gehoͤlzen oft ſchon unter dem Schnee her-
vorbrechen, das Anwehn eines milden Ze-
phirs bey noch nicht erwachter und belebter
Natur erfreun noch mehr in der Hoffnung
des ankommenden Fruͤhlings, als durch ih-
ren unmittelbaren Eindruck. Selbſt der
ſchon gegenwaͤrtige, durch ſeinen allbele-
benden Othem ergoͤtzende Fruͤhling wird in
unſerer Empfindung noch mehr dadurch ge-
hoben, daß ihm der todte, freudenleere
Winter unmittelbar vorherging. Nur
dieß kommt auf Rechnung des Reitzes der
Neuheit; und auch unſere groͤßere Em-
pfaͤnglichkeit fuͤr die Reitze des Fruͤhlings
nach vorhergegangenem Winter, ſo wie
das erhoͤhte Gefuͤhl der Geſundheit nach
einer uͤberſtandenen Krankheit leiht dem
Fruͤhlinge ſelbſt keine Reitze, die er nicht
haͤtte, und entfernt nur den ſchwaͤchenden
Einfluß der Gewohnheit, welche ſie nicht
genug emfinden ließe.
Sechzehntes Kapitel.
Phaͤnomene der Natur.
Tages- und Jahreszeiten.
Seinem Character zufolge mahlt der
Fruͤhling das zu den Zwecken des Lebens
fortſchreitende Streben der aus ihrem
Schlummer erwachenden Natur. Alles
nimmt an dieſem Aufſtreben Theil. Selbſt
der Menſch ſcheint im Fruͤhling mit der
Natur wieder aufzuleben, und wie die
Baͤume im Lenz ihr lichteſtes, lebhafteſtes
und friſcheſtes Ein friſcheres, lebhafteres Gruͤn, als
ſonſt, zeigen die Baͤume an heitern Ta- Gruͤn tragen: ſo wird
er ſich in ſelbigem der ganzen Fuͤhlbarkeit
ſeines Weſens bewußt. Aus dieſem dop-
pelten Grunde — weil die Natur da in ih-
rem Feyerkleid auftritt und der Menſch
ſelbſt mit verdoppelter Theilnahme an ihr
haͤngt — haben auch Spatziergaͤnge im
Fruͤhling einen ſo großen Reitz. Die An-
kunft der Sommervoͤgel, die Bluͤthezeit
der Baͤume, das Emporbluͤhn der Fruͤh-
lingsblumen und Kraͤuter auf Wieſen und
Bergen, das Schlagen der melodiſchen
Nachtigall, der froͤhliche Flug der Schwal-
ben uͤber der gruͤnen Flur, das Bruͤthen der
Thiere, das Schwirren der Maikaͤfer, der
Duft des verjuͤngten Waldes; Alles erfuͤllt in
gen von voͤllig reiner, dunſtfreyer Luft.
Sie ſcheinen in einem reinern Element
zu gluͤhn.
periodiſchem Aufſteigen dieſe frohe Jugend-
zeit des Jahrs, wovon der unter den Ein-
fluͤſſen der Natur lebende Luſtwandler, der
nicht darauf auͤsgeht, die Natur zu beobach-
ten, der durch kein Geſchaͤft zerſtreut, ſich
unbefangen nur ihren Eindruͤcken uͤberlaͤßt,
die harmoniſchſten Empfindungen erhaͤlt.
Wie bey vielen Menſchen, muß man
es an dem Sommer fuͤr ſeinen Charakter
nehmen, keinen eigenen Charakter zu ha-
ben. Nicht als fehlte es ihm an jedem
eigenen Naturphaͤnomen; waͤren es auch
nur Phaͤnomene, welche die Menſchheit,
wie das Abmaͤhen der Wieſen, des Ge-
treides, an der Natur hervorbringt. Aber
auch an ſelbſtſtaͤndigen einzelnen Phaͤno-
menen fehlt es dem Sommer nicht; ſeine
warmen Morgen und Abende, die man-
nigfaltigen Sommerblumen auf dem Felde,
auf Wieſen, in Gaͤrten, das Reifen von
Baumfruͤchten und Feldfruͤchten und der
nie ſtillſtehende Gang der Natur, der ſich
durch das dunklere Gruͤn der Baͤume,
durch die immer heller werdende Farbe des
reifenden Getreides ankuͤndigt, ſichern ihm
ſeine Verſchiedenheit von dem Fruͤhling.
Dieſe Verſchiedenheit kann dem Freunde
der Natur am wenigſten unbekannt geblie-
ben ſeyn, dem ſich, auf ſeinen Luſtwan-
derungen, die Natur unter allen Geſtal-
ten zeigte. Klopſtock ſingt:
Des Mays Erwachen iſt nur
Schoͤner noch als die Sommernacht,
Wenn ihm Thau, hell wie Licht, aus der
Locke traͤuft,
Und zu dem Huͤgel herauf roͤthlich er koͤmmt.
Gleichwohl wird es gerade der mit
der Natur vertraute Freund des oͤftern
Luſtwandelns im Freyen am wenigſten in
Abrede ſeyn, man muͤſſe dem Sommer
einen eigenen Charakter abſprechen. Er,
der mit Sinn in der Natur luſtwandelt,
weiß es nur zu wohl, daß der Sommer
den Fruͤhling nur fortſetzt, daß er nur
veraͤndert, zeitigt, reift, was der Fruͤhling
ins Leben rief. Die Bluͤthe der Linden,
des Flieders, des Jelaͤngerjeliebers, des
Vergißmeinnicht, des Thymian, der Roſe,
Levkoie, Nelke zeigen ihm Spaͤtlinge des
Fruͤhlings; nur daß der ſeltnere und un-
intereſſantere Geſang der Voͤgel nicht mehr
das rege Leben des Fruͤhlings uͤber die Na-
tur verbreitet, und das dunklere Gruͤn
der Baͤume, ſo wie die hellere Farbe des
gelbenden Getreides, durch einen ernſtern
Charakter die lebhafte Geſtalt des Fruͤh-
lings verdraͤngt. Vorzuͤglich kuͤndigt ſich
der Mangel des Sommers an eigenem
Charakter durch die Unmoͤglichkeit an, ſich
von ihm ein allegoriſches Bild der Natur
zu entwerfen. Sagen: er verſetze die
Natur in den Zenith des Lebens — was
nicht einmahl von allen Gegenſtaͤnden der
belebten Natur gilt — giebt noch kein alle-
goriſches Charakterbild.
Leicht bildet man ſich dagegen ein ſol-
ches von dem Herbſt. Wie der Fruͤhling
die Phantaſie von ſelbſt auf die Jdee der
Auferſtehung zu fuͤhren ſcheint Damit beſteht ſehr wohl, daß die Ein-
druͤcke des Fruͤhlings mehr ſinnlich, die: ſo fuͤhrt
M
der Herbſt faſt unwillkuͤhrlich auf den Ge-
danken des Todes und der Vergaͤnglichkeit.
Das Entfaͤrben, Abſterben und Abfallen
der Blaͤtter auf den Baͤumen, ſo wie ihr
Verweſen; die kuͤhlen Morgen und Abende
und die oft unfreundlichen Tage verkuͤndi-
gen den baldigen Todesſchlaf der Natur. Es
bedarf keines weitlaͤuftigen Beweiſes, daß
das angelegentliche Jntereſſe, welches wir
an herbſtlichen Naturſcenen nehmen, mehr
Eindruͤcke des Herbſts mehr idealiſch ſind.
Es iſt wahr, daß der Fruͤhling auf die
Jdee des Wiederauflebens, der Auferſte-
hung fuͤhrt; aber er fuͤhrt nicht, wie der
Herbſt auf den Gedanken des Todes und
der Vergaͤnglichkeit, unwillkuͤhrlich
darauf. Er haͤlt den Sinn mehr bey ſeinen
unmittelbaren Eindruͤcken feſt. Ueber ſie
erhebt ſich nur in idealiſchern Stim-
mungen der idealiſchere Geiſt.
idealiſch als ſinnlich iſt, mehr aus Jdeen
der Vernunft, die ſie mit den Eindruͤcken
der Natur verknuͤpft, als aus demjenigen
entſpringt, was man in der Wirklichkeit
erblickt. Die Natur hat da nicht die
Reitze des Fruͤhlings, der mehr durch
ſinnlich ergoͤtzende Eindruͤcke der Dinge
ruͤhrt, wiewohl auch da der Geiſt durch
ſeine Jdeen die Natur noch hebt.
Koͤnnte wohl jemand fuͤr einen Natur-
freund gehalten werden, der mit Sinn
und Liebe ihr Bild in ſein Jnneres faßt,
wenn er die ſich ſtets verwandelnde Natur
nicht in ihren mannigfaltigen Situationen
kennen gelernt haͤtte, wenn ihm bedeu-
tende Seiten an ihr fremd geblieben waͤren,
wenn er wohl gar den Eindruck der ver-
M 2
ſchiedenen Jahreszeiten an ſich nicht wahr-
genommen haͤtte, weil er nie zu ſich ſelbſt
gekommen waͤre, um ſich mit unbefange-
ner Seele der Natur hinzugeben? Nie
koͤnnte ihm dieſen Mangel jemand anders
erſetzen: und waͤre es ſelbſt ein Thomſon!
Die Natur haͤtte auf ſein Gemuͤth nicht
gewirkt: und er wollte ihre wohlthaͤtigen
Einfluͤſſe an ſich erfahren? Ja ſolche entartete
Menſchen fuͤhlen ſogar nicht einmal ihren
Verluſt. Vielleicht waͤren ſie wohl klein
genug, daruͤber zu lachen, wenn jemand
z. B. verſchiedene Voͤgel ſogleich nach
ihrem Geſange zu unterſcheiden wuͤßte,
ein Jntereſſe an den Zugvoͤgeln, dem
Spinngeweb des Herbſtes naͤhme. Aber
ſie haͤtten damit nur eine Satyre auf
ihre eigene Mißbildung gemacht. Sie
wuͤrden eben ſo unfaͤhig ſeyn, ein rei-
nes Jntereſſe an der balſamiſch duften-
den Natur nach einem warmen Gewit-
terregen zu nehmen, indeß der Freund
der Natur ſelbſt des Winters noch im
Freyen luſtwandelt und ſich fuͤr die Natur
intereſſirt.
Siebzehntes Kapitel.
Die Natur nach Maaßgabe unſerer Em-
pfindungen.
Charakter einzelner Parthien, Gegenſtaͤnde der
Natur; Bewegung und Ruhe in der Natur.
Aufmerkſamkeit auf ſeine Gefuͤhle iſt dem
Luſtwandelnden, um allen moͤglichen Ge-
winn vom Natur-Umgang zu ziehn, eben
ſo noͤthig, als das Luſtwandeln in der
Natur mit Sinn. Letztere Eigenſchaft
verhilft ihm mehr zur Kenntniß der Natur
und es kann dieſe Kenntniß nur die Folge
eines angelegentlichen Jntereſſe's an der-
ſelben ſeyn; aber um zu ſeinem Gefuͤhl,
ſeinem Herzen zu ſprechen, muͤßten die
Gegenſtaͤnde der Natur noch zugleich mit
ſeinem Gefuͤhlvermoͤgen, mit der Natur
ſeiner Empfindungen harmoniren. Es iſt
außer Zweifel, daß die Natur in den
mannigfaltigſten Verhaͤltniſſen zu unſern
Gefuͤhlen ſteht, daß ſie alle Toͤne unſerer
Empfindungen zu beruͤhren vermag. Sie
auf die harmoniſchſte Art ſeine Gefuͤhle
ſtimmen, ſein Herz beſchaͤftigen zu laſſen:
dazu gehoͤrt Kenntniß dieſer Gefuͤhle ſelbſt,
ſo wie Kenntniß jeder Natur-Parthie und
einzelner Gegenſtaͤnde der Natur.
Wer da weiß, daß Gewohnheit den
Genuß des Schoͤnſten unſchmackhaft macht,
wird ſo viel als moͤglich Mannigfaltigkeit
in ſeine Spatziergaͤnge zu bringen ſuchen
und dadurch ſelbſt die Vielſeitigkeit ſeines
Verhaͤltniſſes zu der Natur befoͤrdern.
Wer es weiß, daß man zu gewiſſen Na-
turparthien eine idealiſche Stimmung mit-
bringen muß, um ihres Genuſſes faͤhig zu
ſeyn, oder daß eine andere nur dem Be-
trachter mit dem unbefangenſten kindlich-
ſten Sinne ihre zarte Leichtigkeit und Frey-
heit mittheilt; eine andere dagegen ihren
heitern oder ſchwermuthsvollen Charakter
keiner niedrigen und leichtſinnigen Denkart
enthuͤllt; daß den zur Schwermuth Ge-
neigten eine duͤſtere Gegend in noch tiefere
Schwermuth verſenkt; wird leicht zu be-
urtheilen wiſſen, unter welchen Umſtaͤn-
den er den Genuß gewiſſer Naturſchoͤn-
heiten fuͤr ſich angemeſſen halten darf.
Jn Abſicht einzelner Naturgegen-
ſtaͤnde iſt es derſelbe Fall. Auch von ih
nen gilt es: man muß die Natur zum
Sprechen zu bringen wiſſen, damit ſie
wirklich ſpricht. Wer ſich den Eindruck
gewiſſer Baͤume, wie gewiſſer Natur-
parthien nicht zu entwickeln, ſeine Auf-
merkſamkeit nicht darauf zu richten weiß:
auf den wirken ihre Schoͤnheiten nur
blind, und er genießt derſelben nur halb.
Die ſchlanke, heitere Birke, die zitternde
Espe nehmen durch ihren Eindruck in den
menſchlichen Gefuͤhlen einen beſtimmten
Charakter an, wodurch ſie mit gewis-
ſen menſchlichen Eigenſchaften Verwandt-
ſchaft und Beziehung darauf erhalten.
Sich ſolche Eindruͤcke, wodurch die Na-
tur, die wir ſtets in Beziehung mit der
Menſchheit bringen, auch wenn wir uns
derſelben nicht bewußt ſind, in den Kreis
der Menſchheit ſpielt, zu entwickeln und
mit hellem Bewußtſeyn in ſich aufzuneh-
men, erhoͤht und vervielfaͤltigt den Na-
turgenuß.
