Alethia .
Jdeen .
von
Julius Soden ,
Reichs Grafen .
Leipzig ,
bei Friedrich Auguſt Leo .
1796 .
Alethia .
D er Titel dieſes Buͤchleins iſt ganz
anſpruchlos . Weit entfernt von unbe-
ſcheidener Anmaßung , ſoll er nur be-
zeichenen , daß dieſe fluͤchtige Aufſaͤze der
Wahrheit gewidmet ſind . — Es
ſind Kinder muͤßiger Momente , nicht
Stunden ; abgerißne Jdeen , hinausge-
worfen , um hier und da uͤber manches
der Menſchheit wichtige Anliegen Nach-
denken zu erweken , und von weiſeren
und talentvolleren Menſchen Ausbildung
zu erwareten . — Bewuͤrken ſie dieß , ſo
iſt ihr Zwek erreicht ; wo nicht , ſo moͤ-
gen ſie mit ſo vielen Bruͤdern in das
Meer der Vergeſſenheit hinabfluthen !
Die Penfées eines Oxenſtiern , Beau-
melle , Weiß und anderer werden uns
bleiben !
Jnhalt.
Jnhalt .
1. Kann man mehrere Weſen zugleich lie-
ben ? S. 1.
2. Ueber die Bennennung : Sterb-
licher . S. 15 .
3. Ueber ſinnliche Darſtellung des
Todes . S. 19 .
Jnhalt.
4. Ueber Graͤber-Beſuche und Tod-
ten-Feſte . S. 23 .
5. Warum trauert man nur fuͤr Ver-
wandte ? S. 29 .
6. Ueber Theilung der Gemeinde- Grund-
ſtuͤcke. S. 36 .
7. Teutſche National-Tracht. S. 65
8. Literariſches Konſultatorium. S. 86 .
9. Litterariſche Gerechtigkeit der Teu-
ſchen gegen alle Nazionen. S. 97.
10. Ungerechtigkeit der Teutſchen gegen ihre
Schriftſteller. S. 102.
11. Ueber oͤffentliche Heuraths- Nachfrag-
gen. S. 109.
Jnhalt.
12. Vertheidigung des Hanns-Wurſts. S. 128.
13. Publizitaͤt der peinlichen Verhandlun-
gen. S. 142.
14. Beſiz iſt der Liebe Grab . - S. 149.
15. Ueber Titulaturen , Komplimente u.
ſ. w. S. 154.
16. Ueber Getraide-Magazine . - S. 162.
17. Ueber die Geſchwohrnen -Ge-
richte. S. 189.
18. Ueber die Bedeutung des Worts : Na-
zional , in Teutſchland . - S. 193.
19. Das Wir der Fuͤrſten und Rezen-
ſenten. S. 196.
Jnhalt.
20. Ueber Land-Wirthſchaft . - S. 198.
21. Ueber Verhaͤltnis des Akerbaus und der
Fabriken. S. 205.
22. Man liebt nur Einmahl . - S. 212.
23. Ueber das Degen-Tragen . S. 220.
24. Ueber Hof-Narren . - S. 223.
25. Ueber Trauer. S. 231 .
I. Kann
1.
Kann man mehrere Weſen zugleich
lieben ?
M an kann nicht mehr als Ein We-
ſen lieben . Dieß iſt der allgemeine Macht-
Spruch der Konverſations-Philoſophie ; vor-
zuͤglich aber dem ſchoͤnen Geſchlechte heilig .
Jch wage viel , indem ich mich dage-
gen erklaͤre . Aber Ueberzeugung gilt mir
ſogar mehr als Damen-Gunſt , und dieſe
Ueberzeugung war es die mich ſo ſehr fuͤr die
Geſchichte des Grafen von Gleichen
A
intereſſirte , die mich bewog ihre Wahrheit
mit Waͤrme zu vertheidigen , und ſie drama-
tiſch zu bearbeiten .
Jſts moͤglich , ſo moͤgen die Damen mich
wenigſtens hoͤren , eh' ſie ihr Anathem aus-
ſprechen .
Vor allen Dingen muͤſſen wir uͤber den
Begriff des , mehr als alle mißgehandelten ,
Worts : Liebe einig ſeyn . Laͤngſt habe ich
fuͤr die Empfindungen ein Buch wie Gi-
rards Synonymes vermißt — denn nirgend
herrſcht mehr Verworrenheit der Begriffe ,
und Vermiſchung der Bezeichnungen als
hier .
Jch kenne die Zartheit der Graͤnz-Linien
der Empfindungen ; aber ein reiner philoſo-
phiſcher Kopf , verbunden mit einem fein
und tief empfindenden Herzen , wuͤrde ſie fin-
den und mit kuͤhner Hand ihre Markſteine
ſezen koͤnnen . Und wie viel waͤre nicht da-
durch fuͤr die Menſchheit gewonnen , wie
viel Jrrthuͤmer , Mißverſtaͤndniſſe , wie viel
Ausbruͤche der wildeſten und regelloſeſten Lei-
denſchaften verhuͤtet , mit all ihren traurigen
Folgen fuͤr Familien-Wohl , Menſchen- und
Voͤlker-Gluͤk ! —
Unter allen Empfindungen iſt Liebe
grade am ſchwerſten zu bezeichnen , ihre Um-
riſſe gerade am zarteſten und ſchwankendſten ,
ihre Gradazionen am feinſten gegen andre
Gefuͤhle abgeſchattet .
Mir iſt ſie der hoͤchſte Grad von aus-
ſchließendem Wohlgefallen an einem andern
Weſen , ausſchließender Behaglichkeit an des-
ſen Gegenwart und Umgang , ausſchließender
Theilnehmung an ſeinem Wohl und Weh ,
ausſchließender Sehnſucht , die nemlichen Em-
pfindungen bei ihm zu finden . — Doch was
ringe ich nach einer Definizion da einer der
groͤßten Teutſchen , unſer Wieland , ſie mit
ſo weiſe gewaͤhlten und gluͤhenden Farben
geſchildert hat :
Was anders iſt 's als Liebe und Liebe ,
Was uͤberall athmet , wirkt und webt ,
Und alles bildet und alles belebt ?
Jhr Weiſe ſagt , was ſonſt als Liebe ,
Jſt dieſer ſchoͤne Zuſammenklang
Der Weſen , dieſer allmaͤchtige Drang ,
Der Gleiches an Gleiches druͤkt ?
— Du ſelbſt , o Tugend , du hoͤchſte Hoͤh
Der Menſchen-Seele , was biſt du als Liebe ,
Du Gott' in uns ?
Aber meine Definizion ſcheint meinem
eignen Saze zu widerſprechen ? — das Bei-
wort ausſchließend ſpricht mein Urtheil ?
Nein , jener Widerſpruch iſt nur anſchei-
nend . Ausſchließend bezeichnet hier nicht
mehr , als Abſondrung andrer Weſen .
Alſo doch Abſondrung ; dieſe wuͤrde
das Wort : vorzuͤglich , nicht ausgedruͤkt
haben . Aber Abſondrung engt den Begrif
nicht auf ein einzelnes Weſen ein
Schwer iſt es , das gebe ich zu , daß
daß man mehrere Weſen zugleich liebe , denn
dazu gehoͤrt eine Fuͤlle von Empfindungen ,
die das Erbtheil weniger ſeyn moͤchten ; aber
unmoͤglich iſt es nicht . Mindeſtens kann ich
in der Oekonomie der menſchlichen Seele kei-
nen abſoluten Grund dieſer Unmoͤglichkeit
finden .
Wenn die Seele irgend einen Gegenſtand
auffaßt , ſo ſcheint ſie allerdings alle ihre Kraft
auf dieſe Leidenſchaft zu konzentriren , an ihm
alle Quellen ihrer Empfindungen zu erſchoͤp-
fen . — Aber dieß iſt doch nur der Fall bei
dem hoͤchſten Grad von Liebe , den man aus-
zeichnungsweiſe Leidenſchaft nennt , der
an Wahnſinn graͤnzt , vielmehr eine Krank-
heit der Seele als ein eigenthuͤmliches Sym-
ptom iſt .
Leidenſchaft mag man alſo nur fuͤr
Ein Weſen fuͤhlen koͤnnen , aber darum
nicht Liebe . Wenn nun die Seele eines We-
ſens von dem zarteſten Gewebe , wenn ihre
Empfaͤnglichkeit fuͤr das Schoͤne und Gute
bis zu einem hohen Grade geſpannt iſt , wenn
es nun dieſes Schoͤne und Gute unter meh-
rere Weſen vertheilt , hier Sanftheit und
intereſſante Schwermuth , dort Feſtigkeit
und frohe Laune , hier Einſichten und Kul-
tur , dort Wiz , allenthalben aber Seelen-Guͤ-
te , Einklang der Empfindungen findet , ſoll-
te es ſeine Gefuͤhle nicht theilen koͤnnen ,
nicht theilen muͤßen ?
Sollte es ſie aufſparen , auf das Jdeal ,
das alles Schoͤne , Anmuthige und Gefal-
lende vereinigt , und es von Pol zu Pol
vergebens aufſuchen ?
Ach ! ich fuͤrchte dieſe Engheit des
Herzens , zu der Uns unſre Sitten bannen ,
die ſie zum Waͤchter und Thuͤrhuͤter ihrer
Reinheit brauchen , iſt es gerade , die unſre
Sitten verderbt .
„ Jſt denn dein Herz zu eng zwei We-
ſen mit gleicher Liebe zu umfaſſen ? — “
fragt meine Fatime den Grafen von
Gleichen , Jn dem Schauſpiel Ernſt Graf von
Gleichen . und ich habe die Lieblichkeit
und Glorie dieſes Maͤdchens nicht ſtaͤrker be-
zeichnen zu koͤnnen geglaubt , als durch dieſe
Frage . Dieſes Streben , allein geliebt zu
ſeyn , ausſchließend zu genießen , mag
es immer in der Natur der Empfindung
liegen , es iſt doch nur Egoismus , alſo kei-
nes Schuzes , keiner Lobrede werth . Alle
die Leidenſchaften , die es mit ſich bringt , alle
die traurigen Folgen des Egoismus uͤber-
haupt ungerechnet ; beguͤnſtigt es dieſen
Schwindel der Empfindungen , dieſen
Sturm der Gefuͤhle , der Tugend , ſo wie es
wahren Genuß vernichtet . Mag man mir
einwerfen , das , was ich Liebe nenne , ſey nur
Freundſchaft ; ſo lange ein beſſerer Kopf
nicht ein neues Lexikon der Empfindung aus-
arbeiten wird , ſoll er Recht behalten . Mir
iſt indeß Liebe , der Freundſchaft hoͤchſte
Stufe zwiſchen Perſonen jeden Geſchlechts .
Aber Wahnſinn eines Werthers , Schwaͤr-
merei eines Siegwart , iſt mir mehr und
weniger als Liebe . Kein Gottes-Ge-
ſez verbiethet die Polygamie ; den Chriſten
verbiethen es buͤrgerliche Geſeze und buͤrger-
liche Geſeze werden geſchaffen , von Zeiten ,
Sitten und Meinungen .
Daß eine allgemeine Freiheit der Poly-
gamie unter allen Verhaͤltniſſen und zu al-
len Zeiten der buͤrgerlichen Geſellſchaft
ſchaͤdlich ſeyn wuͤrde : davon bin ich ſo uͤber-
zeugt , als daß z. B. eine gaͤnzliche Erlaubt-
heit aller Spiele , dem Wohl jedes Staats
nachtheilig waͤre .
Aber daß die menſchlichen Jnſtitute , die
der Staat unter ſeine Aufſicht nehmen muß ,
wenn ſie der geſellſchaftlichen Ordnung und
Gluͤkſeeligkeit nicht ſchaͤdlich ſeyn ſollen , daß
dieſe deswegen wirklich ſchaͤdlich und allge-
mein verwerflich waͤren , davon kann ich
mich nicht uͤberzeugen .
Freilich hat auf dieſem Weege die
Staats-Verwaltung eine Sorge weniger ;
aber ſie iſt ja nur da , um jede Abgleitung
der freien Handlungen einzelner Glieder in
das , was die Geſeze als ſchaͤdlich fuͤrs Gan-
ze bezeichnet haben , abzurechnen . Außerdem
waͤre es auch bequemer fuͤr ſie , die Thore der
Staͤdte verſchloſſen zu halten , damit keine
Jauner ſich einſchleichen koͤnnen .
Es iſt wahrhaftig unrichtig zu ſagen , die
Polygamie wird unſre Sitten verderben ,
wird Eiferſucht , Familien-Zwietracht , ver-
vermehrtes Elend der huͤlfloſen Wittwen und
Waiſen , Vernachlaͤßigung der Kinder-Zucht
u. ſ. w. hervorbringen . Denn das wird ſie
allerdings , ſo wie die Sachen jezt ſtehen ;
aber gerade deswegen weil ſie unſern Geſezen
und Sitten zuwider iſt : Wenn hingegen ,
die Geſezgebung ſich veraͤndert , werden und
muͤſſen ſich die Sitten aͤndern ; und alſo
fragt ſichs dann erſt , was bringt dieſe Ver-
aͤnderung hervor ?
Schlimmer wuͤrden wir allerdings ſte-
hen , waͤre die Polygamie allgemein erlaubt ,
als nun , da ſie allgemein verbothen iſt ; aber
iſt das ein vernuͤnftiger Grund zu einem
allgemeinen Verboth ? — Die Macht
der Geſezgebung kann nie weiter gehen , als
das zu verbiethen , deſſen Unterlaſſung der
Zwek der geſelligen Verbindung durchaus
fordert . Der kleinſte Schritt uͤber dieſe
Graͤnze iſt Tyrannei .
Hier kann aber jener Zwek nur for-
dern , daß die Polygamie der Geſellſchaft
nicht nachtheilig werde , weder das Jnter-
eſſe Einzelner noch Aller verleze . Wo die-
ſer Fall nicht exiſtirt , iſt das Verboth ohne
Geiſt , alſo Willkuͤhr . Daraus folgt alſo
nicht mehr und nicht weniger , als daß der
Staat die Polygamie nur in dieſen Faͤl-
lenerlauben koͤnne ; wenn aber die Ex-
iſtenz dieſes Falls wirklich erwieſen , wenn
erhoben iſt , daß niemand widerſpricht , nie-
mand verlezt wird , fuͤr den Unterhalt der
Gattinnen , der Kinder , der Wittwen , der
Waiſen geſorgt iſt , alſo auch der Staat kei-
ne Gefahr laͤuft , erlauben muͤßte . Die Ge-
ſeze beſtimmen ein Alter der Volljaͤh-
rigkeit , aber ſie kuͤrzen den feſtgeſtellten
Zeit-Punkt ab , wenn die Gruͤnde jener Be-
ſtimmung fehlen , wenn der minderjaͤhrige
die erforderlichen Einſichten beſizt . Sie ver-
biethen die Einkindſchaftung , aber ſie
erlauben ſie , wenn alle Theile einig ſind ,
wenn fuͤr aller Jntereſſe geſorgt iſt .
Ohne geſezliche Autoritaͤt muß alſo Po-
lygamie immer verbothen bleiben ; aber dieß
berechtigt kein unbedingtes Verboth . —
Unter weiſen Einſchraͤnkungen wuͤrde ſie ſtatt
die Sitten zu verderben , ſtatt das Wohl
der Familien zu erſchuͤttern , jene verbeſſern
und dieſes befeſtigen . Wie oft koͤnnten
Trennungen , Maͤtreſſenſchaften , Ehebruch ,
zuͤgelloſe Ausſchweifungen , Verfall der Kin-
der-Zucht dadurch vermieden werden ! Und wie
viel ſicherer iſt es wenn der Staat Triebe
die er nicht erſtiken kann unter ſeine Auf-
ſicht nimmt , ſtatt ſie im Finſtern ſchleichen
und ein verzehrendes Gift ingeheim ver-
breiten zu laſſen .
Ganz anders verhaͤlt ſichs mit der Po-
lyandrie .
Auch alles , was Empoͤrendes gegen die
Sitten , auch alles was die ſchoͤnſte weibliche
Tugend , Sittſamkeit und Schaamhaftigkeit
Zerſtoͤhrendes darin liegt , ganz abgerechnet ,
macht die Verſchiedenheit des Koͤrper-Bau-
es an ſich ſie verderblich . Sie wuͤrde die
wichtigſte Empfindung der Menſchheit und
Geſellſchaft Eltern- und Kinder-Liebe entwur-
zeln , durch die Ungewißheit der Abſtam-
mung alle Faͤden der Moralitaͤt reißen und
die Menſchheit zum Thier herabwuͤrdigen .
Auch iſt ſelbſt unter den wildeſten und un-
kultivirteſten Voͤlkern kaum Eine , die dieſe
Sitte aufgenommen haͤtte .
2.
Ueber die Benennung Sterblicher .
D er Sprach-Gebrauch hat die Benennung
der Menſchen : Sterbliche ſankzio-
nirt .
Jſt ſie philoſophiſch richtig ?
Wahrſcheinlich lag ihr Geiſt darin : Sie
ſollte den Menſchen an die Hinfaͤlligkeit und
Kuͤrze der Dauer ſeines irdiſchen Daſeyns
mahnen , ſollte bei ihm ſtets die Erinnerung
lebendig erhalten , daß er bald von dieſer
Buͤhne wieder abtreten muß , daß alſo aller
Genuß , alle Freuden dieſes Daſeyns nur
ephemeriſch ſind , daß es alſo Thorheit iſt ,
ſich an ſie zu heften und daß er ſich gewoͤh-
nen muß , ſie jeden Augenblik ohne Gram
und Reue verlaſſen zu koͤnnen . Aber gerade
dazu ſcheint mir jene Benennung ſehr un-
richtig gewaͤhlt . Mit weit groͤßerm Rechte ;
mit weit mehr philoſophiſcher Richtigkeit mit
weit groͤßerm Gewinn fuͤr die Moralitaͤt ſoll-
te man den Menſchen : den Unſterblichen
nennen .
Die erhabenſte Lehre der Welt-Weis-
heit iſt : Unſterblichkeit unvertilgbare
Fortdauer unſers Weſens . Jſt es alſo nicht
unrichtig den ganzen Menſchen , alſo nicht
den einzelnen koͤrperlichen und ſterblichen
Theil deſſelben , nicht die abgeſonderte Huͤlle
Sterblicher zu nennen ? Beguͤnſtigt die-
ſe Benennung nicht vielmehr den Materia-
lismus ? Muß nicht die Benennung : Un-
ſterbli-
licher die Moralitaͤt unendlich mehr befoͤr-
dern , indem ſie dem Menſchen ſtets ſein
wahres ganzes Seyn , und deſſen wahren
Zwek gegenwaͤrtig erhaͤlt , ihm ſtets ein dau-
rendes Fortſchreiten des ſtufenweis zur Ver-
edlung zu klimmen beſtimmten Weſens dar-
ſtellt , indem ſie ſtets ſeine Jmaginazion mit
Bildern hoͤherer und unvergaͤnglicher Freuden
naͤhrt , alſo ſeine Seele zu deren Genuß be-
fluͤgelt , und ihm Verachtung und Gleichguͤl-
tigkeit gegen Genuß einfloͤßt , der unter ſei-
nen Haͤnden welkte ?
Der Name des Weſens entflammt den
Muth , ſtaͤhlt die Kraft , ihn zu verdienen ,
ihm zu entſprechen ; dieſe pſychologiſche Wahr-
heit ſollte der Moral heilig ſeyn . Der
Menſch der mit dem Titel : Unſterblicher
in die Laufbahn tritt , wird alles was ſterb-
B
lich iſt , unter ſeiner Liebe und Verehrung
finden ; dieſer Titel wird ihm Gefuͤhl fuͤr ſei-
ne hohe Wuͤrde einfloͤßen ; er wird erroͤthen ,
Neigungen und Empfindungen zu naͤhren ,
Handlungen zu begehen , die dem Stempel
nicht gemaͤs ſind , den er , von der Gottheit
aufgedruͤkt , auf ſeiner Stirne traͤgt , er wird
zittern einen Namen zu ſchaͤnden , der ihn
von allen andern beſeelten Geſchoͤpfen abſon-
dert , und als ein uͤber ſie erhabnes We-
ſen bezeichnet .
3.
Ueber ſinnliche Darſtellung des
Todes .
D ie Alten haben den Tod als einen kraft-
vollen Juͤngling gebildet , weil er das irdiſche
Weſen zermalmt . Jhre Darſtellung hat
nichts Abſchrekendes ; es war ein heitres la-
chendes Bild .
Wir haben eine ſcheußliche , ſchauerliche
Allegorie , die lezte Reſte der verweßten Huͤl-
le , ein Gerippe gewaͤhlt . Wir haben da-
mit das Ungluͤk der Menſchheit , die Furcht ,
den Abſcheu des Todes erhoͤht .
Lukrez erinnert ſehr richtig , daß dieſe
Furcht vorzuͤglich daher ruͤhre , weil der Menſch
ſich ſtets neben ſeiner Leiche ſtehen ſieht .
War es philoſophiſch einen ſolchen Jdeen-
Gang zu beguͤnſtigen ? Vom Tod , der nur
Aufloͤſung der momentaneen Huͤlle iſt , gera-
de nur ein einzelnes Bild , gerade nur das-
jenige aus der Natur zu heben , was uns
von ſeinem vollen Begriff eine theilweiſe und
gerade die niederſchlagendſte Jdee vor die
Seele ſtellt ?
War es philoſophiſch richtig , den Tod d.
h. die Abſtreifung einer Huͤlle , mit all dem Be-
truͤbenden , Niederſchlagenden , Schrekenden
und Widrigen zu umgeben , das doch nur die
Welkung dieſer Huͤlle , die Ablegung des
thieriſchen Weſens betrift , und alle andre
weſentliche Beſtand-Theile des Tods , alles
was er fuͤr das zur Veredlung beſtimmte We-
ſen wohlthaͤtiges haben muß , aus unſrer ſinn-
lichen Darſtellung und dadurch aus unſern
Empfindungen zu verbannen ?
Die natuͤrliche große Anhaͤngigkeit des
Natur-Menſchen an ſeine thieriſche Exiſtenz
hat dieſes Dunkel , dieſen Schauer geſchaffen ,
die den Tod umgeben ; aber es iſt der Zwek
der Weisheit , ſie zu zerſtreuen . Man ſollte
alſo auf eine neue allegoriſche Vorſtellung
des Todes denken . Das Attribut der um-
geſtuͤrzten Fakel , genuͤgt mir allein
nicht . Jch ſchlage vor : das Bild eines ver-
ſchleierten Juͤnglings , der in einer Hand
den Dolch oder die umgeſtuͤrzte Fakel traͤgt ,
in der andern einen Strahlen-Kranz . Der
Schleier bezeichnet die Daͤmmerung des
Uebergangs von einer Exiſtenz zur andern ;
der Dolch das Zerſtoͤhrungs-Geſchaͤft
der thieriſchen Huͤlle ; ſo wie die Fakel deren
Aufhoͤren ; der Strahlen-Kranz den in dieſer
Zerſtoͤhrung liegenden Fortſchritt zur
Veredlung .
4.
Ueber Graͤber-Beſuche und Todten-
Feſte .
D ie Sitte der Orientaler jaͤhrlich an einem
beſtimmten Tage die Graͤber ihrer Voreltern
zu beſuchen , iſt eine dem Weiſen ehrwuͤrdige
Sitte . Warum nehmen wir ſie nicht auf ?
Jſt ihr großer Gewinn fuͤr die Moralitaͤt ,
fuͤr die Erhoͤhung der kindlichen Liebe und
Achtung , fuͤr die Befeſtigung derjenigen
Bande , die der menſchlichen Geſellſchaft am
wichtigſten ſind , wohl verkennbar ?
Die juͤdiſche Nazion , Gegenſtand unſers
Hohns , unſrer Verachtung , hat dieſe Ge-
wohnheit aus dem Orient zu uns heruͤber ge-
bracht und erhalten ; und dieſen ſchoͤnen Sit-
ten-Zug bringen wir ihr nicht in Rechnung ?
Auch bei ihr , wie bei allen Orientalern , iſt
alles heilig , was auf dieſen Graͤbern waͤchſt .
Auf einer meiner Beſizungen befindet
ſich ein juͤdiſcher Kirchhof , und mit ſtiller
Ehrfurcht gehe ich ſtets voruͤber vor den
Baͤumen und Geſtraͤuchen , die ein ſo ehr-
wuͤrdiger , die Natur der menſchlichen Seele
ehrender Glaube mit dem Stempel der Si-
cherheit und Unverlezbarkeit gezeichnet hat ,
und die ſich ruhig unter dem Schuze einer ſo
ſchoͤnen Empfindung dem Olymp entgegen
ſtreken .
Jrgend jemand hat juͤngſt vorgeſchla-
gen , ein Todten-Feſt zu feiern . Dieſer
Gedanke iſt ſo wahr , ſo ſchoͤn , ſo wohlthaͤtig
fuͤr die Empfindung , ſo wichtig fuͤr die Mo-
ralitaͤt , und doch hat er keine Senſazion ge-
macht ? —
Wie ? und die Menſchheit und ſelbſt un-
ſre Nazion beſizt der edlen und guten und
fuͤhlenden Weſen ſo viel — und ſie koͤnnten
ſich nicht ſchlingen in einen Bund , um der
Religion dieſen ſchoͤnen Kranz aufzuſezen ? —
Glaube iſt ja nur die Sache der Empfin-
dung ; und deren Strohm haͤtte die Dog-
matik rein in ihre Schaale eingefaßt ? ver-
ſiegt und troken deren Beet ? —
Ja Theologie und Mythologie iſt fuͤr die
ungebildeten Klaſſen der Menſchheit noth-
wendig , und wohlthaͤtig . Ach ! warum ſtrebt
man nicht ſie den gebildetern Klaſſen werth
zu machen ! die Empfindung zu beſtechen , wo
die Vernunft ſich empoͤrt , nicht zu beſtechen
iſt — und ſo die gebildete wie die ungebil-
dete Menſchheit friedlich an den großen
Punkt zu geleiten , wo der Vorhang der
Wahrheit unaufhaltſam herauf rollt und vor
ihrem Glanz aller , auch der wohlthaͤtigſte
Wahn ſinkt !
Sollte es wuͤrklich noch nicht Zeit ſeyn
der Religion bei den hoͤhern Volks-Klaſſen
eine edlere Stuͤze zu geben , als Eigennuz
und Herrſchſucht ?
Apoſtel und Heilige haben ihre Feierta-
ge . Laßt uns ein Todten-Feſt ſtiften , dem
Andenken der Verſtorbenen , der Erinnerung
ihrer Liebe , ihrer Tugenden , der Hoffnung
des Wiederſehens , der Huldigung ihrer Aſche
geweiht ! —
Feiert es in dem Bluͤthen-Monathe , wo
die Natur wieder auferſteht , und uns das
Pfand giebt jener ſchoͤnen Hoffnung des Er-
wachens in einer edlern Form , jener
geheimen Ahndungen des Wiederſehens
und Wiederfindens , wo die Flamme un-
ſrer Gefuͤhle am reinſten gluͤht , unſre Phan-
taſie am uͤppigſten ſchwelgt !
Die Lehrer der Tugend , d. h. der Reli-
gion , ſollen uns an dieſem Tage ſammeln :
in einer Rede dem Andenken unſrer Verlohr-
nen huldigen , mit uns wallen im feierlichen
Zuge an die Graͤber unſrer Geliebten , ſie
mit Blumen beſtreuen und die Dornen aus
ihren Huͤgeln jaͤten .
Wolluͤſtig wird ſich an dieſem Feſt-Tage
die Thraͤne des Verwaiſten ergießen . Er
wird der Empfindung , der Moralitaͤt , der
Familien-Liebe — reines Gold gewinnen ,
und damit Wohl der Geſellſchaft , das auf je-
nen einzig ruht .
Prieſter und Theologen aller Sekten ,
ihr , deren Exiſtenz naher Untergang droht ,
ſollte euch meine Jdee nicht willkommen
ſeyn ? Solltet ihr mich nicht verſtehn ?
5.
Warum trauert man nur fuͤr Ver-
wandte ?
