Die Moral des Feminismus.
Von Frieda Stéenhof (Harold Gote.)
Autorisierte Uebersetzung aus dem Schwedischen von
Henny Bock-Neumann.
Es gibt Menschen, die glauben, daß der Feminismus
ohne Moral sei, keine ethischen Forderungen kenne, keine
Sehnsucht nach Verbesserung und Veredelung der Mensch-
heit habe.
Solche niedrige Auffassung einer Strömung, die man
am richtigsten eine Rechtfertigungsbewegung nennen könnte, –
denn der Feminismus ist eigentlich ein Notschrei nach Wahr-
heit und Gerechtigkeit – setzt eine Art von geistiger Blind-
heit voraus. Mit Blinden kann man aber nicht über
Farben disputieren. Die meisten Menschen geben bereits
zu, daß der Feminismus eine reine, moralische Grundidee
hat, aber sie begreifen noch nicht, daß diese besser, nützlicher
oder praktischer sein könnte, als die Jdeen, an die sie seit
ihrer Kindheit gewöhnt sind. Sie erkennen nicht, daß die
übliche herrschende Moral sie verhindert, die geistigen Ent-
wickelungshöhen der Menschheit zu erreichen.
Der Feminismus versucht sich mit der äußersten Grenze
der jetzigen Kultur zu vereinigen, er empört sich gegen
das Ueberlieferte, Zurückgebliebene, Entwachsene, das, von
den höchststehenden Menschen verworfen, doch noch die große
Masse beherrscht. Er unterscheidet sich von der herrschenden
Moral vor Allem dadurch, daß er den Menschen nicht als
ein von der Geburt durch Sünde verderbtes Wesen, als ein
Schadentier betrachtet, das in jeder Weise geknechtet, ge-
bunden, gequält und verunstaltet werden darf. Der
Feminismus ist nicht pessimistisch, er glaubt nicht an die
ewige Herrschaft der Not, sondern im Gegenteil an eine
lichte Zukunft; er glaubt, daß die Menschen in dem Grade
ihr Schicksal verbessern werden, wie ihr eigener Wille dazu
wächst, wenn auch ihre Vernunft noch nicht so groß ist,
daß sie sofort die richtigen Mittel und Wege finden. Die
Meisten unter uns stellen sich vor, daß die Menschheit noch
eine lange Zukunft zur Besserung vor sich habe. Es ist
auch schwer, etwas anderes zu glauben. Vielleicht ge-
schieht es trotzdem eines Tages, daß wir von der Erde
verschwinden, und daß dies das Ende unserer Arbeit und
Mühe ist. Wir können uns vorstellen, daß die Erde ruhig
ihren Lauf fortsetzt, ohne daß unser Geschlecht sie mit seiner
Gegenwart beehrt. Wir können uns Städte in Trümmern
unter Sand verschüttet, unbebaute Felder, Wälder und
Tiefen in wilder Schönheit vorstellen, Landschaften, die noch
nie eines Menschen Fuß betreten, wo nur Tiere, ein freies
Leben führend, umherstreifen.
Das Menschengeschlecht kann durch Seuchen oder
Natur-Revolutionen gänzlich vertilgt werden – das ist
wenigstens keine völlige Unmöglichkeit.
Es ist nicht zu leugnen, daß man eine gewisse Ruhe
bei dem Gedanken an solch ein Verschwinden empfindet. –
Das Weltall würde uns nicht vermissen!
Es hat aber vorläufig nicht den Anschein, als ob
die Menschheit sobald aufhören sollte. Die Hoffnung, daß
glücklichere Daseinsstufen kommen könnten, gibt auch Be-
friedigung. Und könnte nicht die Menschheit mit den ihr
innewohnenden Möglichkeiten sich einst ein herrliches Schicksal
erschaffen, statt wie eine Katze im Brunnen zu ertrinken?