Sogar zufaͤllige Jdeenſpiele, welche
der Eindruck von gewiſſen Naturgegenſtaͤn-
den nicht nothwendig herbeyfuͤhrt (wie
man die zitternde Espe als Symbol einer
zarten Reitzbarkeit des Gemuͤths anſieht)
und die mehr durch die individuelle Em-
pfindung und den beziehungsreichen Geiſt
des Luſtwandelnden beſtimmt werden,
kann man der Natur in gewiſſen ihrer
Parthien oder ihrer einzelnen Gegenſtaͤnde
unterlegen; und auch dieſes Vergnuͤgen
liegt nicht außer dem Kreis der Unterhal-
tung mit der Natur. Vorzuͤglich auf ge-
ſellſchaftlichen Spatziergaͤngen im Freyen
waͤren ſolche geiſtreiche Anſichten der Na-
tur an ihrem Ort. Sie erheiterten die
Geſellſchaft durch das Eigene, Feine, Be-
ziehungsreiche, was eine ſolche Anſicht mit
ſich fuͤhrt. Nur duͤrfen dieſe Beziehungen
von dem Eindruck der Gegenſtaͤnde ſich
nicht zu weit entfernen, um natuͤrlich zu
ſeyn, und nicht in eine Sucht auszuarten;
ſonſt wuͤrde die Natur, ganz ihrer Wuͤrde
zuwider, Gegenſtand eines ekelhaften Ha-
ſchens nach Witz.
Nie kann die Natur als Natur Gegen-
ſtand des Scherzes und der Satyre ſeyn. Nur der Menſch kann, als ein freyes
Weſe, Gegenſtand des Laͤcherlichen ſeyn;
Scherz iſt immer eine Art, wenn auch nur
von verſtelltem Spott; und es kann nur
einem faden Witzling einfallen ſeinen
Scherz mit der Natur zu treiben. Ein
ſolcher Witz haͤtte gar keinen Sinn. Nur
wo die Natur in das Gebiet der Menſch-
heit ſpielt, geſtattet ſie dem Witze einen
erlaubten Spielraum. So kann man uͤber
die Poſſen und das Grinſen eines Affen
lachen, der ſich der Menſchheit aufzudraͤn-
gen ſcheint. Aber Witz wuͤrde auch noch
uͤber die unbelebte Natur ohne Tadel ſeyn,
wenn er nicht eigentlich die Natur, ſon-
dern mittelbar die Menſchheit traͤfe. Dieß
waͤre der Fall, wenn man uͤber zugeſtutzte
Baͤume lachte; wo man ſich vielleicht noch
nicht die Natur in ihrer ſtrengen Noth-
wendigkeit.
uͤberdieß von dem Bilde einer durch Er-
hiehung und Einrichtungen zugeſtutzten
Menſchheit beſchleichen ließe. Menſchen
von natuͤrlich richtigem Gefuͤhl werden
hierin, wenn ſie nur ihren Empfindungen
treu bleiben, auch ohne ſich des genauen
Unterſchieds zwiſchen Natur und Menſch-
heit bewußt zu ſeyn, ſchwerlich Fehler
begehn.
Ruhe und Bewegung in der Natur
koͤnnen dem Luſtwandelnden nach der ver-
ſchiedenen Beſchaffenheit ſeines Gemuͤths-
zuſtandes gleich willkommen ſeyn. Schon
die Abwechslung gefaͤllt. Nach langer,
ununterbrochener Ruhe ſieht man, wie
nach langem heitern Wetter einen truͤben
Tag, einen Sturm ſogar gern. Ein
ſolcher bringt Leben in die Natur und re-
ges Leben ſagt unſern Empfindungen zu.
Das Luſtwandeln bey ſtaͤrkerm oder ſchwaͤ-
cherm Winde giebt uns den Reitz eines
ſoͤlchen regen Lebens zu empfinden, welches
die gewaltigen Kraͤfte der Natur uͤber ſie
verbreiten; und man darf die Gelegenheit
zu ſolchen Spatziergaͤngen nach verſchiede-
nen Anſichten, auf Berg und im Thal,
im Freyen und im Walde, wenn es da
ohne Gefahr ſich luſtwandeln laͤßt, nicht
verabſaͤumen, um ſich die belebenden Ein-
druͤcke davon zu verſchaffen. Wie ange-
nehm wogt nicht im Winde die Saat!
Wie mahleriſch beugen ſich die Kronen der
Baͤume im Sturm! Selbſt bey ſonſtiger
Ruhe in der Natur kann man den Ein-
druck regen Lebens in ihre Mitte erhalten,
wenn man bey einigem Winde in Gruͤn-
den luſtwandelt, wo hohe Pappeln mit
rauſchenden Blaͤttern ſtehn.
Dauert der Sturm laͤngere Zeit, ſo
wird er dem Luſtwandler widrig: er iſt
doch immer fuͤr die Natur und unſere Em-
pfindungen ein gewaltſamer Zuſtand. Kein
Gegenſtand der belebten Natur erſcheint
da in ſeiner ruhigen Lage und macht ſei-
nen natuͤrlichen Eindruck. Vorzuͤglich an-
genehm iſt deshalb der, einem heraufzie-
henden Gewitter vorhergehende Sturm,
weil eine ſolche ungewoͤhnlich ſtarke Bewe-
gung meiſtentheils auf eine voͤllig todte
Ruhe in der Natur folgt, und dieſe
nach dem Gewitter eben ſo bald zu
ihrem vorigen Zuſtande der Ruhe zu-
ruͤckkehrt. Gewitter ſind uͤberhaupt ein ſehr inter-
eſſantes Schauſpiel, wenn man zumahl
eine ganze Gegend und einen weiten Ho-
rizont dabey uͤberſchaut. Nur im Freyen
machen ſie dieſen ganzen vollen Eindruck.
Es gewaͤhrt ein erhabenes Vergnuͤgen,
bey einem in der Ferne heraufziehenden
oder wieder voruͤbergehenden Gewitter,
auf benachbarten Bergen oder Anhoͤhen
an dem Orte ſeines Aufenthalts zu luſt-
wandeln. Nach ſtarken geraͤuſchvollen
Eindruͤcken im Kreis der Geſchaͤffte und
des Lebens, nach vorhergegangener ſtarker
innerer Bewegung, ſo wie nach uͤberſtan-
denen ſchweren Krankheiten, wo der noch
ſchwache Koͤrper eine ſtarke Bewegung nicht
ertraͤgt, iſt Ruhe in der Natur fuͤr die
Gefuͤhle des Menſchen der angemeſſenſte
Zuſtand.
Man kann aber die Natur ſeinen Ge-
fuͤhlen nicht nur dadurch nahe bringen,
daß man die Parthien derſelben nach
Maaßgabe ſeiner Empfindungen waͤhlt:
man kann auch ſeine Empfindungen zu ihr
hinaufſtimmen. Dieß geſchieht zum Bey-
ſpiel vermittelſt des Koͤrpers durch das
Bad. Nach dem Bade findet man ſich
am heiterſten geſtimmt: alle Gegenſtaͤnde
erſcheinen dem Luſtwandler darnach in ei-
nem reinern Licht, in einer friſchern Ge-
ſtalt. Ein Bad, wo ſich die Menſchen
ihrer Geſchaͤffte und Sorgen entſchlagen
und bey erhoͤhtem Wohlgefuͤhl des Koͤr-
pers durch den Gebrauch der Baͤder im ge-
ſellſchaftlichen Genuß der Natur leben,
kann nicht anders als ein hohes Jntereſſe
in die Spatziergaͤnge bringen. Mit wel-
N
cher Empfindung muͤſſen da nicht vollends
Gegenſtaͤnde auf die Seele des Luſtwan-
delnden wirken, die durch ihre eigene
Schoͤnheit und Erhabenheit ſchon alles an-
dere hinter ſich zuruͤcklaſſen! Von der Art
muß der Sonnenuntergang in der Gegend
von Doberan ſeyn, wenn er, wie die Na-
tur der Sache ſchon mit ſich bringt, der
Beſchreibung eines Ungenannten gleicht:
„Der Sonnenuntergang iſt hier bey
heiterm Wetter ein wunderſchoͤnes, erha-
benes Schauſpiel; der ganze Ozean nach
Weſten zu ſcheint entgluͤht und ſeine Far-
ben ſchmelzen ſo ſanft und unmerklich mit
dem gleichfarbigen Horizont zuſammen,
daß das Auge die Graͤnzen nicht mehr zu
unterſcheiden vermag. Sind Schiffe in
der Entfernung ſichtbar, ſo hat es die ſon-
derbare Wirkung, daß ſie durch dieſen
optiſchen Betrug gleichſam in der Luft zu
ſchweben ſcheinen.“ Journal des Luxus und der Mo-
den, Januar 1801 S. 18.
N 2
Achtzehntes Kapitel.
Einiges uͤber die phyſiſchen Bedingungen
des Spatzierengehns.
Phyſiſche Bewegung des Koͤrpers macht
freylich bey weitem noch nicht das Luſt-
wandeln aus. Koͤrperbewegung — ſo
vortheilhaft das Spatzierengehn auch auf die
Geſundheit wirkt — iſt von dem Luſtwan-
deln ſelbſt nicht einmahl ein wirklicher Be-
ſtandtheil. Was das eigentliche Luſtwan-
deln beſtimmt, iſt geiſtiger Art; obwohl
viele Spatziergaͤnger, deren Geiſt zu leer
oder zu traͤg iſt, um dabey eine Rolle zu
ſpielen, auf ihren Spatziergaͤngen nur
wandelnde Maſchinen ſeyn moͤgen. Jſt
aber gleich Koͤrperbewegung noch nicht das
Luſtwandeln ſelbſt; ſo iſt ſie doch eine
nothwendige Bedingung des Luſtwandelns;
ſollte ſie auch, wie beym Spatzierenfah-
ren, nur leidend ſeyn. Zweckmaͤßige oder
zweckwidrige Koͤrperbewegung kann den
(geiſtigen) Zweck des Luſtwandelns befoͤr-
dern oder beeintraͤchtigen und vereiteln:
und es iſt alſo doch gewiß nicht zweckwi-
drig, uͤber die vortheilhafteſten phyſiſchen
Bedingungen des Spatzierengehns Einiges
zu ſagen.
Kranke koͤnnen, wie ſich von ſelbſt er-
giebt, nicht eigentlich luſtwandeln. Jhre
Spatziergaͤnge ſind bloße Verſuche, die
Reitze einer Promenade oder der freyen
Natur an das Gemuͤth zu bringen, um
dem Koͤrper zugleich durch den Geiſt bey-
zukommen. Wenn ſich auf dem Spatzier-
gang koͤrperliche Gefuͤhle dem Bewußtſeyn
unabwehrlich aufdraͤngen, hat der Geiſt
nicht die zum Luſtwandeln noͤthige innere
Freyheit. Wenn die kuͤrzeſte und leichteſte
Bewegung ſchon das Gefuͤhl von Schwaͤche
zur Folge hat, ſo iſt der Geiſt viel zu ſehr
an den Koͤrper gefeſſelt, als daß er ſeine
eigenen freyen Zwecke verfolgen koͤnnte.
Was bey dem Kranken Folge ſeiner
zerruͤtteten Geſundheit iſt, Gefuͤhl von
Schwaͤche, kann auch bey dem Geſunden
durch eine unvortheilhafte Koͤrperbewegung
auf Spatziergaͤngen erfolgen: und dann
litte der Zweck des Luſtwandelns dadurch
gleichfalls. Jeder Menſch hat nur ein be-
ſtimmtes Maaß von Koͤrperkraft, das
freylich bey verſchiedenen Menſchen ganz
verſchieden ſeyn kann. Ein zartes Frauen-
zimmer ermuͤdet ſchoͤn von einem maͤßigen
Spatziergang, den der ſtaͤrkere Mann
ohne Beſchwerlichkeit wiederholt zuruͤckle-
gen koͤnnte. Menſchen, die eine ſitzende
Lebensart fuͤhren und ihre Koͤrperkraͤfte
nicht uͤben, fuͤhlen ſich bald von einem
Spatziergange erſchoͤpft. Sobald dieß der
Fall iſt, miſchen ſich koͤrperliche Gefuͤhle
in den Empfindungszuſtand und es iſt um
die Freyheit des Gemuͤths geſchehn.
Es kann freylich jeder nur aus eigener
Erfahrung wiſſen, wie lange er ohne Er-
muͤdung zu luſtwandeln vermag. Allein
man braucht auch nicht den Grad des
Kraftmaaßes eines jeden zu kennen, um
einige allgemeine phyſiſche Bedingungen
des Luſtwandelns anzugeben, die fuͤr je-
dermann gelten. Auch in Abſicht der
Laͤnge des Spatzierengehns kann die Un-
gleichheit unter den Menſchen ſo groß nicht
ſeyn. Geſetzt auch, der Koͤrper ermuͤdete
bey jemandem nicht ſo leicht: ſo wuͤrde er
doch ſeinem Spatzierengehn aus Mangel
an Geiſtesintereſſe, das ſich auf die Laͤnge
ohne Zwang nicht erhalten ließe, Grenzen
ſetzen muͤſſen. Jm Allgemeinen iſt es
hieruͤber Regel: das Spatzierengehn nicht
weiter fortzuſetzen, wenn man ſich (koͤrper-
lich) unbehaglich, oder wenn man ſich
(geiſtig) von dem Spatzierengehn nicht
mehr intereſſirt fuͤhlt.
Hauptſaͤchlich muß man ſich vor einer
zu ſchnellen Koͤrperbewegung auf Spatzier-
gaͤngen huͤten. So bekannt dieß iſt, ſo
haͤufig verſtoͤßt man dagegen. Vorzuͤglich
iſt dieß in Geſellſchaft der Fall, und der
Grund davon iſt, weil man im Feuer des
Geſpraͤchs ſeine Aufmerkſamkeit verliert.
Aber man verliert dadurch auch die Ein-
druͤcke der Natur. Man kann es ſehr
bald wiſſen, wann man ſich in dieſem
Zuſtande befindet. Sobald ſich naͤmlich
des Spatzierengehenden, der ſich ſelbſt und
die Dinge um ſich vergaß, waͤhrend er zu
ſchnell ging, eine peinliche Empfindung
bemaͤchtigt, kann er gewiß ſeyn, ſich auf
dem Fehler des zu ſchnellen Spatzieren-
gehns zu betreffen. Allein wenn dieſe
Empfindung eintritt, kam es damit ſchon
zu weit. Der erhitzte und ermattete Koͤr-
per, den man beym Luſtwandeln gar nicht
fuͤhlen muͤßte, draͤngt ſich in die von ihm
ganz abgezogene Aufmerkſamkeit des pein-
lich Luſtwandelnden gewaltſam ein. —
Nie ſollte man eigentlich ſogleich nach
Tiſche ſpatzieren gehn. Nach Tiſche iſt der
Koͤrper zu ſehr mit der Verdauung beſchaͤf-
tigt, als daß das Gehn nicht ſchon an ſich
mit Beſchwerlichkeit verbunden waͤre. Der
Geiſt haͤngt da zu ſehr vom Koͤrper ab,
als daß man ein freyes, von Koͤrperge-
fuͤhlen nicht eingeſchraͤnktes Wohlgefallen
an Natur und Geſellſchaft haͤtte, wenn
auch die Unbehaglichkeit eines ſolchen Luſt-
wandelns unmittelbar nach Tiſche ſich bey
dem geſunden Menſchen nicht auf eine
auffallende Art zu erkennen giebt. Selbſt
in Gaͤrten, wo man ſpeiſte, iſt es nicht
zweckmaͤßig, unmittelbar nach Tiſche ſpa-
tzieren zu gehn.