D er Geiſt der Trauer — Hoftrauern der
Etikette ausgenommen — iſt : den Schmerz
der Hinterlaſſenen uͤber den Verluſt der
Verſtorbenen oͤffentlich zu bezeugen . Die
Empfindung hat ſie geſchaffen , ſie die
wohlthaͤtigen Troſt , Balſam fuͤr die Wun-
de der Sehnſucht nach Entriſſenen , darin
findet , oͤffentlich dem Andenken des Ge-
liebten zu huldigen . Dem Weiſen iſt dieſer
Herold des innern Leids , dieſes Gewand ,
dieſe Verzierung des Schmerzes , wie ſie
Hamlet nennt , ehrwuͤrdig , und er ſieht es
nicht ohne Kummer allmaͤhlig vertilgen .
Die natuͤrliche Vorausſezung , daß die Ban-
de des Bluts die engſte ſind , daß die Liebe
vorzuͤglich von ihnen ausgeht und ſich
fortpflanzt , hat die Trauer auf Bluts-
Verwandte eingeſchraͤnkt und zugleich , je
nach dem Grade der Verwandtſchaft , alſo der
vorausgeſezten Staͤrke der Liebe , die Ab-
ſtufungen derſelben geſchaffen .
Gut ! — Aber ſchließt dieſe Voraus-
ſetzung die Wahrheit aus ? Jſt Liebe aufdie
Bande des Bluts und der Ehe einge-
ſchraͤnkt ? Tritt bei dem Freunde , bei der
Geliebten , bei dem erhabnen We-
ſen , das der Gegenſtand allgemeiner Ver-
ehrung und Achtung iſt , der Geiſt der
Trauer nicht auch in ſeiner ganzen Staͤrke
ein ?
Bei Verwandten und Ehegatten iſt das
ſchwarze Gewand oft eine heuchleriſche Mas-
ke geheimer Freude ; doch die Aufrechthal-
tung der oͤffentlichen Sitten gebiethet , ſie
beizubehalten , wenn ſie auch ein falſcher He-
rold iſt . Aber warum iſt dem Freunde ,
der oft , der vielleicht oͤfter , mit innigerer
Zaͤrtlichkeit liebt , der ſuͤße Troſt entriſſen ,
oͤffentlich ſeinen entrißnen Geliebten den
Zoll der Liebe , der Achtung und Dankbar-
keit zu bringen ? Warum verſagt die grillen-
hafte Gewohnheit ihm das wohlthaͤtige
Recht , die ganze Menſchheit zu Zeugen ſei-
nes Schmerzes zu machen ? Warum verſagt
ſie ihm das Recht , aus dem Anblik ſeines
feierlichen Trauer-Gewands erneuete Erin-
nerung der entflohnen Freuden , und aus
dieſer Balſam fuͤr die Wunde des Ver-
luſts zu ſaugen ?
Jſt das mehr als Vorurtheil ? Wider-
ſtrebt es nicht unwiderſprechlich dem Geiſte
der nemlichen Gewohnheit , die Trauer
ſchuf ?
Eben ſo wichtig iſt es dem Weiſen , dem
Freunde der Menſchheit , die Trauer fuͤr er-
habne Weſen , in ihre Rechte einzuſezen .
Oder iſt der Verluſt eines vorzuͤglich edlen ,
fuͤr Menſchen-Gluͤk , fuͤr Wiſſenſchaften
wohlthaͤtigen und wichtigen Weſens , der
allgemeinen Trauer jedes Fuͤhlenden und
Denkenden , der allgemeinen Huldigung un-
werth ? Wenn ein Rouſſeau , ein Mengs
ein Leopold von Braunſchweig , ein Men-
delsſohn dieſe Welt verlaͤßt , ſo waͤre dieß
kein Verluſt fuͤr die ganze Menſchheit ? ſo
haͤtte nicht jeder , der ihren Werth fuͤhlte und
kannte , das Recht , die Pflicht ſogar ,
ſeinen
ſeinen Schmerz uͤber ihren Verluſt zu zei-
gen ? —
Der Tod eines großen wohlthaͤtigen
Weſens iſt eine oͤffentliche Kalamitaͤt , iſt
ein Leid fuͤr die große Familie der Menſch-
heit , iſt eine Familien-Trauer ! Und ſie
haͤtte nicht das Recht , ſich ohne Kritik , ohne
Gefahr des Verdachts der Singularitaͤt , der
Laͤcherlichkeit , der Affektazion den Augen der
Welt zu zeigen ? — Jhr ſollte die Hof-Trau-
er ſogar dieſes Recht ſtreitig machen ? — denn
nur die Trauer fuͤr den wahren Vater des
Volks iſt Landes-Trauer , iſt Zoll der Tugen-
den ; die Empfindung zollt keinem Range .
Jn unſern Meubles , in unſern Trink-
Geſchirren ꝛc. in allem was uns umgiebt , hul-
digen wir , gedrungen von dem Gefuͤhle des
Einfachen , Allein-ſchoͤnen , dem Ge-
C
ſchmake des Alterthums , und fuͤr die ſchoͤn-
ſten Zuͤge ſeiner Gebraͤuche und Sitten , fuͤr
diejenigen , die auf Veredlung und Moralitaͤt
ſo weſentlich einwirken , haͤtten wir keinen
Sinn ? Bei den Griechen war der Tod eines
großen Mannes der Gegenſtand allgemeiner
Trauer ; bei uns verhallt der Schmerz uͤber
ſeinen Verluſt in einzelnen , geheimen und
einſamen Klagen . Und welche Schwung-Kraft
wuͤrde dieß nicht der Menſchheit geben , mit
welcher Gluth wuͤrde der edle Menſch nicht
die Glorie zu erringen ſuchen , der Gegenſtand
oͤffentlicher Trauer zu werden ! —
Aber wer wird ſie anordnen ? Die
Allgemeinheit des Gefuͤhls , die Liebe ,
die Bewunderung , die Verehrung ! — Wird
nicht die Adulazion ſich auch dieſer Ge-
wohnheit bemaͤchtigen ? — Nein ! denn die
oͤffentliche Opinion iſt unbeſtechlich . Nur
eine hoͤchſt leichtſinnige , karakterloſe Nazion
kann im Schwindel der erſten Momente die
Tugend durch einen ungerechten Tribut ent-
weihen . Aber auch ſie wird bald erroͤthend
den Trauerflohr zerreißen . — Und welches
menſchliche Jnſtitut kann wohl gegen Ent-
heiligung undurchdringlich gepanzert wer-
den ? — Sollten wir deswegen alle Hebel
zur Tugend wegwerfen ?
Als Franklin ſtarb , trauerte der Ame-
rikaniſche Kongreß und der Franzoͤſiſche Na-
zional-Konvent . Wenn irgend ein Glied der
zahlloſen Menge der Regenten-Familien ſtirbt ,
ſey es auch ein Kind der Wiege , trauern die
Diener aller Regenten um ein Weſen , deſſen
Exiſtenz oft kaum der Verfaſſer des genealo-
giſchen Handbuchs kennt ! — O Tugend ! die
ich anbete , und einzig anbete ! O Sitten !
6.
Ueber Theilung der Gemeinde-
Grundſtuͤke .
J n einem Zeit-Punkte , wo uͤber Staats-
Wirthſchaft und Kultur ſo viel gedacht und
geſchrieben wird , wo man die Abtheilun-
gen der Gemeinde-Guͤther in mehreren
Staaten , als ein wichtiges Mittel zu Be-
foͤrderung der Land-Wirthſchaft , zu Erhoͤhung
des Landes-Wohlſtands und der Staats-Ein-
kuͤnfte , kurz , zu Befoͤrderung der allge-
meinen Gluͤkſeeligkeit betrachtet und
beſchaͤfftigt , wo noch neuerlich Herr Frie-
drich Karl Gavord in ſeinen Staats-
Wirthſchaftl . Betrachtungen uͤber
das gerechte Verhaͤltnis der Zerthei-
lung der Gemeinheits-Guͤther ſo
ſtark daruͤber deraͤſonniret hat , in einem ſol-
chen Zeit-Punkte ſcheint eine gruͤndliche Pruͤ-
fung der Fragen nicht wichtig zu ſeyn :
Erſtens : Befoͤrdert die Theilung
der Gemeinde-Guͤther die allgemeine
Gluͤckſeeligkeit ?
Zweitens : Welches iſt der gerechte
und alſo richtige Maasſtab der Vertheilung
derſelben ?
Der Verfaſſer dieſes Aufſazes hat nicht
allein dieſe Materie durchdacht ; er hat ſelbſt
mehrere Gemeinde-Guͤther-Abtheilun-
gen vorgenommen , und glaubt alſo ohne Un-
beſcheidenheit die Behauptung wagen zu duͤr-
fen , daß er in dieſer Sache eine Stimme habe .
Die Erſte Frage kann durchaus nicht
allgemein beantwortet werden .
Man muß
1 ) die Lokal-Verhaͤltniſſe , und
2 ) die Eigenſchaft der Grundſtuͤke unter-
ſcheiden .
1 ) Es ſind allerdings Lokal-Verhaͤltniſſe
denkbar , wo ein großer Theil der un-
ſtreitig mit den Gemeinde-Guͤther-Ab-
theilungen verbundenen Vorthei-
le aufgewogen wird .
Alles auf Erden , alſo insbeſondere in
der Staats-Wirthſchaft , iſt Kalkul , oder
ſollte es ſeyn .
Es muß alſo in jedem einzelnen
Fall unterſucht werden :
a ) ſind die allgemeine theoretiſche
Vortheile der Gemeinde-Guͤther-Abthei-
lungen vorhanden ,
b ) werden ſie nicht durch Lokal-Nachtheile
aufgewogen ?
Jch ſage vorſaͤzlich : Lokal-Nachthei-
le , und ſchließe alſo alle allgemeine Nach-
theile aus , weil dieſe nicht denkbar ſind .
Aus der Natur gezogene Beiſpiele bei-
der Faͤlle , werden dieſe Saͤze erlaͤutern .
Jn dem Dorfe B. befinden ſich betraͤcht-
liche Gemeinde-Waͤſen . Sie liegen aber am
Ende einer fruchtbaren Markung , in einer
Entfernung von 1 bis 1 und einer halben
Stunde vom Dorfe .
Die aus der Naͤhe der Wohnungen
reſultirende Vortheile des wechſelſeitigen
Beiſtandes und Schuzes in Gefahr , der
Hang zur Geſelligkeit , das Beduͤrfnis des
Waſſers , des gemeinſchaftlichen Gottes-
Dienſts , haben bei Entſtehung der geſell-
ſchaftlichen Verfaſſung , gegen den urſpruͤng-
lichen Geiſt des Akerbau-Stands , die Aker-
bau-treibende Klaſſe veranlaßt , ihre Woh-
nungen , zuſammen zu draͤngen . Na-
tuͤrlich bauten ſie alſo allmaͤhlich dasjenige
Land an , was ihren Wohnungen am naͤch-
ſten lag , und ruͤkten damit nach dem Ver-
haͤltnis der Zunahme der Volks-Menge und
der Jnduſtrie weiter . Dieſes Fortruͤken konn-
te aber nur bis auf den Punkt ſchreiten , den
der Geiſt des Land-Baus vorzeichnete .
Sobald nemlich die Entfernung ſo weit
ging , daß der Verluſt der Zeit mit dem Hin-
und Hergehen der Arbeitenden , von und nach
yren Wohnungen , mit den Dung-Heu-
und Getraide-Fuhren , und die Unmoͤglich-
keit der Auſſicht und des Schuzes gegen Ent-
wendung , die Vortheile des Anbaus uͤber-
wog , mußte die Kultur ſtille ſtehen , und
daher jene Oedungen .
Alle dieſe Nachtheile exiſtiren noch , und
alſo faͤllt auch der Vortheil des Anbaues und
der Abtheilung hinweg .
Jn einem ſolchen Falle iſt nur die An-
legung einer neuen Kolonie , an Ort
und Stelle , alſo auf der Oedung ſelbſt , moͤg-
lich .
Sie iſt aber , wenn nicht Waſſer-Man-
gel es hindert , ſehr moͤglich .
Der Land-Mann , bei dem die Fruchtbar-
keit groͤßer als in den Staͤdten iſt , der ſein
Guth nur Einem ſeiner Kinder uͤberlaſſen kan ,
iſt ſtets gezwungen , die uͤbrige zu entfernen .
Dadurch aber wuͤrde ihm der Weg geoͤffnet ,
ſeine Kinder in ſeiner Naͤhe anzuſiedeln .
und ſie die manigfaltige Vortheile nachbar-
licher Unterſtuͤzung genießen zu laſſen .
Ein Beiſpiel des zweiten Falls ,
wo die Vortheile der Abtheilung durch Lo-
kal-Nachtheile aufgewogen werden , iſt fol-
gendes :
Jn den Dorfe S. befinden ſich durchaus
nur ſolche Gemeinde-Glieder , die mit einer
zu großen Zahl von Grundſtuͤken bereits ver-
ſehen ſind . Hier wuͤrde aus der Abtheilung
der Gemeinde-Grundſtuͤke der Nachtheil ent-
ſtehen muͤſſen , daß nothwendig der Anbau
der bereits urbaren Grundſtuͤke dadurch
vernachlaͤſſigt wuͤrde .
Der Land-Mann wie der Fuͤrſt glaubt , nie
zu viel Land beſizen zu koͤnnen .
Da er den Akerbau nicht nach Grund-
ſaͤzen ſondern mechaniſch treibt , ſo hat
er allergroͤßtentheils keinen Sinn dafuͤr , daß
die Maſſe der Produkzion , nicht von der
Erd-Flaͤche , ſondern von dem Grade der
Kultur abhange .
Jn einem ſolchem Falle iſt alſo die Ab-
theilung der Gemeinde-Gruͤnde der Kul-
tur und der Viehzucht ſchaͤdlich , und nur
dann vortheilhaft , wenn der Land-Mann be-
wogen werden kann , neue Anſiedelungen
zu geſtatten und einen Theil ſeiner uͤberfluͤs-
ſigen Grundſtuͤke oder der Gemeinde-Waͤſen
an neue Anbauer zu uͤberlaſſen .
Der Staat kann dieß ohne Verlezung
der heiligen Eigenthums-Rechte nicht gebie-
then , aber befoͤrdern , wenn er die Verein-
zelung der großen konſolidirten Hoͤfe , bis auf
eine ſolche Zahl von Grundſtuͤken , die bei
einem mittlern Grad von Kultur zu reichlicher
Ernaͤhrung einer Familie hinreicht , erlaubt
und beguͤnſtigt ; wenn er alſo ein richtiges
Verhaͤltnis des Grund-Eigenthums-Beſizes
herſtellt , der im Allgemeinen nicht nach
Grundſaͤzen , ſondern durch Zufall entſtanden
iſt .
Was 2 ) die Eigenſchaft der Grund-
ſtuͤke betrift ; ſo halte ich nur die Abtheilungen
oͤder Gemeinde-Guͤther , und zwar ſolcher
fuͤr vortheilhaft , die zu Feldern oder Wieſen
hergerichtet werden koͤnnen .
Die Vertheilung urbarer Gemeind-
Aeker oder Wieſen iſt im Allgemeinen
ſchaͤdlich .
Es iſt allerdings raͤthlich , der Gemein-
de , als ein geſellſchaftlicher Koͤrper betrach-
tet , ein liegendes Vermoͤgen zu laſſen .
Es giebt Faͤlle allgemeiner Noth , z. B.
Brand , feindliche Verheerung , Unterhaltung
der Wege , Daͤmme , Bruͤken , ꝛc. wo die
wechſelſeitige Unterſtuͤzung und Rettung aus
den einzelnen Beitraͤgen der einzelnen
Gemeinde-Glieder weit ſchwerer iſt , als aus
einem gemeinſchaftlichen Vermoͤgen .
Eigennuz und Egoismus ſtraͤubt ſich gegen
jedes Opfer , das man aus ſeinem alleinigen
Eigenthum mit fuͤr andere leiſten ſoll .
Das gemeinſchaftliche Vermoͤgen
hingegen , iſt jedes einzelne Gemeinde-Glied
gewohnt als ein ihm fremdes Eigenthum zu
betrachten .
Jn ſolchen Faͤllen exiſtirt alſo ein
ſichrer Fond , den allgemeinen Wohlſtand der
Geſellſchaft wieder herzuſtellen .
Wird auch die Kultur gemeindlicher
Grundſtuͤke gewoͤhnlich vernachlaͤſſigt , ſo iſt
doch dieſer Fond gegen alle Leidenſchaften ,
gegen alle Gefahr untreuer Verwaltung u. ſ.
w. ſicher geſtellet , die bei einem Kapital-
Vermoͤgen unvermeidlich iſt . Auch haͤngt
deſſen Werth nicht , wie der Metall-Werth ,
von den Launen der Zeit ab .
Nur dann wuͤrde zum Theil , eine Ab-
theilung der gemeindlichen urbaren Guͤther
raͤthlich und vortheilhaft ſeyn , wenn ihre
Zahl , den fuͤr ſolche Faͤlle allgemeiner Noth
erforderlichen Fond , oder die Zahl der ange-
bauten eigenthuͤmlichen Privat-Guͤther uͤber-
ſteigt , und damit nicht im Verhaͤltnis ſteht .
Die Abtheilung gemeindlicher Hoͤl-
zer , halte ich im Allgemeinen fuͤr ſchaͤdlich .
Holz gehoͤrt unter die erſten Beduͤrf-
niſſe .
Der Landmann kalkulirt groͤßtentheils
nur auf einen ſehr eingeſchraͤnkten Zeit-
Raum .
Ob ſeine Nachkommen noch dieß erſte ,
und unentbehrliche Beduͤrfnis finden ?
ob bei zunehmender Volks-Menge auch
fuͤr dieſe noch das Erfordernis vorhanden
ſey ? iſt ihm gleichguͤltig .
Der langſame Wuchs des Holzes ſteht
aber mit der Leichtigkeit der Verſchwendung
nicht im Verhaͤltnis . Der Staat der uͤber
das Wohl der Geſellſchaft nicht bloß fuͤr den
Moment , ſondern in der Fortdauer wa-
chen muß , hat alſo die Pflicht , mithin auch
das Recht , die freie Benuzung des Holz-
Eigenthums in ſo weit einzuſchraͤnken ,
als es das Wohl der Geſellſchaft unver-
meidlich fordert .
Es iſt aber unſtreitig leichter dieſe noth-
wendige Beſchraͤnkung des Eigenthums bei
Grundſtuͤken auszufuͤhren , die der ganzen
Geſellſchaft , als die den einzelnen Eigenthuͤ-
mern gehoͤren .
Der Land-Mann , der fuͤr die groͤßere
Ruͤkſicht des allgemeinen Wohls , groͤß-
tentheils keinen , fuͤr den Begriff des Eigen-
thums aber Sinn genug hat , ſieht jede
Beſchraͤnkung der Eigenthums -Rechte
als eine despotiſche Willkuͤhr an , gegen die
er ſich ſtraͤubt , der er auf alle Art zu entge-
hen und auszuweichen ſucht , und die nur
durch anhaltende gewaltſame , alſo verhaßte
Maas-Regeln aufrecht erhalten werden kann .
Er
Er hat fuͤr Forſt-Wirthſchaft keinen
Sinn , und unterwirft ſich allen deren Vor-
ſchriften mit Murren und Widerwillen .
Holz ſollte alſo ſeiner Natur nach ei-
gentlich nie Privat-Eigenthum , ſtets
Staats-Eigenthum ſeyn . Dieß wuͤrde
auch den Staat in Stand ſezen , die Graͤn-
zen der Bevoͤlkerung , die Vortheile oder
Nachtheile der Anlegung neuer Fabriken ,
richtiger zu beſtimmen , alſo die Nahrungs-
Quellen mit weiſer Vorſicht zu berechnen ,
und das Gleich-Gewicht zwiſchen allen Klas-
ſen der Staats-Buͤrger zu erhalten , deſſen
Verluſt jedem Staat den Untergang bringt .
Vielleicht wuͤrden andere unter die
Faͤlle , wo die Abtheilung eines oͤden Plazes
nachtheilig iſt , auch den der Unfruchtbar-
keit des Bodens rechnen .
D
Allein Erfahrung hat mich uͤberzeugt ,
daß durchaus kein Boden ganz unfruchtbar
iſt , d. h. durch Kultur nicht mehr Gewinn
als durch Waide liefern koͤnne .
Wohl aber gehoͤrt hieher , der Fall :
wenn das oͤde Grundſtuͤk unvermeidlich
oͤfteren Ueberſchwemmungen ausgeſezt iſt ;
oder die Auflokung des Erd-Reichs einem
Strohme Gelegenheit zu Waſſer-Riſſen geben
wuͤrde .
Jene Lokal-Verhaͤltniſſe abgezogen aber ,
befoͤrdert die Abtheilung oͤder Gemeinde-
Guͤther , die allgemeine Gluͤkſeeligkeit aller-
dings .
Jch verſtehe unter allgemeiner Gluͤk-
ſeeligkeit , daß auf einer angenommenen
Erd-Flaͤche , ſich bei einem mittlern Grad
von Kultur-Stande die groͤßte moͤgliche
Zahl von Menſchen bequem ernaͤhren , d. h.
alle ihrem Stande , ihrer Erziehung und Sit-
ten angemeſſene Beduͤrfniſſe erhalten koͤnne .
Es iſt wohl nicht moͤglich , dieß in der Allge-
meinheit noch naͤher und ſchneidender zu be-
ſtimmen .
Dieß angenommen , ſind die uͤberwie-
gende Vortheile der Urbarmachung der oͤden
Gemeinde-Gruͤnde unverkennbar .
Oekonomiſche Schriftſteller , wie Schu-
bart , Meyer u. a. haben die Vortheile der
Stall-Fuͤtterung uͤberzeugend dargethan . Zwi-
ſchen der Nahrung , die das Vieh auf einer
angenommenen oͤden Erd-Flaͤche erlangt , und
der Maße der durch den Anbau daraus zu
ziehenden Produkten , iſt durchaus kein Ver-
haͤltnis .
Wenn man von einer behuͤthet werden-
der Erd-Flaͤche denjenigen Flaͤchen-Jnhalt
abzieht , der von dem Tritt des Viehes zu
allem Keimen untuͤchtig gemacht , der durch
den Dung und Urin zum Fras verdorben
wird , ſo bleibt eine ſehr geringe Flaͤche zu
Produkzion der Nahrung uͤbrig .
Rechnet man hiezu den ſo wichtigen
Verluſt des Dungs , die der thieriſchen Orga-
niſazion ſo nachtheilige Ermuͤdung vom Ge-
hen und Ermattung von der Hize , den daraus
entſtehenden Verluſt des Ertrags vom Melk-
Viehe , ſo ſteigt die Bilanze zum Vortheil
der Abtheilung der Gemeinde-Huthen unend-
lich .
Die neuern Oekonomen haben zwar
ſtets auf den — in der Natur der thieriſchen
Organiſation gegruͤndeten Grundſaz aufmerk-
ſam gemacht , daß das oͤftere und allmaͤhli-
ge Fuͤttern des Viehes zu deſſen Gedeihen
und Wachsthume durchaus nothwendig ſey .
Es ſcheint aber ihrer Bemerkung bisher
entgangen zu ſeyn , daß gerade die gewoͤhn-
liche Art des ſeltenen und dann gehaͤuf-
ten Fuͤtterns , der Waide den Vorzug vor
der Stall-Fuͤtterung giebt , weil das Vieh dort
ſeine Nahrung nur allmaͤhlig und in kleinen
Porzionen dem Boden abzwingt , hier
aber ſich aus der vollen Raufe auf Einmal
bis zur Unverdaulichkeit uͤberlaͤdt .
Die Aufhebung der Waiden iſt alſo , nach
meiner Ueberzeugung , nur dann raͤthlich ,
wenn die Stall-Fuͤtterung der Natur naͤher
gebracht wird , welches freilich einen groͤßern
Aufwand von Zeit und Aufmerkſamkeit for-
dert , ihn aber auch reichlich belohnt .
Um die Groͤße und Wichtigkeit des Ge-
winns bei der Abtheilung einer Oedung von
nur mittelmaͤßig gutem Boden , anſchaulich
zu machen , will ich einſt die Berechnung des
Mittel-Ertrags eines von mir vor zwei Jah-
ren urbar gemachten Huth-Waaſens hervorge-
ben , und ſie wird Reſultate liefern , die jezt
unglaublich ſcheinen .
Zweite Frage : Welches iſt der
gerechte , und alſo richtige Maas-
ſtab der Vertheilung der Gemeinde-
Guͤther ?
Gemeinde-Guͤther ſind ein Eigen-
thum der kollektiven Geſellſchaft . So lan-
ge es oͤd liegt , hat in der Regel ( denn auch
hier koͤnnen Lokal-Verhaͤltniſſe Ausnah-
men bilden ) der Grad des Antheils eines
jeden einzelnen Glieds der Geſellſchaft keine
genaue Beſtimmung , und bedarf ſie auch
nicht . Die einzige ruhende Regel iſt , Gleich-
heit des Antheils .
Sobald aber das gemeindliche Grund-
ſtuͤk aufhoͤrt , das Eigenthum der kollekti-
ven Geſellſchaft zu ſeyn , ſobald alſo der An-
theil jedes einzelnen Glieds beſtimmt wer-
den ſoll , tritt die Frage ein : Welches iſt
der Grad des Antheils jedes Einzelnen am
Ganzen ? Nach welchen Grundſaͤzen
muß dieſer Grad erhoben werden ?
Gerecht muͤſſen dieſe Grundſaͤze ſeyn ;
das iſt unſtreitig . Gerecht kann aber der
Maasſtab jenes Grads nur dann ſeyn ,
wenn die Lage jedes einzelnen Gemeinde-
Glieds durch die Abtheilung nicht verſchlim-
mert wird . Es folgt hieraus , daß ſelbſt da ,
wo der Antheil jedes einzelnen Glieds an den
Vortheilen und Laſten der Geſellſchaft durch
beſtimmte Gemeinde-Rechte feſtgeſezt
iſt , die Abtheilung nach Gemeinde-Rech-
ten keineswegs gerecht ſey .
Jene Beſtimmung iſt unter dem Ver-
haͤltnis der Gemeinheit der Grundſtuͤke
gemacht worden , iſt alſo nur auf dieſe Lage
der Dinge berechnet , alſo auch nur auf dieſe
Lage der Dinge anwendbar .
Bei einer ganz entgegengeſezten Lage
des geſellſchaftlichen gemeinen Vermoͤgens ,
kann ſie alſo durchaus den richtigen Maas-
ſtab zu der Aufhebung dieſer Gemeinſchaft ,
und der Abtheilung ihrer Vortheile nicht
abgeben .
Jn ſolchen Verfaſſungen beſizt oft der
bloße Handwerker , der Bauer mit 12 Mor-
gen ( Akern , Tagwerken , Jauchert ) Landes ,
eben ſo gut Gemeinde-Recht als der
von 60 Morgen . Nothwendig zieht der lez-
tere bei beſtehender Gemeinſchaft , wegen
ſeines ſtaͤrkern Viehſtands , mehr Vortheil
aus dieſer Lage , als der erſtere . Bei der
Abtheilung erhielte er aber nicht mehr Land
als ſie ; und wuͤrde alſo durch dieſe Veraͤnde-
rung der Lage offenbar gegen jene verkuͤrzt .
Der Grad des Vortheils , der fuͤr
jedes Glied der Geſellſchaft aus der bis-
herigen Lage reſultirte , iſt alſo der ein-
zigegerechte , alſo einzig richtige Maas-
ſtab der Abtheilung . Dieſer , an ſich unwi-
derſprechlich richtige Grundſaz hat aber zu
andern Jrrthuͤmern verleitet .
Man hat alſo den gerechten und rich-
tigen Maasſtab der Abtheilungen in dem
Viehſtand geſucht , und nichts iſt irriger ,
alſo ungerechter .
Nothwendig muß bei der Abtheilung
der Viehſtand des Zeit-Punkts zum
Grund gelegt werden .
Der Viehſtand wechſelt aber nicht allein
unaufhoͤrlich , ja nach der Jahrs-Zeit , der Wit-
terung , dem Fall eingetretener Krankheiten
u. ſ. w. er haͤngt auch ſehr von der mehrern
oder mindern Jnduſtrie des Grund-Beſizers
ab . Der vorige Beſizer eines angenom-
menen Bauern-Guths , kann durch Kultur
und Fleis ſeinen Viehſtand hoch getrieben ,
der jezige durch Mangel an Fleis ihn tief
herabgeſezt haben . Wenn nun dieſem Bauern-
Guth ſein Antheil an den gemeindlichen
Grundſtuͤken , nach dem jezigen Verhaͤlt-
nis zugetheilt wird , wird nicht der fleiſigere
Enkel , der den Viehſtand wieder auf die
Hoͤhe des Großvaters bringt , mit Recht
uͤber Verkuͤrzung , uͤber Schmaͤlerung ſei-
nes Antheils am gemeindlichen Vermoͤ-
gen klagen ?