Wie manche Wegstrecken hat sie schon zurückgelegt! Aus
ihrer Neugier hat sie die Wissenschaften erweckt, aus
ihrem Feingefühl die schönen Künste erschaffen, aus ihrer
Sehnsucht nach regelmäßigen Gewohnheiten die Moral gebildet. Jhr Schaffen steht noch in den Anfängen. Jn
Hinsicht auf Kultur ist sie noch sehr jung. Wie wird das
Werk werden? Niemand weiß es. Die Völker arbeiten
unermüdlich an einer Zivilisation, von deren Ausdehnungs-
möglichkeiten sie keine Ahnung haben. Auch die scharf-
sinnigsten Geister entdecken oft im Alter, daß die Ent-
wickelung eine ganz andere Richtung genommen hat, als
in ihren Absichten lag; oft stößt sie alle Berechnungen um.
Aber als allgemeines Urteil ist festzuhalten, daß die Be-
wegung dem Einzelnen Gelegenheit geben will, sich seiner
Jndividualität nach reich und harmonisch zu entwickeln.
Der Feminismus betrachtet die Wünsche und Leidenschaften
der Natur nicht als zerstörende Kräfte, die vernichtet werden
müssen, sondern als schöpferische, die entwickelt werden
sollen, um der Allgemeinheit Nutzen zu bringen. Der
Feminismus weist auf keinen zweifelhaften Himmel, sondern
auf eine unkultivierte Erde hin, aus der ein Himmel zu
schaffen wäre. – Die sogenannte herrschende Moral tut,
als ob sie das Gewissen achte und umgibt ihre Heuchelei
mit viel äußerem Pomp; sie herrscht aber mit Brutalität
und Tyrannei; sie ist antihuman und antisozial, weil sie
Bitterkeit und Haß zwischen dem Volk und den höheren
Ständen schürt. Die Moral des Feminismus ist human
und sozial; sie will die Entwickelung und Vervollkommnung
des Einzelnen und erkennt seinen Selbstzweck an; sie will
eine bessere Welt als Bedingung für den Bestand einer
glücklichen Menschheit. Die bestehende Moral betet die
Kraft an; sie ist kriechend und höflich gegen die Mächtigen
und Großen, hart und unbarmherzig gegen die Machtlosen
und Schwachen; sie billigt Alles, was gelingt – zuweilen sogar
die größten Verbrechen; sie ehrt Wappenschilder, Zeremonien
und Banknoten, – das ist die Dreieinigkeit, die sie sowohl
in der Häuslichkeit wie in der Kirche anbetet. Die Moral
des Feminismus hat nur das Streben eines ehrlichen Ge-
wissens; sie fällt verschiedene Urteile bei den verschiedenen
Graden der Verantwortung. Daher verzeiht sie denen, die
aus Unkenntnis und Not fehlen, und ist barmherzig gegen
diejenigen, die sich bemühen, ein begangenes Unrecht gut
zu machen. Anstatt der Macht verherrlicht sie die Ge-
rechtigkeit, die Wahrheit und die Güte. Dadurch,
daß die herrschende Moral die Partei der der Starken gegen
die Schwachen vertritt, wird der Mann verleitet, das Weib
zu unterjochen; sie will den Zustand des Despotismus und
der Sklaverei zwischen ihnen erhalten. Zu diesem Zweck hat
sie versucht, dem Mann das Herz und der Frau den
Verstand zu rauben. Jeder Mensch ist ja physiologisch
gesprochen Kopf und Herz. Es liegt auf der Hand, daß
sie einen Ersatz für diese beiden Organe suchte. Jdeal
wäre es, wenn jeder Mensch sowohl Zartgefühl als auch
Jntelligenz besäße. Eine ganze volle Persönlichkeit!
Die herrschende Moral hat versucht, die ganze Fein-
fühligkeit der Frau und den ganzen Verstand dem Manne
zuzuweisen, und hat dadurch ihre geistigen Persönlichkeiten
einseitig stark entwickelt.