Eben ſo wenig ſollte man unmittelbar
nach Tiſche ſpatzieren fahren oder reiten.
Zwar iſt das Spatzierenfahren mehr lei-
dend, als das Spatzierengehn und erfor-
dert alſo weniger ſelbſtthaͤtigen Kraftauf-
wand; aber darum iſt es doch nicht weni-
ger zweckwidrig, als das Spatzierengehn
ſelbſt. Beym Spatzierenfahren wird der
ganze Koͤrper unaufhoͤrlich geſchuͤttelt und
oft gar erſchuͤttert. Hier wird die Ver-
dauung aus Mangel an Ruhe eben ſo ſehr
erſchwert. Am unzweckmaͤßigſten iſt aber
vollends das Spatzierenreiten unmittelbar
nach Tiſche; denn es iſt mit ſtaͤrkerm
Kraftaufwande, als das Spatzierengehn
und Spatzierenfahren verknuͤpft.
Mittags vor Tiſche iſt zum Spatzie-
rengehn, wie bekannt, die gerathenſte
Zeit. Da findet keine der Urſachen Statt,
welche das Spatzierengehn unmittelbar
nach Tiſche widerrathen. Vor Tiſche kann
man des Mittags in jeder Jahreszeit gleich
ſchicklich ſpatzieren gehn. Winter und
Sommer, Fruͤhling und Herbſt machen
in dieſer Hinſicht, ſo ungleich ſie ſich ſonſt
ſind, keinen Unterſchied. Nur muß man
im Sommer, wo gerade die groͤßte Son-
nenhitze bey hellen Tagen herrſcht, des
Mittags zu ſeinen Spatziergaͤngen beſchat-
tete Orte, Alleen, Gaͤrten, Waldpar-
thien waͤhlen. Ohne dieſe Vorſicht koͤnnte
man durch einen kurzen Spatziergang ſich
zu ſehr erhitzen und ermuͤden; was un-
mittelbar vor Tiſche dem Koͤrper noch nach-
theiliger iſt, als ſonſt, wo man nicht
ſogleich auf eine ſtarke Ermuͤdung ſich zur
Tafel ſetzt.
Am vortheilhafteſten fuͤr Koͤrper und
Geiſt ſind Spatziergaͤnge den Sommer
uͤber fruͤh Morgens, wenn ſie nur nicht
ſo leicht ermuͤdeten. Dieſe Unbequemlichkeit haben auch Spa-
tziergaͤnge im Fruͤhling beym erſten Erwa- Nicht nur iſt der
Koͤrper da von dem vorhergehenden Schlafe
geſtaͤrkt und der Menſch luſtwandelt fruͤh
mit voller Empfaͤnglichkeit: er iſt auch
noch nicht durch die Geſchaͤfte und Sorgen
des Tages zerſtreut. Zugleich genießt er
da die Natur in einer der ſchoͤnſten Peri-
oden des Tages. Eben ſo einladend und
belebend ſind Spatziergaͤnge fuͤr Koͤrper
und Geiſt im Sommer des Abends. Der
Koͤrper iſt von keinen Speiſen mehr be-
ſchwert; die Hitze des Tags faͤllt nicht
mehr zur Laſt, die Spatziergaͤnge ermuͤ-
chen der Natur. Jn dieſer Hinſicht hat
der Herbſt Vorzuͤge vor dem erſt begin-
nenden Fruͤhling. Allein ſollte man die An-
nehmlichkeiten gewiſſer Tages- und Jah-
reszeiten lieber ganz entbehren, als daß
man ſich ein wenig Unbequemlichkeit und
Ermuͤdung gefallen ließe?
den nicht mehr ſo leicht und die angeneh-
men kuͤhlenden Winde wehen uns an mit
Wohlgefuͤhl.
Erlaͤuterungen
Auf offnem Meere, im Anblick
einer einfoͤrmigen Waſſerwelt.
S. 19. Z. 4. Sehr pſychologiſch wahr
urtheilt hieruͤber Wieland im Eingang
ſeines Ariſtipp: „Es daͤuchte mich ſchon
am Abend des zweyten Tages, ſchreibt
hier Ariſtipp an ſeinen Freund Kleoni-
das von ſeiner Seereiſe auf der Ueber-
fahrt nach Kreta, „als ob mir das ma-
jeſtaͤtiſche, unendliche Einerley unvermerkt
— lange Weile zu machen anfange. Him-
mel und Meer, in Einen unermeßlichen
Blick vereinigt, iſt vielleicht das groͤßte
und erhabenſte Bild, das unſere Seele
faſſen kann; aber nichts als Himmel und
Meer und Meer und Himmel, iſt, we-
nigſtens in die Laͤnge, keine Sache fuͤr
deinen Freund Ariſtipp: und ich glaube
wirklich, daß mir ein kleiner Sturm, mit
Donner und Blitz und uͤbrigem Zubehoͤr,
bloß der Abwechslung wegen, willkom-
men geweſen waͤre.“
Das Phyſiſche bey dem Spa-
tzierengehn. S. 20. Z. 8. Es ge-
hoͤrt eine ſehr traͤge Einbildungskraft dazu,
ſich nicht wenigſtens in der Phanta-
ſie uͤber einer ſchoͤnen Gegend, frey wie
ein Vogel in der Luft ſchwebend und ver-
loren in den Genuß derſelben ohne druͤk-
kende phyſiſche Abhaͤngigkeit von den Ge-
ſetzen der Schwere denken zu koͤnnen.
Nur waͤre dieß, obwohl ein geiſtiger,
O
doch kein aͤchtmenſchlicher Zuſtand. Jn
einem ſolchen befindet ſich der Menſch,
erhaben uͤber das Thier, nur nach ſeiner
ganzen Natur.
Natur. S. 46. Z. 4. Schon an
einem andern Orte (in den Briefen
uͤber Garve's Schriften und
Philoſophie Seit. 258-268); ſo
wie von den hier in Betracht kommenden
Seiten habe ich den Einfluß der Natur im
ſechſten und eilften Kapitel gegenwaͤrtiger
Schrift beruͤhrt. Vortrefflich bemerkt
Kant in der Kritik der Urtheils-
kraft: ungeheucheltes und reges Jnter-
eſſe an der Natur verrathe ſtets einen ed-
len Geiſt. Kant ſelbſt druͤckt ſich ſo dar-
uͤber aus: „Jch raͤume gern ein, daß das
Jntereſſe am Schoͤnen der Kunſt
(wozu ich auch den kuͤnſtlichen Gebrauch
der Naturſchoͤnheiten zum Putze, mithin
zur Eitelkeit, rechne) gar keinen Beweis
einer dem Moraliſchguten anhaͤnglichen,
oder auch nur dazu geeigneten Denkungs-
art abgebe. Dagegen aber behaupte ich,
daß ein unmittelbares Jntereſſe
an der Schoͤnheit der Natur zu nehmen
(nicht bloß Geſchmack haben, um ſie zu
beurtheilen) jederzeit ein Kennzeichen einer
guten Seele ſey; und daß, wenn dieſes
Jntereſſe habituell iſt, es wenigſtens eine
dem moraliſchen Gefuͤhl guͤnſtige Ge-
muͤthsſtimmung anzeige, wenn es ſich
mit der Beſchauung der Natur
gern verbindet. Der, welcher einſam
(und ohne Abſicht, ſeine Bemerkungen
Andern mittheilen zu wollen) die ſchoͤne
Geſtalt einer wilden Blume, eines Vo-
gels, eines Jnſects u. ſ. w. betrachtet,
um ſie zu bewundern, zu lieben, und ſie
nicht gerne in der Natur uͤberhaupt ver-
miſſen zu wollen, ob ihm gleich dadurch
O 2
einiger Schaden geſchaͤhe, vielweniger ein
Nutzen daraus fuͤr ihn hervorleuchtete,
nimmt ein unmittelbares Jntereſſe an der
Schoͤnheit der Natur.“ Ein ſolches Jn-
tereſſe an der Natur, eine ſolche Liebe zu
derſelben befriedigen vorzuͤglich Spatzier-
gaͤnge im Freyen der Natur. Bloß ſte-
hende Betrachtung derſelben wuͤrde nur
ſehr einfoͤrmig, und fuͤr die Laͤnge nur
ein dumpfes Bruͤten oder Traͤumen ſeyn.
Das große Schauſpiel der
aufgehenden Sonne. S. 48. Z. 17.
Ganz nach der Natur mahlt Rouſſeau
den Sonnenaufgang im dritten Buch des
Aemil: „Schon von weitem,“ ſo mag
vor der Hand dieſe nicht leicht zu uͤber-
ſetzende Stelle im Deutſchen lauten, „ſieht
man ſie ſich durch feurige Strahlen ankuͤn-
digen, welche ſie vor ſich her ſchickt. Jm-
mer groͤßer wird die ſtrahlende Gluht;
der ganze Oſten ſcheint in Flammen. Jhr
Feuer ſpannt die Erwartung lang vorher
auf das Geſtirn, eh es ſich zeigt. Jeden
Augenblick glaubt man ſie zu ſehn: endlich
ſieht man ſie. Ein ſtrahlender Punkt
geht aus wie ein Blitz und erfuͤllt alsbald
den ganzen Raum; der Schleyer der Fin-
ſterniß luͤſtet ſich und ſinkt: der Menſch
erkennt wieder ſeinen Wohnplatz und fin-
det ihn verſchoͤnt. Das Gruͤn hat waͤh-
rend der Nacht eine neue Lebhaftigkeit ge-
wonnen: der tagende Morgen, der es
erhellt, die erſten Strahlen, die es ver-
golden, zeigen es rings mit einem Ge-
webe von Perlenthau bedeckt, welches dem
Auge Licht und Farben zuwirft. Die Voͤ-
gel vereinigen ſich in Choͤre und gruͤßen
einſtimmig den Vater des Lebens: keiner
ſchweigt in dieſem Augenblick. Jhr noch
ſchwaches Gezwitſcher iſt langſamer und
ſanfter, als den uͤbrigen Tag: es ſpricht
daraus die ſuͤße Mattigkeit eines friedlichen
Erwachens. Der Zuſammenfluß aller die-
ſer Gegenſtaͤnde macht auf die Sinne ei-
nen Eindruck von Friſchheit, welcher bis
zu der Seele durchzudringen ſcheint. Man
befindet ſich da eine Viertelſtunde in einem
Entzuͤcken, dem kein Menſch widerſteht:
ein ſo großes, ſo ſchoͤnes und koͤſtliches
Schauſpiel laͤßt niemanden bey kaltem
Blute.
Nur muͤßte das Jntereſſe,
das der Luſtwandler an der Na-
tur nimmt, kein intellektuelles
Jntereſſe ſeyn. S. 50. Z. 1. Der
Jnhalt des vortrefflichen Schillerſchen
Gedichts: Der Spatziergang (Ge-
dichte von Schiller S. 49.-65.)
waͤre gleichwohl keine zweckmaͤßige Unter-
haltung auf einem wirklichen Spa-
tziergang. Obgleich das Schillerſche Ge-
dicht nicht Zwecke des Verſtandes (Dar-
ſtellung des Verhaͤltniſſes der Natur zur
Menſchheit nach dem ganzen ſtufenweiſen
Fortgange der Kultur) durch und fuͤr den
Verſtand aufſtellt und verfolgt, alſo von
wahrhaft poetiſchem Geiſte ausgeht und in
poetiſchem Geiſte endigt: ſo iſt es doch
als Kunſtwerk, und zumahl als Kunſtwerk
von tiefangelegter Kunſt und langem
Athem fuͤr die Unterhaltung auf einem
Spatziergang, als zu methodiſch und ernſt
nicht geſchickt. Zwar iſt alles mit großer
Kunſt in dem Schillerſchen Gedichte auf
den Kreis des Luſtwandelns, im Freyen
der Natur nahe bey einer Stadt, zuruͤck-
gefuͤhrt und wenn ſich die geiſtige Betrach-
tung zu weit von der wirklichen Anſchau-
ung der den angenommenen dichtenden
Spatziergaͤnger umgebenden Gegenſtaͤnde
zu verlieren ſcheint, wird ſie geſchickt wie-
der an einen ſolchen Gegenſtand der wirk-
lichen Anſchauung angeknuͤpft; aber ob
das Gedicht gleich im Kreiſe des Luſtwan-
delns ſpielt und ſeine ſinnlichen und intel-
lektuellen Beſtandtheile auf das innigſte
bindet und in einander verſchmelzt: ſo ſind
ſie doch nicht aus dem Kreiſe des unbe-
fangenen Luſtwandlers entlehnt, deſſen
Empfindungen und Jdeen nicht immer nur
eine und dieſelbe Richtung halten, ſon-
dern zugleich wechſeln wie ſein Schauplatz.
Auch laͤßt die Lektuͤre von Schillers Ge-
dichte nicht die unbefangene Stimmung
zuruͤck, die ein wirkliches Luſtwandeln im
Kreiſe der Natur und Menſchheit erzeugt.
Vielmehr wirkt es (gewiß der voͤlligen Ab-
ſicht des Dichters ſelbſt gemaͤß) den Ein-
druck von hohem moraliſchen Ernſt. Man
iſt alſo uͤber der Lektuͤre dieſes Gedichts —
was von dem Spatziergange eines wirkli-
chen Luſtwandlers nicht gelten kann, wel-
cher in keine hohe, wenn auch moraliſche,
Spannung geraͤth und ſich uͤber nichts,
auch nicht uͤber Natur und Menſchheit,
in innerer Bewegung ſeines ganzen We-
ſens, leidenſchaftlich erhitzt und ergießt —
in hohem Grade (moraliſch) interes-
ſirt; ein Zuſtand, der ſich mit der aͤſthe-
tiſchen Stimmung des Luſtwandlers, zu
einem freyen Spiele ſeiner Gemuͤthskraͤfte,
nicht vertraͤgt. Schiller wollte durch
ſein Gedicht keinen wirklichen Spa-
tziergang kopiren; der Spatziergang ſollte
ihm nur Vehikel zu einer intereſſanten
poetiſchen Darſtellung (Fiction) ſeyn.
Als ſolches iſt er vielleicht die einzige Si-
tuation, worin Natur und Menſchheit ſich
in dem von Schiller beabſichteten Lichte
poetiſch darſtellen ließen.