Der Viehſtand iſt alſo als ein wan-
delbarer und von Zufaͤllen abhaͤngiger Um-
ſtand , durchaus kein feſter , ſicherer , alſo ge-
rechter und richtiger Maasſtab zu einer dau-
ernden und immerwaͤhrenden Beſtimmung
des Grads des Antheils der einzelnen Glie-
der am gemeinſchaftlichen Grund-Eigen-
thum .
Der einzige ſichere , feſte , gerechte und al-
ſo richtige Maasſtab liegt vielmehr in dem an-
gebauten Grund-Beſiz des Ge-
meind-Glieds .
Dieſer iſt feſt , ſicher bleibend und wech-
ſelt nicht ; denn die Zutheilung des Antheils
am gemeindlichen Vermoͤgen , geſchieht nicht
auf die Perſon des Beſizers , ſondern auf
das angebaute Grundſtuͤk , das nie ver-
loren gehen kann .
Er haͤngt nicht , wie der Viehſtand von
dem Zufall oder dem Mehr oder mindern
Grad der Jnduſtrie des Anbauers ab .
Er iſt gerecht , denn er allein mißt
die abzutheilenden Antheil des einzelnen Ge-
meind-Glieds genau nach dem Grade des
Vortheils ab , den die Lage der Gemein-
ſchaft dem Einzelnen gewaͤhrte .
Dieſer Vortheil beſteht nicht in dem
wuͤrklichen , ſondern in dem daraus zu
ziehen moͤglichen Gewinn ; nicht in der
wuͤrklichen vom Zufall abhaͤngigen Benuz-
ung , ſondern in der bleibenden und unwan-
delbaren Benuzungs- Faͤhigkeit .
Der Grad der daurenden Benuzungs-
Faͤhigkeit liegt aber einzig in der Zahl
der angebauten Privat-Grundſtuͤke . Ein
Bauer , der 60 Morgen Grund-Eigenthum
beſizt , wird bei gleicher Kultur , ohnwi-
derſprechlich mehr Vieh halten , alſo mehr
Nuzen von Vieh-Waiden ziehen koͤnnen , als
der nur 40 beſizt .
Und da die Erd- Flaͤche nicht allein
den Ertrag beſtimmt , ſo waͤre es , um die
ſtrengſte Gerechtigkeit einzuhalten , auch noth-
wendig , dieſe Privat-Grundſtuͤke nach der
natuͤrlichen Guͤte des Erd-Reichs abzu-
gleichen .
Man denke ſich alſo 8 Gemeinde-Glie-
der , wovon 4 jeder 25 Morgen und 4,50
Morgen beſaͤßen , und unter die ein Gemeinde-
Waaſen von 75 Morgen vertheilt werden
ſollte .
Alſo wuͤrde jeder Morgen angebautes
Feld 1 Viertel Morgen am Huth-Waaſen ,
jeder der erſtern 4 Gemeinde-Glieder alſo
6 und 1 Viertel Morgen , jeder der leztern
4 aber , 12 und 1 halben Morgen erhalten .
Beſaͤßen aber die erſtern 4 ſolches Land ,
wovon z. B. 2 Morgen ihrer natuͤrlichen
Fruchtbarkeit nach , eben ſo viel Ertrag liefer-
ten , als 1 Morgen der 4 leztern , ſo wuͤrde je-
der 21 und 7 Achtel Morgen erhalten .
Jenen Grundſaͤzen zu Folge , muͤßte
die Zutheilung nicht einzig auf konſolidirte
Grundſtuͤke , ſondern auch auf einzelne
Felder und Wieſen geſchehen .
Dieß wuͤrde aber die Beſtimmtheit und
Feſtigkeit des Maasſtabs nicht alteriren ,
denn die Abtheilung muͤßte Morgenweis ge-
ſchehen und der Antheil an dem abgetheilten
Gemeind-Waaſen wuͤrde alſo nicht dem
temporellen Beſizer , ſondern dem blei-
benden Grundſtuͤke anhangen .
Jch uͤbergebe dieſe , auf Nachdenken und
Erfahrungen ſich gruͤndende , Jdeen dem
Pruͤfungs-Geiſte weiſer und Menſchen-
Freundlicher Oekonomen .
Ob es raͤthlich ſey , alle Vieh-Waiden
abzuſchaffen , und alſo alle zu theilen ? ob
dabei nicht die Geſundheit alles , oder doch
die Fruchtbarkeit des Melk-Viehes leide ?
moͤchte wohl die gruͤndliche Eroͤrterung
erfahrner Oekonomen verdienen , da die Er-
fahrung hier dafuͤr , dort dagegen
ſpricht .
Jngleichen auch : Ob nicht die Horden -
Fuͤtterung der allerdings unentbehrlichen
Schaͤfereien , die Huth-Waͤſen , entbehrlich
machen , wofuͤr doch die Erfahrung in gan-
zen Laͤndern ſpricht .
7. Teutſche
7.
Teutſche Nazional-Tracht .
O ft ſchon haben Patrioten ihre Stimme
erhoben , und uns eine teutſche Nazional-
Tracht vorgeſchlagen .
Jſt die Jdee wahr , d. h. iſt ſie nuͤz-
lich , gewaͤhrt ſie dem teutſchen Staats-Buͤr-
ger reelle Vortheile , und iſt ſie ausfuͤhrbar ?
Jm allgemeinen Sinne iſt Nazionaltracht
diejenige Gattung Kleidung , welche die Sit-
ten , die Gewohnheit des Volks eingefuhrt
hat , im engern Sinne diejenige , die das
Geſez vorſchreibt . Jn erſtern Sinne
giebt es der Nazional-Trachten viele , beinah
alle Nationen haben etwas eigenthuͤmli-
E
ches in der Tracht ; in Europa die Engli-
ſche die Franzoͤſiſche , die Spaniſche , die Jta-
lieniſche , die Pohlniſche , die Griechiſche , die
Tuͤrkiſche ; in den uͤbrigen Welt-Theilen die
Perſiſche , Chineſiſche , Tartariſche , die der
Einwohner der Suͤd-See , der Nomadiſchen
Voͤlker von Afrika und Amerika u. ſ. w.
deren Eigenthuͤmliches meiſt Klima und die
von ihm abhaͤngige Sitten je ſtaͤrker oder ſchwaͤ-
cher vor andern ausgezeichnet haben . Aber
im zweiten Sinne hat kein Volk eine eigne
Nazional-Tracht als das Schwediſche , dem
ſie Guſtav der dritte gab .
Teutſchland als Nazion hat weder im
erſten noch zweiten Sinne eine Nazional-
Tracht . Bei den niedern Staͤnden hat je-
des einzelne Land , oft jede einzelne Stadt
eigenthuͤmliche Tracht . Vorzuͤglich groß iſt
aber dieſe Mannichfaltigkeit bei dem weibli-
chen Geſchlechte .
Auf dieſe ungeheure Verſchiedenheit
hatte in Teutſchland weniger das Klima
Einfluß als die Geſeze , die Regierungsverfas-
ſungen , welche die Sitten bilden ; und ſo
wie die Haupt-Umriſſe dieſer in Abſicht der
niedern Volks-Klaſſen ſeit Jahrhunderten
unerſchuͤttert blieben , erhielt ſich auch bei den
niedern Staͤnden ihre Tracht . Bei den hoͤ-
hern Staͤnden , die mehr vom unmittelbaren
Einfluß der Verfaſſung abhingen , drang
natuͤrlich das Gefuͤhl fuͤrs Schoͤne empor
und bewuͤrkte eine allmaͤhlige Revoluzion der
Trachten . Sobald die teutſche Nation auf-
hoͤrte ein kriegeriſches Volk zu ſeyn , ſobald
die teutſche Ritter ihre Ruͤſtung ablegten ,
mußten die hoͤhern Staͤnde eine andre
Tracht waͤhlen . Die Verbindung der Teut-
ſchen mit der ſpaniſchen Monarchie , beguͤnſtig-
te Anfangs von Karl des fuͤnften Zeiten an
die Aufnahme der ſpaniſchen Tracht . Sie
wurde alſo die Tracht der obrigkeitlichen
Perſonen , der Hofleute , der Gelehrten , der
Damen ; und da wo man ſie auch nicht ganz
adoptirte , trug ſie doch auf das vaterlaͤndiſche
Gewand , das Steife und Feierliche uͤber ; da-
her die Allonge-Peruͤken , die Roben , die
Reif-Roͤke .
Allmaͤhlig empoͤrte ſich das durch Wiſſen-
ſchaften und Hand lungbeguͤnſtigte Gefuͤhl
fuͤrs Schoͤne gegen das Steife , Unnatuͤrliche
und Gezwungene . Die mannichfaltige Bezie-
hungen der Teutſchen mit Frankreich , die
haͤufigen Kriege der Franzoſen in Teutſch-
land , das Gefaͤllige , Zwangloſe und Be-
queme ihrer Manieren erwarben allmaͤhlig
den Franzoſen die Herrſchaft in den Sitten
der feinern Welt und alſo auch in deren Tracht .
Von den hoͤchſten Staͤnden ging das Beiſpiel
aus , und der vorzuͤglich in monarchiſchen
Staaten ſtets rege Stolz , der Ehrgeiz ſich
von den aͤußerſten Zirkeln immer naͤher
zum Mittel-Punkt zu draͤngen , die Begierde
zu gefallen , der Luxus dehnte dann dieſe Tracht
von Stufe zu Stufe beinah bis zu den nie-
derſten Volks-Klaſſen aus . Allenthalben
machte das weibliche Geſchlecht , bei dem die
Begierde zu gefallen natuͤrlicher iſt , und das
mehr Zeit zum Puz verwenden kann , den
Anfang und langſam ſchritt das maͤnnliche
nach .
Lange , ſehr lange behauptete Frankreich
dieſe Herrſchaft ; die Teutſchen folgten ihr
durch alle die muthwillige Launen der Mode
durch all' ihr Gekiges , Buntes , Unnatuͤr-
liches und Abentheuerliches .
Endlich erhielt ſie von England eine Ne-
ben-Buhlerin . Die ungeheure Verirrung von
der ſchoͤnen Einfalt der Natur empoͤrte all-
maͤhlig das ſtets in der Tiefe der menſchlichen
Seele unzerſtoͤhrbar liegende , aber mit Ge-
wohnheit , Beiſpiel und Leidenſchaft raſtlos
ringende Gefuͤhl fuͤrs Wahre . Die edle
Simplizitaͤt des engliſchen Geſchmaks rang
nun in Meublen , wie im Gewand , mit dem
franzoͤſiſchen , und theilte mindeſtens die Herr-
ſchaft mit ihm .
So ſtehen die Sachen noch jezt . Noch
jezt iſt die Tracht der hoͤhern Staͤnde ein Ge-
miſch von franzoͤſiſchem und engliſchem Ge-
ſchmak . Noch jezt haben wir keine eigen-
thuͤmliche teutſche Tracht .
Woher das ? Hat der Teutſche uͤber-
haupt keinen eigenthuͤmlichen Karakter ?
Fehlt es ihm , der in jeder Tugend , in je-
der Kunſt , und in jeder Wiſſenſchaft die er-
ſten Menſchen aufzuzeigen hat , fehlt es ihm
uͤberhaupt an Originalitaͤt des Karakters ?
Einſt hatte er doch einen eigenthuͤm-
lichen Karakter ; das bezeugt ſelbſt Tazitus .
Ernſt , nachdenkend , feſt , unerſchuͤtterlich ,
bieder , beharrlich war der teutſche Mann ;
ſanft , ſtill , haͤuslich , keuſch dasteutſche Weib .
So wie allmaͤhlig die Vereinigungs-
Bande der Nazion erſchlafften , verlohr ſich
auch die Originalitaͤt des Karakters , und
wich dem Einfluß des Kommerzes , der Re-
gierungs-Formen , der von ihnen ausflie-
ßenden Sitten .
Teutſchland hoͤrte auf Nazion zu ſeyn ,
und mit dem Umſturz ſeines Nazional-Da-
ſeyns , ſtuͤrzt nothwendig auch alle Eigen-
thuͤmlichkeit des Nazional-Karakters , mit-
hin auch der allgemeinen teutſchen Tracht .
Jſt denn alſo die Jdee einer Nazional-Tracht
im engern Sinne ausfuͤhrbar ?
Sie iſt es nicht : Wer Teutſchlands
jezige Verfaſſung kennt , nicht wie ſie in den
Reichs-Geſezen , ſondern wie ſie wuͤrklich
exiſtirt , bedarf wohl keines Beweißes . Aber
wenn die politiſche Revoluzionen raſtlos an
der großen Kette der Nazion aͤzen , ſo iſt es
die Sache der Sitten , ſie wieder zu ſtaͤhlen
und jener Desorganiſazion entgegen zu ar-
beiten . Denn an der Einheit der Nazion
liegt ihr Wohl , ihre innere und aͤußere Sicherheit .
Laßt uns alſo auf eine Nazional-Tracht
im allgemeinern Sinne denken ! Die
Flamme der Wahrheit iſt allmaͤchtig ; ſobald
ſie lodert , durchgluͤht ſie die Empfindung
aller denkenden und fuͤhlenden Weſen ; alſo
nur ſie zu entflammen iſt die große Aufgabe .
Ueberzeugung iſt die unwiderſtehliche
Beherrſcherin aller Sitten ; Sie knuͤpft die
entfernteſte Enden zuſammen und ſchafft eine
ſtillſchweigende Konvenzion , die alles zer-
malmt , ohne etwas zu beruͤhren .
Sezt alſo nur erſt dieſe Wahrheit
auf ihren Thron : daß eine Nazional-Tracht
dem teutſchen Staats-Buͤrger reelle Vortheile
gewaͤhrt ; ſo iſt auch ihre Herrſchaft geſichert ,
ſo bedarf es keines Geſezes .
Bei den gebildeten Klaſſen darf der
Patriot und Philoſoph allerdings zuerſt den
Nazional-Stolz , das Nazional-Ehr-
Gefuͤhl in Rechnung bringen . So ſehr
uns auch die Politik auseinander geriſſen hat ,
ſo beſteht doch noch das große Band der
Sprache , alſo das Band der Wiſſenſchaf-
ten . Der Teutſche muß alſo noch Gefuͤhl
beſizen fuͤr den Werth des teutſchen Na-
mens , fuͤr die Wuͤrde , als Teutſcher einer
groͤßern Nazion anzugehoͤren ; fuͤr den
Werth , irgend eine Auszeichnung zu beſizen ,
die ſeine Beziehung mit dem allgemeinen Va-
terlande bezeichnet ; fuͤr den Werth , der
Mitbuͤrger eines Leibniz , eines Leſſing , eines
Kant , eines Gluk , eines Mengs ; fuͤr den
Werth , Glied einer großen Familie zu
ſeyn , in deren Schooße er wieder allein Staͤr-
ke und Sicherheit findet , mit deren Strah-
len ſich das Jndividuum ſo gerne einfaßt , um
ſeinen eignen ſubjektiven Werth zu erhoͤhen .
Am maͤchtigſten und wichtigſten muß
dieß Gefuͤhl dem Teutſchen ſeyn , wenn er
mit fremden Nazionen zuſammen kommt ,
bei fremden Nazionen ſich befindet , die die
zahlloſe einzelne Nazionen Teutſchlands oft
kaum dem Namen nach kennen , bei denen
kein Stempel als der teutſche gilt , bei
denen nurdieſer Achtung verſchaffen kann .
Wahr iſts , Teutſchland hat aufgehoͤrt
eine Nazion zu ſeyn ; aber warum ? — Weil
man raſtlos ſtrebte , alle Allgemeinheit der
Zuͤge zu vertilgen , und weil nichts dem ent-
gegen arbeitete . Ob uͤberhaupt Herrſcher und
Voͤlker dabei gewonnen haben ? iſt eine an-
dre Frage ; aber den Sitten iſt es vorbehal-
ten und allein vorbehalten , die Folgen oder
Verirrungen der Ehrſucht zu verguͤten , und
die zerrißne Faͤden wieder anzuknuͤpfen .
Es iſt unbeſiegbare , in der Natur der
menſchlichen Seele liegende Wahrheit — der ,
nach ſo manchen Verirrungen , erſt neuerlich
die franzoͤſiſche Nazional-Konvenzion in ihrer
Berathſchlagung uͤber das Koſtuͤm der Volks-
Repraͤſentanten und oͤffentlichen Autoritaͤten
gehuldigt hat , — daß der Einfluß des Aeus-
ſerlichen auf Sitten und Verfaſſung all-
maͤchtig ſey . Es giebt zwei Wege , ſchlafen-
den Empfindungen Leben und Daſeyn zu ge-
ben : Ueberzeugung der Vernunft und Be-
ruͤhrung der Taſten der Sinne . Beide ſind
gleich ſicher , der lezte nothwendig allgemeiner .
Der Unterſchied iſt nur , daß im leztern
Fall das beruͤhrte Weſen die Empfindung gar
nicht gekannt hat , und ſie fuͤr eine neue
Schoͤpfung haͤlt . Vielleicht wuͤrde alſo eine
Nazional-Tracht die Bande der Teutſchen
feſter anziehen , mehr Gemein-Sinn ſchaffen
als eine neue Konſtituzion von Papier . Viel-
leicht wuͤrde der Teutſche allmaͤhlig mehr
Werth darauf ſezen , die Uniform einer gro-
ßen Nazion als eines einzelnen Hofs zu
tragen .
Vielleicht liegt ein großer Theil des
gaͤnzlichen Mangels an public spirit ,
an Einheit der Nazion darin , daß außer
der Sprache durchaus kein ſinnliches Band
dieſes Zuſammenhangs mehr exiſtirt .
Es iſt hier nicht von Kokarden , ſondern
vom Gewand die Rede ; ſo wenig an ſich
die Kokarde um deswillen das Anathem ver-
dient , welches man uͤber ſie ausgeſprochen
hat , weil ſie zufaͤllig zum Vereinigungs-
Punkte einer Empoͤrung diente . Sie kann
eben ſo gut ein Vereinigungs-Mittel ſeyn ,
ſich zur Beſchuͤzung der Geſeze und der jezi-
gen Verfaſſung , des Eigenthums , und der
wahren Freiheit zu ſammeln .
Eine Nazional-Tracht wuͤrde aberauch
dem teutſchen Staats-Buͤrger augenblikliche
reelle Vortheile gewaͤhren .
Hier iſt nicht der Ort , die große Frage :
ob und wie weit der Luxus ſchaͤdlich iſt ? um-
ſtaͤndlich zu beantworten . Aber gewiß iſt es ,
daß Nazional-Tracht den Luxus , ſo weit er
ſchaͤdlich iſt , begraͤnzen wuͤrde . Gewoͤhnte
ſich nur die Menſchheit , bei all ihren Hand-
lungen nur von einem Zweke auszugehen
und durchaus in dem Gleiße zu bleiben , das
zu dieſem Zwek fuͤhrt , ſo wuͤrde ſie ſich auch
in der Bekleidung unmoͤglich in die abentheu-
erliche Launen und Grillen haben verwirren
koͤnnen , welche die mannichfaltige Trachten
der Nazionen bezeichnen . Schuz gegen Hize
und Froſt , gegen die Stuͤrme der Witterung ,
Bedekung der Naktheit , als eine Folge der
Schaam , Bequemheit , Anpaſſung in Abſicht
der Bewegungen und thieriſchen Verrich-
tungen , Verbergung der Maͤngel der Natur
und Veredlung der Form — dieß ſind die Zweke
der Verkleidung , dieß muͤſſen ſie ſeyn ! Wie
weit iſt nicht die Menſchheit von ihnen ab-
gekommen !
Das Gewand der mehreſten Nazionen
gewaͤhrt entweder jenen Schuz nicht , oder
es verunſtaltet die ſchoͤne Formen der Natur . —
Welche ungeheure Caprice , von der Allon-
ge-Peruͤke des Senators bis zum Puze
des Geken , von der ſteifen Parade des
Garniſon-Soldaten bis zur ungebundenen
Natur des Hirten-Jungen , von der Dame
im Hof-Kleide bis zum Bauer-Maͤdchen !
Wahr iſts , ſeit dem lezten Dezennium
naht ſich die maͤnnliche und vorzuͤglich die
weibliche Tracht mehr der Natur und der
menſchliche Geiſt ſcheint auch hierin der Voll-
endung ſeines Kraislaufs nahe zu ſeyn . Aber
wie weit ſind auch die neuſten Trachten noch
vom Zweke fern !
Wuͤrde
Wuͤrde alſo durch die ſtille Uebereinkunft
teutſcher Maͤnner und Weiber eine National-
Tracht geſtiftet , gingen dieſe dabei vom Geiſte
des Gewands aus , ſo waͤre warlich fuͤr die
Nazion reiner Gewinn .
Allerdings muͤßte ſie dabei von andern
Nazionen entlehnen , aber dieß bringt die
Gleichheit der menſchlichen Form nothwen-
dig mit ſich , und die Zuſammenſezung waͤre
doch Originalitaͤt .
So wuͤrde der Mann die langen
Bein-Kleider ( Pantalons ) von den Un-
gern ; die Weſte oder den kurzen Rok , und
den kurzen an der linken Schulter hangenden
Mantel , und die Form des Huths von dem
Spanier , das rund abgeſchnittene Haar von
den Quakern und von mehrern Nazionen
F
entlehnen , und das Ganze wuͤrde eine
freie , bequeme , edle und natuͤrliche Tracht bil-
den , die Schuz gegen die Witterung giebt ,
den Bewegungen des Koͤrpers vollen Spiel-
Raum laͤßt und die ſchoͤne Form der Natur
nicht entſtellt .
Das teutſche Weib wuͤrde von den
Griechinnen die lange Bein-Kleider , das
ungezwungen aufgeſchuͤrzte Ober-Gewand ,
den Guͤrtel unter dem Buſen kopiren ; ver-
bunden mit einem an den Koͤrper ſich an-
ſchmiegenden Korſet mit Aermeln . Jhr
Kopf-Puz koͤnnte immer ganz der Phantaſie
uͤberlaſſen bleiben , wenn ſie nur vom Natuͤr-
lichen ſich nicht zu weit entfernte .
Wie groß waͤre auch nicht bei ſolchen
Trachten der Gewinn fuͤr die Kunſt . Sie
wuͤrden die ſchoͤnen von den Launen der Mo-
de mishandelten und verunſtalteten Formen
der Natur wieder herſtellen , die einſt Praxi-
tele , Zeuxes und Apelle ſchuf ; Sie wuͤrden
ſelbſt die Menſchen-Gattung veredeln , in-
dem ſie der Phantaſie der Muͤtter nur ſchoͤ-
ne und edele Umriſſe darſtellten und indem
ſie der Ausdehnung und dem Spiel der
Muskeln ungehemten Gang oͤffneten . Der
Eitelkeit , der Glanzſucht , dem Eigenſinn ,
den Grillen der Mode bliebe in den Stoffen ,
und Farben der Tracht , in den mannichfal-
tigen Verzierungen , im Kopf-Puz immer
noch ein weiter Spiel-Raum .
Das allmaͤchtigſte und ſicherſte aller
Zwangs-Geſeze : die Ueberzeugung , wuͤr-
de vielleicht dann den Teutſchen die ſtille freie
Uebereinkunft abdringen , ſich zu einer ſolchen
Tracht nur inlaͤndiſcher Zeuche zu bedie-
nen ; dieß wuͤrde die Nazional-Jnduſtrie be-
guͤnſtigen und der Bilanz des teutſchen Kom-
merzes eine vortheilhafte Richtung geben .
Jch wiederhole es , nicht Geſeze , waͤren
ſie auch fuͤr Teutſchland nach deſſen Verfas-
ſung moͤglich , koͤnnen dieſe Revoluzion bewuͤr-
ken . Der Menſch iſt mit Recht eiferſuͤchtig
auf ſeine Freiheit , und die geſezgebende Ge-
walt kann ihre Wuͤrkung uͤber die unmittel-
baren Zweke derſelben : nemlich Sicherheit
und Ordnung der Geſellſchaft , nicht ausdeh-
nen , ohne deren Glieder zu empoͤren , ohne
in diejenige Freiheits-Porzion einzugreiffen ,
die jeder derſelben bei dem geſellſchaftlichen
Vertrage ſich vorbehalten hat . Alſo kann
und darf dieſe Revoluzion in der Tracht nur
das Werk der ſtillen Uebereinkunft der
Nazion ſeyn ; aber auch dieſe hat große
Schwierigkeiten . Der groͤßte Theil fuͤrchtet ,
ſich durch den Anfang auszuzeichnen , ſich der
oͤffentlichen Kritik auszuſtellen , inſolirt zu wer-
den und alſo ſingulaͤr zu ſcheinen . Aber doch
iſt jene ſtille Uebereinkunft uͤber ſo viele Ge-
genſtaͤnde , z. B. die Abſtellung der Trauer-
Kleider endlich zur Herrſchaft geworden .
Sollte ſie es nicht auch hier werden koͤnnen ?
Mag meine Jdee immer lange bei andern
ſchoͤnen Traͤumen ſchlummern ; ſie iſt denn
doch in das Archiv der Menſchheit niederge-
legt , und Urkunden die ihr frommen , wer-
den oft ſpaͤt nachher aus dem Staube hervor-
geſucht . Noch immer iſt es nicht Zeit zu ſa-
gen , daß der gute Abt St . Pierre durchaus
und allenthalben vergebens getraͤumt hat .
8.
Litterariſches Konſultatorium .
E ine Geſellſchaft praktiſcher Aerzte zu Ham-
burg hat ein Jnſtitut errichtet , deſſen Zwek
iſt , auch entfernten Kranken , auf Anfrage ,
Rath und Huͤlfe zu ertheilen .
Der Mark-Graf von Baaden hat vor
einigen Jahren ein Rathgebendes Kolle-
gium niedergeſezt , bei dem ſich jeder Staats-
Buͤrger , dem ein Rechts-Streit bevorſteht ,
uͤber die Rechtlichkeit ſeiner Anſpruͤche oder
Behauptungen Belehrung verſchaffen kann ,
eh' er dieſe gerichtlich verfolgt .
Beide Jnſtitute verdienen den Beifall
jedes Weſens , dem Menſchen-Wohl heilig iſt .
Sollte denn nicht fuͤr den Schriftſteller ,
mindeſtens fuͤr den angehenden , ein aͤhnliches
litterariſches Konſultatorium errichtet werden
koͤnnen ?
Wie oft fehlt es dem angehenden Schrift-
ſteller , nach ſeinen Lokal- oder andern Ver-
haͤltniſſen an einem kritiſchen Freunde ; und
doch hat ſchon Horaz ſeine Wichtigkeit ſo
lebhaft gefuͤhlt , doch iſt in Wiſſenſchaft und
Kunſt unſre eigne Anſicht ſo truͤgeriſch , doch
kann einzig fremde Anſicht unſer Gefuͤhl
berichtigen , uns uͤber die Fleken und Maͤngel
unſrer eignen Schoͤpfung aufklaͤren ; — doch
kann ſie allein , entkleidet von der Favorit-
ſchaft unſrer Neigungen und Leidenſchaften ,
die ſo oft mit unſern Geiſtes-Kraͤften in
Widerſpruch ſtehen , dieſen ihren richtigen
Wuͤrkungs-Kreiß anweiſen . — Nicht immer
iſt diejenige Wiſſenſchaft , zu der unſer Herz
uns zieht , diejenige der auch unſer Geiſt ge-
wachſen iſt : und nicht alles deswegen vor-
trefflich , weil es con amore gearbeitet iſt .
Ein kritiſcher Freund ausgeruͤſtet mit
Einſicht und mit dem Muthe , wahr zu blei-
ben , mit der Kaͤlte , ſeinen Kopf nicht durch
das Herz beſtechen zu laſſen , iſt ein ſehr ſchaͤz-
bares , aber warlich ſehr ſeltenes Weſen .
Welcher Weg bleibt alſo dem angehen-
den Schriftſteller , ſich zu berichtigen und fort-
zuſchreiten , als die Preſſe ? Den Beſcheid-
nen und Aengſtlichen wird die Gefahr der
Publizitaͤt zuruͤk ſchreken , alſo das aufkei-
mende Genie feſſeln und erſtiken . Ueber-
windet er auch dieſe Furcht , ſo wird ſtrenge
Kritik ſeines erſten Ausflugs ihn betruͤben ,
ihn muthlos machen und vom Fortſchritt zu-
ruͤkhalten .
Jn der litterariſchen Welt , wie in der
Geſellſchaft und auf der Buͤhne , entſcheidet
meiſt der Debuͤt auf immer ; und doch muß
er von dem groͤßern Theile der Schriftſteller
auf die Gefahr gewagt werden , daß einſame
Anſicht ihn getaͤuſcht , und ſeinen ſchriftſtelle-
riſchen Ruf auf immer verkruͤppelt haben koͤn-
ne . Wie oft wird nicht der in der Folge
durch oͤffentliche Kritik belehrte und gebildete
Schriftſteller wuͤnſchen ſeine erſte Produkte
zuruͤknehmen , wie oft vergebens wuͤnſchen ,
ſelbſt das Ueble wieder vernichten zu koͤnnen ,
das dieſe Produkte ſtifteten , und das ſeine
durch fremde Anſichten nicht berichtigte Par-
theilichkeit und Vaterliebe , ihm damals
verbarg !
Wie viel klaſſiſche Werke mehr , wie viel
unreife Produkte weniger wuͤrden wir beſiz-
en , wenn dieſe Geburten durch fremde kal-
te Pruͤfung erſt gezeitigt worden waͤren ! —
Wie manchen Schriftſteller hindert Tod
oder buͤrgerliche Verhaͤltniſſe , ein Einmal
gedruktes Werk umzuarbeiten und in einer
reinern , fuͤr Menſchheit und Wiſſenſchaft
nuͤzlichern Geſtalt wieder zu geben ! — Wie
manches unvollkommne oder unreife Werk
kann , wegen des gerade davon herruͤhren-
den Mangels an Abſaz der erſten Auflage ,
in keiner zweiten veraͤnderten und vollkomm-
nern mehr erſcheinen ! Wie viel zu nah an
einander gedraͤngte neue Auflagen der nem-
lichen Werke wuͤrden erſpart werden , — die fuͤr
die Fortſchritte der Wiſſenſchaften und fuͤr den
Umlauf der Kenntniſſe nachtheilig ſind , weil
ſie den Buͤcher-Ankauf erſchweren , — wenn
ſchon die erſte Auflage eines wichtigen Werks
vollendeter erſchiene ! Unverkennbar iſt alſo
die Menge und Groͤße der Vortheile ,
wenn der Schriftſteller , vorzuͤglich aber der
angehende , vor der Publizitaͤt ſeines
Werks , ſich durch eine geheime Pruͤfung
und Beurtheilung belehren und berichtigen
koͤnnte .
Der Weg dazu waͤre die Errichtung
eines Litterariſchen Konſultatori-
ums . Eine Geſellſchaft Gelehrter vereinig-
te ſich , die ihr von Schriftſtellern zugeſende-
te Handſchriften ausfuͤhrlich zu zerglie-
dern und zu beurtheilen ; jeden Tadel und
jeden Beifall mit Beweißen zu beurkun-
den .
Der Raum der kritiſchen Blaͤtter macht
es ihnen nur bei den wichtigſten Werken
moͤglich in eine vollſtaͤndige Zergliederung
einzugehen . Die Koſten des Druks und
Papiers wuͤrden ſonſt die Journale zu einen
zu hohen Preiß ſteigern ; ſie wuͤrden ſelbſt
an Jntereſſe verlieren ; weil bei unvollkom-
menen oder unwichtigen Werken nicht das
ganze Publikum , nur der Schriftſteller bei
einer ausfuͤhrlichen Beurtheilung intereſſirt
iſt , und gewinnen kann . Die meiſten Re-
zenſionen muͤſſen alſo kurz und oberflaͤch-
lich ſeyn . Dadurch wird aber kein Genie
gebildet , dadurch fuͤr die Wiſſenſchaften
nichts gewonnen .
Wie ſoll es auch moͤglich ſeyn , daß ein
Journal von hoͤchſtens 365 halben Bogen
jaͤhrlich die Produkte von 6000 lebenden
teutſchen Schriftſtellern — ſo berechnet Meu-
ſel ihr Heer — gruͤndlich abfertige ? der Ban-
kerott iſt ja offenbar und muß mit jedem
Jahr zunehmen .
Da es vom Schriftſteller abhinge , ſelbſt
vor dem Konſultatorium anonym zu
bleiben , ſo verſchwaͤnde durch eine ſolche ge-
heime Pruͤfung fuͤr ihn alle Gefahr , ſeinen
Ruf zu kompromittiren , oder bei den beſten
Abſichten , und dem edelſten Beſtreben fuͤr
Menſchen-Wohl ſich oft oͤffentlichen Kraͤnkun-
gen und Demuͤthigungen , oft dem Hohn ſeiner
Mitbuͤrger und der Schaden-Freude ſeiner
Neider Preiß gegeben zu ſehen .
Oeffentliche Kritik hat oft auf das gan-
ze Schikſaal eines Welt-Buͤrgers großen Ein-
fluß : mancher hat durch ein unreifes Pro-
dukt ſeine ganze Laufbahn verdorben . Ein
gruͤndliches und beurkundetes Reſponſum
wuͤrde manches furchtſame Genie entfalten ,
manchen von Eigenliebe verfuͤhrten Autor
von der litterariſchen Bahn zuruͤkhalten und
ihn entweder in einen andern der Geſell-
ſchaft nuͤzlichern Wirkungs-Kreiß , oder zu ei-
ner ſeiner Faͤhigkeit und Kraͤften angemeſſe-
nen Sphaͤre hinweiſen .
Fuͤr den talentvollen aber noch unbe-
kannten Schriftſteller wuͤrde ſolch ein Re-
ſponſum eine Urkunde ſeyn , die ihm die de-
muͤthigende Rolle erſparte , bei Verlegern um
Aufnahme ſeines Werks zu betteln ; und ſo
manches ſchaͤzbare Produkt , das wegen Man-
gels eines Verlegers unbekannt bleiben muß ,
wuͤrde unter der Aegide eines ſolchen Re-
ſponſums Verlag finden , und alſo der gelehr-
ten Welt geſchenkt werden .
Auch fuͤr den ehrwuͤrdigen Stand der
Gelehrten waͤre ſolch ein Jnſtitut von we-
ſentlichen Vortheilen . Nichts waͤre billiger ,
als daß ihnen , wie den Fakultaͤten , ihre auf
die Pruͤfung der Manuſkripte verwendete
Zeit bezahlt wuͤrde ; ſo mancher Gelehrte
wuͤrde alſo dabei ſeinen Unterhalt gewinnen ,
indeß er ſelbſt in den Wiſſenſchaften fort-
ſchritte ; denn Pruͤfung fremder Produkte
ſtaͤhlt die Spann-Kraft des Geiſtes , ſchaͤrft
die Beurtheilungs-Kraft , heiſcht tiefes Ein-
dringen in den Kern der Wiſſenſchaften , und
beguͤnſtigt alſo die Entdekung neuer Wahr-
heiten ; den Pruͤfer aber zwingt ſie , die
Maſſe ſeiner eignen Kenntniſſe zu bereichern ,
und ſich zu dem Thron der Wiſſenſchaften
hinaufſchwingen , der einzig zur Kritik berech-
tigen kann .
Wenn mich nicht alles taͤuſcht , ſo muͤßte
ſolch ein Jnſtitut in den Wiſſenſchaften und
Kuͤnſten — denn auch auf dieſe ließe ſichs aus-
dehnen — eine ihnen und alſo der Menſch-
heit ſehr wohlthaͤtige Revoluzion hervor-
bringen .
9. Litte-
9.
Litterariſche Gerechtigkeit der Teutſchen
gegen alle Nazionen .
E s iſt ein großer und ſchoͤner Nazional-
Zug der Teutſchen , daß wir gerecht ſind ge-
gen alle Voͤlker ; daß wir alle ihre vorzuͤgliche
Menſchen , Weiſe , Gelehrte , Kuͤnſtler und
Helden kennen , bewundern , ſchaͤzen .
Der Teutſche allein lernt , außer den
todten , auch beinah alle lebende Sprachen ,
verpflanzt alle intereſſante Werke aller Na-
zionen auf ſeinen Boden , naͤhrt ſich von ih-
nen , bereichert ſich mit ihren Einſichten und
Kenntniſſen . Rouſſeau hat in Frankreich ,
Shakeſpear in England , Arioſt in Jtalien ,
G
Kamoͤns in Portugall , Lope in Spanien
nicht waͤrmere Verehrer als in Teutſchland .
Die Litteratur aller Nazionen iſt das
Eigenthum des teutſchen Gelehrten , alle ihre
Schriftſteller des erſten und zweiten Rangs
ſind in den Haͤnden des Teutſchen . Das
Schoͤne , das Vortreffliche ihrer Genie- und
Kunſt-Werke nimmt er oft mit groͤßerm En-
thuſiasmus auf , als ſie ſelbſt .
Mag man immerhin die Wuth tadeln ,
mit der die Ueberſezer uͤber alles , was im
Auslande erſcheint ohne Unterſchied herfal-
len , ihr Daſeyn zeugt doch unwiderſprechlich
von dem Hunger nach geiſtiger Unterhaltung ,
von der Sehnſucht nach Fortſchritt in der
Ausbildung , die den Menſchen veredelt .
Die Kritik wuͤrdigt dann was Gold iſt ,
und hinterlegt dieß zu dem Nazional-Schaze .
Dieſe Gerechtigkeit der teutſchen Na-
zion , dieſes raſtloſe Streben nach Wahrheit
und Ausbildung , dieſes reine Gefuͤhl fuͤrs
Edle und Schoͤne , iſt warlich , vor dem Tri-
bunale des menſchlichen Geiſtes , hohen
Werths gegen die ungeheure Einſeitigkeit und
Eingeſchraͤnktheit aller andern Voͤlker .
Warlich , der Teutſche hat vor allen
andern Nazionen in allen Wiſſenſchaften
und Kuͤnſten die groͤßte Maͤnner , ſo wie die
groͤßere Zahl derſelben aufzuweiſen , hat in
allen Wiſſenſchaften und Kuͤnſten die hoͤch-
ſte Fortſchritte gemacht , und doch nennen
ſich andre Nazionen die gebildetſten , ſehen
mit Verachtung und Gleichguͤltigkeit auf uns
herab und unſre groͤßten Geiſter , unſre tref-
lichſte Werke ſind ihnen unbekannt .
Kaum kennen ſie unſren Leibniz , Kant ,
Wieland , Goͤthe , Schiller ꝛc. dem Namen
nach . Garrik , als Litterator beruͤhmt , kann-
te unſern Leſſing als Fabel-Dichter , nicht ſei-
ne Emilie , nicht ſeine Mina , nicht ſeinen
unſterblichen Nathan !! Und wo iſt die
Nazion , die einen Leſſing , einen Wieland ꝛc.
uns entgegenſtellen koͤnnte ? — Kaum haben
die Franzoſen dem Gluk , die Spanier und Jta-
liener dem Mengs , die Englaͤnder der Ange-
lika , dem Haͤndel und Haydn verziehen ,
daß ſie Teutſche waren ! — Man hoͤre
und leſe alle Erzaͤhlungen der Reiſenden
uͤber die Kenntniſſe unſrer Litteratur und
Kunſt in Frankreich , England , Jtalien ,
Spanien ꝛc. und erſtaune uͤber die tiefe
Unwiſſenheit , uͤber den armſeeligen Nazio-
nal-Stolz !
Warlich , vor dem partheiloſen allge-
meinen Richterſtuhle des wahren Edeln , Schoͤ-
nen und Guten , iſt der Teutſche ein großer
Menſch , er verdient eine Nazion zu ſeyn
— oder wieder zu werden .
10.
Ungerechtigkeit der Teutſchen gegen ihre
eigne Schriftſteller .
D er Teutſche iſt gerecht gegen alle Nazio-
nen , gegen ſeine eigne iſt er es nicht .
Teutſchland hat in jeder Wiſſenſchaft , in
jeder Kunſt die erſten Genies , die groͤß-
ten Koͤpfe aufzuweiſen ; und keine Nazion
iſt undankbarer gegen ihre erhabne Mitbuͤr-
ger , gleichguͤltiger gegen Genie und Talent ;
nirgend iſt die Exiſtenz des hervorragenden
Schriftſtellers ephemeriſcher .
Eine Menge guter trefflicher Koͤpfe bleibt
ganz unbemerkt , und ihre Produkte ſchwim-
men ungenoſſen und ungeſchaͤzt mit der Fluth
der Alltags-Schriften in den Ozean der
Vergeſſenheit hinab . Nur ein hoͤchſt ſeltenes ,
bizarres — und monſtroͤſes Phaͤnomen kann
ſich Auszeichnung und Aufmerkſamkeit ver-
ſchaffen .
Freilich iſt der Umfang Teutſchlands , das
Heer teutſcher Schriftſteller mit daran
Schuld . Aber hat man wohl Recht , dieſe
Fruchtbarkeit Teutſchland zur Suͤnde anzu-
rechnen ? Jſt es nicht Vorzug der Nazion ,
wenn Litteratur und Studium allgemein ,
wenn eine große Maſſe von Kenntniſſen im
Umlauf , wenn Forſchungs-Geiſt und Liebe
der Wiſſenſchaften weit verbreitet iſt ? —
Mag auch eine große Zahl aus Schriftſtel-
lern der zweiten und dritten Klaſſe beſtehen ;
die Wiſſenſchaften , der Zwek der Menſchheit :
Veredelung des Geiſts , koͤnnen dabei nur
gewinnen , je groͤßer die Zahl der Arbeiter iſt ;
und wo iſt das kompetente Tribunal , das in
lezter Jnſtanz abſprechen koͤnnte : daß ein
Werk nichts , gar nichts jezt oder kuͤnftig nuͤz-
liches oder wahres enthielte ? Jndeß entſchul-
digt dieß die Ungerechtigkeit der Nazion nicht ,
die beſſern Koͤpfe mit den ſchlechtern der
Vergeſſenheit zu uͤbergeben und den Maas-
ſtab des Verdienſts nur von einigen Tag-
Blaͤttern zu entlehnen . Es waͤre eine edle
Arbeit , aus den fuͤnf leztern Jahr-Zehnden
all' die vorzuͤgliche Werke in jeder Wiſſen-
ſchaft auszuheben und der Vergeſſenheit zu
entreißen , die die Wogen der Zeit verſchlun-
gen haben .
Aber gelingt es auch einem Schriftſtel-
ler ſich auszuzeichnen , ſo wird er bei dem gro-
ſen Umfange Teutſchlands es ſelten ſo weit
bringen , außer dem Kraiße ſeiner Provinz
bemerkt und als Nazional -Schriftſteller
aufgezeichnet zu werden . Daher dieſes trau-
rige Haſchen der beſten Koͤpfe nach Para-
doxen und Extremen , die Verirrung von
Natur und Wahrheit , dieſes gezwungne
Streben , empor zu ragen und zu glaͤnzen
auf Koſten der Sittlichkeit oder ihres eignen
reellen Werths . Wuͤrden nicht die Franzoſen ,
die Britten erſtaunen , wenn man ſie ver-
ſicherte , daß ſelbſt die Litteratoren , die Aeſthe-
tiker Teutſchlands die beſten Koͤpfe ihrer
Nazion nicht kennen , wie erſt Eſchenburg be-
wieſen hat ?
Wahrlich , die Kaͤlte , mit der die edel-
ſte Werke , Werke , die der Stolz jeder an-
dern Nazion ſeyn wuͤrden , aufgenommen
und vergeſſen werden , durchſchneidet das Herz
des Teutſchen , der ſein Vaterland und deſſen
große Maͤnner liebt !
Wir beten z. E. Roms Horaz an — und Hey-
denreich , nach meinem Gefuͤhl in der phi-
loſophiſchen Ode mehr als Horaz , iſt kaum
als Dichter bekannt .
Der Moͤnch von Libanon , nach
meinem Gefuͤhl eines der ſchoͤnſten Geiſtes-
Produkte in irgend einer Sprache , hat kei-
ne Senſazion gemacht und kaum iſt der Na-
me des Verfaſſers bekannt ! Ach ! daß Teutſch-
land keine Nazion mehr iſt . Der gleichzei-
tige Schriftſteller darf nicht einmal auf Jn-
tereſſe , auf augenblikliche Bemerkung , auf
Dank ſeiner Mitbuͤrger rechnen ; aber noch
groͤßer iſt die Ungerechtigkeit , auch die beſten
Koͤpfe der Vorzeit , die von ihren Zeitgenoſ-
ſen allgemeine Verehrung beſaßen , in kalte
Vergeſſenheit zu begraben .
Gellert , Teutſchlands La Fontaine ,
Rabner , ſein Juvenal , Weiße , Schlegel ,
Brave , Lichtwehr , Roſt , Zachariaͤ , Hage-
dorn , Blum , Romanus , Duſch und ſo viele
andre vorzuͤgliche Schriftſteller der Nazion ,
die ihr Morgen-Roͤthe des Geſchmaks verkuͤn-
deten , wer kennt , wer ließt , wer nennt ſie
noch ? — Kaum iſt Uz , Kleiſt , Geßner ꝛc.
der gaͤnzlichen Vergeſſenheit entronnen , und
ein teutſcher Schriftſteller , ſo groß er auch
ſey , begraͤbt ſeine litterariſche Unſterblichkeit
unter ſeinem Erd-Huͤgel . Hoͤrt er auf , in je-
dem Meß-Katalog zu erſcheinen , ſo wird
er noch lebend vergeſſen . So lohnt , ſo
ſpornt Teutſchland ſeine Genies ! — Ein
Produkt verdraͤngt das andre . Litterariſcher
Heißhunger verſchlingt alles , was die Zeit
bringt , verdaut aber nichts und genießt
nichts . Und doch iſt es das ſchoͤne Vorrecht
der Liebe zu den Wiſſenſchaften , aus der Ver-
gangenheit Genuß und Kraft zu holen
fuͤr Gegenwart und Zukunft ! Moͤchte
doch ein edler Teutſcher das Andenken ſeiner
großen Lands-Leute aus der Vorzeit , und zu-
gleich Teutſchland von der Schande des Un-
danks retten !
Daß Teutſchland bei all dem noch ſtets
ſo viele große und edle Maͤnner hervorbringt ,
beweißt , welche Kraft in der Nazion liegt ,
zieht in den Augen jedes gerechten und fuͤh-
lenden Weſens eine Glorie um ihr Haupt ,
aber es erhoͤht die Suͤnde des Undanks .
II .
Ueber oͤffentliche Heuraths-Nachfragen .
K aum exiſtirt ein der Menſchheit interes-
ſanter Gegenſtand , den die Philoſophie nicht
bearbeitet , kaum ein menſchliches Jnſtitut
oder Verbindung , deren Maͤngel , Gebrechen
und Unvollkommenheiten ſie nicht angegeben
hat . Hat ſie aber auch ſtets zwekmaͤßige , d. h.
nicht auf idealiſche Vorausſezungen gebaute ,
alſo aus dem Geiſte des Jnſtituts geſchoͤpfte ,
auf das , was iſt und nach der Organiſa-
zion der Menſchheit ſeyn muß , gegruͤndete ,
mithin ausfuͤhrbare Mittel angegeben , jenem
Mangel abzuhelfen , dieſe Jnſtitute zu ver-
edeln ? Jch glaube , Nein !
Es giebt eine abſtrakte Pſychologie , die
von den Grund-Trieben der menſchlichen
Seele ausgeht , und deren Schluͤſſe , ſo wie
die Reſultate ihrer Unterſuchung , alle ſehr
richtig ſeyn koͤnnen , ohne der Menſchheit zu
frommen . Nur eine große Maſſe von Er-
fahrung , Welt- und Menſchen-Kenntnis
kann der Anwendung jener Reſultate al-
lenthalben ihren richtigen Plaz anweiſen ,
und wie ſelten iſt dieſe mit reinen pſycho-
logiſchen Kenntniſſen und kaltem ausdauern-
den Forſchungs-Geiſte gepaart ?
Die Ehe iſt einer jener Gegenſtaͤnde ,
uͤber deſſen Zwek und Weſen die Philoſophen
aller Zeiten , vorzuͤglich aber die unſrer Na-
zion nichts zu ſagen uͤbrig gelaſſen haben .
Wer kennt nicht , unter zahlloſen andern Wer-
ken , das vortreffliche Buch des edlen Unge-
nannten uͤber die Ehe ? dieſes Mannes ,
der den hohen Adel der Seele beſaß , allem
ſchriftſtelleriſchen Ruhme zu entſagen , und
ſeinen einzigen Lohn in dem eignen Bewußt-
ſeyn ſeines wohlthaͤtigen Genius zu finden ?
Bei ihm und in ſo vielen andern philoſo-
phiſchen , zum Theil in das Gewand der
Romane und Schauſpiele gehuͤllten Schrif-
ten findet man eine lange Reihe von Mit-
teln angegeben , dieſes heiligſte Jnſtitut der
geſelligen Menſchheit zu dem begluͤkend-
ſten zu erheben . Aber warum iſt , troz ihrer
Wahrheit und Staͤrke , ihre Wuͤrkung in
der buͤrgerlichen Geſellſchaft ſo ſchwach , ſo
wenig ſichtbar ?
Jch will es verſuchen , dieß aufzuloͤßen :
Alle dieſe Mittel ſind einzig auf Erhoͤhung
der Moralitaͤt , auf Veredlung der Empfin-
dungen berechnet . Und Dank ſey dafuͤr ihren
freundlichen Schoͤpfern ! — Aber dieſe Hebel
koͤnnen , nach der Natur der menſchlichen
Seele , nur ſo langſam , ſo unſicher wuͤrken !
Jhr Gang wird durch die Grund-Triebe der
menſchlichen Seele , durch deren Krankhei-
ten und die des Koͤrpers ſo oft gehemmt , ihre
Wuͤrkung fordert einen ſo ununterbrochnen
und anhaltenden Kampf mit all' dem , was
unſre Begierden , Leidenſchaften und Schwach-
heiten jeden Augenblik ſo gebietheriſch hei-
ſchen , daß ſie nur durch den hoͤchſten Grad
von ausdauernder Beharrlichkeit und See-
len-Staͤrke errungen werden kann . Und
iſt dieß wohl , kann das wohl das Erbtheil
vieler Sterblicher ſeyn ?
Noch mehr ! der Philoſoph kann durch-
aus nur allgemeine objektive Vorſchriften
ange-
angeben . Aber bei der zahlloſen Mannich-
faltigkeit der menſchlichen Verhaͤltniſſe , Ka-
raktere und Temperamente , hat in der ſub-
jektiven Frage : ob der einzelne Fall unter die
Vorſchrift paſſe ? Jrrthum , Seelen-Schwaͤche
und Leidenſchaft einen ſo ungeheuern Spiel-
Raum , daß er die allgemeinen Vorſchrif-
ten in der ehelichen Verbindung ſchwerer , ſel-
tener als irgend anders , wuͤrklich und leben-
dig werden laͤßt .
Nur ſcheint es , der Grund : warum
die Ehe — der Bund zweier Weſen ver-
ſchiedenen Geſchlechts zur Liebe , zur wech-
ſelſeitigen Begluͤkung , zur Zuſammen-
ſchmelzung ihres Seyns , deſſen hoͤchſte Bluͤthe
uns dem Goͤtter-Stande ſo nahe bringt , und ,
ihrem Geiſte nach , bringen ſoll , — warum
er ſo ſelten dem Zweke entſpricht , und groͤß-
H
tentheils die Quelle des Ungluͤks wird , liegt
einzig in unſern Sitten .
Nach dem oben angegebenen Geiſte die-
ſes Bunds heiſcht er ſchlechterdings zwei We-
ſen , die ſich lieben , — im vollen und rich-
tigen Sinn dieſes Worts , in dem es auch
den Wechſel der Neigung ausſchließt — die
ſich wechſelſeitig begluͤken , die zuſammen-
ſchmelzen koͤnnen .
Aber wie , um aller Goͤtter willen , ſollen
denn nach unſern Sitten dieſe Weſen
ſich finden ? Zugegeben , daß bei der je-
zigen Stufe der Kultur , die Erhoͤhung des
Luxus unvermeidlich mit ſich fuͤhren muß ,
daß die Wahl des Gatten durch tauſend aͤußre
Verhaͤltniſſe eingeengt wird ; ſo iſt dieß nur
ein Grund mehr fuͤr den Beweiß , daß , ſo
wie die Sachen jezo ſtehen , die meiſten Ehen
ungluͤklich , daß die Mittel zwekmaͤßig zu
waͤhlen , erweitert werden muͤſſen .
Nach unſern Sitten iſt es meiſt Zu-
fall , der die eheliche Verbindungen ſchließt ,
und auf ihn ſind wir verwieſen , bei der
wichtigſten Handlung und Verbindung un-
ſers Lebens , bei der Entſcheidung des Gluͤks
oder Ungluͤks unſers ganzen Daſeyns ? Die
ſcharfen Graͤnzlinien der Staͤnde , die
ſteigende Zahl der Beduͤrfniſſe , der Luxus
engen ohnehin die Wahl in ſo ſchmale Graͤn-
zen ein , und unſre Sitten ſchließen vol-
lends den Begriff der Wahl aus .
Werden die ewige Deklamazionen uͤber
Konvenienz -Heurathen nicht ewig zwek-
los bleiben und bei der fortſchreitenden Er-
weiterung der Beduͤrfniſſe immer zwekloſer
werden ? Waͤre es nicht zwekmaͤßiger ,
vielmehr der Wahl einen freiern Spiel-Raum
zu verſchaffen ?
Aber dem weiblichen Geſchlechte iſt es
ohnehin durch unſre Sitten ganz unterſagt ,
auf die Wahl eines Mannes auszugehen , ſelbſt
die Aeußerung eines Wunſches der ehelichen
Verbindung , alſo der Beſtimmung , die
doch einzig ihrem Daſeyn in der Menſchheit
Werth giebt , darf nur leiſe ſich hoͤren laſſen .
Mag man denn immer bei Maͤdchen der
hoͤchſten und liebenswuͤrdigſten ihrer Tugen-
den , der Sittſamkeit und Schaamhaftigkeit ,
dieſes Opfer bringen , aber mindeſtens loͤſe
man die Feſſeln der Maͤnner .
Wie ſelten muß nicht der Fall ſeyn , wo
der Mann , der einer Gattin bedarf , durch
ſeine Gluͤks-Umſtaͤnde , durch ſeine haͤusliche
Verhaͤltniſſe im Stande iſt , ſie in einem
weiten Kreiße zu ſuchen ! Welche Menge
von Konnexionen ſezt dieß voraus ! Denn
zur Wahl einer Gattin iſt es nicht genug ,
daß er das Maͤdchen ſieht , er muß es auch
kennen lernen . Meiſt iſt er alſo auf ſeine
Heimath , auf ſeine Vaterſtadt eingeſchraͤnkt ,
und auch da meiſt wieder auf den Zirkel ,
den ihm ſein buͤrgerlicher Stand , ſeine Fa-
milien-Verbindungen anweiſen . Jn dieſen
nun ſo ſehr eingeengten Kraiße ſoll und muß
er alſo ſeine Gattin ſuchen und finden , und
dann erſtaunt man noch , wenn der gluͤkliche
Zufall ſo ſelten iſt , der ihm eine Gattin zu-
fuͤhrt , bei welcher alle aͤußere Verhaͤltniſſe
zu den ſeinigen paſſen , kein Hindernis von
Seiten des Vermoͤgens , der Verwandten ,
des Alters , des Stands u. ſ. w. eintritt ,
die — was doch Geiſt und alſo Zwek der Ehe
iſt — er liebt , die ihn liebt , und bei der auch
die Faͤhigkeit ſich wechſelſeitig zu be-
gluͤken , nach der eigenthuͤmlichen Beſchaffen-
heit ihrer Karaktere , Temperamente u. ſ. w.
wuͤrklich vorhanden iſt ?
Und unter ſolchen Umſtaͤnden in einem
ſo zuſammengeſchrumpten Kraiße kann man
unſre eheliche Verbindungen noch Werk der
Wahl nennen ? kann man noch ſich wundern ,
wenn der Mann , in der Unmoͤglichkeit einer
freien Wahl nach dem Geiſte der Ehe ,
dieſe nur als ein oͤkonomiſche Operazion be-
trachtet und nach dieſem Sinne handelt ?