Zum Beweiſe, daß ich Schillers Ge-
dicht nicht nach einer bloßen Anſicht fuͤr
meinen Zweck faſſe, mag hier die kurze,
aber treffende Charakteriſtik dieſes Gedichts
aus der meiſterhaften, mit eben ſo viel
eindringendem Geiſte als wahrem Dichter-
gefuͤhl geſchriebenen Recenſion, der beſten,
die uͤber Schillers neue Ausgabe ſeiner Ge-
dichte erſchien, in der neuen Biblio-
thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften
(im erſten Stuͤck des fuͤnf und ſechzigſten
Bandes) ſtehn. „Reiche, einander entge-
gengeſetzte Bilder“ heißt es da, „der
Natur und Kunſt, der Einfachheit und
des Luxus, der Unſchuld und der Verderb-
niß, der Freyheit und der Tyranney ver-
einigen ſich hier zu einem großen Ganzen,
welches die Einbildungskraft mit dem Ef-
fect eines kunſtvoll geordneten, magiſch
beleuchteten Gemaͤhldes bezaubert und den
Verſtand mit dem Verdienſte einer gruͤnd-
lichen Geſchichte unterhaͤlt. Wir glauben
eine Beſchreibung zu leſen und ſehen uns
mit einer Ausſicht auf die Weltgeſchichte
uͤberraſcht; wir begleiten einen Luſtwandler
auf ſeinen Spatziergang, und er entfuͤhrt
uns auf den Fluͤgeln ſeiner Begeiſterung
zu einer Hoͤhe, von welcher wir auf das
Menſchengeſchlecht herab blicken und alles
Große und Wunderbare ſeiner Kultur mit
einemmale uͤberſchaun.“
Den Stoff zur einſamen Unterhaltung
auf Spatziergaͤngen im Freyen muß immer
zunaͤchſt, mehr oder weniger die Natur,
muͤſſen nicht Kunſt und Buͤcher geben,
ſelbſt wenn ſie dieſelben Natureindruͤcke
ſchilderten, die ſich auf dem Spatziergange
darbieten; und die Unterhaltung darf ſich
nie ganz aus dem Kreiſe der Wirklichkeit
beym Luſtwandeln verlieren. Dann wird
auch ein heiterer Eindruck der reine Ge-
winn eines ſolches Spatzierganges ſeyn. —
Hiermit wird nicht verlangt, man ſolle
ſeine Gefuͤhle und Jdeen im Kreiſe der
Natur gewaltſam unterdruͤcken, ſelbſt
nicht, wenn ſie z. B. bey ſonderbar ge-
ſtalteten Gebirgsmaſſen, ſich auf den Ur-
ſprung der Dinge bezoͤgen; nur muͤßten
ſie ſich nicht von der Wirklichkeit der um-
gebenden Gegenſtaͤnde ganz losreißen und
in ein davon ganz unabhaͤngiges, ernſtes
Nachdenken uͤbergehn. Jch erklaͤrte mich
daruͤber (Seit. 75, 76) ja ausdruͤcklich:
wir beruͤhrten die Natur nicht unmittel-
bar, ſtaͤnden mit ihr nur mittelbar in
Verbindung durch unſere Gefuͤhle und
Jdeen, die wir, nur jeder in einem eige-
nen Maaße, zur Betrachtung derſelben
mitbringen; der Genuß der Natur werde
durch den groͤßern Reichthum des Geiſtes
und Herzens von Seiten des Spatziergaͤn-
gers erhoͤht, und blindes Anſchauen der
Natur koͤnne nur ein dumpfes Traͤumen
ſeyn. Daraus folgt aber nicht, man
muͤſſe ſich dem Anblick der Natur ganz
entziehen und intellektuelle und morali-
ſche Betrachtungen zum eingentlichen Ge-
genſtande ſeiner Unterhaltung auf Spa-
tziergaͤngen machen.
Wohl lieſt man ein ſchoͤnes Gedicht
mit mehr Empfindung in der ſchoͤnen Na-
tur, als auf ſeinem Zimmer, und das
vortreffliche Schillerſche Gedicht duͤrfte ſich
im Anblick der Gegenſtaͤnde (das Jndivi-
duelle von dem Zuſtande und Lokal, worin
ſich der Dichter, dem Eingange des Ge-
dichts zufolge, befand, freylich noch nicht
in Anſchlag gebracht), welcher es eingab
und worauf es ſich bezieht, nur mit um
ſo mehr ergreifendem Gefuͤhl der Wahrheit
leſen laſſen. Man kann ſogar auf Spa-
tziergaͤngen im Freyen ſich im Gruͤnen la-
gern und ſich einer angenehmen Lektuͤre
hingeben: aber man lieſt doch nicht waͤh-
rend des Spatzierengehns und das Leſen
iſt nicht eigentlich Sache des Spatzieren-
gehns.
Ueber das Schillerſche Gedicht duͤrfte
ich in der Folge einen aͤſthetiſchen Commen-
tar, wozu es ſich mir vor vielen andern
zu eignen ſcheint, verſuchen, um ſowohl
die Eigenheit der Gattung, die es ſchuf
(denn es iſt kein Lehrgedicht), als die in-
nere Compoſition deſſelben zu entwickeln.
Es muͤſſen beyde mit einan-
der verbunden werden. S. 64.
Z. 9. Auch von dieſer Seite zeigt ſich
die Verſchiedenheit des Nationalgeiſts.
Der Franzos lebt weit mehr in der geſelli-
gen Welt; der Englaͤnder liebt mehr den
einſamen Umgang mit ſich und den Mu-
ſen, außerhalb der großen Staͤdte, in der
Natur. Daher hat auch der Charakter
des Franzoſen mehr Gemeinſinn (einen
mehr durch Geſellſchaft, die zur allgemei-
nen Denkart, Handlungsweiſe und Sin-
nesart ſtimmt, gebildeten Geiſt); der
Charakter des Englaͤnders mehr Originali-
taͤt. Sehr richtig ſchildert Roucher,
der Verfaſſer des Gedichts les Mois, ſelbſt
Franzos, dieſen verſchiedenen National-
geiſt. „Die unterrichteten, aufgeklaͤrten
Perſonen, welche allein die Klaſſe desje-
nigen Theils einer Nation bilden, von
welchem der eigentliche Nationalgeiſt in
der Literatur ausgeht, leben in England
viel auf dem Lande; und dieſer beſtaͤndige
Aufenthalt giebt ihnen taͤglich Gelegenheit,
eine Menge von Gegenſtaͤnden mit ihrem
Geiſte zu ergreifen und in ihren Jdeen-
und Gefuͤhlskreis aufzunehmen, welche ſie
mit Vergnuͤgen erfuͤllen, und welche uns
nichts ſagen, weil ſie fuͤr uns Franzoſen,
bey unſerer Eingenommenheit fuͤr das
Stadtleben, die ſo weit geht, daß wir
noch dann, wenn wir aufs Land ziehn,
die Stadt mit uns herumtragen, nicht
da ſind. Jndeß: die Zeit wird kommen,
wo wir vielleicht mehr als die Englaͤnder,
Buͤrger des Landes ſeyn werden. Da die
Republik, zuruͤckgebracht von der gaͤnzli-
chen Aufloͤſung der Finanzen, von dem
ausſchweifenden Reichthum, der unter ei-
ner aufwandſuͤchtigen und verſchwenderi-
ſchen Monarchie an dem innern Menſchen
nagte und ihn verzehrte, auf den Grund-
pfeilern der Sitten und Tugenden errichtet
iſt, ſo wird das Land in der Folge mehr
bewohnt ſeyn. Selbſt die Stuͤrme der
Freyheit werden den jederzeit groͤßten Theil
der ſchwachen und kleinen Menſchen zum
Landleben zuruͤckdraͤngen, und die Reitze
der Ruhe werden fuͤr ſie ein Band ſeyn,
das ſie nicht mehr trachten werden, zu
zerreißen. Dann wird uns, mit mehr
Neigung zum Nachdenken, zur Beobach-
tung, gefallen, was uns jetzt mißfaͤllt,
und man wird Thomſon und ſeine
Schuͤler mit Jntereſſe leſen. Sie werden
ſelbſt Nachahmer finden.“
Wer duͤrfte leugnen, daß die Revolu-
tion dieſe heilſame Wirkung auf den fran-
zoͤſiſchen Nationalcharakter haben kann;
aber wer duͤrfte auch mit den bisherigen
Erfahrungen Der edle Verfaſſer obiger Stelle, der noch
im Gefaͤngniß, vor ſeinem Tode auf dem
Blutgeruͤſt, wie Condorçet auf der Flucht,
an einen fuͤr Sitten und Tugend gereinig-
ten Geiſt ſeiner Nation glaubt, konnte
ſelbſt in jener blutigen Epoche des Terro-
rismus, wo die Nation noch immer in ei-
ner fieberhaften Spannung war, dieſe
Erfahrungen keineswegs ſchon haben. Er
ſah die Nation nicht mehr am Ende der
Revolution. die Franzoſen ſchon jetzt,
uͤber ihren alten Nationalcharakter erha-
ben, auf dieſer Stufe der Kultur finden?
Der Einfluß des Landlebens und der Na-
tur reinigt allerdings den Geiſt von Lei-
P
denſchaften, und erfuͤllt ihn mit dem Frie-
den und der Ruhe der Natur. Sehr wahr
ſagt in dieſer Ruͤckſicht Roucher: „ein
leidenſchaftlicher Freund der Kraͤuterkunde
(Botanik)“ ſo wie der Natur uͤberhaupt,
„iſt kein Conſpirateur.“ Wenn Auguſt,
wie Gibbon zeigt, die Roͤmer nach
den buͤrgerlichen Kriegen durch Virgils
Landbau fuͤr das Landleben gewinnen
und ſie dadurch von den verwildernden
Eindruͤcken eines der Grauſamkeit gewohn-
ten, kriegeriſchen Geiſtes heilen wollte:
ſo iſt auch bey den Franzoſen in Abſicht der
Folgen, die eine ſolche Revolution auf den
Geiſt derſelben hervorbringen mußte, nach
geendigtem Kriege fuͤr die Sitten noch al-
les zu thun. Wer ſieht z. B. nicht von
ſelbſt den Grund der jetzt ſo haͤufigen
und immer moͤrderiſchen Duelle in Frank-
reich!
Eine Reiſe in eine Gegend,
welche große und erhabene Ge-
genſtaͤnde der Natur darbeut.
S. 86. Z. 9. Eindruͤcke der Art von
den erhabenſten Naturgegenſtaͤnden, welche
ſich einem Luſtreiſenden nur darbieten koͤn-
nen, ſind es, die Matthiſſons geni-
aliſche Alpenreiſe (in deſſen Gedich-
ten Seit. 75. der viert. Aufl.) mit ſo
vieler Wahrheit mahlt. Nur ein wahr-
haft Luſtwandelnder, der auch bey dem
Erſteigen eines Bergs noch genießt, der
Natur Eindruͤcke ſich durch kein, Koͤr-
per und Geiſt erſchoͤpfendes, haſtiges und
die ganze Aufmerkſamkeit des Emporklim-
menden verſchlingendes Gehn beraubt,
wird ſich ihrer auf Bergreiſen ſo beſtimmt
bewußt.
Oeffentliche Promenaden auf
Alleen. S. 90. Z. 2. Noch mehr auf
P 2
oͤffentlichen Promenaden innerhalb einer
Stadt ſind die gruͤnen Anlagen und das da-
mit ausgeſtattete Lokal fuͤr die Spatziergaͤn-
ger Folie und Vehikel der Geſelligkeit, als
bloß geſellſchaftlicher Genuß der Natur. Sie
werden es mehr oder weniger, je nachdem
ſie mehr oder weniger beſucht ſind. Nach
dieſem Maaßſtabe hatten die oͤffentlichen
Spatziergaͤnge von Paris, wie ſie in den
verſchiedenen Theilen der alten Bou-
levards, im Garten der Tuile-
rien, auf den Eliſaͤiſchen Feldern,
im Garten des Pallaſtes Luxem-
bourg, des Palais Royal u. a. nach
der Schilderung Friedrich Schultz's,
(in deſſen Werk: Ueber Paris und
Pariſer. Seit. 277. u. f.) erſchei-
nen, jeder einen andern Charakter und ge-
waͤhrten, in Verbindung mit dem eigenen
Lokal, einen ganz eigenthuͤmlichen Ein-
druck. Man vernehme einige Hauptzuͤge
zur Charakteriſtik der Verſchiedenheit dieſer
Spatziergaͤnge in Paris von dem geuͤbten
Beobachter ſelbſt. „So viel ihrer ſind,
ſo ſehr ſind ſie in Abſicht des Lokale, des
Publikums, das dahin kommt, der Zeit,
wo es dahin kommt, und der Genuͤſſe,
die es da findet, unter einander verſchie-
den. Anziehend ſind ſie alle fuͤr den Be-
obachter, und wenn der eine weniger man-
nigfaltig und praͤchtig iſt, als der andere,
ſo biethet er dagegen wieder Stoff zu Be-
merkungen dar, die der andere nicht ver-
anlaßt.“ Zuerſt einiges daraus uͤber die
alten Boulevards. „Jch war in dem vor-
nehmern, mithin ſtillern Theile der alten
Boulevards. An beyden Seiten der Alleen
ſtehen Pallaͤſte, deren Bewohner theils
ſchon auf dem Lande, theils noch an den
Toiletten waren. Nur hier und da ſtand
eine Dame auf dem Balkon in einem Ne-
glige, das ihr Stunden gekoſtet hatte,
und ſah einem jungen Herrn nach, der entwe-
der auf einem fluͤchtigen Englaͤnder oder in
einem ſchimmernden Cabriolett ſauſend
voruͤberflog. Unter ihren Fuͤßen gingen
ſtille Buͤrgerfamilien, die ſchon ſeit einer
Stunde zu Mittag gegeſſen hatten, vor-
uͤber nach den Champs Elisées, waͤhrend
andere nach der entgegengeſetzten Richtung
in die rauſchenden Theile der Boulevards
hinunter ſtoͤmten. Buden, Kaffeehaͤu-
ſer, Garkoͤche waren hier noch ſelten und
nur in der Gegend des Théatre Italien
fand ich dergleichen. — — Es war vier
Uhr und die Stroͤmungen der Spatzier-
gaͤnger wurden immer lebhafter. Jch
miſchte mich wieder unter ſie und ſchlug
eine neue Station ein. Das Getuͤmmel
war in der Allee zur Rechten ſtaͤrker, als
in der zur Linken, und die Bewegungen
waren ſchneller, weil hier viele Baͤume
theils ausgegangen, theils noch nicht ſatt-
ſam angewachſen waren, um vor der
Sonne zu ſchuͤtzen. Dieß ging fort, bis
zur Straße Montmartre, wo die linke
Seite groͤßere Baͤume und mehr Schatten
darbot. Jch eilte im Flug hinuͤber, weil
hier ſchon Wagen auf Wagen und Kabrio-
lett auf Cabriolett die mittelſte Allee hin-
auf und hinunter fuhren. Hier wurden
auch die Kraͤmerbuden und Kraͤmertiſche
aller Art ſchon haͤufiger. — — Jch wußte
nicht ob ich hoͤren, oder ſehen, ob ich la-
chen oder weinen, oder alles zugleich ſollte.