Die Britten , dieſes zwar ſtolze und
grillenhafte , aber helldenkende Volk , haben
unter den europaͤiſchen Nazionen zuerſt hier-
uͤber nachgedacht , haben zuerſt uͤber das nicht
von Vernunft , nur von Gewohnheit gehei-
ligte Vorurtheil ſich hinweggeſchwungen ,
das oͤffentliche Nachfrage nach einer Gat-
tin verbiethet . Bei ihnen ſind zuerſt Ehe-
Prokuratoren und oͤffentliche Heuraths-Ge-
ſuche erſchienen .
Und doch ſind die Sitten dort weniger
als irgendwo einer ſolchen Ruͤkkehr zur Wahr-
heit guͤnſtig ; nirgendwo iſt das Weib mehr
zur Abgeſchiedenheit , Stille , und Sittſam-
keit gebannt , nirgend — die unvermeidliche
Sittenloſigkeit der hoͤheren Staͤnde in einer
monſtruoͤſen Hauptſtadt nothwendig abge-
rechnet — die Heiligkeit ehelicher Treue und
weiblicher Ehre groͤßer .
Daher hat denn auch jene Ruͤkkehr
zur Wahrheit wenig ausgebreiteten Einfluß ,
gehabt , und die Publizitaͤt der Verbindungs-
Geſuche iſt noch immer mit dem Stempel der
Laͤcherlichkeit und Unſchiklichkeit bezeichnet
geblieben .
Jn Teutſchland iſt ſie vollends mit
dem der Unſittlichkeit gebrandmarkt worden .
Man hat ſogar die Buͤhne benuzt um ihr
den Karakter der Jmmoralitaͤt und des Ridi-
kuͤls aufzudruͤken . Der lezte iſt der maͤchtig-
ſte , weil er den erſten Grund-Trieb der menſch-
lichen Seele , die Eigenliebe , angreift . Der
Menſch fuͤrchtet alſo minder , unſittlich zu
ſcheinen , als laͤcherlich .
Der Forſcher der Wahrheit zittert fuͤr
nichts , ihn darf nichts aufhalten , und wenn
er den Kopf des Seneka nicht ſelbſt unter ei-
ner Schellen-Kappe findet , ſo fehlt es ihm
an Forſchungs-Geiſt oder Forſchungs-Trieb .
Jn Teutſchland ſind wenige mit oͤffent-
lichen Nachfragen aufgetreten , und auch
dieſe haben ſich ſorgfaͤltig und aͤngſtlich hinter
das Bollwerk der Anonymitaͤt verſchanzt .
Worin liegt denn das Unſittliche
oder Laͤcherliche : daß ein Mann der eine
Gattin bedarf , und ſie in dem engen Kraiße
ſeiner Bekannten nicht findet , ſie in einem
weitern Zirkel ſucht , mit dem einzigen
Mittel ſucht , das ihm ſeine Verhaͤltniſſe ge-
ſtatten ? — Liegt dieſe Unſittlichkeit , dieſe
Laͤcherlichkeit in der Vorausſezung , daß
wenn der Mann einer Gattin , wie er ſie
ſucht , wuͤrdig waͤre , er ſie ohne oͤffentliche
Anfrage gefunden haben wuͤrde ? Jſt denn
dieß nicht eine untergeſchobene Vorausſez-
ung ? eine widerſinnige Vorausſezung , weil
ſie den Bekanntſchafts-Kraiß des Mannes
gegen die Wahrheit willkuͤhrlich ausdehnt ? —
Jſt es denn nicht vielmehr laͤcherlich , zu
fordern , daß der Mann gerade die Gattin ,
die er wuͤnſcht , durchaus in engen Kraiße
ſeiner Bekanntſchaft finden muͤſſe ? Liegt
denn an ſich in dem Wunſche , eine Gattin zu
beſizen etwas Laͤcherliches oder Unſittliches ?
Warum denn alſo in dem oͤffentlichen Be-
kenntnis dieſes Wunſches ? Das Laͤcherliche
und Unſittliche liegt alſo einzig im Unge-
woͤhnlichen ; darin , daß nicht Nachden-
ken uͤber Geiſt und Zwek ſeiner Handlungen ,
ſondern Mechanismus der allmaͤchtigen Ge-
wohnheit , den Menſchen gaͤngelt .
Unleugbar muß durch die Erweiterung
des Kraißes der Wahl , die Summe gluͤk-
licher Ehen zunehmen , unleugbar muͤſſen
dadurch Menſchen ſich zugefuͤhrt werden ,
die Mangel an Familien-Verbindung , Ent-
fernung des Aufenthalts und tauſend andre
Verhaͤltniſſe trennten , und die ohnedieß ſich
nie gefunden haͤtten . Und wenn unter tau-
ſend Ehen nur Eine gluͤkliche dadurch geſtif-
tet wuͤrde , iſt dieß nicht reeller Gewinn fuͤr
die Menſchheit ?
Aber dieſe Erweiterung hat auch noch
andre Vortheile fuͤr die große Familie . Durch
die Einſchraͤnkung der Wahl auf die ſich be-
kannten Familien wird das Pflanzenartige
des Menſchen genaͤhrt ; wird der Lokalis-
mus und Egoismus und Abderitismus ,
wird dieſe Engheit der Einſichten und
Geiſtes- und Seelen-Kraͤfte , dieſe erbaͤrm-
liche Einſeitigkeit der Anſichten ge-
pflegt , die den Flug der Seele hemmt , und
der Schwung-Kraft der Menſchheit die
Fittige laͤhmt .
Es iſt Zeit , daß das Blut der Voͤlker-
ſchaften ſich miſche ; daß dieſe Miſchung
jenen verderblichen Egoismus vertilge , daß
insbeſondre Teutſchland wieder Ein Volk
werde , daß aus der Verpflanzung der Fa-
milien Nazional-Geiſt , und beſſer noch ,
Weltbuͤrger-Sinn , das Treibhaus alles
Edlen und Guten , vorzuͤglich der Gaſtfreund-
ſchaft , der Theilnehmung , der Wohlthaͤtig-
keit , hervorbluͤhe , daß durch dieſe Reibung
der Sitten die ſcharfe Eken des Lokalismus
abgeſtoßen werden , und daß der Menſch zu-
ruͤkgefuͤhrt werde in den Schooß der großen
Familie , der er zuerſt angehoͤrt , und deren
Ahnen-Tafel vor dem Tribunale der Weisheit
und Tugend , und alſo vor dem hoͤchſten und
lezten Tribunale des Menſchen , dieß- und
jenſeits des Grabs , einzig gilt .
Der Staats-Oekonomiſt deklamirt fuͤr
Bevoͤlkerung , der Welt-Weiſe empfiehlt
die Beguͤnſtigung der Ehe ; beide haben
Recht , weil der Wuͤrkungs-Kraiß der ehe-
lichen und aͤlterlichen Pflichten den Menſchen
veredelt . Und noch neuerlich hat die franzoͤ-
ſiſche Nazional-Konvenzion dieſer erhabnen
Wahrheit gehuldigt .
Aber wird denn dieſer Zwek einzig durch
die Vermehrung der Ehen erreicht ?
beruht denn das Wohl der Menſchheit in
der Summe der Ehen uͤberhaupt oder der
gluͤklichen Ehen ? Sind ungluͤkliche Ehen
nicht Molche des Menſchenwohls ?
Jch hoͤre die Einwuͤrfe gegen meine Jdee :
„ Offentliche Heurachs-Antraͤge werden Be-
„trug und Taͤuſchung beguͤnſtigen . “
Man gehe von dieſem Verdacht aus
und erhoͤhe ſeine Vorſicht ; der Betruͤger
wird ſpaͤt oder fruͤh entlarvt werden . War
Betrug und Taͤuſchung in unſrer jezigen
Verfaſſung ausgeſchloſſen ?
„ Ehe-Prokuraturen wuͤrden in
„Kuppelei ausarten , die Ruhe der Familien
„ſtoͤren und die Unſittlichkeit befoͤrdern . “
Man nehme ſie unter die Aufſicht des
Staats . Man vertraue ſie nur bejahrten
und unbeſcholtnen Menſchen . Oder ſollte
ſolch ein Gegenſtand der Aufmerkſamkeit
der Staats-Verwaltung unwerth ſeyn ?
Welches menſchliche Jnſtitut kann nicht
irgend eine nachtheilige Seite haben ? Kommt
es nicht hier wie allenhalben auf das Mehr
oder Weniger an ?
Genug , daß auf dieſem Wege oft See-
len ſich finden wuͤrden , die Natur und Gleich-
heit der Empfindungen einander beſtimmten ,
die Entfernung und Verhaͤltniſſe trennten
und ewig getrennt haben wuͤrden .
12.
Vertheidigung des Hanns-Wurſts .
M oͤſer hat in ſeiner vortreflichen Abhand-
lung Harlekin die Vertheidigung des Gro-
teske-Komiſchen ſchon laͤngſt uͤbernommen .
Dieſe Schrift iſt mit ungetheiltem Beifall
aufgenommen worden , ſie hat mehrere Auf-
lagen erlebt , ſeine Gruͤnde ſind unwiderlegt
geblieben . Mehrere andre große teutſche
Schriftſteller , Leſſing , Engel , Stolberg ,
( im 2ten Band ſeiner Reiſen ) Floͤgel ,
haben den Harlekin in Schuz genommen ,
haben die Nothwendigkeit ſeiner Wiederauf-
nahme gefuͤhlt und dieſe empfohlen , und doch
iſt er noch immer von der teutſchen Buͤhne
verbannt ! —
Moͤſer
Moͤſer vorzuͤglich , hat gezeigt , daß die
Karrikatur auf dem Theater die nemliche
Rechte habe , als in der Mahlerei ; daß der
Karakter des Harlekins keineswegs gegen den
Zwek des Schauſpiels ſey . Seine Gruͤnde
haben Senſazion gemacht , aber keine Ueber-
zeugung gewuͤrkt . Es iſt allerdings der Muͤhe
werth , die Urſachen dieſes Anathems auf-
zuſuchen und zu pruͤfen .
Das Daſeyn einer grotesken Perſon ,
einer Karrikatur , datirt ſich bei allen Nazionen
bis zum Urſprung der Buͤhnen ſelbſt . Es
hat dieſes Daſeyn allerdings dem Geiſte der
Schauſpiel-Kunſt zu danken ; dieſer beſteht
zwar in der Darſtellung der menſchlichen
Sitten und Handlungen , und das Schau-
ſpiel iſt allerdings , wie es Mercier nennt ,
ein Gemaͤhlde der Natur . Aber zum Gei-
J
ſte der Kunſt gehoͤrt nothwendig auch ihr
Zwek . Und dieſer iſt : Beſſerung der
Sitten und Beluſtigung zugleich .
Von dieſem unwiderſprechlich-richtigen
Begriffe des Geiſtes der Schauſpiel-Kunſt
ausgegangen , iſt Harlekins Sache gewon-
nen . Beſſerung der Sitten fordert Dar-
ſtellung der Thorheiten , des Laͤcherlichen ,
der Vorurtheile , ſo wie der Leidenſchaften .
Das Schauſpiel iſt eine Fresko -Mah-
lerei . Um ſtarke Wuͤrkungen , ſtarke Erſchuͤt-
terungen auf mehrere in ihrer Empfindungs-
und Vorſtellungs-Art ſo ungleiche Menſchen
zugleich hervorzubringen , muß es Ueber-
treibungen aufnehmen . Wenn es dem
tragiſchen Dichter erlaubt iſt , die Leidenſchaf-
ten in ihrer hoͤchſten Spannung und Kraft
darzuſtellen , wenn er nur dadurch wuͤrken ,
erſchuͤttern und Theilnehmung hervorbringen
kann ; warum ſollte es dem komiſchen ver-
wehrt ſeyn ? Auch ſeine Geißel kann auf
Thorheiten und Laͤcherlichkeiten nur durch
Karrikatur wuͤrken ; auch er beſſert die Sit-
ten .
Aber er beluſtigt zugleich . Und was
fuͤr eine ſonderbare graͤmliche Weisheit iſt das ,
die unſre Froͤhlichkeit despotiſch in willkuͤhr-
liche pedantiſche Formen von Anſtand , Ernſt
und Wuͤrde preſſen will ?
Freiheit iſt ihr unvertilgbarer Karak-
ter . Jſt es denn ein unedler , unanſtaͤndi-
ger oder unſittlicher Zwek des Schauſpiels :
die Falten unſrer Stirne zu entrunzeln , un-
ſere Kuͤmmerniſſe zu lindern , unſre Seele der
Froͤhlichkeit , der Heiterkeit aufzuſchließen ,
und ſo die Laſten des Lebens zu erleichtern ?
Jſt der Zwek : die Summe allgemeiner menſch-
licher Gluͤkſeeligkeit zu vermehren , des Wei-
ſen unwerth ?
Und doch ſcheint es , daß nur geheime
Schaam den gebildetern Theil des Publi-
kums abhaͤlt , den Harlekin laut zuruͤkzuru-
fen , indeß er im Stillen wuͤrklich ſeine
Stimme hat . Man lachte herzlich gerne bei
Harlekins bunter Jake , aber man fuͤrchtet
dadurch den Ruf der Kultur zu verlieren ,
man fuͤrchtet ſelbſt laͤcherlich zu werden . Wo-
her dieſe Furcht ?
Alle Nazionen hatten ihre Poſſen und
Harlekins und viele haben ihn noch . Der
ernſte Spanier lacht noch bei ſeinem Gra-
zioſo und Entremeres . Der Franzoſe hat
den Harlekin zwar auf ein beſondres Theater
verbannt , aber er ſieht ihn mit immer glei-
chem Vergnuͤgen ; in Jtalien iſt er ohnehin
zu Hauſe .
Als das Schauſpiel und mit ihm der
Pikelhaͤring nach Teutſchland kam , mußte
er nothwendig den Volks-Karakter anneh-
men ; alſo bei der niedern Stufe der Kultur
der Nazion im Verhaͤltnis andrer , all' die
Plumpheit und Wildheit des Nazional-Ka-
rakters . Jm teutſchen Hanns-Wurſt wurden
Harlekins Scherze Zoten , ſein Wiz Platt-
heiten , ſeine Lazzis Unanſtaͤndigkeiten .
So fand ihn Gottſched , als er ſich zum
Wiederherſteller des teutſchen Geſchmaks auf-
warf . Er , der doch , ſtatt dem Geſchmak
eine eigenthuͤmliche Nazional-Baſis zu ge-
ben , aus Mangel an Kraft dazu , auch
auf der Buͤhne den Teutſchen nur Affenmaͤ-
ßig dem Franzoſen nachzubilden ſtrebte ; der
alſo mindeſtens auch im Grotesken dieſem
Grundſaze haͤtte getreu bleiben ſollen , ver-
bannte Pritſche und Jake gaͤnzlich , und uͤber-
ſchwemmte das Theater dagegen mit waͤſſeri-
gen Ueberſezungen .
Seitdem hat ſich der Geiſt der Nazion
freilich aus eigner Kraft gehoben ; Aber die
Gattung des Grotesken iſt immer verbannt
geblieben . Das Beduͤrfnis dazu hat man
wohl hier und da gefuͤhlt , Hanns-Wurſt iſt
von Zeit zu Zeit wieder erſchienen ; aber ſo
groß war die Furcht vor dem Schatten Gott-
ſcheds , und ſeiner Genoſſen , Sonnenfels ꝛc.
das er es nie wagte , wieder unter ſeinem ei-
genthuͤmlichen Karakter und Namen aufzu-
treten . Bald kam er als Krispin , Peter ,
bald als Bernardon oder Papageno zum
Vorſchein , und noch jezt exiſtirt er als Kas-
perle zu Wien , und iſt der Liebling aller
Staͤnde .
Jndeß iſt es ein durchaus ungerechtes
Vorurtheil , das den Harlekin druͤkt , ein ſchaͤd-
liches Vorurtheil , weil es die Stimme der
Froͤhlichkeit und alſo des Genuſſes mindert ;
es iſt eine durchaus falſche Schaam , die
uns abhaͤlt , ihn in ſeiner eigenthuͤmlichen
Geſtalt wieder auf die Buͤhne zu bringen .
Die wahre Weisheit erroͤthet nicht uͤber den
Wunſch , zu lachen .
Der teutſche Harlekin bedurfte allerdings
Bildung , die teutſche Buͤhne mußte von je-
nen ertemporiſirten Stuͤken , von Zoten und
Unſittlichkeiten gereinigt werden ; aber das
war noch kein Grund , die Jake zu verban-
nen , uns Teutſchen die ganze Gattung des
Groteske-Komiſchen zu entreißen .
Man beſtimme nur den Begriff des
Schauſpiels richtig , und man wird es laͤcher-
lich finden , daß man ſich nicht die Abſicht
laut geſtehen darf , beluſtigt zu werden .
Man wird es aͤſthetiſch unrichtig finden , daß
Harlekin außer den Graͤnzen der Schauſpiel-
kunſt ſey . — Jch wiederhole es , das Schau-
ſpiel iſt Darſtellung , nicht Natur ſelbſt .
Außerdem muͤßte man auch all' die Formen
des Schiklichen und Anſtaͤndigen ver-
werfen , durch welche , nach der allgemeinen
Uebereinkunft aller Dramaturgen , die Natur
und Wahrheit der Darſtellung begraͤnzt iſt .
Es muͤßte erlaubt ſeyn , ſich auf der Buͤhne
zu entkleiden , ſchlafen zu gehen ꝛc .
Jlluſion iſt alſo offenbar kein allge-
meiner Zwek der Darſtellung , iſt es nur
da , wo Jntereſſe , Theilnahme erregt
werden ſoll ; alſo nur bei einer einzelnen Gat-
tung des Schauſpiels . Ueberdieß wird der
Begriff der Jlluſion offenbar uͤbertrieben ,
wie noch erſt neulich , einer unſrer beſten Koͤpfe
Hagemeiſter , bewieſen hat . Jlluſion iſt nicht
Ueberredung , daß die dargeſtellte Handlung
wuͤrklich vorgeht , denn das waͤre eine un-
gereimte und abentheuerliche Forderung , ſie iſt
Ueberredung , daß die dargeſtellte Handlung ,
ſo wie ſie dargeſtellt wird , habe vor-
gehen koͤnnen . Warum hat die Oper , die
offenbar weit unnatuͤrlicher iſt , als Harlekin ,
ihren Plaz behauptet ? — Mag Harlekin aber
immer ein idealiſches Weſen ſeyn , ſelbſt ſeine
Jdealitaͤt iſt zwekmaͤßig . Seine Jake
exiſtirt nicht , ihr verzeiht man alſo alles . Er
kann die Thorheiten und Laſter am ſicherſten
geißeln , weil man ihn einmal fuͤr ein fanta-
ſtiſches Weſen haͤlt . Jhm und bei ihm iſt
nichts unnatuͤrlich . Aber eben deswegen er-
ſezt ihn der luſtige Bediente nicht , den
man ihm unterſtellen wollte ; denn die Frech-
heit eines ſolchen wuͤrklichen Menſchen
empoͤrt , weil ſie nicht wahr iſt . Ueberdieß
giebt ſie fuͤr die Menſchen ſeiner Klaſſe ein
den Sitten ſehr nachtheiliges Beiſpiel .
Unbegreiflicher Widerſpruch der Menſch-
heit ! Wir gaͤhnen in Ritter-Stuͤken , Haupt-
und Staats-Akzionen , oder Dramen , bei
denen man nicht lachen noch weinen kann ,
und ſchaͤmen uns , es zu geſtehen ; und um
dieſe Schaam zu verbergen , haben wir die
unnatuͤrlichſte Gattung , die Oper , auf den
Thron gehoben , weil ſie doch noch Einen
Sinn reizt !
Jndeß hat eben deswegen die Verbannung
Harlekins dem Schauſpiel im Ganzen we-
ſentlichen Nachtheil zugefuͤgt . Das Publi-
kum , unbefriedigt durch das Schauſpiel , hat
ſich an die koſtbare Oper , an die koſtbare Bal-
lete , an koſtbare Dekorazionen und Kleidun-
gen geheftet . Und all' das richtet die Schau-
ſpiel-Kunſt zu Grunde . Eben deswegen
koͤnnen wenig Staͤdte ein ſtehendes Schau-
ſpiel unterhalten . Wechſelte die Poſſe mit
dem ernſten Schauſpiel ab , ſo waͤre auch
dieß gerettet . Eins wuͤrde dem andern die
Hand biethen ; Eins das andre unterhalten ,
und fuͤr alle Klaſſen des Publikums , fuͤr
fuͤr jeden Geſchmak waͤre geſorgt .
Es iſt alſo Zeit , daß wir die Gattung des
Groteske-Komiſchen vom Untergange retten
und Harlekin wieder in ſeine Rechte einzuſe-
zen . Aber freilich nicht den poͤbelhaften Zo-
ten-Reißer , ſondern den gebildeten Satyr .
Warum ſollte aber Hanns-Wurſt nicht eben ſo
gut der Bildung und Veredlung faͤhig ſeyn ,
als Harlekin ? Hanns-Wurſt iſt zwar ein tri-
vialer Name , aber es iſt doch ein Nazional-
Karakter , es iſt doch aͤchtes teutſches
Produkt . Wollen wir denn nie original ,
nie ſelbſtſtaͤndig ſeyn ? — Mag er alſo immer
Hanns-Wurſt heißen , wenn er nur von
allen geilen Auswuͤchſen gereinigt iſt . Jſt
einmal der erſte Schritt gethan , ſo wird es
uns auch an Nazional-Poſſen nicht fehlen .
Jch habe Bernardons-Karakter- und Jn-
triken-Stuͤke geſehen , die mehr aͤchte vis co-
mica enthielten , als der allergroͤßte Theil
der Luſtſpiele mit denen wir ſeit zwanzig
Jahren beſchenkt worden ſind .
Die Zeit hat ſo manches Vorurtheil
verſcheucht und von ihr erwarte ich , daß ſie
auch dieß vollends vertilge . — Vielleicht er-
ſcheint ein Zeit-Punkt , wo man auch die
extemporiſirten Stuͤke , die pièces a cane-
vas wieder auf unſre Buͤhne bringen darf :
die wahre Schule des komiſchen Schauſpie-
lers .
13.
Publizitaͤt der peinlichen Verhandlungen .
W ie iſt es moͤglich , daß der menſchliche
Geiſt von dem urſpruͤnglichen Zweke der ge-
ſellſchaftlichen Verbindung , von dem ur-
ſpruͤnglichen Zweke der aus jener reſultiren-
den Nothwendigkeit der Strafen , ſich bis
zu den Vehm-Gerichten verirren konnte ?
Der Zwek der Strafe kann kein an-
derer ſeyn , als die Zuͤglung der Leidenſchaf-
ten ; die Belehrung , die Abſchrekung durch
Beiſpiel . Und doch verhoͤren wir noch jetzt in
Teutſchland die Angeklagten ingeheim ?
noch erfaͤhrt ſelten das Publikum mit Gewiß-
heit , was denn der Angeſchuldigte begangen
haben ſoll ? Weswegen er beſtraft wird ? —
Die Staats-Verwaltung iſt da , das
Eigenthum des Staats-Buͤrgers im ausge-
dehnteſten Sinne , alſo auch deſſen Leben und
Freiheit zu ſchuͤzen . Dieß iſt ſogar der Zwek
ihres Daſeyns ; dafuͤr uͤbertrug ihr die Ge-
ſellſchaft ſtillſchweigend oder ausdruͤklich die
Pflicht , den Verlezer der buͤrgerlichen Ord-
nung und der Geſeze zu beſtrafen , und durch
dieſe Strafe andre zu warnen . Wo laͤge
denn aber die Warnung , wenn der Staats-
Buͤrger in den Kerker geworfen , im Kerker
uͤber ſein Verbrechen vernommen , aus dem
Kerker zur Strafe gefuͤhrt wird , ohne daß
die Geſellſchaft das Weswegen ? anders er-
faͤhrt , als durch das Kamaͤleon des tauſend-
zuͤngigen Geruͤchts ? in deſſen Munde ſelten
Wahrheit , nie reine Wahrheit liegt , das
von den ins unendlich mannichfaltigen An-
ſichten der Glieder der Geſellſchaft ſeine mon-
ſtruoͤſe Form erhaͤlt ? —
Mag die Publizitaͤt der peinlichen Ver-
hoͤre bisweilen neue Verbrechen gebaͤhren ,
mag ſie auch bisweilen der Sittlichkeit nach-
theilig ſeyn , dieſe unvermeidliche Jnkonveni-
enzen werden uͤberſchwenglich aufgewogen ,
durch die Kenntnis , die die Geſellſchaft von
dem Gange des Verbrechens in der menſch-
lichen Seele , erlangt , durch die Verwah-
rungs-Mittel gegen die erſte Schritte zum
Laſter , durch das ſchauerliche und abſchre-
kende Gemaͤhlde der Folgen ungezuͤgelter
Leidenſchaften , oder ungebildeter Rohheit der
Seele , welche die Oeffentlichkeit der peinlichen
Verhandlungen der Menſchheit darbiethet ;
durch
durch die wohlthaͤtige Schaam , die ſie in den
nicht ganz verdorbenen nur verirrten See-
len rege macht ; am meiſten aber durch die Ue-
berzeugung , die jeder Staats-Buͤrger erlangt ,
daß nur das wuͤrkliche Verbrechen , und
daß dieſes den Geſezen gemaͤß beſtraft
werde , und durch die Ruhe und Sicher-
heit , durch den Seelen-Frieden , den gerade
dieß dem ſchuldloſen Staats-Buͤrger
gewaͤhrt , — und was ſonſt als dieß kann der
Zwek der Staats-Verwaltung ſeyn ? — End-
lich aber auch durch die auf inneres Gefuͤhl
gegruͤndete Achtung und Ehrfurcht vor den
Geſezen und ihren Vollſtrekern , die dieß
den Gliedern der Geſellſchaft einfloͤßt .
Die Staats-Verwaltung iſt allerdings
von ihren Handlungen , von der Erfuͤllung
ihrer Pflichten , von der treuen Beobachtung
der Geſeze , der Geſellſchaft Rechenſchaft
K
ſchuldig . Nur dadurch kann ſie unbegraͤnz-
tes Vertrauen und lebendigen d. h. auf Ge-
fuͤhl und Ueberzeugung gegruͤndeten , Gehor-
ſam erwerben . Wenn der Geſellſchaft eines
ihrer Glieder entriſſen , wenn es der buͤrger-
lichen Rechte , der Freiheit , des Eigenthums
beraubt , wenn es mit Leiden belegt wird ;
ſollen die uͤbrigen Glieder nicht zittern , ſo
lange ſie nicht uͤberzeugt ſind , daß nur die
Verlezung der Geſeze jenes Mitglied in jene
Lage geſtuͤrzt hat ? daß es nur deswegen
leidet ?
Nein ! nur da kann der Staats-Buͤr-
ger ruhig ſchlafen , wo er mit dem hoͤchſten
Grade von Gewißheit ſicher iſt , unter den
Fittigen des Schuz-Engels ſeiner Unſchuld
und eines reinen Gewiſſens .
Das Gefuͤhl der Rechtmaͤßigkeit dieſes
Anſpruchs der Geſellſchaft , hat diejenige
Rechenſchaft geſchaffen , welche die Staats-
Verwaltung gewoͤhnlich bei Todes-Urthei-
len durch die peinliche Urgicht dem Pub-
likum ablegt Wie ? und dieſes waͤre bei
jeder andern Strafe nicht eben ſo intereſſirt ,
uͤberzeugt zu ſeyn , daß kein Unſchuldiger be-
ſtraft werde , daß die Strafe den Geſezen
angemeſſen iſt ?
Es kann Faͤlle geben , wo zu fruͤhzeitige
Bekanntmachung des Verbrechens dem all-
gemeinen Wohl nachtheilig waͤre , aber keinen ,
wo die Geſellſchaft Strafe ſehen duͤrfte ,
ohne Verbrechen zu ſehen . Es kann andre
Faͤlle geben , wo die Oeffentlichkeit der pein-
lichen Unterſuchung gefaͤhrlich waͤre , aber im-
mer muͤßten dieß nur Ausnahmen , ſeltne
Ausnahmen ſeyn , und auch dieſe Ausnahmen
muͤſſen mindeſtens dem Publikum , auch wo
moͤglich nebſt ihren Gruͤnden , zur Kenntnis
kommen . Aber Regel , in den wenigen
Grundſaͤzen des Zweks der buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft , des Zweks der Strafen gegruͤndete
Regel iſt es , daß die Unterſuchung der Ver-
brechen oͤffentlich ſey , daß jeder Staats-
Buͤrger in Stand geſezt werde , von der
Schuld des Angeklagten , von der Gerech-
tigkeit der Strafe , von der Einhaltung der
Geſeze , ſich zu uͤberzeugen ; denn nur dar-
auf beruht die buͤrgerliche Freiheit . Ohne
dieſe Ueberzeugung ſieht der Staats-Buͤr-
ger nur Despotismus und Willkuͤhr .