Dieſe laͤrmende Stelle iſt zwiſchen der
Straße Poissonnière und dem Thore St.
Denis.“ Doch es iſt unmoͤglich, das ganze
bewegliche Gemaͤhlde hier zu kopiren.
„Der Garten der Thuilerien war von
jeher der Sammelplatz der großen und fei-
nen Welt von Paris, und die Spatzier-
gaͤnger in demſelben waren deſto erleſener,
je naͤher damals der Hof noch war und je
oͤfter der Koͤnig und die ganze koͤnigliche
Familie dahin kamen. Unter Heinrich IV.
wimmelte er zu jeder Tageszeit von Her-
ren und Damen und der Luxus, der da-
mahls ſchon tiefe Wurzel gefaßt hatte,
zeigte ſich dort in ſeinem ganzen verfuͤhre-
riſchen Schimmer. Dieſer Garten war
der Lieblingsſpatziergang Heinrichs IV. und
noch den Morgen des Tages, wo er er-
mordet wurde, war er in demſelben. Un-
ter Ludwig XIV. ſtieg der Garten an
Glanz und war faſt ausſchließend fuͤr den
Hof und was damit zuſammenhing. Er
wurde erweitert, verſchoͤnert, wie alles,
was dieſer Koͤnig in ſeinen Schutz nahm.
Er war die Schule des Luxus in Kleidung
und Equipagen, und man kann keinen
Schriftſteller der damaligen Zeit leſen,
worin man nicht ſeiner mit Extaſen er-
waͤhnt faͤnde. Er ſteht jetzt Schulz's Werk: Ueber Paris und
Pariſer kam 1791 heraus. fuͤr jedes
Alter, fuͤr jeden Rang und jeden Stand
offen. — Sein geraͤumiges Lokale, das
Tauſenden von Spatziergaͤngern freyen Um-
lauf bot, ſeine ſchattigen Alleen und ſeine
abwechſelnden Ausſichten nach der Seine
und auf den Weg nach Verſailles, waren
es nicht allein, was das Getuͤmmel in
demſelben unterhielt. Von den fuͤnf Alleen
deſſelben nehmen die dunklern zwey Drit-
theile des Gartens ein. Die Baͤume ſind
alt, hoch und ſo enge gepflanzt, daß kein
Sonnenſtrahl zwiſchen ſelbige hinabdringen
kann. Die mittelſte Allee und die Neben-
alleen auf beyden Seiten ſind heller und
haben die meiſten Spatziergaͤnger. An
den Baͤumen ſtehen Stuͤhle und Baͤnke
zum Niederſitzen. Die fuͤnf Alleen, drey
in der Mitte und zwey auf jeder Seite des
Gehoͤlzes, ausgenommen, ſtehen die uͤbri-
gen Baͤume bunt unter einander und ſind
der Schnur nicht unterworfen worden.
Unter denſelben ſind hier und da Raſen-
ſtuͤcke angebracht, die gewartet und begoſ-
ſen werden und beſtaͤndig ein friſches Gruͤn
darbieten. Auf denſelben ſitzen oder lie-
gen Gruppen von Spatziergaͤngern beyder-
ley Geſchlechts und ſpielen kleine Spiele
oder leſen einander vor, oder ſchwaͤrmen
Kinder mit ihren Waͤrterinnen umher oder
ſchlafen Menſchen von niedrigern Klaſſen.
Dieſe laͤndlichen Parthien machen einen
angenehmen Kontraſt mit dem großſtaͤdti-
ſchen Prunk in den Hauptalleen, der ſich auf
ſandigen Wegen ſchautraͤgt oder zur Schau
ſetzt:“ Jch muß die Angabe der Statuͤen,
Kaffeehaͤuſer, Traiteurs, ſo wie der Be-
ſuchszeiten u. ſ. f. dieſes Gartens uͤber-
gehn.
Von dem Platz Ludwig XV., dem
groͤßten in Paris, „tritt man ſogleich in
das reitzende Waͤldchen, das die entzuͤck-
ten Pariſer, denen ein friſcher Raſen et-
was neues iſt, die Eliſaͤiſchen. Fel-
der nannten. Wo man hinſieht, laͤuft
eine Allee vor Einem hin: zur Rechten,
zur Linken, gerade aus, ſchraͤg hinein.
Der Theil zur Rechten iſt der beſuchteſte
und hat ein vornehmeres Publikum, als
der zur Linken. Hier findet man Kaffee-
haͤuſer, Traiteurs, die feinere Waaren
liefern, als gegenuͤber die Garkuͤchen,
Weinhaͤuſer und Bierſchenken. Das Pu-
blikum auf dieſer Seite geht ſtill auf und
ab und wird nur an den Abenden ſchoͤner
Tage zahlreich. Beſorgte Muͤtter und
Vaͤter kommen mit ihren Toͤchtern und
Soͤhnen hierher und bilden kleine Zirkel in
den Alleen, die weder ſehr bunt, noch
ſehr glaͤnzend, aber dafuͤr deſto heiterer
ſind. Die große Welt ſieht dieß Waͤld-
chen nur und ſteigt ſelten aus ihren ſchim-
mernden Karoſſen, die den Weg zwiſchen
demſelben auf und ab fliegen. Das Waͤld-
chen zur Rechten wird von Gaͤrten be-
graͤnzt, die mit artigen Pavillons, mit
Grotten und Felſenkluͤften beſetzt ſind und
das Ganze ſehr angenehm und romantiſch
machen. Am angenehmſten iſt dieß Waͤld-
chen Morgens, aber oft habe ich um dieſe
Zeit nicht zehn Menſchen hier gefunden.“
„Auf der linken Seite ſind die Alleen
nicht ſo ſchoͤn, als auf der rechten, aber
hier, beſonders hoͤher nach den Barrieren
hinauf, findet man große Raſenplaͤtze, die
des Sonntags von Buͤrgern und ihren Fa-
milien beſetzt ſind. Sie lagern ſich entwe-
der in großen Geſellſchaften umher, und
laſſen das junge Volk um ſich herumſprin-
gen, oder ſie ſpielen ſelbſt Ball mit ihnen,
oder ihr beliebtes Kugelſpiel. Dieß Spiel
iſt ſehr alt und ſehr unſchuldig, und wird
von den gemeinen Leuten Cochonnet ge-
nannt. Man wirft eine kleine Kugel aus,
und wer mit der groͤßern am naͤchſten dar-
an zu ſtehen kommt, zieht den Gewinnſt.
Eine doppelte Reihe von Zuſchauern ergoͤtzt
ſich bloß mit Zuſehen, und ihr Jntereſſe
beym Spiel iſt der Krieg der großen Ku-
geln, die einander wegſtoßen, um der
kleinſten am naͤchſten zu ſeyn. Dieß Spiel
iſt ſo einfach und gutmuͤthig, als der Cha-
rakter des Pariſiſchen Buͤrgermannes ſelbſt,
der ſich unter der fuͤrchterlichſten Maſſe
von Verderbtheit, in ſeiner alten Offen-
herzigkeit, Gutmuͤthigkeit und Gefaͤlligkeit
zu erhalten gewußt hat. Von dieſer
Seite iſt fuͤr mich die aͤrmere Haͤlfte der
Champs Elisées weit anziehender geweſen,
als die vornehmere.“
„Der Garten des Palais Luxembourg
hat wiederum in Abſicht ſeines Lokale und
ſeines Publikums manche Eigenheit, die
ihn nicht minder merkwuͤrdig macht, als
die Tuilerien. Man geht uͤber den gan-
zen Hof und tritt in ein praͤchtiges Veſti-
buͤle, das in den Garten ſelbſt fuͤhrt.
Vorwaͤrts breitet ſich ein einfaches, aber
geſchmackvoll gezeichnetes Parterre aus,
das mit Blumen und Stauden aller Art
beſetzt und mit hohen Buchsbaͤumen einge-
faßt iſt. Auf beyden Seiten deſſelben ver-
liert ſich das Auge in dunkle Alleen, die
den Alleen der Tuilerien nichts nachgeben,
und dieſe ſind der Sammelplatz der Spa-
tziergaͤnger, die hierher kommen. Jhre
Anzahl iſt an keinem Tage und zu keiner
Tageszeit ſtark. Es ſcheint der Garten
des Nachdenkens zu ſeyn. Hier ſieht man
zwey bis drey ſtille Maͤnner ſitzen, die be-
ſcheiden ſprechen und ſtreiten. Dort ſitzen
andere einzeln, mit einem Buche oder ei-
ner Schreibtafel in der Hand. Jn jene
Allee laufen andre eiligſt, und wie vom
Dichtergeiſte geplagt hin und her. Hier
ſpielen Kinder auf dem gruͤnen Raſen und
Muͤtter und Ammen ſind in ihrer Mitte
gelagert; dort ſitzt eine Geſellſchaft aͤltli-
cher Damen, die einander entweder vorleſen
oder ſtricken oder ſonſt etwas um die Hand
nehmen. Ganz im Hintergrunde ſtiehlt
ſich ein zaͤrtliches Paar umher, das viel-
leicht aus dem entfernteſten Viertel der
Stadt eine Beſtellung hierher verabredet
hatte. Alles iſt ruhig, heiter und ge-
nuͤgſam.“
Die weitere Ausfuͤhrung des ganzen
lehrreichen Gemaͤhldes der oͤffentlichen Spa-
tziergaͤnge zu Paris, z. B. die intereſſante
Beſchreibung des durch die mannigfaltig-
ſten Naturſchoͤnheiten aus allen Weltge-
genden anziehenden Jardin du Roi oder
des Plantes, wo des großen Buͤffons
Statuͤe ſteht, muß man bey Schulz
ſelbſt nachleſen. Jn den Reiſen eines
jungen Lieflaͤnders erhielt das Pu-
blikum eine Beſchreibung der oͤffentlichen
Spatziergaͤnge von Warſchau, Ber-
lin und Wien durch dieſelbe Meiſter-
hand.
Dieſer wuͤrde aber mehr
ſchauerlich ſeyn. S. 101. Z. 6.
Von dieſer Art ſind die ſchoͤnen Gaͤrten zu
Poggi in Genua, die Duͤpati (in
den Briefen uͤber Jtalien Band I,
Seit. 50. ff.) beſchreibt. Jn ihnen zeigt
ſich zugleich ein Muſter ſchoͤner Garten-
kunſt. Man hoͤre Duͤpati ſelbſt. „Die
ſchoͤnen Gaͤrten zu Poggi gleichen nicht je-
nen ſymmetriſchen Gaͤrten, die der Hoch-
muth beſtellt, und die Baukunſt ausge-
fuͤhrt hat; nicht jenen Gaͤrten, wo unter
der einfoͤrmigen, despotiſchen Zucht der
Scheere, des Rechens und der Schnur,
jedes Beet nur eine Blume, jeder Gang
nur einen Baum, jeder offene Platz nur
einen Weg, und alles nur eine Maſſe dar-
ſtellt; nicht jenen Gaͤrten, wo das Waſſer
in ungeheuren Becken zum ewigen Schlaf
und zum Schweigen verurtheilt iſt; nicht
jenen Gaͤrten endlich, die, ſo groß
ihr Umfang iſt, nur fuͤr eine Stunde,
einen Gang von hundert Schritten und
einen fluͤchtigen Blick gemacht worden
ſind.“
„Statt deſſen hat der Genius dieſer
Gaͤrten alles hingezaubert, was Kenntniß
und Liebe der ſchoͤnen Natur ihm eingeben
koͤnnen, um das Auge, die Phantaſie
und das Herz zugleich, durch zarte Roſen-
betten, durch Waſſer und Erde, durch
Blumen und alle Schattirungen von Gruͤn
im mannigfaltigen Sonnenſtrahl zu ent-
zuͤcken.“
„Der Umfang dieſer Gaͤrten iſt unbe-
traͤchtlich; die Kunſt beſteht darin, ihn
nicht auf einmahl darzulegen, ſondern viel-
mehr ſo haushaͤlteriſch zu verheelen, daß
jeder Schritt neue Raͤume, jeder Blick
O
neue Gegenſtaͤnde findet, bey denen ſich
die Seele in ſuͤßen Traͤumereyen wiegt.
Es giebt keine Blume im Garten, die
nicht einen Schauplatz haͤtte, wo ſie glaͤn-
zen ſoll; kein Troͤpfchen Waſſers, das
nicht ſein Daſeyn durch Bewegung und
Geraͤuſch verkuͤnde; keinen Baum, der
nicht ins Auge falle, und gleichwohl kei-
nen einzigen, der ſich aufzudringen ſchiene.
Die Huͤtte dort, dieſe Grotte, jene Heer-
den in der Ferne und ſo manchen andern
Gegenſtand, den man von ungefaͤhr er-
blickt, hat die Phantaſie, die hier alles
ordnete, mit Vorbedacht dahingeſtellt.
Mitten in einem Garten das taͤuſchende
Bild der laͤndlichen Natur! Wer koͤnnte
je des Umherwandelns hier muͤde werden?“
„Jn dieſen Gaͤrten herrſcht vorzuͤglich
das ernſte, dunkle Gruͤn, welches die
ekle Wahl der andern Jahreszeiten dem
Winter uͤbrig ließ, das Gruͤn der Kiefern
und Tannen, der Laͤrchen, Cypreſſen und
immergruͤnenden Eichen. Doch der Ernſt
dieſes winterlichen Waldes gattet ſich mit
dem lachenden Farbenſpiel der Fruͤhlings-
ſtauden, mit dem gluͤhenden Laube des
Herbſtgebuͤſches und der ſtolzen Pracht der
ſchattenreichen Baͤume des Sommers;
die Nachbarſchaft der Lilas, der Linden
und Platanen erheitert jene melancholi-
ſchen Schatten. Unſere Blicke ruhen ſanft,
und keine Wolken truͤben unſere Phantaſie
in dieſem ehrwuͤrdigen Hayn, der ſeinem
Beſitzer aͤhnlich iſt. Gedanken und Ge-
fuͤhle des Alters ſind der Grundton, auf
welchem noch zerſtreute Erinnerungen der
Vorzeit, wie holde Fruͤhlingsbluͤthen in
voller Lieblichkeit glaͤnzen. Dieſe Gaͤrten legte ein ehemaliger Doge
von Genua an, ein ehrwuͤrdiger, welter-
fahrner und philoſophiſcher Greis, dem,
O 2
Schon von dem herrlichen Klima
Jtaliens laſſen ſich die reitzendſten Gaͤr-
ten nirgends anders als in dieſem ſchoͤnen
Lande erwarten. „Die Natur, ſagt der
geiſtvolle Verfaſſer der Darſtellungen
aus Jtalien (Seit. 238. u. ff.), welche
Jtalien die beſten ihrer Gaben verliehen hat,
beut allenthalben ihre milde Hand dar,
um hier die hohe Schoͤnheit und den ge-
faͤlligen Reitz der Anlagen im großen Ge-
ſchmack zu vervollkommnen. Sie hat ſo
viel fuͤr dieſe Gegenden gethan: zur Dar-
ſtellung eines vollkommnen Ganzen iſt nur
eine geringe Nachhuͤlfe der Kunſt noͤthig. —
Viele, an der Hand der Freundſchaft ge-
noßne frohe Abendſtunden, wenn nach
vollendeten Wanderungen zu den Werken
der Kunſt und des Alterthums, die Geiſtes-
wie ſich Duͤpaty ausdruͤckt, von dem
Nobile, dem Exdogen, dem Senator, nur
der Menſch noch uͤbrig blieb.
kraͤfte Abſpannung erforderten, und nach
ausgeſtandner Hitze des Tages, dort, in
Roms Gaͤrten und Parks von Villen
in dieſem Geſchmack, die kuͤhlen Schatten
zur labenden Ruh einluden, verlebte ich
in den, bey ihrer hohen Lage eine weite
Ausſicht uͤber Rom und die Gegend um-
her beherrſchenden Villen Medicis
und Millini; in den erhabnen Eichen-
und Pignengaͤngen der Villa Pam-
fili; in der prachtvollen, in aͤcht roͤmi-
ſchem Geſchmack angelegten Villa Al-
bani; und in den melancholiſch dunkeln
Cypreſſen- Lorbeer- und Myrtengaͤngen
der Villa Negroni Die Frucht einer in der melancholiſch ſchoͤ-
nen Villa Negroni verlebten Stunde
hoher Begeiſterung iſt des Herrn von
Ramdohr kurze Beſchreibung dieſer
Gaͤrten und der herrlichen Baumpar-
tie des Michel Angelo auf dem na-
hen Huͤgel. — und vor
allen in dem herrlichen Park der Villa
des Fuͤrſten Borgheſe, dieſes edlen
Befoͤrderers der Kuͤnſte und des guten Ge-
ſchmacks. Das ungleiche Terrain des
großen Parks der Villa, iſt in den
Anlangen hoͤchſt gluͤcklich genutzt. Der
ſtolze und uͤppige Wuchs der Eiche, des
Platans und der Pigne, unterſcheidet ſich
hier von der ganzen nahen Gegend um
Rom. Nie verlaͤßt man dieſe Gaͤrten,
ohne Entdeckungen neuer Schoͤnheit und
Groͤße in den einzelnen Parthien; nie
ohne Sehnſucht nach der naͤchſten Wieder-
kehr in dieſen erhabnen Eichenhain, in die
Pignen- Cypreſſen- und Lorbeergaͤnge, zu
den mahleriſchen Springbrunnen, und zu
dem kleinen See eines Thales, das ſich
ſanft an einem Huͤgel herabſenkt. Jn dem
ſtillen Waſſerſpiegel dieſes romantiſchen
Sees, ſtellt ſich das Bild der von der
Abendſonne geroͤtheten Wipfel der alten
Eichen, wovon er ringsum uͤberſchattet
wird, verſchoͤnert dar; auf einer kleinen
Jnſel in ſeiner Mitte erheben ſich ein Paar
dieſer ehrwuͤrdigen Baͤume. — Nichts
iſt wohlthaͤtiger, als das einſame Verwei-
len in der Stunde des anbrechenden, oder
des ſinkenden Tages, in dieſem Park, und
vor allem an dieſer letztbezeichneten Stelle
des Sees im Thal. Wie dann der An-
blick dieſer ſtillen Oberflaͤche des ſpiegelkla-
ren Waſſers, geſichert durch ſeine Lage im
Eichenthal gegen den Sturm, ſo jeden
Gedanken an Vergangenheit und Zukunft
beguͤnſtigt, und ihn, wie ſeine Spiegel
das Bild der hohen Eichen umher, hebt
und verſchoͤnert zuruͤck giebt! —
Um ſo mehr Achtung verdient
jemandes Humanitaͤt, wenn er,
mit dieſem Sinne fuͤr die Na-
tur, das Vergnuͤgen ſeines Gar-
tens mit der uͤbrigen Welt
theilt. S. 102. Z. 16. Als Muſter
einer ſolchen Humanitaͤt erſcheint der
Fuͤrſt Borgheſe nach dem Edikt, das
er durch den Aufſeher ſeines Parks erge-
hen und in dem Park ſelbſt zur Verſiege-
lung der unbedingten Freyheit fuͤr das Pu-
blikum anſchlagen ließ:
Jch, der Aufſeher der Villa Borg-
heſe Pinciana mache Folgendes be-
kannt: „Wer du auch biſt, nur ſey ein
„freyer Mann! fuͤrchte der Geſetze Fes-
„ſeln hier nicht! Geh, wohin du willſt,
„pfluͤcke, was du willſt; wann du willſt,
„entferne dich wieder. Fuͤr die Fremdlinge
„mehr, als ſelbſt fuͤr den Eigenthuͤmer, iſt
„hier alles bereitet. Jn der goldnen Zeit,
„die eine allgemeine goldne Sicherheit ver-
„heißt, will der Herr des Hauſes keine ei-
„ſerne Geſetze gegeben haben. Der an-
„ſtaͤndige freye Wille ſey dem Gaſtfreund
„hier Geſetz. Derjenige aber, welcher bos-
„haft und vorſaͤtzlich der Urbanitaͤt goldnes
„Geſetz verletzet, fuͤrchte, daß der erzuͤrnte
„Aufſeher ihm der Gaſtfreundſchaft gehei-
„ligte Zeichen zerbreche.“
Uebrigens wurden die Gaͤrten
dem franzoͤſiſchen Dichter Delille Gegen-
ſtand eines, unter dieſem Namen bekann-
ten und von Herrn M. Voigt in einer
gluͤcklichen Nachbildung auf deutſchen Bo-
den verpflanzten Gedichts.
Neſter von ganzen Kutſchen.
S. 116. Z. 3. Man lege es dem Ver-
faſſer nicht zur Laſt, wenn er mit ſeiner
Erwaͤhnung der ganzen Kutſchen manchem
Leſer nur aus den deutſchen Antiquitaͤten
zu ſprechen ſcheint. Bey den reißenden
Fortſchritten unſerer Aufklaͤrung iſt es fuͤr
Schriftſteller unmoͤglich, mit ihr gleichen
Schritt zu halten. Der deutſche Geſchmack
in Fahrzeugen zu Lande hat den langen
Weg zur Aufklaͤrung der dichten Waͤlder
großmuͤtterlicher Trachten in — reine Na-
tur mit Blitzesſchnelligkeit zuruͤckgelegt. So
aͤtheriſch, wie die koͤrperloſe Bekleidung
der ſchoͤnen Welt, iſt jetzt auf Spatzier-
fahrten auch das elegante — Fuhrwerk;
nur mit dem Unterſchied, daß jene in ei-
nem rauhen Klima, bey ſtrenger Jahres-
zeit und unfreundlichem Wetter bloß der
Geſundheit; eine ruſſiſche Droſchka auf
Spatzierfahrten aber auch der Bequemlich-
keit und dem Vergnuͤgen Abbruch thut.
Darin ſind ſich dagegen die ganzen, zuge-
machten Kutſchen und die neumodiſchen
Droſchken ganz gleich, daß dieſe von den
umgebenden Gegenſtaͤnden, welche jene
dem Anblick entziehn, (durch ihren weni-
gen Kern und Schutz) die Aufmerkſam-
keit des Fahrenden auf ſich ziehn.
Sie ſind bey der ſchweben-
den, ſanften Bewegung, in off-
nen Fahrzeugen, wo man die
Ausſicht auf die ganze umlie-
gende Natur hat, ungemein an-
genehm. S. 118. Z. 2. Eine der
anmuthigſten Luſtfahrten zu Waſſer, die
nur das reitzende Land, wo die Zitronen
bluͤhn, darzubieten vermag, hatte der be-
ruͤhmte Verfaſſer der Nachricht von
dem gegenwaͤrtigen Zuſtande der
ehemahligen Villa des Plinius
(Siehe Allgem. Literaturzeit. zu Anfang
des zweyten Bandes vom Jahr 1802) auf
dem, dieſe zum Theil noch erhaltene Villa
begraͤnzenden Comerſee. Jch ſchicke zufoͤr-
derſt die Schilderung des Lokals von dem
großen Kunſtkenner und Dichter voraus.
„Die ganze Gegend umher iſt waſſerreich;
in der mannigfaltigſten Abwechſelung ſtuͤr-
zen ſich Waſſerfaͤlle von den Felſen; Haͤu-
ſer, Muͤhlen und Doͤrfer ſind daran hin-
gebaut, in Lagen und Gruppen ſo ſonder-
bar und doch ſo lieblich, wie kein Mahler
ſie je gluͤcklicher gedacht hat. Ueberhaupt
koͤnnen die Ausſichten vom Comerſee fuͤr
ein wahres Compendium der poetiſchen
Landſchaftsmahlerey gelten. Die Berge
ſind hoch, felſig, und doch nicht nackt,
ſondern fruchtbar; mit Staͤdtchen, Doͤr-
fern, Kirchen und Landhaͤuſern wie beſaͤet.
Bald kleben dieſe an ſchroffen Felswaͤnden,
bald ſind ſie in Buchten eingeſchloſſen, auf
einem ſchmalen, angeſpuͤlten ebenen Plaͤtz-
chen des Ufers, bald liegen ſie niedrig, in
fruchtbaren Gruͤnden, oder am abhaͤngi-
gen Ruͤcken der Berge, luſtig mit gruͤnen-
den Wieſen umgeben. Mehrere Ortſchaf-
ten ſind um und an die großen Waſſer-
baͤche gebaut, die wunderbarlich, ſich durch
Felskluͤfte ſtuͤrzen. Die Einwohner nen-
nen eine ſolche Kluft Orrido, ſie wer-
den fuͤr die groͤßten Merkwuͤrdigkeiten die-
ſer Gegend geachtet und nicht ohne Eitel-
keit will jede Ortſchaft ihren Orrido als
den groͤßten, tiefſten u. ſ. f. angeſehen
wiſſen.“
Und nun die Darſtellung der Luſtfahrt
ſelbſt. „Der Abend war jetzt gekommen
und wir ſchickten uns zur Abfahrt an.
Sanfte Winde wiegten den Nachen, die
Sonne ſtreute lebendiges Gold in die Wel-
len, ſtill und feyerlich vernahm man das
leiſe Rauſchen der Waſſerfaͤlle, wovon we-
der das Gefluͤſter der Blaͤtter im nahen
Lorbeergebuͤſch, noch die Stimmen ent-
fernter Voͤgel, die im froͤhlichen Chor ſan-
gen, uͤberſtimmt wurden. Wie von Zau-
ber ergriffen, ſaͤumten wir, um ſcheidend
uns noch an dem Anblick des ſchoͤnen
Orts zu ergoͤtzen. Kaum merklich wank-
ten die Spitzen der hohen Cypreſſen, die
am Berg uͤber der Villa ſtehen, und im
hoͤherliegenden Hayn waren nur die Wip-
fel der Baͤume beleuchtet, das uͤbrige
ſtand in abendlichem Schatten, kaum
brach hier und dort ein Strahl durch die
Blaͤtter und beglaͤnzte einzelne Staͤmme.
Weiterhin lagen die Abſaͤtze des Berges,
mit fruchtbaren Lauben von Weinreben be-
deckt, zwiſchen welchen, herrlich ange-
glaͤnzt, an Stamm und Krone, hohe
Pignen emporragten und dem Contour des
Bildes gegen die heitere Luft, die anmu-
thigſte Mannigfaltigkeit gaben.“
„Der Mond war aufgegangen und
ſpiegelte ſich, mit dem ganzen Heer der
Sterne, in der ſtillen Flut, tiefe Ruhe
herrſchte bald uͤber der ganzen Scene, man
vernahm nur das Getoͤs der Waſſerfaͤlle,
oder, naͤher vorbeyfahrend, das Klappern
raſtloſer Muͤhlen und zuweilen die Stimme
eines wachſamen Hundes, dem die Echo,
vom jenſeitigen Ufer her, antwortete.
Unſere Schiffer ſangen, zum Tacte der
Ruderſchlaͤge, nach wohl hergebrachter
Landesſitte, Volkslieder, mit leiſem, fey-
erlichem Ton, deren Jnhalt ich aber, we-
gen der verdorbenen Mundart, nicht voll-
kommen verſtehen konnte. Eines, das
ſich durch die Anmuth der Melodie vorzuͤg-
lich auszeichnete, pries die Seligkeiten
gluͤcklicher Liebe, mit wahrhaft ruͤhrender
Naivetaͤt.“
Wer erinnert ſich nicht hierbey an
Rouſſeaus Liebe fuͤr Luſtfahrten zu Was-
ſer; an deſſen haͤufige Luſtfahrten auf dem
Genfer-Bielerſee u. a.
Berge. S. 128. Z. 2. Spatzier-
gaͤnger, die ſich den Eindruͤcken der Na-
tur nicht bloß blind hingeben, ſondern mit
vollem Bewußtſeyn der Gruͤnde ihres Ver-
gnuͤgens zu luſtwandeln wuͤnſchen, koͤnnen
das Eigenthuͤmliche von den Schoͤnheiten
der Gebirgsgegenden in der trefflichen
Garveſchen Abhandlung daruͤber (Siehe
Garve's vermiſchte Aufſaͤtze, Theil
II, Seit. 143. u. ff.) entwickelt finden.
Man hat dem verewigten Verfaſſer dieſer
Abhandlung in Abſicht derſelben nicht ge-
nug Gerechtigkeit wiederfahren laſſen.
Wenn Garve darin das Jndividuelle,
ſo wie den ganzen Totaleindruck von Ge-
birgsgegenden nicht angiebt: ſo iſt das
nicht ſeine Schuld. Beyde laſſen ſich von
keinem Schriftſteller, laſſen ſich durch
keine Sprache darſtellen. Eher waͤre
noch ihre Darſtellung ein Gegenſtand der
Mahlerey, obgleich auch ſie die Natur in
ihren fluͤchtigern Erſcheinungen, die da-
bey mitwirken, dadurch nicht erreicht.
Auch Garve'n kommt in dieſer Hinſicht
das Seite 120 und 162, 163 Geſagte zu
gut. Man muß in der Lektuͤre der
Garve'ſchen Abhandlung die einzelnen
Momente ſeiner Entwicklungen zuſammen-
faſſen, wie ſich ja von ſelbſt verſteht.