Die edle aufgeklaͤrte Nazion der Brit-
ten hat dieß laͤngſt eingeſehen , und die Teut-
ſchen ſollten hinter ihnen zuruͤk bleiben ? das
Jahrhundert der Barbarei und Unwiſſenheit
waͤre entflohen , und ſolche Reſte deſſelben
blieben unverlezt ſtehen ?
14.
Beſiz iſt der Liebe Grab .
D ieß iſt der Gemein-Plaz , den man haͤu-
fig in der hoͤhern Konverſazion hoͤrt . Was
mag man ſich dabei wohl unter dem Worte
Liebe denken ? — Doch wohl nicht die Be-
gierden der Faune ? — Daruͤber wuͤrden un-
ſere Damen der feinern Zirkel doch erroͤthen ,
oder erroͤthen muͤſſen .
Nein , Beſiz iſt nicht der Liebe Grab .
Aber ob der allergroͤßte Theil des ſchoͤnen
Geſchlechts zu lieben verſteht ? das iſt
eine andere Frage . Wenn man unter Beſiz
die innigſte Verbindung begreift , ſo kann ſie
bei Seelen , die fuͤr wahre Liebe empfaͤnglich
ſind , nur neue Freuden-Quellen oͤffnen , nur
einen Reichthum neuer Empfindungen ent-
falten und pflegen . Vielleicht kann ſie das
allmaͤchtige Jntereſſe der Neuheit und des
Wechſels nicht feſſeln , aber doch nie Ueber-
druß erweken .
Die Liebe hat ihre phyſiſche und ihre
moraliſche Haushaltung . Jn beiden iſt ein
großer Theil der teutſchen Weiber fremd .
Und vielleicht wuͤrde Moralitaͤt und Fami-
lien-Gluͤk ſehr dabei gewinnen , wenn ſie
dieſe Oekonomie ſtudieren wollten . Auch die
keuſche Freuden ſinnlichen Genuſſes ſind ei-
ner unendlichen Vermannichfaltigung faͤhig ;
koͤnnen in der Hand eines fuͤhlenden und
liebenden Weſens , durch tauſendfache Farben-
Miſchung , immer neue Reize , immer neue
Anmuth , immer neues Jntereſſe gewinnen .
Und erſt der moraliſche Genuß , der aus ,
der Verbindung zweier Liebenden quillt !
Welcher Reichthum , welche Fuͤlle von Seelig-
keiten liegt in ihm ! — Muthwille , Eigenſinn ,
Laune , Eiferſucht , Theilnehmung , Sorgfalt ,
Nachgeben und Widerſtand , Thraͤnen und
Scherz , alles kann an der Weisheit HandQuel-
len von Gluͤkſeeligkeit oͤffnen , und in der Seele
des Mannes die dem Menſchen unentbehr-
liche kleine Unruhe rege erhalten , dieſe leichte
Wellen in der Fluth ſeiner Tage aufwerfen ,
ohne welche ſich Empfindung nicht denken
laͤßt , deren Abweſenheit Apathie , Stillſtand
der Gefuͤhle und alſo allerdings Grab der
Liebe iſt .
Aber freilich dazu gehoͤrt Gutmuͤthig-
keit der Seele , Herrſchaft uͤber heftige Leiden-
ſchaften , gebildetes Gefuͤhl , nicht roman-
tiſche Schwaͤrmerei , nicht Empfindelei , dazu
gehoͤrt Geiſtes-Kultur . Wie viele unſrer
Weiber wuͤrden im Schooße ihrer Familie ,
in den Armen ihrer Gatten , Gluͤk und Stil-
lung finden , der ſie an der Hand ihrer Si-
zisbeen vergebens nachjagen !
Die Zeiten ſind voruͤber , wo die Ein-
falt der Sitten vom Weibe nur Anhaͤnglich-
keit am Manne und Kindern , nur Haͤuslich-
keit heiſchte . Wir haben einen großen Zirkel
zu machen , eh' wir bis dahin wieder zuruͤk
kommen . Jndeß werden der Ehen uͤberhaupt
immer weniger , der ungluͤklichen immer
mehr werden , wenn das Weib in der Her-
zens- und Geiſtes-Kultur nicht mit dem
Manne gleichen Schritt haͤlt ; wenn ſie nicht
die weiſe Oekonomie der Liebe ſtudiert .
Schade daß Ninon nur eine Buhlerin
war , ſie haͤtte der Sokrates , die Wohlthaͤ-
thaͤterin ihres Geſchlechts werden koͤnnen ! —
Wir ſehen mit Erſtaunen Theorieen uͤber
den Beiſchlaf in dem reizendſten Gewande
erſcheinen . Aber eine Philoſophie der keu-
ſchen Liebe erwarten wir vergebens .
15.
Ueber Titulaturen , Komplimente u. ſ. w .
K ann man ſich etwas ſinnloſeres denken ,
als unſre Titulaturen und ſogenannten Kour-
toiſien ? Mit der Majeſtaͤt , dem Titel der
Kaiſer und Koͤnige , laͤßt ſich doch allenfalls
noch die Jdee von Glanz verbinden , aber
es fragt ſich ob denn gerade die erhabenſte ,
verdienſtlichſte Eigenſchaft des Monarchen
iſt : zu glaͤnzen ? Wuͤrde der Titel : Vater
des Volks , Euer Gerechtigkeit , Euer Weis-
heit u. ſ. w. nicht den weſentlichen Eigen-
ſchaften des Regenten weit angemeßner ſeyn ?
Jn den alten Zeiten hatten die Peruaner ,
und noch jezt die Bewohner des Orients ge-
wiß nicht Unrecht ihre Beherrſcher Quel-
len der Guͤte , Brunnen des Erbar-
mens u. d. m. zu nennen .
Titel ſind durchaus nicht ſo gleichguͤltig
als man vielleicht glaubt . Die Pſychologie
lehrt uns , daß der groͤßere Theil der Men-
ſchen ſeine Jdeen durch den Schall der Wor-
te ohne deutliches Bewußtſeyn empfaͤngt , daß
aber gerade um der often Wiederholung die-
ſes Schalls willen , die durch dieſes Vehikel
inokulirte Jdeen deſto tiefer eingreifen .
Fuͤrſten nennt man Durchlaucht , ein
Wort , mit dem ſich nach dem jezigen Sprach-
Gebrauch durchaus kein Sinn mehr verbin-
den laͤßt , und das man doch beibehalten hat .
Jede Klaſſe von Staͤnden hat ſich eines
eignen Bezeichnungs-Wort bemaͤchtigt ; von
dem doch eines ſo ohnſinnig iſt , als das andre .
Exzellenz , ein Titel der in gewiſſen Staaten
aͤußerſt koſtbar , in andern ſehr gemein iſt ,
und ſchon ſo viele politiſche Fehden veranlaßt
hat , iſt unteutſch , und wuͤrde eigentlich Jhro
Vortrefflichkeit uͤberſezt werden muͤſſen .
Aeußerſt kindiſch aber ſind die Abſchattungen ,
des Hochgebohrn , Hochwohlgebohrn , Wohl-
gebohrn , Hoch-Edelgebohrn , Hoch-Edlen
u. ſ. w. die die Menſchen mit einer Aengſt-
lichkeit beobachten , uͤber welche der Weiſe
laͤcheln wuͤrde , wenn er nicht uͤber dieſen
traurigen Beweiß der Entartung und Ent-
nervung des Menſchen trauren muͤßte . Die
Roͤmer und Griechen kannten dieſe Armſee-
ligkeiten nicht .
Daß man edel ſeyn oder werden koͤnne ,
daran wird niemand zweifeln . Daß man
aber edel gebohren werden koͤnne , — das
ſollten wenigſtens die Theologen wegen der
Erbſuͤnde ꝛc. die Philoſophen wegen des all-
gemeinen Prinzips der Perfektibilitaͤt ꝛc. be-
ſtreiten . Jnzwiſchen ſind dieſe Titel in ru-
higem Beſize . Und oft iſt von ihnen allen
nichts als das gebohren wahr . So zank-
te ein gewiſſer Amtmann lange mit ſeinem
Nachbar uͤber das Wohl- und Hochedelge-
bohrn — bis ihm dieſer — Gebohrner
ſchrieb , mit der Bitte das uͤbrige zu ergaͤnzen .
Wie ſehr aber dieſe ſinnloſe Abſchattung
zu Demuͤthigung und Kraͤnkung edler Men-
ſchen benuzt werden kann , davon ſah ich oft
Beiſpiele .
Das Steigen der Titulaturen muß bald
eine Revoluzion im ganzen Titulatur-Weſen
hervorbringen . Wer die Titulatur-Buͤcher
des vorigen und jezigen Jahrhunderts ver-
gleicht , erſtaunt uͤber den Erfindungs-Geiſt ,
mit dem der Teutſche die Titulaturen verviel-
faͤltigt und hinaufgeſchraubt hat . Seit zehn
Jahren erſt iſt man wieder um ein betraͤcht-
liches geſtiegen — die Quellen ſind nun er-
ſchoͤpft , und da man auf dieſer Leiter immer
von Sproſſe zu Sproſſe hinaufgeruͤkt iſt , ſo
muß es nothwendig an den hoͤchſten Sproſſen
fehlen .
Wahrſcheinlicher aber iſts , daß die Na-
tur auch hier ihren Kraiß-Lauf vollendet
hat , daß wir alſo wieder zu ihrer Einfalt zu-
ruͤkkehren werden , und daß in dem ſimpeln
Salutem und Vale des Cicero , Plinius ꝛc.
mehr Wuͤrde gefunden werden wird , als in
dem ſinnloſen Titulatur-Klingklang und all'
den heuchleriſchen Verſicherungen unbegraͤnz-
ter , graͤnzenloſer , vollkommenſter ꝛc . Vereh-
rung , Hochachtung , Freundſchaft , womit
man ſich wechſelſeitig begruͤßt , oft ohne ſich
zu kennen , und an die man weder glaubt ,
noch dem andern Glauben zutraut .
Allerdings hat aber das Titular-Weſen
auch auf unſre Moralitaͤt , auf den Karakter
der Nazion großen Einfluß ; — die Ceremo-
nioſitaͤt unſrer Titulaturen und Kourtoiſien
hat die Heuchelei , den Trug , die Verſtellung
beguͤnſtigt , und Geradheit , Offenheit , Bie-
der-Sinn , Treu und Glauben weggeaͤzt .
Die kriechende Art , mit der wir mit
Hoͤhern ſprechen , das ganz gehorſamſt ,
unterthaͤnigſt , allerunterthaͤnigſt ,
ſo ſinnlos es an ſich iſt , hat den Geiſt des Teut-
ſchen gelaͤhmt und ihm Sklaven-Sinn auf-
gedruͤkt ; die wahre Ehrerbiethung , die in
Anhaͤnglichkeit und Achtung , der Gehorſam ,
der im Handeln nach dem Willen des Vor-
geſezten beſteht , haben dadurch durchaus
nichts gewonnen , ſondern verlohren , die
Untergeordnete benuzen vielmehr dieſe ſkla-
viſche Formeln , als Bollwerke ihrer Jnſub-
ordinazion , ihres Mangels an wahrer Ach-
tung . Unterthaͤnig iſt ſchon ein ſtarkes Wort .
Aber wenn in 1000 Berichten und Memo-
rialien , die zugleich bei irgend einem Großen
einlaufen , ſich jeder den Unterthaͤnig-
ſten , Allerunterthaͤnigſten nennt , ſo
iſt denn das doch wohl baarer Unſinn . Von
dem Verhaͤltnis zwiſchen Hoͤhern und Nie-
dern hat denn dieſe Wort-Sklaverei ſich
auch auf die Verhaͤltniſſe zwiſchen Glei-
chen ausgedehnt . Alles empfiehlt ſich , be-
dankt
dankt ſich gehorſamſt , unterthaͤnigſt
und Niemand denkt an Gehorſam oder
Unterwerfung .
Jch verſchweige eine Menge ſinnloſer
Titulaturen , weil ſie blos lokal ſind ; ge-
wiß iſt es aber , daß unſer Titulatur-Weſen
einer großen Reform bedarf . Von der Derb-
heit ſind wir in die allerarmſeeligſte und
kleinſte Ceremonioſitaͤt hinuͤber , alſo uͤber
die Urbanitaͤt , die Wieland ſo meiſterhaft
gezeichnet hat , hinweggeſprungen .
L
16.
Ueber Getraide-Magazine .
D ie große Frage , wie iſt in Faͤllen der
Noth , des Mißwachſes , oder einer durch
Krieg und andre allgemeine Ungluͤks-Faͤlle ver-
anlaßten Theurung der erſten Lebens-Beduͤrf-
niſſe , dem Mangel vorzubeugen , wie das
Gleichgewicht unter allen Volks-Klaſſen zu
erhalten ?
Dieſe Frage — die wichtigſte in der
Staats-Verwaltungs-Wiſſenſchaft — hat
laͤngſt die Schriftſteller aller Nazionen
beſchaͤftigt : und mannichfaltige ungluͤkliche
Verſuche , dieſe große Aufgabe zu loͤßen , ha-
ben oft Reiche umgewaͤlzt , noch oͤfter Laͤnder
entvoͤlkert und Nazionen an den Rand des
Abgrunds gebracht . Auch uͤber dieſen Ge-
genſtand iſt der menſchliche Geiſt von Extre-
men zu Extremen uͤbergeſprungen ; von der
regelloſeſten Freiheit des Kommerzes bis zu
dem ungeheuerſten Despotismus der Requi-
ſizion , der allen Begriff von Privat-Eigen-
thum vernichtet und das Verderben , die Auf-
loͤſung der buͤrgerlichen Geſellſchaft hervor-
bringen mußte . Alle uͤbrige Syſteme haben
ſich zwiſchen den zwei Enden der gaͤnzlichen
Handels-Freiheit und des Verboths aller
Ausfuhr herumgedreht .
Jn Frankreich unter der Opinionen-
Herrſchaft der Enzyklopaͤdiſten , Oekonomi-
ſten und Phyſiokraten , wurde dieſer Gegen-
ſtand bis auf den Grund erſchoͤpft — die fran-
zoͤſiſche Staats-Verwaltung hat nach den
verſchiedenen Syſtemen der Tuͤrgots , der
Neker , der Robespierre immer abgeaͤnderte
Maas-Regeln ergriffen , und fand die Frage
noch immer unaufgeloͤſt .
Es giebt freilich ein ſehr einfaches Mit-
tel ſie zu loͤſen , und das ſind : die oͤffent-
liche Staats-Vorraths-Haͤuſer .
Aber die Seltenheit der Anwendung
dieſes Mittels , hat genug fuͤr deren ungeheure
Schwierigkeiten und Nachtheile bewieſen .
Da ich es wagen will , mit einer neuen
Jdee daruͤber vorzutreten , die alle Vor-
theile der oͤffentlichen Vorraths-Haͤuſer ,
und keine ihrer Schwierigkeiten und
Nachtheile haben ſoll , ſo muß ich dieſe zu-
erſt nochmals darſtellen .
Erſtens ſind die oͤffentliche Vorraths-
Haͤuſer mit einem großen Koſten-Aufwand
fuͤr den Staat verbunden . Und dieſer waͤchſt
mit der Groͤße des Staats in ungleicher Pro-
porzion , d. h. die groͤßere Maſſe der Bevoͤl-
kerung gleicht den Zuwachs des Aufwands
nicht aus , den ſie veranlaßt ; denn dieſer
Zuwachs der Volks-Maſſe wird immer mehr
in der verzehrenden als in der produzirenden
Klaſſe liegen . Die Zahl der Handwerker ,
der Fabrikanten der Kauf-Leute , der Kapi-
taliſten ꝛc. wird in einem großen Staate im-
mer in einer groͤßern Proporzion wachſen ,
als die der Grund-Eigenthuͤmer . Denn
alle andre Erwerbungs-Mittel ſind an ſich
theilbarer , als das Grund-Eigenthum ; wer-
den es durch die Sitten und Gewohnheiten
der meiſten Voͤlker noch mehr , und die Be-
ſchwerden des Land-Baus loken ohnehin
weniger neue Glieder , vielmehr draͤngen ſich
ſtets Glieder aus dieſer Klaſſe in andre
Klaſſen .
Es iſt ein großes Kapital erforderlich die
erſte Vorraͤthe anzuſchaffen , ein Kapital das
todt bleibt und keine Zinnßen traͤgt , indeß
der Staat es verzinnßen muß . Beinah al-
le europaͤiſche Staats-Verwaltungen , ſo wie
insbeſondre in Teutſchland beinah alle teut-
ſche groͤßere oder kleinere , ſind durch die
Kriege , die ſeit Jahrhunderten Europa bei-
nah unausgeſezt erſchuͤtterten , in groͤßere
oder kleinere Schulden verſenkt . Jhre Voͤl-
ker ſind mit Auflagen aller Art belaſtet , die
die Kriege , die ſtehende Heere , der ſteigende
Luxus nothwendig gemacht haben , und kei-
ner Erhoͤhung faͤhig ſind . Woher ſollte alſo
das bei großen Staaten ungeheure Kapital
zu Anſchaffung dieſer Vorraͤthe , woher , wenn
es nicht durch neue Auflagen aufgebracht
wird , die Zinnßen des in den Vorraͤthen
ſtekenden Kapitals kommen ?
Zweytens : Werden dieſe Vorraͤthe aus
dem Staate ſelbſt genommen , ſo entziehen ſie
ihm eine ſo große Summe ſeiner Produkte ,
daß ſelbſt , dieß eine druͤkende Erhoͤhung der
Preiße , oder Mangel nach ſich ziehen , und
alſo gerade das veranlaſſen wuͤrde , was ſie
verhindern ſollen . Wuͤrden ſie aus frem-
den europaͤiſchen Staaten erkauft , die da-
von Ueberfluß haben , und ſind ſie auch dort
zu erhalten , wie dieß doch nicht leicht der
Fall ſeyn wird , ( denn mehrere naͤhren ſich
von afrikaniſchen und amerikaniſchen Ge-
traide ) ſo kann ein ſo betraͤchtlicher Ankauf
ſchwerlich durch artifizielle Produkte aufge-
wogen , er muß alſo mit Metall ausgeglichen
werden , den Staat an Nuͤmeraͤr verarmen ,
den Preiß des Grund-Eigenthums druͤken ,
und alſo gerade wieder der ſchaͤzbarſten und
nuͤzlichſten Volks-Klaſſe nachtheilig werden .
Jſt nun aber auch das Kapital zum An-
kauf der erſten Vorraͤthe gefunden , ſind nun
die Vorraͤthe angeſchafft ; ſo muͤſſen Drit-
tens in allen Theilen des Staats oͤffentliche
Vorraths-Haͤuſer angebaut , und unterhal-
ten werden .
Dieſe Vorraths-Haͤuſer muͤſſen immer
in einer ſolchen Entfernung ſeyn , daß von
ihnen der Mangel leidende Staats-Buͤrger
unterſtuͤzt werden kann , ohne durch die Ko-
ſten der Fracht alle Wohlthat der Anſtalt
ſelbſt wieder zu verlieren .
Der Anbau , die Unterhaltung dieſer Ge-
baͤude erfordern ein neues aͤußerſt betraͤcht-
liches Kapital .
Sind Viertens die Vorraths-Haͤuſer
in erforderlicher Anzahl vorhanden , ſo muͤs-
ſen Verwaltungen derſelben beſtellt wer-
den; und dieſe Verwaltungen fordern einen
neuen betraͤchtlichen Fond , der auf das Volk
fallen muͤßte , welches doch am Ende alles
bezahlt .
Waͤre aber nun auch Fuͤnftens der
Fond zu Bezahlung und Unterhaltung aller
dieſer Verwaltungen gefunden , ſo iſt , auch
bei der ſtrengſten Aufſicht , der ungeheure
Verluſt , den die Untreue , die Unterſchleife ,
die Betruͤgereien dieſer Verwaltungen nach
ſich ziehen , ein neuer Aufwand , der eine fort-
dauernde Auflage des Volks , oder ein neues
Kapital fordert .
Sechſtens . Der jaͤhrliche Verluſt am
Schwand , oder Eintroken des Getraides , der
Verluſt am Maͤuſefraß , die Gefahr des Korn-
Wurms , gegen die man noch immer ein untruͤg-
liches Mittel vergeblich ſucht , muß auf irgend
eine Art durch ein neues Kapital oder eine neue
Auflage gedekt werden , wenn nicht die ganze
Anſtalt in wenigen Jahren wieder vernichtet
ſeyn ſoll .
Siebentens . Die Gefahr des Feuers
iſt ebenfalls ein neuer Zuwachs von Auf-
wand , der dem Staate droht , das urſpruͤng-
liche erſte auf die Vorraͤthe und Vorraths-
Haͤuſer verwendete Kapital verlohren zu ſe-
hen , und ein neues beiſchaffen zu muͤſſen .
Achtens . Jn Kriegszeiten ſind Landes-
Magazine ſogar dem Staate gefaͤhrlich . Fal-
len ſie in die Haͤnde des Feindes , ſo iſt ihr
Kapital nicht allein verlohren , ſie geben dem
Feinde auch die Waffen gegen dieſen Staat
ſelbſt in die Hand .
Neuntens . Sollen oͤffentliche Staats-
Vorraths-Haͤuſer ihren Zwek erfuͤllen , ſo
muͤſſen ſie dem Duͤrftigen zu jeder Zeit offen
ſeyn . Dieß oͤffnet aber auch den Unterſchlei-
fen , dem Wucher die Bahn . Es iſt unmoͤg-
lich , vorzuͤglich in einem großen Staate un-
moͤglich , die haͤuslichen Umſtaͤnde deſſen , der
auf Unterſtuͤzung aus dem oͤffentlichen Ma-
gazin Anſpruch macht , genau zu ergruͤnden .
Wenn nun dieſer ſeine eigne Vorraͤthe heim-
lich verkauft , und ſich denn auf ſeinen Man-
gel beruft ? Wer wird hier , die hoͤchſte un-
beſtechlichſte Rechtſchaffenheit der Verwal-
tungen , alſo warlich einen nicht ſehr wahr-
ſcheinlichen Fall vorausgeſezt , dieß ſtets er-
gruͤnden , wer in dem Labyrinth der Unter-
ſchleife und des Trugs ſich ſtets herausfinden
koͤnnen ? Man muͤßte denn mit einer ſolchen
Magazin-Anſtalt die druͤkendſte und gehaͤs-
ſigſte Maas-Regeln in Abſicht des oͤffent-
lichen Handels verbinden , alſo die Wohlthat
der Anſtalt vernichten .
Dieſe Anſichten moͤgen einſtweilen hin-
reichen , das Laͤſtige , Druͤkende , meiſt Un-
thunliche und Unmoͤgliche der Errichtung oͤf-
fentlicher Magazine anſchaulich zu machen .
Jndeß ſind ſie doch bis jezt als das einzige ,
wuͤrkſame , zwekmaͤßige und anwendbare Mit-
tel betrachtet worden , dem gaͤnzlichen Mangel
zu ſteuern , und die Preiße der erſten Lebensbe-
duͤrfniſſe in einem ſolchen Gleichgewicht zu hal-
ten , das die uͤbrige Volks-Klaſſen gegen Man-
gel und Elend ſchuͤzt . Viele Staaten haben
es auch wuͤrklich adoptirt .
Jn einer weit groͤßern Zahl europaͤiſcher
Staaten aber iſt der Unterhalt des Volks
dem Zufall uͤberlaſſen . Man erwartet die
Faͤlle der Noth , und ſucht ſich dann mit au-
genbliklichen Maas-Regeln , mit Sperren ,
mit Akziſen und andern dergleichen Anord-
nungen zu helfen , die die aͤrmſten Volks-
Klaſſen druͤken , und ſtatt Ueberfluß hervor-
zubringen , der nur aus dem Schoo der
Handels-Freiheit quillt , gewoͤhnlich das Un-
gluͤk vergroͤßern , den Mangel erhoͤhen und
alles zur Verzweiflung bringen wuͤrden , wenn
nicht bald das Gefuͤhl , die Ueberzeugung
ihrer Haͤrte , ein ſtillſchweigendes allgemeines
Einverſtaͤndnis der ſubalternen Staats-
Diener und der Staats-Buͤrger herbeifuͤhr-
te , ſie — nicht zu befolgen .
Jch wage es einen Plan zur Pruͤfung
vorzulegen , der auch meine Ueberzeugung
nicht nur den Zwek der oͤffentlichen Vor-
raths-Haͤuſer vollſtaͤndig erfuͤllt , d. h. den
Fall des Mangels entfernt und den Duͤrf-
tigen gegen den Druk des Reicheren ſchuͤzt ,
alſo das Gleichgewicht zwiſchen den verſchie-
denen Klaſſen der Staats-Buͤrger aufrecht
haͤlt , und bei dem aller Aufwand , alle Ge-
fa derſelben nicht exiſtirt .
Es iſt der : idealiſche Vorraths-Haͤu-
ſer zu errichten
Der erſte Beweiß , den ich ſchuldig bin ,
iſt der der Gerechtigkeit dieſes Plans ;
d. h. daß er in die Rechte des Privat-Eigen-
thums genau nicht weiter einſchneidet , als
es der Zwek der geſellſchaftlichen Verbindung
fordert , und keinen Zwang , keine Maas-
Regeln heiſcht , als die eben ſo genau inner-
halb der Rechte und Pflichten der Staats-
Verwaltung nach dem Geiſte ihres Daſeyns ,
liegen .
Dann muß ich , zweitens , beweiſen , daß
er ſtets und allenthalben und unter allen
Verhaͤltniſſen ausfuͤhrbar iſt .
Der Grund-Eigenthuͤmer hat nachdem
allgemeinen Begriff des Eigenthums aller-
dings das Recht , die Fruͤchte ſeines Bodens
zu behalten , zu genießen und daruͤber unein-
geſchraͤnkt zu ſchalten .
Dieſes Recht kann aber nicht weiter
ausgedehnt werden , als es die Erhaltung der
buͤrgerlichen Geſellſchaft und alſo alle diejeni-
gen aus der geſelligen Verbindung fließende
Vortheile erlauben die er ſelbſt genießt :
Durch eine weitere Ausdehnung wuͤrde er
der Staats-Verwaltung unmoͤglich machen ,
auch ihm die Dauer dieſer Vortheile zu
ſichern .
Jene Einſchraͤnkung der Dispoſizion
uͤber die Produkte des Grund-Eigenthums
darf aber wieder durchaus nicht weiter aus-
gedehnt werden , als es genau jener Zwek
fordert .
Alle Verbothe des freien Verkaufs
uͤberſchreiten aber dieſe Graͤnze . Da ſie den
Produkten durch die Hemmung des Abſazes
einen willkuͤhrlichen Preiß ſezen , oder ſie wohl
gar werthlos machen , ſo erſtiken ſie alle Jn-
duſtrie , vermindern nothwendig dadurch die
Maſſe der Produkte , und ermorden alſo , wo
ſie ſchaffen und beleben ſollten . Ueberdieß
zeugen ſie Betrug und vermindern die Mo-
ralitaͤt auf der doch einzig das Wohl des
Staats beruht .
Das erſte wovon die Staats-Verwaltung
bei meinem Plane ausgehen muß , iſt , die
Einjaͤhrige Beduͤrfnis des Staats
zu erforſchen . Und hiezu giebt die Volks-
Zaͤh-
Zaͤhlung einen untruͤglichen Maas-Stab .
Jſt dieſe erforſcht , ſo muß ſie unter das
geſammte Grund-Eigenthum des Staats
vertheilt und jeder Grund-Eigenthuͤmer ver-
pflichtet werden , die auf ihn nach dem Flaͤchen-
Jnhalt ſeiner Beſizung zugetheilte , und nach
dem Mittel -Ertrag ſeines Grundſtuͤks
berechnete Getraide-Summe zum Dienſt des
Staats aufzubewahren . Sie bleibt Ei-
genthum des Grund-Beſizers , ſie bleibt in
ſeiner Verwahrung ; aber nie darf er ohne
Einwilligung der Staats-Verwaltung dar-
uͤber vor der naͤchſten Erndte disponiren . Er
muß ſie als ein ihm vom Staat anvertrautes ,
alſo heiliges Guth betrachten .