Von einem Luftſchiff herab
durch ein Fernrohr betrachtet,
machten ſie unfehlbar dieſen wi-
drigen Eindruck. S. 129. Z. 7.
Nur aus dem Geſichtspunkte eines menſch-
lichen, uͤber dem ihm gerade zugekehrten
Punkte der Erdoberflaͤche ſchwebenden Be-
trachters; nicht auch in Abſicht des Gan-
zen der Erde, laͤßt ſich dieß mit Wahrheit
ſagen. Da der hoͤchſte Berg der Erde
noch keine deutſche Meile hoch iſt: ſo be-
traͤgt er kaum den tauſendſten Theil ihres
Halbmeſſers (von 860 Meilen), und iſt
alſo gegen die ganze Erde immer nur wie
ein Punkt anzuſehn.
Der Aetna. S. 131. Z. 3. Jch
gebe hier als Gegenſtuͤck zu Rouſſeaus
R
ſchoͤner Stelle, worin er den Aufgang der
Sonne beſchrieb, und zur Beſtaͤtigung
des im Text Geſagten aus Brydone's
Reiſe durch Sizilien und Mal-
tha(Theil I, Seit. 153.) die Beſchrei-
bung des Sonnenaufgangs, wie er auf
dieſem hoͤchſten Punkte in der alten Welt
erſcheint. „Dieſe erſtaunliche Hoͤhe uͤber
der Flaͤche der Erde, die ſich hier gleichſam
in einen einzigen Punkt zuſammenzieht,
ohne einen andern benachbarten Berg, auf
welchem Auge und Einbildungskraft auf
ihrer Reiſe in die Welt hinunter haͤtten
ausruhen und ſich von ihrem Erſtaunen
erholen koͤnnen! Dieſe Spitze, die ſich am
Rande eines bodenloſen Schlundes erhebt,
der ſo alt als die Welt iſt, und oft Feuer-
ſtroͤme und brennende Felſen, mit einem
die ganze Jnſel erſchuͤtternden Donnern
auswirft; und endlich, von dieſer Spitze,
die unumſchraͤnkteſte Ausſicht auf die ver-
ſchiedenſten und ſchoͤnſten Scenen in der
Natur; ſammt der aufgehenden Sonne,
die nach Oſten eilet, um dieſen wunderba-
ren Schauplatz zu erleuchten: welche Ge-
genſtaͤnde!
Die ganze Atmoſphaͤre entzuͤndete ſich
nach und nach, und zeigte uns, doch nur
ſchwach, die graͤnzenloſe Ausſicht um uns
her. — See und Land ſahen noch fin-
ſter und verworren aus, als ob ſie erſt
aus ihrem urſpruͤnglichen Choas hervorkaͤ-
men, Licht und Finſterniß ſchienen noch
nicht geſchieden, bis endlich der Morgen
anbrach, und die große Scheidung voll-
brachte. — Die Sterne verloſchen, die
Schatten verſchwanden, die Waͤlder, die
uns zuvor tiefe, finſtere Abgruͤnde geſchie-
nen hatten, von welchen kein Strahl zu-
ruͤckkam, um uns ihre Geſtalt und Farbe
zu zeigen, ſtellten ſich uns als eine neue
Schoͤpfung dar, die von einem Augen-
R 2
blicke zum andern immer lebendiger und
ſchoͤner ward. — Die Scene erweiterte
ſich immer, der Horizont dehnte ſich von
allen Seiten aus, bis die Sonne, gleich
dem großen Schoͤpfer, in Oſten erſchien,
und mit ihren belebenden Strahlen das
erhabene Schauſpiel vollendete. — Alles
ſchien ein Zauber zu ſeyn, und wir konn-
ten kaum glauben, daß wir noch auf Er-
den waͤren. Unſere an ſolche Gegenſtaͤnde
nicht gewoͤhnten Sinne waren betaͤubt und
verwirrt, und erſt nach einiger Zeit fan-
den wir uns vermoͤgend, ſie von einander
zu unterſcheiden und davon zu urtheilen.
Zwiſchen uns und der Sonne, die aus
dem Meere zu ſteigen ſchien, lagen uner-
meßliche Flaͤchen See und Land; die Lipa-
riſchen, Panariſchen, Alicudiſchen Jnſeln,
und Strombolo und Volcano lagen mit
ihren rauchenden Gipfeln unter unſern
Fuͤßen; auf ganz Sicilien ſahen wir wie
auf eine Landcharte herab, und konnten
jeden Fluß in ſeinen Kruͤmmungen, von
ſeiner Quelle bis zur Muͤndung verfolgen.
Die Ausſicht iſt auf allen Seiten ſchlech-
terdings graͤnzenlos; kein einziger Gegen-
ſtand im ganzen Geſichtskreiſe, der ſie un-
terbrechen koͤnnte; das Auge verliert ſich
allenthalben im Unermeßlichen, und ich
bin verſichert, nur die Unvollkommenheit
unſerer Augen war Schuld, daß wir die
Kuͤſten von Afrika, ja ſelbſt von Griechen-
land, nicht entdeckten.“ Man hat gegen
die Glaubwuͤrdigkeit Brydone's in Be-
ziehung auf dieſe Beſchreibung des Son-
nenaufgangs auf dem Aetna Zweifel er-
regt, hat behauptet, Brydone ſey nicht
ſelbſt auf dem Aetna geweſen und habe den
Sonnenaufgang darauf nicht geſehen.
Allein die Gruͤnde dieſer Behauptung ſind
zum Theil ſeltſam genug. Brydone
hatte einer tauſendjaͤhrigen Eiche in der
mittelſten Region des Aetna erwaͤhnt, und
ein anderer kluger Kopf hatte da keine
tauſendjaͤhrige Eiche geſehen. Daraus
folgt: Brydone war nicht auf dem
Aetna. — Brydone mißt es bloß der
Schwaͤche ſeiner Augen bey, daß er auf
dem Aetna die Kuͤſten von Afrika, ja von
Griechenland, nicht geſehen habe. Daraus
folgt: er war nicht auf dem Aetna. —
Brydone's Schilderung des Sonnen-
aufgangs auf dem Aetna iſt ein Kind der
Phantaſie; daraus folgt: Brydone
war nicht auf dem Aetna. — Was ſoll
man zu ſolchen vernuͤnftigen Schluͤſſen ſa-
gen? Da ſie indeß, ihrer Erbaͤrmlichkeit
ungeachtet, faͤhig waren, das Anſehen ei-
nes Mannes, fuͤr deſſen Glaubwuͤrdigkeit
ſo viel kleine Umſtaͤnde in ſeinem Werke in
Beziehung auf den Aetna ſprechen, welche
ſich nicht erdichten laſſen, ſo iſt es wohl
der Muͤhe werth, ſie etwas naͤher zu be-
leuchten, um ſie in ihrer ganzen Nichtig-
keit zu ſehn. Gerade darin, daß Bry-
done eine zur Schilderung eines ſo gros-
ſen und einzigen Schauſpiels, als der
Sonnenaufgang auf dem Aetna, faͤhige
Phantaſie beſaß, beſteht ja das nicht ge-
meine Verdienſt ſeiner Schilderung ſelbſt
in Abſicht auf Wahrheit. Man darf ſich
nur den Aetna und ſeine geographiſche
Lage denken, um jeden Zug in dem Ge-
maͤhlde nothwendig zu finden, und man
wuͤrde ſelbſt dann, wenn es nur ein Pro-
dukt der bloßen Einbildungskraft eines
Mannes waͤre, der den Aetna nie geſehen
oder doch auf dem Aetna die Sonne nicht
aufgehen geſehen haͤtte, die Wahrheit des-
ſelben anerkennen muͤſſen; ſo ganz folgt
alles aus der Natur der Sache ſelbſt, mit
ſo viel Lebendigkeit iſt Alles aus der gan-
zen Situation geſehn. Brydone macht
ſo viel phyſiſche, botaniſche u. a. Be-
obachtungen uͤber den Aetna, fuͤr deren
entſcheidende Beglaubigung es aber ſeinen
Tadlern ſogar an Sinn fehlt. — Ein ſo
großer Naturfreund und eifriger Natur-
forſcher wird ſich, in der unmittelbar-
ſten Naͤhe des intereſſanteſten Schauſpiels
(am Aetna), daſſelbe muthwillig entziehn,
und den Sonnenaufgang auf dem Aetna
nicht ſehn! — „Aber er behauptet, man
koͤnne die Kuͤſte von Afrika, ja ſelbſt von
Griechenland auf dem Aetna ſehn.“ Als
ſagte er damit: er habe ſie ſelbſt geſehn! —
Und ſelbſt wenn er dieß ſagte: haͤtte er
ſich dann in ſo ungemeßnen Fernen, welche
nur die Phantaſie geiſtloſer Menſchen
nicht in das regeſte Spiel zu verſetzen ver-
moͤchte, nicht ſelbſt taͤuſchen koͤnnen? —
Wie ſollte dieß auch nicht
das ſtolze Bewußtſeyn, in den
hoͤhern Regionen der Erde, im
Angeſicht des Himmels zu wan-
deln. S. 133. Z. 1. Wer koͤnnte wohl
bey der ſchoͤnen Strophe in Matthis-
ſons Alpenwandler (Gedichte
Seit. 71.) nicht mitfuͤhlen:
Hier wo die Seele ſtaͤrker
Des Fittigs Huͤlle dehnt.
Hoch uͤber Erd und Kerker
Emporzuſchweben waͤhnt,
Gelaͤuterter und freyer
Der Sinnenwelt entflieht,
Und ſchon, im Aetherſchleyer,
An Lethe's Ufern kniet.
Felder. S. 149. Z. 3. Jn der la-
teiniſchen und franzoͤſiſchen Georgik (Vir-
gils und Delille's Gedichten uͤber
den Landbau, in Thomſons Jahrs-
zeiten und Voſſens Luiſe, Vos-
ſens Jdyllen, Goͤthe's Herr-
mann und Dorothea) findet man poe-
tiſche Darſtellungen zur Belebung der Ge-
fuͤhle fuͤr Land und Feld.
Wald. S. 152. Z. 1. Auch uͤber
dieſen Theil der Naturſchoͤnheiten hat ſich
der menſchliche Forſchungsgeiſt verbreitet.
Gilpins auf deutſchen Boden verpflanz-
tes Werk uͤber Waldſcenen, ſo wie deſſen,
gleichfalls ins Deutſche uͤberſetzte: Be-
merkungen vorzuͤglich uͤber mah-
leriſche Naturſchoͤnheiten auf
einer Reiſe durch verſchiedene
Gegenden von England und
Schottland, ſind jedes hieruͤber ein
klaſſiſches Werk.
Um alles moͤgliche Vergnuͤgen
von Spatziergaͤngen im Walde,
ſo wie auf Wieſe und Flur zu
ziehn; bedarf man Kenntniß
der Botanik. S. 159. Z. 9. Rous-
ſeau, der alle humanen Verhaͤltniſſe und
Lagen des Lebens mit ſeltner Empfaͤnglich-
keit durchgefuͤhlt hat, der Blumen und
Kraͤuter auf einſamen Spatziergaͤngen
noch in dem der Natur entfremdenden
Tumult des Lebens und dem Menſchen-
drang von Paris mit Liebe umfing, ſetzt
in ſeinen, der Betrachtung ſolcher Ver-
haͤltniſſe und Lagen vorzuͤglich gewidmeten
und gewoͤhnlich hinter den erſten zwey
Baͤnden der Confessions befindlichen Ré-
veries du promeneur solitaire auch die
humane Seite der Kraͤuterkunde, diejenige
von welcher er ſie ſelbſt anſah und betrieb,
ins Licht. Nachdem er in der ſiebenten
Promenade die daher entſtandene falſche
Anſicht der Kraͤuterkunde, weil ihr Ge-
brauch in Apotheken ſich der Aufmerkſam-
keit eines verſchrobenen und ununterrichte-
ten Publikums nur noch aufdringt; nach-
dem er das Armſelige der Liebhaberey an
Mineralien, die ohne Chemie immer nur
eine geiſtloſe Beſchaͤftigung prahlender Rei-
chen bleibt, ſo wie ohne Anatomie das
Unfruchtbare, und mit Anatomie das
Widrige der Beſchaͤftigung mit dem uns
ſonſt naͤheren Thierreich (Zoonomie) Auch an dem Thierreich laͤßt ſich ein rein
humanes, nicht bloß gelehrtes Jntereſſe
denken und nehmen. Es wuͤrde in Erfor-
ſchung ihrer Neigungen und Triebe beſtehn.
Nur iſt ſie ein muͤhſames Geſchaͤft, er-
fordert Zeit und Aufwand, und die vereinig-
ten Beobachtungen mehrerer Naturforſcher
uͤber die Thierwelt. Buͤffon hat in dieſer
Hinſicht vieles Verdienſt. fuͤr
den bloßen Menſchen (nicht fuͤr den Ge-
lehrten und die Wiſſenſchaft) beruͤhrt hat,
geht er zur humanen Betrachtung der
Pflanzen uͤber. „Die Pflanzen“, faͤhrt
er fort, „ſcheinen mit gleicher Verſchwen-
dung uͤber die Erde geſtreut zu ſeyn, als
die Sterne uͤber den Himmel, um den
Menſchen durch den Reitz des Vergnuͤgens
zu der Erforſchung der Natur einzuladen.
Aber die Geſtirne ſind in weit groͤßere
Entfernung von uns geſtellt. Es bedarf
einer Menge Vorkenntniſſe, Werkzeuge,
Maſchinen, mit einem Worte, ſehr lan-
ger Leitern, um zu ihnen hinaufzuſteigen
oder ſie uns naͤher zu bringen. Die
Pflanzen hingegen ſind uns dieſes ſchon
von Natur. Sie ſproßen unter unſern
Fuͤßen und gewiſſermaßen unter unſern
Haͤnden hervor; und wenn ihre Kleinheit
ſie bisweilen dem bloßen Auge entzieht, ſo
koͤnnen ſie demſelben durch weit leichter zu
behandelnde Jnſtrumente wieder unterwor-
fen werden, als diejenigen ſind, welche
die Beobachtung der Geſtirne erfordert.
Die Kraͤuterkunde iſt das Studium eines
muͤßigen und unthaͤtigen Einſiedlers. Ein
Stecheiſen und ein Vergroͤßerungsglas ſind
alles, was er zu Beobachtung derſelben
braucht. Er ſchlendert umher, irrt ſorg-
los von einer Pflanze zur andern, nimmt
jede Blume mit Neugierde und Theil-
nahme in Augenſchein, und genießt, ſo
wie er nur anfaͤngt die allgemeinen Geſetze
ihres Baues zu faſſen, bey der Beobach-
tung derſelben ohne die geringſte Anſtren-
gung, ein eben ſo großes Vergnuͤgen, als
ob er noch ſo viel Muͤhe und Zeit darauf
verwendet haͤtte. Es liegt in dieſer muͤßi-
gen Beſchaͤftigung ein Reitz, den man
freylich nur in der vollkommenen Stille
aller Leidenſchaften empfinden kann, der
aber dann auch allein hinreicht, das Leben
gluͤcklich und angenehm zu machen. So-
bald ſich indeß hierzu irgend ein Beweg-
grund des Eigennutzes und der Eitelkeit
geſellt, es ſey nun, um ſich ein Anſehen
zu geben, oder ein Buch zu ſchreiben;
kurz ſobald man nur lernen will, um An-
dere zu unterrichten, ſich mit Pflanzen
nur beſchaͤftigt, um Schriftſteller oder oͤf-
fentlicher Lehrer zu werden: ſobald ver-
ſchwindet all jener ſuͤße Reitz. Man ſieht
in den Pflanzen nichts mehr als die Werk-
zeuge unſerer Leidenſchaften, findet kein
wahres Vergnuͤgen mehr in ihrer Erfor-
ſchung; man will nicht mehr lernen, ſon-
dern nur zeigen, wie viel man weiß, und
iſt mitten im Gehoͤlze gleichſam ſchon ge-
wiſſermaßen auf der Buͤhne der Welt, und
einzig und allein mit dem Gedanken ſich
daſelbſt bewundert zu ſehen, beſchaͤftiget.
Schraͤnkt man ſich aber auf die Botanik
des Zimmers, oder hoͤchſtens etwa des
Gartens ein, und beſchaͤftigt ſich, Statt
die Pflanzen in der Natur zu beobachten,
nur mit Lehrgebaͤuden und willkuͤhrlichen
Anordnungen: ſo giebt das bloß zu ewi-
gen Streitigkeiten Anlaß. Auf dieſe Art
wird die liebenswuͤrdigſte Kenntniß ihres
urſpruͤnglichen Reitzes beraubet, und in
das Treibhaus der Staͤdte und Akademien
verpflanzt, wo ſie, gleich auslaͤndiſchen
Gewaͤchſen in den Kunſtgaͤrten, nur aus-
artet.“
Auch dichteriſch hat dieſen Stoff der
Englaͤnder Darwin in ſeinem Gedicht
the botanic Garden behandelt, des-
ſen erſter Theil die Lehrſaͤtze der allgemei-
nen Phyſik und Chemie enthaͤlt, der
zweyte ſich ganz mit Botanik beſchaͤftigt.
Garve gab davon in der neuen Biblio-
thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften (Band 61,
Stuͤck I.) einen Auszug. Darwin arbei-
tet jetzt an einem Gedicht: Der Tempel
der Natur. Man vergleiche hierbey,
was Herder in den Briefen zur
Befoͤrderung der Humanitaͤt
(vierte Samml. Brief 45, Seit. 72.) uͤber
Botaniſche Philoſophie ſagt.
Die mannigfaltigen Scenen
der Natur, wodurch ſie aus ei-
nem ihrer Zuſtaͤnde in den an-
dern uͤbergeht. S. 165. Z. 8. Vor-
zuͤglich intereſſant iſt in dieſer Hinſicht die
Beobachtung von dem Eindruck des allmaͤh-
ligen Uebergangs von Nacht zu Tag und
von Tag zu Nacht. Aber man muͤßte,
um den Genuß des erſtern Schauſpiels der
Natur zu haben, noch vor Tagesanbruch
aufſtehn! Und man ſollte — geboͤte es
auch nicht ſchon eine gerechte Sorge fuͤr
die Erhaltung der Augen — nicht in der
Abenddaͤmmerung leſen, ſchreiben, uͤber-
haupt arbeiten. Man entzieht ſich durch
ſtete Beſchaͤftigung oder Zerſtreuung in die-
ſer Tageszeit einen eigenen Naturgenuß
im Freyen, oder auf dem Zimmer die an-
genehme Unterhaltung mit ſich ſelbſt, wo-
zu ſie ſo eigentlich einladet und ſtimmt,
wenn man ſeinen Gedanken freyen Lauf
laͤßt, ſeine Jdeen und Gefuͤhle belauſcht,
die Eindruͤcke und Scenen des Tags wie-
S
der hervorruft und das Spiel des Lebens
uͤberdenkt.
So mancher truͤber Tag.
S. 167. Z. 1. Solche Tage von einer
intereſſanten Duͤſternheit hat vorzuͤglich
der Herbſt. Es iſt gleichſam ein magiſcher
Duft, der da uͤber die Natur verbreitet
ſcheint, und dadurch die Phantaſie ins
Spiel ſetzt. Dieſer Duft kommt nicht
von naſſer Luft (die Luft wird man da viel-
mehr trocken finden), welche das koͤrper-
liche und geiſtige Wohlbehagen nicht auf-
kommen laſſen wuͤrde, wie man ſich an
naſſen Tagen wirklich fuͤhlt. Zugleich
ſcheint die Luft, ungeachtet der Himmel
ſich dicht mit Gewoͤlk umzogen zeigt, mit
Lichttheilchen ſtark geſchwaͤngert, welche
den Eindruck durch den Kontraſt noch
mehr heben.
Jn lauen Naͤchten, S. 168.
Z. 3. Der Einfluß, den der Abend und
die Nacht auf das Gemuͤth aͤußern, be-
ſteht darin, daß Abends die Thaͤtigkeit der
Phantaſie am leichteſten aufgeregt und be-
foͤrdert wird, heftige Leidenſchaften und
lebhafte Affecten in wohlgeordneten Ge-
muͤthern am meiſten ſchweigen und ruhig
werden, daß keine Tageszeit ſo ſehr als
dieſe zur Beſchaͤftigung mit religioͤſen
Jdeen auffordert, die Sehnſucht der Ge-
muͤther nach ihren Lieben und Freunden
mehr erweckt und das Herz der Vertrau-
lichkeit oͤffnet, aber auch, nach Beſchaffen-
heit der Umſtaͤnde, den Gefuͤhlen der
Bangigkeit, des Schauers, der Furcht
und des Schreckens preis giebt. Wer
ſich hieruͤber weitlaͤuftiger zu belehren
wuͤnſcht, leſe die intereſſante Abhandlung
des Herrn Adjunct Tzſchirner in
Maucharts allgemeinem Reper-
S 2
torium fuͤr empiriſche Pſycho-
logie, im ſechſten Bande dieſes Werks.
Das Schlagen der melodi-
ſchen Nachtigall. S. 173. Z. 11.
Jch kann mich nicht enthalten, Buͤf-
fon's meiſterhafte, obgleich bisweilen
(vorzuͤglich an einer Stelle, die ich des-
halb ausließ) kluͤgelnde, auch hier und da
wie man finden wird, etwas uͤbertreibende
Schilderung des Geſangs der Nachtigall
den Leſern hier mitzutheilen.
Bey dieſem Namen, ſagt Buͤffon,
erinnert ſich wohl jeder, deſſen Sinne noch
unverdorben ſind, an eine jener Fruͤhlings-
naͤchte, wo der Himmel heiter, die Luft
ruhig war, die Natur in Erwartungsvol-
lem Schweigen da lag, und er entzuͤckt die
Saͤngerin der Haine belauſchte.
Man koͤnnte verſchiedene Voͤgel an-
fuͤhren, deren Stimme in mancher Ruͤck-
ſicht mit der Nachtigall wetteifert. Die
Lerche, der Zeiſig, der Fink, die Gras-
muͤcke, der Haͤnfling, der Stieglitz, die
gemeine und einſame Amſel, die Amerika-
niſche Spottdroſſel: alle dieſe hoͤrt man
mit Vergnuͤgen, ſo lange die Nachtigall
ſchweigt. Einige von ihnen haben einen
eben ſo ſchoͤnen Ton, einen eben ſo reinen
ſanften Schlag, eine eben ſo biegſame
melodiſche Kehle; allein vergebens ſucht
man unter ihnen Einen, den nicht die
Nachtigall durch die vollkommenſte Ver-
einigung aller dieſer verſchiedenen Talente,
und durch die bewundernswuͤrdigſte Ab-
wechſelung ihres Geſanges uͤbertraͤfe: ſo
daß das Lied jedes dieſer Voͤgel in ſeinem
ganzen Umfange nur eine unvollkommene
Strophe aus dem Geſange der Nachtigall
iſt. Sie bezaubert ewig und wiederholt
ſich nie, wenigſtens nie ſklaviſch und ge-
ſchieht es, ſo belebt ſie ihre Wiederholung
jedesmahl mit einem neuen Accente, ver-
ſchoͤnt ſie mit neuer Anmuth. Jhr gluͤckt
jede Art, jeder Ausdruck des Gefuͤhls;
meiſterhaft mahlt ſie alle ihre Charaktere,
und verdoppelt durch uͤberraſchende Spruͤn-
ge die Wirkung davon. Wenn die Koͤni-
gin des Fruͤhlings die Hymnen der Natur
anſtimmen will, ſo faͤngt ſie in einem
furchtſamen Vorſpiel mit halblauten unbe-
ſtimmten Toͤnen an; als wolle ſie ihr Jn-
ſtrument verſuchen und die Aufmerkſamkeit
der Zuhoͤrer rege machen. Nach und nach
wird ſie dreiſter; ihr Math und ihre Be-
geiſterung waͤchſt und bald ſtroͤmen in ih-
rer ganzen Fuͤlle die Melodien ihrer un-
vergleichlichen Kehle hin: ſchmetternde
Schlaͤge, hell ſchwebende Wirbel und
Triller, in denen Reinheit und Leichtigkeit
ſich gatten, ein inneres gedaͤmpftes Mur-
meln, deſſen Ton das Ohr auf der Ton-
leiter vergeblich ſucht, das aber deſto ge-
ſchickter iſt, den reinen deutlichen Toͤnen
zur Folie zu dienen, fliegende, blitzge-
ſchwindrollende Laͤufe, kraͤftig, oft mit ge-
ſchmackvoller Haͤrte angeſchlagen — ſanft
klagende, in einander ſchmelzende, ohne
Kunſt gereihte, aber ſeelenvolle Caden-
zen — bezaubernde, eindringende Toͤne,
wahre Seufzer der Liebe und Wolluſt, die
ſich aus dem Herzen draͤngen und zum
Herzen ſprechen, daß es von Gefuͤhlen auf-
wallt und in ſanfter Schwermuth ver-
ſinkt. — Dieſe verſchiedenen Saͤtze wer-
den oft durch Stillſchweigen unterbrochen,
durch jenes Stillſchweigen, das in allen
Arten der Melodie die Wirkung ſo maͤchtig
verſtaͤrkt. Man genießt noch einmahl im
Nachhall die ſchon gehoͤrten Toͤne, die
noch um unſer Ohr ſchweben, und man
genießt ſie ruhiger, weil der Genuß inni-
ger und geſammelter iſt, und durch keinen
neuen Eindruck geſtoͤrt wird. Bald war-
tet man, daß ſie von neuem anfangen ſoll,
man wuͤnſcht die ſchoͤne Stelle noch ein-
mahl zu hoͤren; ſieht man ſich betrogen,
ſo laͤßt uns die Schoͤnheit des neuen Stuͤcks
nicht bedauern, daß das vorige aufgeſcho-
ben iſt, und die Erwartung bleibt fuͤr die
folgenden Saͤtze geſpannt.
Eine Haupturſache, die den Geſang der
Nachtigall vorzuͤglich macht, ſetzt Bar-
rington darein, daß, da ſie des Nachts,
welches die guͤnſtigſte Zeit iſt, und allein
ſingt, ihre Stimme volle Staͤrke behaͤlt
und durch keine andere unterdruͤckt wird;
ſie verdunkelt alle andere Voͤgel durch ihre
ſanften gefloͤteten Toͤne und durch die un-
unterbrochene Dauer ihres Schlags, der
zwanzig Sekunden aushaͤlt. Wer ſich uͤber den Bau der Kehle, die
ſtaͤrkſte Schlagzeit, die Menge und Dauer
von den Schlaͤgen der Nachtigallen, die
Weite, worin man ſie hoͤrt, die Anfangs-
Ein Bad. S. 193. Z. 12. Die
Geſundbrunnen von Herrn Neu-
beck ſind ein zu allgemein bekanntes Ge-
dicht, als daß es noch der Bemerkung be-
duͤrfte, man finde auch die vorzuͤglichſten
Geſundbrunnen Deutſchlands darin geſchil-
dert. Eben ſo gut beduͤrfte es auch bey
Thomſons Jahreszeiten noch ei-
ner beſondern Angabe ihres Jnhalts.
und Endigungsnoten derſelben in ihrem
Verhaͤltniß zu den Mittelſchlaͤgen, den
wahren, auch von Buͤffon verkannten
Grund von dem Singen des Maͤnnchens
waͤhrend der Bruͤtezeit des Weibchens, den
Wetteifer, die oft erſtaunliche und toͤdt-
liche Anſtrengung im Singen, die Orte,
welche Nachtigallen am liebſten waͤhlen,
Gegenden, wo ſie vorzuͤglich gut ſchlagen;
mit einem Wort, wer ſich uͤber die ganze
Naturgeſchichte der Nachtigall in der Kuͤrze
zu belehren wuͤnſcht, leſe in Bechſteins
Naturgeſchichte der Stubenvoͤ-
gel, Seit. 359-394. den Artikel
Nachtigall.
Schluͤßlich bemerke ich noch, daß auch
der verewigte Profeſſor Heydenreich
einſt die Jdee hatte, Etwas uͤber das
Spatzierengehn zu ſchreiben. Allein er
hatte mehr die Entwickelung gelegentlicher
Jdeenſpiele, als Stoff zur angenehmen
Unterhaltung auf Spatziergaͤngen, als
der Bedingungen und Eindruͤcke des Spa-
tzierengehns ſelbſt im Sinn. Hieruͤber
denke ich mit ihm, wie die Ausfuͤhrung
der dem Ganzen zum Grunde liegenden
Jdee zeigt, nicht gleich, der zu Folge auch
die Jdeenſpiele eines Spatziergaͤngers,
wenn deſſen Spatziergang einen heitern
und gemuͤthlichen Eindruck machen ſoll,
von den umgebenden Gegenſtaͤnden ſelbſt
nie ganz abgezogen, wenn auch nicht
ganz aus dem Kreiſe des Luſtwandelns,
doch immer aus dem eigenen Geiſte des
Luſtwandlers entſpringen muͤſſen. Was
da nicht aus der ganzen Stimmung, den
Neigungen, Verhaͤltniſſen, dem Jdeen-
und Gefuͤhlskreiſe des Jndividuums
entſpringt (und der Schriftſteller ſpricht
nur zur Gattung) erſetzt fuͤr angenehme
Unterhaltung kein fremdartiges Suͤrrogat.
Zerbſt,
Gedruckt bey Johann Wilhelm Kramer.