Dieſes kleine Opfer , das der Grund-
Eigenthuͤmer den Vortheilen der geſellſchaft-
lichen Verbindung bringt , wird dem Reiche-
M
ren und Groͤßern uͤberſchwenglich aufge-
wogen , durch die mit meinem Plan zu ver-
bindende gaͤnzliche Kommerz-Freiheit
und Verbannung alles Zwangs , aller Ein-
ſchraͤnkung in Abſicht des Ueberreſts ſei-
ner Produkte ; durch die Gewisheit , die
Preiße nie zu tief gedruͤkt zu ſehen , alſo nie
den Sporn des Fleiſes zu verlieren und muth-
los zu werden . Den Geringen und
Duͤrftigern trifft dieß Opfer auch in einer
ſehr geringen Proporzion , und wird ihm
durch die Gewisheit , gegen allen Mangel
geſchuͤzt zu ſeyn , uͤberſchwenglich verguͤthet .
Dieſe Anſtalt kann uͤberhaupt und im
Ganzen gerade deswegen nie druͤkend werden ,
weil ſie im genaueſten Verhaͤltnis mit dem
Beſiz des Grund-Eigenthums und der Pro-
dukzion ſteht . Sie kann es fuͤr den großen
Proprietaͤr nicht werden , weil der Staat nur
in Zeiten der Noth , Anſpruch auf den zuruͤk-
gelegten Vorrath macht , und dann den Markt-
Preiß bezahlt , mithin der Eigenthuͤmer nicht
verliert . Sie kann es auch fuͤr denjenigen
Grund-Eigenthuͤmer nicht werden , der ent-
weder genau nur ſein Beduͤrfnis , oder auch
dieſes nicht baut ; denn Beide finden in der
Freiheit des Kommerzes Mittel , die tempo-
relle Entbehrung der kleinen Porzion zu er-
ſezen , die ſie fuͤr den Staat bereit halten
muͤſſen . Beiden kann der Staat erlauben ,
den Werth der Summe , des bei ihnen hin-
terlegten Getraides zu entleihen , und er kann ,
( wenn die Kraͤfte des Staats ihm nicht ſelbſt
erlauben , durch Errichtung einer Darlehns-
Kaſſe fuͤr die Beduͤrfniſſe der Staats-Buͤr-
ger zu ſorgen , ) darauf eben ſo gut und mit
dem nemlichen Grade von Sicherheit ein
oͤffentliches Unterpfands-Recht beſtellen .
Die Errichtung idealiſcher Vor-
raths-Haͤuſer iſt auch anwendbar , iſt
ausfuͤhrbar .
Entweder baut der Staat mehr Ge-
traide als er bedarf , und dann faͤllt ohnehin
alle Schwierigkeit , oder er baut genau ſoviel
als er bedarf , und dann haͤtte er ſich nur ei-
nen Einjaͤhrigen Vorrath zu verſchaffen , oder
er baut weniger als er bedarf , und dann muß
er den Einjaͤhrigen Ueberſchuß , neben dem
jaͤhrlichen Defizit ſich auswaͤrts zu verſchaf-
fen ſuchen .
Aber auch in dieſen beiden leztern Faͤl-
len muß die Total-Summe des Beduͤrfniſſes
auf den ganzen Flaͤchen-Jnhalt des Staats
ausgetheilt , und in dem erſten Falle wenig-
ſtens das Einjaͤhrige Beduͤrfnis von dem
Staate auf Rechnung der Grund-Eigenthuͤ-
mer angeſchafft , und dieſen als die erſte und
heiligſte auf ihrem Grund-Eigenthum haf-
tende Schuld nach Proporzion ihres Grund-
Eigenthums zugetheilt werden . Nur die An-
ſchaffung des laufenden jaͤhrlichen Ueberſchuſ-
ſes des Beduͤrfniſſes gegen die Produkzion
bliebe alſo dem Kommerz uͤberlaſſen . Nur die
Gefahr des Fallens der Preiße allein muͤßte
dann die Staats-Verwaltung uͤbernehmen .
Baut der Staat genau nur ſoviel Ge-
traide , als er bedarf , und er kann ſich die
Einjaͤhrige Beduͤrfniſſe nicht in Zeiten des
Ueberfluſſes aus fremden Staaten verſchaffen
— gewiß ein aͤußerſt ſeltner Fall ! — ſo bleibt
noch immer das lezte Mittel uͤbrig , die Ein-
fuͤhrung jener Anſtalt , auf mehrere
Jahre zu vertheilen . Man muß z. B. die
Zuruͤklegung des Einjaͤhrigen Bedarfs in
vier oder acht Theile zerſchneiden und von
dem Grund-Eigenthuͤmer nur die Zuruͤkhal-
tung des vierten oder achten Theils auf jedes
naͤchſte Jahr verlangen , bis die Total-Summe
ergaͤnzt iſt , der jaͤhrliche geringe Abgang am
Bedarf wird ſich dann leicht und ohne Er-
ſchuͤtterung durch das freie Kommerz ausglei-
chen .
Es iſt ewige Wahrheit , daß keine ge-
ſellſchaftliche Anſtalt dauert , die zu verwikelt
iſt , deren Gang aus zu vielen zuſammenge-
ſezten Raͤdern beſteht , der alſo Einfachheit
fehlt , und die nicht auf das Wohl Aller
berechnet iſt , das Spiel , das Jntereſſe Aller
vereinigt .
Mein Plan ſcheint mir alle jene Vorzuͤ-
ge zu beſizen . Er iſt einfach . Denn mit
der erſten Operazion der Erforſchung des
Flaͤche-Jnhalts , der Produkzion ,
des Bedarfs , und ( im ſchlimmſten Fall )
des Einkaufs , dann der Austheilung
des Ein jaͤhrigen Beduͤrfniſſes iſt auch alles
auf ewig geſchehen .
Dieſe Austheilung wird in eine einfache
Tabelle gebracht , und dient der Staats-Ver-
waltung zur ewigen Baſis . Nach ihr
fordert ſie in Zeiten der Noth und des
Mangels d. h. wenn die Getraide-Preiße
uͤber eine beſtimmte Summe ſteigen ,
von den Grund-Eigenthuͤmern die ihnen
zugetheilte Getraide-Summe , gegen die Be-
zahlung des lezten Markt-Preißes , vertheilt
dieſes Getraide an die Duͤrftigen und ſtellt
dadurch das Gleichgewicht wieder her , indem
ſie dem Mangel , als dem einzigen moͤglichen
reellen Grund einer Theurung , abhilft .
Dieß haͤlt zugleich den großen Proprie-
taͤr vom Wucher zuruͤk und zwingt ihn , den
Getraide-Preiß nicht bis zu jenem Maxi -
mum ſreigen zu laſſen , um nicht in den Fall
der Requiſizion zu kommen .
Bei dieſen Requiſizionen theilt die
Staats-Verwaltung die Grund-Eigenthuͤ-
mer nach der Groͤße oder dem Flaͤchen-Jn-
halte ihrer Beſizungen in mehrere Klaſſen .
Sie faͤngt die Requiſizion bei den hoͤchſten
Klaſſen , alſo bei den groͤßten Proprietaͤrs
an und endigt bei den geringſten . Dieſe
koͤnnen alſo nur im Fall des aͤußerſten Man-
gels in die Lage der Requiſizion kommen ,
und dieß hebt vollends alles Laͤſtige dieſer
Anſtalt fuͤr ſie auf .
Die ſchwere Aufgabe ſcheint nun zu
ſeyn , den Vollzug dieſer Anſtalt zu ſichern ;
Er hat Schwierigkeiten , aber ſie ſind zu uͤber-
winden . Da das Wohl des Staats auf
der Einhaltung eines ſolchen Geſezes ruht ,
ſo iſt es erlaubt und alſo gerecht , die Befol-
gung unter ſchwerer Strafe zu gebiethen .
Jeder Staats-Buͤrger ſey gehalten , bei Ver-
luſt ſeiner buͤrgerlichen Ehre , vor der naͤch-
ſten Erndte den Beſiz der ihm zugetheilten
Getraide-Summe den dazu beſtellten
Staats-Dienern vorzuzeigen . Um allen
Unterſchleif unmoͤglich zu machen , geſchehe
dieſe Unterſuchung im ganzen Staate an
Einem Tage ; und die Staats-Diener , die
ſie vornehmen , ſollen fuͤr das Daſeyn der
Vorraͤthe perſoͤnlich verantwortlich ſeyn .
Nichts iſt leichter , einfacher und natuͤr-
licher als die Organiſazion dieſer Einrich-
tung . Allerdings muß ſie allenthalben den
oͤrtlichen Verhaͤltniſſen angepaßt werden .
Jch bin bereit , bei jeder angenomme-
nen Verfaſſung , die Moͤglichkeit und Thun-
lichkeit der Organiſazion zu beweiſen .
Dieſer Plan erfordert wenig oder kein
Anſchaffungs-Kapital keine koſtbare Erbau-
ung von Vorraths Haͤuſern , keinen koſtbaren
Unterhalt derſelben , keine Magazin-Ver-
walter ; iſt keinen Veruntreuungen , keinen
Unterſchleifen der Beamten , keinem Verluſt
an Getraide , keiner Feuers- keiner Kriegs-
Gefahr ausgeſezt , kann ausgefuͤhrt werden ,
ohne den Staat mit Schulden , ohne das
Volk mit neuen Auflagen zu belaſten .
Jn Abſicht der Unterſtuͤzung laͤßt ſich
bei ihm die nemliche Einrichtung wie bei
wuͤrklichen Magazinen machen .
Man theilt den Staat in gewiſſe Di-
ſtrikte , ſo daß der Zirkel jeden Diſtrikts immer
um eine Stadt geſchlagen wird ; weil dieſe
der Unterſtuͤzung immer am noͤthigſten be-
duͤrfen . Je nach der Groͤße der Stadt
wird der Zirkel weiter oder enger geſchlagen ;
Die Beifuhr-Koſten ſind dann ſchon unter
dem hoͤchſten beſtimmten Markt-Preiß , dem
Maximum begriffen .
Die Produkzion iſt die Baſis dieſes
Plans . Natuͤrlich muß alſo auch der Staat
ſelbſt , wenn er Produkte zieht , der Zehnd-
Berechtigte , der Guͤltherr u. ſ. w. als Pro-
prietaͤr betrachtet werden , und nach dem aus-
geglichenen Produkzions-Verhaͤltnis der
Erd-Flaͤche , der Requiſizion unterliegen .
Warme Theilnahme an Menſchenwohl
hat dieſe Jdee erzeugt , Erfahrung in Geſchaͤf-
ten ſie gebildet . Jch uͤbergebe ſie der Pruͤ-
fung wohlwollender und weiſerer Menſchen-
Freunde . Jhre Erinnerungen werden mich
belehren , werden den Plan berichtigen ,
wenn ich ſie nicht zu beantworten ver-
mag .
17.
Ueber die Geſchwohrnen-Gerichte .
D er Zwek der Geſeze iſt , die Erhaltung
der geſellſchaftlichen Ordnung . Der
Zwek der Staats-Verwaltung : die Auf-
rechthaltung der Geſeze .
Es giebt zwei Vehikel , dieſe zu bewir-
ken , Furcht , hervorgebracht durch phyſiſche
Macht , und Vertrauen . Wie ſchwach ,
wie hinfaͤllig , wie ephemeriſch das erſte ſey ,
hat ſtets die aus den Grund-Trieben der
menſchlichen Seele gefloſſene Erfahrung be-
wieſen .
Stark , unerſchuͤtterlich und ewig iſt da-
gegen das zweite . Die Ruhe des Staats-
Buͤrgers liegt in der Gewißheit des hoͤch-
ſten Grads der Heiligkeit ſeines Eigenthums ,
ſeiner Freiheit , ſeiner Perſon , ſeines Da-
ſeyns , ſo lang er die Geſeze nicht verlezt .
Dieſe Heiligkeit ſind ihm die Geſeze ſchul-
dig , und nur dann haben ſie den hoͤchſten
moͤglichen Grad der Vollkommenheit erreicht ,
wenn ſie ihm dieſes wuͤrklich gewaͤhren . Mit
welchem Vertrauen kann aber der Staats-
Buͤrger ſein Schikſal in die Hand eines We-
ſens legen , das uͤber ihn emporragt , und
wider das der , in der menſchlichen Seele un-
vertilgbare Widerwille gegen Abſtufung und
Abhaͤngigkeit , ihm Argwohn , Mißtrauen
und Unruhe einfloͤßt ? —
Der Zwek der Strafe iſt : Beſſerung .
Dieſe ſezt Ueberzeugung von dem Unrecht
der beſtraften Handlung voraus . Wie kann
dieſe bewuͤrkt werden , wo der Staats-Buͤr-
ger in dem ſtrafenden nur ein mit den Attri-
buten des Schrekens umgebenes , von ihm
abgeſondertes , uͤber ihn erhabnes , ihm furcht-
bares , ihm nie anders als im Nimbus er-
ſcheinendes Weſen erblikt ?
Wenn er aber den Richter in jedem
ihm umgebenden Gliede der Geſellſchaft fin-
det , wenn er jedes ohne Unterſchied mit dem
Schwerde der Gerechtigkeit gegen den Ver-
lezer der Geſeze bewaffnet ſieht , wenn er
ſelbſt der Bewahrer und Raͤcher der Geſeze
iſt ; dann muß die Ueberzeugung bei ihm le-
bendig werden , daß Strafe zu Erhaltung der
buͤrgerlichen Ordnung nothwendig , daß die
Strafe nur das reine Reſultat der Anwen-
dung der Geſeze , nicht der Dolch der Willkuͤhr ,
der Leidenſchaften , der Herrſchſucht und der
Unterdruͤkung ſey . Dieß iſt der Geiſt der
Geſchworhnen-Gerichte , dieſes erhab-
nen Palladiums der buͤrgerlichen Freiheit ,
ſo wie der geſezlichen Unterordnung unter die
Staats-Verwaltungen .
Auch hier ſind aufgeklaͤrte Nazionen
uns laͤngſtens zuvor geeilt , und die laute
Stimme der Wahrheit koͤnnte nicht bis zu
uns , bis zu einem Volke dringen , das in
allen Kenntniſſen und Wiſſenſchaften , das
in ausdaurendem Forſchungs Forſchungs- , und Pruͤfungs-
Geiſte uͤber alle andre unſtreitig hervorragt ?
18. Ueber
18.
Ueber die Bedeutung des Worts : Na-
zional , in Teutſchland .
K aiſer Joſeph gab zuerſt dem Wiener
teutſchen Hof-Theater den Namen Nazio-
nal -Theater . Sollte dieß ſo viel heißen als
teutſches Theater , im Gegenſaz des italie-
niſchen und franzoͤſiſchen , ſo habe ich nichts
dagegen einzuwenden , als daß die Benen-
nung nicht richtig iſt ; denn das Beiwort Na-
zional kann eigentlich keinen andern Sinn
haben , als , der ganzen Nazion ange-
hoͤrig . Sollte es wirklich heißen der Nazion
angehoͤriges Theater , ſo haͤtte mindeſtens
dabei ſtehen ſollen , oͤſterreichiſches Nazional-
N
Theater , nicht Wiener , denn Wien iſt eine
Stadt , aber keine Nazion .
Aber man hat zu Wien auch Nazio-
nal -Koffee-Haͤuſer u. ſ. w. Was verband
man da fuͤr einen Sinn damit ?
Jn einzelnen Staͤdten Teutſchlands hat
man geſellſchaftliche oder andre Buͤhnen Na-
zional -Theater genannt , und doch war
weder die Stadt eine Nazion , noch auch das
Theater nur einmal dem Volk , den Einwoh-
nern angehoͤrig , d. h. es war weder vom
Volk geſtiftet , noch von ihm bezahlt ; ſon-
dern eine Privat-Unternehmung die jeden
fuͤr ſein Geld bediente .
Dieſer Mißbrauch des Beiworts Na-
zional verdient alſo Ruͤge . Nazional kann
nur das genennt werden , was von der Na-
zion errichtet iſt , von ihr abhangt , ihr Ei-
genthum iſt .
Auch bezeichnet das Wort Nazion
eine große Volks-Maſſe , nicht die Be-
wohner einer einzelnen Stadt ꝛc. oder eines
Laͤndchens .
19.
Das WJR der Fuͤrſten und Rezen-
ſenten .
W oher kommt es , das Fuͤrſten und Rezen-
ſenten in der mehrern Perſon ſprechen ?
Jſt es nicht gegen Wahrheit , Richtigkeit des
Ausdruks und Sprach-Gebrauch ?
Bei Fuͤrſten kann es ſich von den Zeiten
herſchreiben , wo das Volk durch ſeine Re-
praͤſentanten Mitſprecher war . Aber da wo
dieſe noch exiſtiren , ſpricht doch nur der Re-
gent allein , wie da wo ſie nicht exiſtiren .
Was kann alſo eine ſolche grammatikaliſche
Unrichtigkeit autoriſiren ?
Bei Rezenſenten mag es urſpruͤnglich
daher entſtanden ſeyn , daß alle Theilneh-
mer einer kritiſchen Zeit-Schrift jede einzelne
Rezenſion auf ihre gemeinſchaftliche Vertre-
tung nahmen . Aber iſt dieſe gemeinſchaft-
liche Vertretung wohl richtig und moͤglich ?
Kann der Theolog die juriſtiſche Rezenſion
vertreten und umgewendet ? Unterzeichnet
nicht gewoͤhnlich der Rezenſent mit Anfangs-
Buchſtaben ? Und antwortet er nicht in-
dividuell auf die Erinnerungen gegen ſeine
Kritik ?
Dieſes Wir dient alſo nur , den Ur-
theilen das Anſehen ſolenner Entſcheidun-
gen oder Macht-Spruͤche zu geben , die
außer dem wiſſenſchaftlichen Kraiße ſind .
20
Ueber Land-Wirthſchaft .
U nſer Zeit-Alter wird offt das Oekono-
miſche genannt . Ob deswegen , weil die
Finanz-Wiſſenſchaften oder die Kammerali-
ſtik in unſeren Zeiten vorzuͤglich bearbeitet
worden ſind ? Oder weil man angefangen
hat , die Land-Wirthſchaft ſzientifiſch zu bear-
beiten ?
Jndeß kann ich mich nicht uͤberzeugen ,
daß , troz der ungeheuren Menge von Un-
terſuchungen und Forſchungen , die ſeit einem
halben Jahr-Hundert uͤber die Land-Wirth-
ſchaft erſchienen ſind , dieſe theoretiſch und
praktiſch weit uͤber den Stand der Kind-
heit hinausgeruͤkt waͤre .
Kaum hoͤrt man auf , ſie als Mecha-
nismus , kaum faͤngt man an , ſie als
Wiſſenſchaft zu behandeln . Und doch ,
daͤcht' ich , waͤr es tiefes Studium : die Voll-
kraft der Natur zu weken , ihr den hoͤch-
ſten moͤglichen Grad der Produkzion
zu entreißen ! —
Nicht Studium , nicht Grundſaz hat
den Akerbau geſchaffen , ſo wie er jezt iſt .
Alles was unſre ſzientifiſche Oekonomen dar-
an reformirt haben , iſt Flik-Werk — an ei-
ner unſyſtematiſchen , alſo unzuſammenhaͤng-
enden Maſchine .
Eingeriſſen muͤſſen dieſe Ruinen werden ,
und ein neues durchdachtes Gebaͤude aufge-
fuͤhrt , wenn die Land-Wirthſchaft ihre hoͤch-
ſte Hoͤhe erreichen ſoll ; und haͤngt nicht an
ihr das Wohl der Menſchheit ?
Daß hier Aeker , dort Wieſen ſind , hier
ein Teich , dort ein Gehoͤlz ſich befindet , iſt
Spiel der Natur . Jhr nachzuhelfen hat man
bisweilen hier einen Teich eingetroknet , dort
ein Gehoͤlz ausgereutet , hier eine Wieſe zum
Aker umgeriſſen . Aber an eine ſyſtematiſche
Vertheilung der Aeker , Wieſen , Gehoͤlze ꝛc.
nach Grundſaͤzen , nach den richtig gewog-
nen Verhaͤltniſſen der Lokalitaͤt , an eine
richtige Austheilung , ein richtiges Gleichge-
wicht der mancherlei Grundſtuͤke , wagt man
ſelten , die Hand zu legen . Der Zufall hat
die große Vermiſchung der Grundſtuͤke ge-
ſchaffen , mit all' ihren ſchaͤdlichen Folgen ;
aber ſie auszugleichen , jedem Land-Wirth
ſein allenthalben zerſtreutes Eigenthum zu-
ſammenzuhaͤngen , ihm dadurch den Anbau
zu erleichtern , deſſen Jnduſtrie zu erhoͤhen ,
allen Streit , den jene Zerſtreuung und Ver-
miſchung veranlaßt , aus der Wurzel zu he-
ben , hat niemand gewagt .
Jn den Zeiten wo die Ernaͤhrung der
Menſchen nichts , und die Kraft und Kunſt
zu morden alles golten , ſah auch der Land-
Bauer ſich wegen der Unſicherheit und ge-
meinſchaftlichen Vertheidigung , zur Vereini-
gung der Wohnungen gezwungen . Und
dieſe widerſtrebt doch durchaus dem Zweke der
Land-Wirthſchaft , fuͤr welche die Naͤhe der
Grundſtuͤke an der Wohnung uͤberſchwengliche
Vortheile , die Naͤhe der Wohnungen an einan-
der im Gegenwicht der Nachtheile , wenig oder
keine gewaͤhrt . Der Geiſt jener Einrichtung-
en iſt laͤngſt dahin , und doch werden die
neue Wohnungen an der Stelle der alten
gebaut , und ſo neue Dorfſchaften angelegt !
Wir bauen noch jezt die ernaͤhrende
Pflanzen die unſre Voraͤltern bauten , ohne
bei den großen Fortſchritten in der Kennt-
nis des Pflanzen-Reichs zu unterſuchen , ob
nicht andre Gewaͤchſe eine naͤhrendere und
ergiebigere Ausbeute liefern wuͤrden ; und
doch haͤtte der Brod-Frucht-Baum , die in
Spanien entdekte Brod-Staude , die ame-
rikaniſche Kartoffel ꝛc. uns aufmerkſam ma-
chen ſollen .
Die Verpflanzung des Getraids
ſtatt der mechaniſchen Ausſaat , wuͤrde ,
nach Grundſaͤzen behandelt , der Land-
Wirthſchaft eine neue Geſtalt geben und die
Maſſe der Produkte unglaublich erhoͤhen ;
Und doch iſt ſie nie gruͤndlich gepruͤft und von
einigen theoretiſchen Oekonomiſten nur durch
Macht-Spruͤche niedergeſchlagen worden .
Die Abmaͤhung der erſten Saat
zur Vermehrung der Fuͤtterung , und tau-
ſend andre wichtige Jdeen haben weder Aus-
bildung , noch lebendige Anwendung erhal-
ten . Noch hat man nicht daran gedacht ,
ſtatt abgeriſſener Vorſchriften , die Wiſſen-
ſchaft der Erzeugung der Produkte bis zu
den Urbeſtand-Theilen der Natur zu ver-
folgen , und aus ihnen ein ſyſtematiſches Ge-
baͤude aufzufuͤhren , in das man denn alle neue
Entdekungen und Erfahrungen haͤtte einrei-
hen koͤnnen , ſo wie ſie Fortſchritt des Beob-
achtungs-Geiſts oder Zufall hervor bringt .
Der allgemeine Pruͤfungs- und For-
ſchungs-Geiſt hat ſich jezt auf die Unterſu-
chung der Seelen-Kraͤfte , und der Beſtand-
Theile der geſellſchaftlichen Verbindung ge-
worfen . Moͤchte er doch auch diejenige Wis-
ſenſchaft in ſeinen Kraiß aufnehmen , von
der allein der irdiſche Wohlſtand des Men-
ſchen ausgehen , die allein reellen Reich-
thum ſchaffen kann , und die mit Seelen-
Ruhe und Sittlichkeit Hand in Hand geht ! —
Jndeß durchſchifft der Spanier ꝛc. noch
immer unermeßliche Meere , um aus andern
Welttheilen Metall zum Erkauf deſſen zu ho-
len , was die Natur vor ſeiner eignen Huͤtte
ſeinem Fleiße geben wuͤrde .
Jndeß verlaſſen noch Tauſende unſer
Vaterland , um jenſeits des Meers Waͤlder
auszureuten und einen fremden Boden an-
zubauen . Und doch liegen im Herzen Teutſch-
lands noch ungeheure Erd-Striche wuͤſte , und
ſelbſt die angebaute wuͤrden eine unendlich
groͤßere Maſſe von Produkten liefern , und
alle dieſe Fluͤchtlinge im Schooße ihrer Ver-
wandten und Freunde naͤhren koͤnnen .
21.
Verhaͤltnis des Akerbaus und
der Fabriken .
A kerbau iſt der einzige reelle Nazional-
Reichthum . Dieß war Suͤllys großer Grund-
ſaz . Und die Welt hat nur Einen Suͤlly
hervorgebracht .
Mit welchem Entzuͤken huldige ich nicht
den Manen dieſes großen Mannes , der als
Miniſter , als Krieger , als Freund ſeines
Heinrichs , als Menſch , die Verehrung , die
Liebe aller fuͤhlenden Weſen verdient .
Jn den neuern Zeiten iſt man mehr als
je von dieſen Grundſaͤzen abgewichen . Der
Eroberungs-Geiſt , die Kriege , die politiſche
Verbindungen , alles wurde von der Hand-
lung motivirt . Handlungs-Verhaͤltniſſe
entſcheiden uͤber das Schikſaal der Nazionen .
O daß doch Suͤlly nicht unſterblich war ,
daß ſein Geiſt nicht wohlthaͤtig auf den Ka-
binetten der Großen ruht ! —
Das erſte Prinzip , von dem die Staats-
Verwaltung ausgehen muß , iſt : der dau-
ernde ſichre Wohlſtand der Nazion ; und
wie unſicher , wie prekaͤr , wie abhaͤngig von
den Launen der Sitte und Leidenſchaften iſt
nicht alles , was auf Fabriken und Kommerz
ruht ?
Die erſte Beduͤrfniſſe des Lebens hervor-
zubringen , der angenommenen Erd-Flaͤ-
che die hoͤchſtmoͤglichſte Maſſe von Produkten
zu entreißen , das iſt die große Frage ; und
dieſe Maſſe von Produkten der einzige , un-
vergaͤngliche , unentreißbare Schaz der Na-
zion .
Die Fabriken , der Tauſch der Beduͤrf-
niſſe des Luxus entſtehen aus der Summe
dieſer Maſſe von ſich ſelbſt , und wuͤrden em-
porwachſen , wenn die Staats-Verwaltung
ſich auch nur leidend verhaͤlt ; noch mehr ,
wenn ſie ihren Trieb beguͤnſtigt . Die erſte
Lebens-Beduͤrfniſſe werden ſtets Abneh-
mer finden , ihr Ueberfluß wird Fabrikanten
erzeugen , muß ſie erzeugen .
Der Ueberſchuß wird Tauſch-Waare
werden gegen fremde Beduͤrfniſſe des Luxus ,
und wenn man auch dieſe zum Wohlſtand der
Nazion einrechnet , ſo wird er an ſich die
Bilanz des Alternativ- und Paſſiv-Handels
ausgleichen . Aber welche Begriffe verbin-
det man denn gewoͤhnlich mit dieſen Bilan-
zen ? Jſt denn die Nazion , die eine groͤßere
Maſſe von Metall an ſich zieht als andre ,
darum gluͤklicher ? —
Oder verwechſelt man hier das Gluͤk ,
den Ehrgeiz des Herrſchers , den Durſt nach
Ausdehnung , mit dem Wohlſtand der Na-
zion ? Mehr Metall iſt ja ſelbſt kein ſinn-
licher Genuß . Und ſelbſt der ſinnliche Menſch ,
der alle auch die luxurioͤſen Beduͤrfniſſe be-
friedigen kann , iſt in dieſem Sinne gluͤklich ,
ohne Rukſicht auf die große oder kleine Maſſe
von Metall , den ihm dieſer Genuß verſchafft .
Jch nenne alſo diejenige Nazion wohl-
habend , deren Glieder die meiſte und ſicherſte
Mittel
Mittel beſizen , alle ihre , ſelbſt die luxurioͤſe
Beduͤrfniſſe zu befriedigen ; ich glaube ſie auf
den hoͤchſten Grad der Macht und Wohl-
ſtands , wenn die groͤßte moͤglichſte Zahl von
Menſchen auf ihrer Erd-Flaͤche ſich in be-
haglichem Zuſtande befindet , alſo alle Be-
quemlichkeiten des Lebens beſizt , ohne daß
Zufall ſie ihr rauben kann ; Und dieß vermag
der Akerbau einzig . Freilich muß ſie dann
auch Fabriken haben und Handlung treiben ,
aber dieſe muß erſt der Akerbau hervor-
bringen .
Die Staats-Verwaltung koͤnnte dabei
einen einfachen und doch ſo ſichern Gang ge-
hen , und warum geht ſie ihn nicht ?
Welcher Staat kennt wohl alle ſeine Be-
duͤrfniſſe genau ? Welcher die Summe ſei-
O
ner nicht blos wuͤrklichen , ſondern auch moͤg-
lichen eignen Produkte ?
Erſt nach dieſer vollſtaͤndigen Kennt-
nis ergiebt ſich die Eigenſchaft , und die Sum-
me der auswaͤrtigen Beduͤrfniſſe . Wenn
denn die Staats-Verwaltung die Produkzi-
on beguͤnſtigt , ſo iſt ihrs leicht die Fabrika-
zion der innern Produkte zu beguͤnſtigen ,
ohne dem Kommerz Feſſeln anzulegen . Und
ſo weit wird ſtets Akerbau und Fabrikazion
im Verhaͤltnis bleiben . Ein Land wird ſtets
neben den Land-Bauern auch die Fabrikanten
der eignen Produkte ernaͤhren . Die Be-
guͤnſtigung der Fabrikazion auswaͤrtiger
Produkte darf dann nur nach dem Ueber-
ſchuß der Produkzion der erſten Lebens-Be-
duͤrfniſſe abgemeſſen ſeyn — und wird uͤber
kurz oder lang der Nazion ſchaͤdlich , wenn ſie
nicht nach dieſer Baſis abgewogen iſt .
Volks-Menge iſt kein abſoluter Reich-
thum . Nur wohlhabende Volks-Menge iſt
es . Aber den Tarif der Populazion muß
man nicht aus der Lage der Dinge greiffen
wie ſie iſt ; ſondern aus dem hoͤchſten Grad
der Kultur , deſſen das Land faͤhig iſt . Und
erſt dann wenn dieſer erreicht iſt , erſt dann
iſt es Zeit der Populazion Feſſeln anzulegen .
Fruͤher iſt es Verrath an der Menſch-
heit .
22.
Man liebt nur Einmahl .
E s giebt eine gewiſſe Klaſſe der feinen So-
zietaͤt , wo man dieſen Gemein-Plaz haͤufig
hoͤrt ; vorzuͤglich freilich in dem Munde
ſchwaͤrmeriſcher oder empfindelnder Juͤng-
linge und Maͤdchen , koketter Weiber oder
affektirter Pruͤden .
Aber auch denkende , empfindende We-
ſen glauben an dieſe Jdee und fuͤr ſie hat
ſie traurige Folgen . Sie aͤzt an ihrer Em-
pfaͤnglichkeit fuͤr reinen Genuß der Liebe ,
beſchattet den zweiten Geliebten , erhoͤht jede
Unvollkommenheit deſſelben , gebiert Trauer
uͤber die eingebildete Unerſezlichkeit des er-
ſten Verluſts , und truͤbt den unvermiſchten
Genuß der Seeligkeiten einer zweiten zaͤrt-
lichen Verbindung .
Sie verdient alſo Pruͤfung
Jn der ſchoͤnen Morgendaͤmmerung der
Empfindungen , wenn dieſe allmaͤhlig ſich aus
ihrer Knoſpe entfalten , tragen natuͤrlich ih-
re erſte Bluͤthen Aurorens gluͤhende Farben ,
faſſen ſie den erſten Gegenſtand , der ſie
heftet mit einer Wuth , mit einer Leiden-
ſchaft an , die die hoͤchſten Freuden des Da-
ſeyns ſchafft .
Dieſe namenloſe Sehnſucht , dieſes un-
ermeßliche Beduͤrfnis , dieſer allmaͤchtige
Drang zur Liebe , ſchließt bei der erſten Lieb-
ſchaft gewoͤhnlich alle Pruͤfung aus , faßt
alle uns umgebende Gegenſtaͤnde mit Strah-
len ein , heftet uns alſo an den erſten , den
unſre brennende Jmaginazion dem geliebten
Jdeale nur etwas in die Naͤhe bringt . Ge-
woͤhnlich iſt eben deswegen die erſte Liebe
ungluͤklich , und gerade dieß macht ſie unſe-
rer Empfindung noch werther .
Daher der traurende und ſehnende
Ruͤkblik auf unſern erſten Seelen-Bund ,
auf jenen augenbliklichen Wonne-Rauſch ,
der jene Jdee hervorgebracht und beglau-
bigt hat . Alter und Krankheit koͤnnen un-
ſere moraliſche Empfindungen abſtumpfen ,
aber Entfaltung , Thaͤtigkeit derſelben , un-
moͤglich . — Uebun gſtaͤhlt , vervollkommt und
bildet alle moraliſche Kraft .
Liebe iſt eine reiche , unverſiegbare Quelle !
Wahrheit der Erfahrung kann allein ſie aus-
ſchoͤpfen .
Erſt in dem Fortſchritte des Daſeyns
lernen wir ihre mannichfaltige Schaͤze ken-
nen , ſo wie dieſes uns die mannichfaltige Sze-
nen der Freuden , der Kuͤmmerniſſe , der Ab-
weſenheit , der Sehnſucht , der Thraͤnen ,
des Schmollens , der Eiferſucht des Miß-
verſtands , der Verſoͤhnung herbei waͤlzt ,
nachdem ſich die Empfindungen der Liebe
mit immer neuem Genuſſe ſchattiren .
Wer nie ſeine Geliebte in den Armen
eines andern glaubte , und ſie treu fand , nie
von ihr getrennt und mit ihr wieder verei-
nigt wurde , nie mit ihr ſchmollte und be-
reuend oder verzeihend wieder an ihrem
Halſe hing — wer nicht die unermeßliche
Ton-Leiter aller gluͤklichen und ſchmerzhaften
Empfindungen dieſer Leidenſchaft durchwaͤlz-
te — hat nicht alle Freuden des Lebens ge-
noſſen . Ein einziger Blik , ein ſanfter Druk
der Hand , irgend eine kleine armſeelige Auf-
merkſamkeit in dieſer oder jener Situazion
des Lebens kann neue nie empfundne Freu-
den ſchaffen .
Und zu all dem Meere von Genuß ſoll-
te eine einzige , ſollte gerade die erſte Lieb-
ſchaft uns Stoff darbieten ? Haushaltung
iſt auch in der Liebe der einzige Weg zum
Vollgenuß , und Haushalten lehrt uns nur
Zeit und Erfahrung .
Bei reiferen Seelen-Kraͤften iſt auch
unſre Wahl ſtrenger und richtiger , wir ſind
durch Erfahrung vorſichtiger , ſchwerer in dem
Fall , getaͤuſcht zu werden . Jn einer zweiten
Verbindung vermeiden wir das , was den Ge-
nuß der erſten ſtoͤhrte . Die Liebe iſt eine
Kunſt , die ſich erſt allmaͤhlig lernt , und Ovid
haͤtte den Dank aller empfindenden Weſen
verdient , wenn er ſie und nicht einzig den
ſinnlichen Genuß zergliedert , und in ein Sy-
ſtem gebracht haͤtte . Es iſt irgend einem
großen Genie vorbehalten , ſie aus den un-
ſterblichen Materialien der Sappho , des Ti-
bull , Petrarch , des Prior , Goͤthe , Hoͤlty , Wie-
land , Salis , des aͤltern und juͤngern Kleiſt
u. a. zuſammenzuſezen .
Aber die Kunſt der Liebe fordert Kul-
tur des Herzens und Geiſtes . Sie
iſt es welche die Freuden der Liebe ins Un-
endliche vervielfaͤltigt . Wuͤßten doch unſre
Weiber , welche Wucher-Zinße ſie in der Lie-
be traͤgt !
Gerechtigkeit fordert , dem Weibe mehr
Vollkommenheit in dieſer Kunſt zuzugeſte-
hen ; wozu ihr zarter reizbarer Nerven-Bau
ihre gluͤhendere Phantaſie , ihre eigenthuͤmliche
Sanftheit und Abgezogenheit von oͤffentli-
chen Geſchaͤfften , ſie empfaͤnglicher macht .
Auch iſt kein edleres Weſen in der Natur ,
als ein zaͤrtliches Weib , das zu lieben ver-
ſteht . — Auch kennt die Welt nur Eine
Sappho , nur Ein Nantchen . Oft hoͤrt man
hingegen die Weiber klagen , daß der Maͤn-
ner ſo wenige die Kunſt zu lieben verſtehen ,
und ſie moͤgen allerdings Recht haben .
Ach ! die oͤffentliche Biographie des
Menſchen iſt ſo kahl und unintereſſant , und
laͤgen die geheime Archive der Empfindungen
vor uns aufgeſchlagen , welches Jntereſſe
wuͤrden ſie fuͤr die Menſchheit haben , mit
welchen Schaͤzen uns bereichern — — — !
Moͤgen doch alle ſchoͤne Damen daruͤber
laͤcheln — nur ein Weiſer verſteht die Kunſt
zu lieben , und gerade er macht bei ihnen am
wenigſten Gluͤk . Geken tragen die Bluͤthen
ihrer Empfindungen davon , und ihre wel-
kende Blaͤtter befriedigen den Geiz des wei-
ſen Zechers freilich nicht mehr . — Daher all '
die zahlloſe ungenoßne um uns her bluͤhende
und welkende Roſen des Daſeyns , die Nie-
mand pfluͤkt . —
23.
Ueber das Degen-Tragen .
W oher noch immer der ſinnloſe Gebrauch
der hoͤhern Staͤnde , an Hoͤfen und bei allen
feierlichen Gelegenheiten Degen zu tra-
gen ? Außer ihnen iſt ſie freilich jezt nicht
mehr Sitte . Aber bei jenen Gelegenheiten
iſt ſie gerade am allerſinnloſeſten .
Vorzeiten da es eine Ehren-Stufe war ,
waffenfaͤhig gemacht zu werden , bezeich-
nete ſie den Vorzug der hoͤhern Staͤnde vor
den niedern , dem Handwerks-Mann , dem
Aker-Bauer , dem Tagloͤhner . Jene Sitte
exiſtirt lange nicht mehr , und der Gebrauch ,
dem ſie ihr Daſeyn verdankt , beſteht noch .
Die Beſtimmung der Waffen in einer
civiliſirten Geſellſchaft kann nur Vertheidi-
gung ſeyn : aber dort ſollen die Geſeze den
Fall unmoͤglich machen . Das Geſez ſoll je-
den gegen Angriff ſchuͤzen , und verbiethet
Selbſt-Rache . Das Degen-Tragen iſt alſo
ein offenbarer Hohn der Geſeze . Jſt es
uͤberdieß nicht laͤcherlich und luſtig , eine un-
behuͤlfliche , lange Maſchine mit ſich zu ſchlep-
pen , die uns allenthalben genirt , uns ein
gezwungnes Anſehen giebt , und gewoͤhnlich
in die Scheide geroſtet iſt ?
Doch ſie ſoll ein Zeichen der Ach-
tung gegen den ſeyn , vor den man damit
tritt , kann man ſich aber wohl ein ſinnlo-
ſeres denken ? Nur zu Hoͤheren bin ich ſchul-
dig im Degen zu gehen ; fuͤrchte ich daß ſie
mich angreiffen ? oder will ich ſie angreiffen ?
Vorzeiten erſchienen die Hoͤflinge an den
Hoͤfen bewaffnet , weil nur Waffenfaͤhige ſich
dem Fuͤrſten nahen durften ; weil der Fuͤrſt
mit Bewaffneten zu ſeiner Vertheidigung
umgeben ſeyn mußte . Eine gaͤnzliche Um-
waͤlzung der Sitten , der ſtehende Soldat ,
haben jene Nothwendigkeit vertilgt und der
Gebrauch iſt geblieben . Jn den Burgen und
Schloͤſſern iſt es ſogar Verbrechen , nur den
Degen zu ziehen , iſt es ein eignes Verbre-
chen der Stoͤhrung des Burg-Friedens ;
und doch zwingt mich die Sitte dort nicht
ohne den Degen zu erſcheinen ! Welchen
Unſinn kann nicht Gewohnheit heiligen !
24.
Hof-Narren .
M ag es immer paradox ſcheinen , ich halte
es doch fuͤr wahr , was einſt ſchon der gelehr-
te Herr Johann Balthaſar Schuppius in
ſeinen lehrreichen Schriften behauptet hat —
die Abſchaffung der Hof-Narren iſt ein Un-
gluͤk fuͤr die Menſchheit .
Auch Regenten ſind Menſchen , und daß
man ihnen das nicht zugeſtehen will , hat
vielleicht mehr Unheil geſtiftet , als ihre Ver-
goͤtterung . Ein großer Theil derer , die ſie
umgeben , naht ſich ihnen nur um ſie zu be-
truͤgen oder zu pluͤndern : und der beſte Fuͤrſt
macht mehr Unzufriedne als Gluͤkliche . Jſt
da wohl unerſchuͤtterlicher Gleichmuth der
Seele moͤglich ? Jſt da Laune und Unmuth
nicht verzeihlich ? Und doch kann ſelbſt die
augenblikliche uͤble Laune eines Regenten
tauſend Ungluͤkliche machen ! Warlich ihm
iſt ein Weſen nothwendig , das durch uner-
ſchuͤtterliche Jovialitaͤt den truͤben Schleier
ſtets hinwegziehe , den Eigenſinn , mit dem die
Seele einen widrigen Gegenſtand pakt , bre-
che , ihrem Blik eine andre Richtung gebe
und die Falten der Stirne ebne . Alles das
kann oft Weisheit und Zaͤrtlichkeit und Theil-
nehmung nicht und ein einziger poſſierlicher
Einfall , ein einziger Goffo kann es .
Noch weit wichtiger iſt aber der Hof-
Narr durch das Privilegium , die Wahr-
heit zu ſagen . Es giebt Fuͤrſten , die gerne
Wahrheit hoͤren moͤchten , und denen Nie-
mand
mand ſie ſagt ; Es giebt andre , die Wahrheit
durchaus nicht hoͤren wollen , und denen alſo
Niemand ſie zu ſagen wagt ; Es giebt noch
andre , die laut ihren Wunſch nach Wahrheit
verkuͤnden , und doch den freien Mann heim-
lich haſſen und entfernen , der ſie zu ſagen
wagt .
Fuͤr ſie alle waͤre ein Hof-Narr ſehr
wohlthaͤtig . Jhm iſt alles erlaubt : Bei ihm
ſezt man Abweſenheit der Geiſtes-Kraͤfte
voraus und alles was er ſagt , beleidigt nicht .
Sein Stachel ſcheint nicht ſtechend , und trift
doch deſto gewiſſer , da er in ein poſſirliches
und ſcherzhaftes Gewand gehuͤllt iſt ; deſto
tiefer , weil man bei ihm , wenn er nur von der
fuͤrſtlichen Tafel gefuͤttert wird , gaͤnzliche
Unbefangenheit vorausſezt ; weil man ihn
als ein durch ſeine Narrheit von der ganzen
Welt abgeſchiednes Weſen betrachtet .
P
Die Macht der Wahrheit iſt ſo groß ,
ihre Flamme ſo verzehrend , daß ſie ſelbſt in
dem Munde eines Narren greift und un-
widerſtehlich hinreißt .
Jſt ihr Feuerbrand nur in eine Seele
geworfen , ſo iſt er auch unloͤſchbar . Des-
wegen iſt das Daſeyn des Hof-Narren
ſo wichtig .
Wenn die Hofſchranze kriecht , wenn
ſelbſt der redliche Rath ſchweigt , weil ihn
Abhaͤngigkeit feſſelt , ſo darf der Hof-Narr
ſprechen . Er kann durch das Kolorit des
Laͤcherlichen manche despotiſche oder thoͤrigte
hoͤchſte Verordnung zuruͤkhalten , oder ver-
nichten ; weil der Menſch , ſey er auch
Fuͤrſt , mehr fuͤrchtet , laͤcherlich zu werden ,
als grauſam und ungerecht zu ſcheinen .
Es giebt Faͤlle wo Unmuth , Zorn , Ra-
che , Leidenſchaft Verordnungen diktirt haben ,
wo Niemand es mehr wagt und wagen darf ,
dem Regenten Vorſtellungen zu machen , als
der Hof-Narr .
O wie ſchoͤn ſagt der arme Jaques , in
Shakespears : As you like it , ( Wie es
euch gefaͤllt ) :
„ O moͤcht ich doch ein Narr ſeyn ! Mein
„hoͤchſter Ehrgeiz geht nach einem Harlekins-
„Roke . Es iſt die einzige Kleidung die mir
„anſtehen wird ; vorausbedungen , daß Sie
„ſich ein fuͤr allemal in den Kopf ſezen ſollen ,
„daß ich nicht klug bin . Daneben muß ich
„Freiheit haben , ſo viel Freiheit , wi der
„Wind , anzublaſen , wen ich will ; denn Nar-
„ren haben das ; und wer durch meine thoͤ-
„rigten Einfaͤlle am meiſten angeſtochen wird ,
„der muß am lauteſten lachen . Und warum
„das , Sir ? Die Urſach ' iſt ſo eben , wie ein
„Kirchweg . Der , den ein Narr getroffen hat ,
„wuͤrde nicht klug ſeyn , es mag ihn auch noch
„ſo ſehr ſchmerzen , wenn er ſich nicht ſtellte ,
„als ob er den Stich nicht empfinde . Thut
„er das nicht , ſo wird die Thorheit des
„weiſen Mannes ſelbſt durch die ungefaͤhr
„hinſchießenden Blike des Narren zergliedert .
„Kurz kleiden Sie mich nur in einen Harle-
„kins-Rok , erlauben Sie mir dann , zu re-
„den was ich denke ; und ich will den ſiechen
„Koͤrper der angeſtekten Welt durch und durch
„ſaͤubern , wenn ſie meine Arzneien nur ge-
„duldig einnehmen will . “
Freilich darf dieſer Narr kein Poſſen-
Reißer , kein Wahnſinniger oder wohl gar ein
Pierrot ſeyn , deſſen ganze Spaßmacherei
darin beſteht , alles zu duzen , ein ganzes
Schwein zu verzehren , und ſich von den Hof-
Schranzen Maul-Schellen geben zu laſſen .
Der Hof-Narr muß Kopf , Wiz und vis
comica beſizen , und die Weisheit muß ihm ,
wie Hamlet — den Narren machen helfen .
Ein ſolcher Narr iſt aber allerdings ein ſehr
wohlthaͤtiges Weſen , und der Hof-Narr ,
der jenem Kaiſer auf die Frage : Woran er
gerade jezt denke ? Die Antwort gab : „ Jch
„denke , welcher erbaͤrmliche Menſch du waͤrſt ,
„wenn es uns allen zugleich einfiel , dich
„nicht mehr Kaiſer zu nennen ! “ — hat ihm
vielleicht mehr Kluges geſagt , als alle ſeine
Raͤthe .
Das Theater hat die Hof-Narren er-
ſezen ſollen , aber du lieber Himmel ! wo darf
ſich denn die Wahrheit ſelbſt noch auf der
Buͤhne hoͤren laſſen ?
Wir haben es mit den Hof-Narren , wie
mit dem Harlekin gemacht . Wir ſind von
Extrem zu Extrem geſprungen . Haͤtte man
doch den plumpen Poſſen-Reißer verbannt ,
und dem wizigen und manierlichen Hof-Nar-
ren ſeine beſchuͤzende Jake gelaſſen . Narren
giebt es noch aller Orten , alſo auch an den
Hoͤfen ; aber ohne Privilegium ; und das
Privilegium machte doch ihren ganzen Werth
aus !
25.
Ueber Trauer .
D ie Trauer iſt dem Weiſen heilig , ſie
knuͤpft mit unſichtbaren Faͤden die Bande
der Freundſchaft und Liebe , und iſt das Oel
der Flamme der Empfindung und Moralitaͤt .
Wenn der Menſch alle aͤußerliche Kennzei-
chen des Schmerzes uͤber den irdiſchen Ver-
luſt eines ihm lieben Weſens vertilgt ; ſo wird
er auch allmaͤhlig uͤber dieſen Verluſt gleich-
guͤltiger werden , ſo werden die zarte , heilige
Bande der Freundſchaft und Liebe erſchlaffen .
Der Schmerz uͤber Verſtorbene , das
Andenken an ſie iſt Tugend , und deſſen Er-
haltung dem Weiſen wichtig . Aber muß er
denn durch dunkle Darſtellungen genaͤhrt
werden ? Wozu alſo die ſchwarze Farbe der
Trauer ? Waͤre die gruͤne Farbe , die Farbe
der Hoffnung , die Bezeichnung der Hoff-
nung des Wiederſehens , nicht philoſophiſch
richtiger , nicht wohlthaͤtiger , ſchmeicheln-
der und lindernder fuͤr den Schmerz ? Und
indem ſie dieſen naͤhrte , ſo weit er der
Moralitaͤt wichtig iſt , wuͤrde ſie nicht zugleich
die Jdee der Unſterblichkeit mehr verſinnli-
chen ? und die Seele der Ueberlebenden in jene
freundliche , balſamiſche , aber aufwaͤrts blik-
ende Schwermuth wiegen , die Streben wekt ,
ſich durch Tugenden mit dem verlohrnen We-
ſen wieder zu vereinen , und die Seele erwei-
tert , indeß das Duͤſtre , das Schwarze ſie
einengt und niederdruͤkt ? Hat die empor-
hebende Sehnſucht nicht mehr Gold auf dem
Probier-Stein der Moralitaͤt als wimmern-
des Klage-Geſchrei und Verzweiflung ?
Statt Krepp-Flor und Boy wuͤrde ich alſo
den Damen und Herren eine gruͤne Leib-Binde
mit Sternen beſaͤet empfehlen . Die Far-
be wuͤrde die Hoffnung des Wiederſehens und
die Sterne die bidliche Darſtellung des Wohn-
plazes bezeichnen , wo wir die uns Entrißne
glauben und wiederzufinden ſehnen .
Oder ſoll denn aus den ſinnlichen Dar-
ſtellungen unſrer Empfindungen nie dieſer
Materialismus , dieſes einzige und ausſchlie-
ßende Hafften am Sichtbaren und Ge-
genwaͤrtigen vertilgt werden , das
alle lebendige und thaͤtige Ueberzeugung der
Unſterblichkeit , alles Strebens nach Vered-
lung untergraͤbt ?
P 5
Dem Weiſen iſt auch die Anhaͤnglichkeit
an die Huͤlle des unſterblichen Weſens heilig ,
denn ſie iſt eine hoͤhere Stufe der Empfin-
dung , eine Zartheit und Verfeinerung des
Gefuͤhls , alſo Tugend . Wenn aber der
Schmerz mit der Jdee ausgeſpielt hat , daß
der Entflohne noch um ihn iſt , weil ſein
ſinnliches Bild noch exiſtirt — und wie enge
begraͤnzt nicht Verweſung dieſen Spiel-
Raum ! — iſt es dann noch vernuͤnftig , dieſe ge-
liebte Huͤlle allmaͤhlig von Faͤulnis und Ge-
wuͤrm zerfleiſchen und zu dem ekelhafteſten
und grauenvollſten Anblik umſchaffen zu las-
ſen ? Jſt es dann nicht vernuͤnftiger dieſe Huͤl-
le , gleich den Alten , durch die Flammen zu
verzehren und dadurch eine reinliche Maſſe
der Reſte zu ſammeln ; die uns ſo theuer ſind ?
— Welche ſuͤße Wonne mußte es der Schwaͤr-
merei des Schmerzes bei den Griechen und
Roͤmern gewaͤhren , den Aſchen-Krug , in
ſeiner edlen und ſchoͤnen Form , auf ihre Tiſche ,
vor ihr Lager zu ſtellen , der die geliebte Huͤl-
le alles deſſen umſchloß , was ihm einſt theuer
war ?
Kann der Menſch ohne Laͤcheln , ohne
Schaam ſich von dem kindiſchen Gefuͤhle Rech-
enſchaft geben , mit dem er die Dauer ſei-
nes irdiſchen Daſeyns auch in der leblo-
ſen Leiche zu verlaͤngern ſtrebt , den Zeit-
Raum dieſer Dauer aͤngſtlich mißt und berech-
net und Gluͤk in der Jdee findet , nach Jah-
ren , Jahrhunderten — immer nur Momente
in der Urne der Ewigkeit — dieſe Gebeine
noch unverſehrt zu wiſſen ?
Und iſt uͤberhaupt Sinn darin , der
Menſchheit den Uebergang aus Einer Exiſtenz
in die andre vorſezlich und gewaltſam zu er-
ſchweren ? den Tod durch alles , was nur die
Einbildungs-Kraft Duͤſtres und Betruͤbendes
ſchaffen kann , mit Schreken zu umgeben , oh-
ne irgend einen andern Vortheil oder Ge-
winn als Erhoͤhung der Leiden des ſterben-
den Weſens ? auf deſſen Schikſaal es durch-
aus keinen Einfluß hat und haben kann , ob
es mit den Zuruͤſtungen der Angſt oder mit
Laͤcheln hinuͤberſchlummerte .
Wie ſehr wuͤrden wir alſo nicht den lez-
ten phyſiſchen Kampf des Sterbenden erleich-
tern , wenn wir alles Schauerliche von der
Jdee des Todes , von der Trauer und den
Leichenbegaͤngniſſen entfernten , wenn wir
allmaͤhlig die Menſchheit gewoͤhnten , freund-
liche und lachende Jdeen zu verbinden mit
einem Uebergang , der doch unvermeidlich iſt ,
der nach richtigen philoſophiſchen Grundſaͤ-
zen nichts Schrekliches haben kann ; wenn
wir alſo der Phantaſie des Sterbenden einen
roſenfarbnen Spiel-Raum oͤffneten , ſtatt ſie
auf die Folter zu ſpannen .
Alle unſre Verſinnligungen des Todes ,
alle unſre Trauer- und Begraͤbnis-Anſtalten
ſind alſo zwekwidrig . Man beſtreue die Huͤl-
le des entflohnen Geiſtes mit Blumen , man
vertraue ſie , wenn ſie ja langſam verweſen muß
dem muͤtterlichen Schooße der Erde , man
pflanze Roſen auf den Huͤgel , der ſie bedekt ,
man begleite ſie mit dem ſtillen Geſange der
Wehmuth und Sehnſucht , aber man wand-
le alles in freundliche Bilder . Der Kirch-
Hof werde , wie bei den Voͤlkern des Orients ,
wie bei der harmloſen Sekte der Herrnhuter ,
ein Garten , ein oͤffentlicher Ort des Ver-
gnuͤgens , der Tempel des wolluͤſtigen
Schmerzens , den nur ſeine Seelen kennen ;
der edlen Huldigung der Tugend ; Erinne-
rung , des Glaubens , des Hoffens , der Sehn-
ſucht , des Empor-Flammens tugendhafter
und erhabner Gefuͤhle ! —
Nach dieſem Sinne habe ich ſelbſt kuͤrz-
lich einen neuen Kirchhof angelegt und dieſen
Geiſt athmet folgende Jnſchrift , die er erhal-
ten ſoll :
Wandrer !
Weſen nicht ,
Raupen-Huͤlle nur , findeſt du hier
Des entflohnen , glaͤnzenden Schmetterlings !
Doch , der Weiſe ehrt ſelbſt der Unſterblich-
keit Schleier ,
Naſſen , aufwaͤrts gerichteten Bliks ! —
Moͤgen alle dieſe Jdeen romantiſch und
paradox ſcheinen ; Nur derjenige gilt mir als
Wohlthaͤter der Menſchheit , der ſie nicht fuͤr
geſund erklaͤrt , wenn der Puls fiebert , ſon-
dern ihre Krankheit angreift und zu zer-
ſtoͤren ſucht .