Dadurch entstand der bisherige Mangel an geistiger
Sympathie zwischen den Geschlechtern.
Oft ist die Frau mit einem nicht zartfühlenden Manne
unglücklich geworden, oft hat der Mann sich mit einer
Frau ohne Jntelligenz gelangweilt, und seine geistige Ge-
meinschaft wo anders gesucht. Der Feminismus will die
möglichst vollkommene Entwickelung jeder Persönlichkeit.
Er betrachtet den Mann ohne Herz und die Frau
ohne Verstand als unvollständige Typen, die für die
Zukunft unhaltbar sind; sie sollen durch immer reichere
innere Quellen ihr Denken und Fühlen gegenseitig be-
fruchten, und sich und ihre Fähigkeiten dadurch vervoll-
kommnen. Der Feminismus will auch nicht Seele und
Körper trennen; nach seiner Ansicht sind die Seelenäußerungen
Eigenschaften der Materie; was dahinter steht, läßt ihn
unberührt; deshalb legt er auch so großes Gewicht auf die
Güte der Materie: d.h. Gesundheitspflege. Für die
Moral des Feminismus sind Tugend und Gesundheit un-
trennbar; die Laster sind für ihn Krankheitserscheinungen
und Mißbildungen.
Die herrschende Moral ist auf bewußten Lügen er-
baut. Der Feminismus hat seine Moral auf das Fundament
der Aufrichtigkeit gebaut. Ehrlichkeit und Wahrheit
können allein die Grundsteine für den Neubau der Mensch-
heit bilden. Die Moral des Feminismus möchte die be-
schmutzte Phantasie der Menschheit reinigen, damit sie in
den gesunden Lebensäußerungen nichts Niedriges sehe, und
Wissensdurst und Forschungstrieb ihr nicht als Ungehorsam
gegen ein göttliches Gebot erscheine, und daß sie nicht
starren Glauben an Stelle der Kritik verlange.
Erst in unseren Tagen ist der Wunsch aufgetaucht zu
erforschen, ob die Frau sich selbst ernährt, oder ob sie ein
Schmarotzer ist.
Da hat man bestätigen müssen, daß die Frau zu allen
Zeiten nicht nur gearbeitet, sondern zuviel gearbeitet hat.
Die Frauen waren und sind noch billige Sklaven.
Ein Teil der Frauen, die oberen Zehntausend, leben zwar
von der Arbeit des Mannes, aber ihre Anzahl ist ver-
schwindend gegen die große Menge der arbeitenden Frauen,
obgleich erstere durch ihre hohe, soziale Stellung alle Augen
auf sich ziehen.
Die Mehrzahl der Frauen arbeitet wie Sklaven von
der Wiege bis zum Grabe. Denken wir nach, womit sie
sich im Allgemeinen beschäftigen. Sie sind Haushälterinnen
und Dienerinnen, Lehrerinnen, Geschäftsdamen, Schneider-
innen, Ladenfräulein, Erdarbeiterinnen ꝛc.
Dadurch haben die Frauen einen großen Anteil an
der nationalen Arbeit.
Man sollte meinen, die Sache läge klar genug auf der
Hand. Derjenige, der Arbeit leistet, ist kein Schmarotzer.
Die Frage wird aber dadurch kompliziert, daß die Frau
nicht nur Arbeit, sondern Menschen produziert. Sie ist
die Gebärerin und die Pflegerin der Menschheit. Diese
Extraarbeit hat ihre Stellung zerstört. Unter „extra“ ist
nicht „überflüssig“ zu verstehen; im Gegenteil. Es ist eine
der wichtigsten Leistungen, und doch wird die Frau dadurch
zu einem ökonomisch unselbständigen, auf Andere an-
gewiesenen Wesen gemacht.
Um des Kindes willen ist sie in eine Art von Bettel-
verhältnis zum Manne gedrängt worden, und er betrachtet
und behandelt sie als einen Schmarotzer an seiner Arbeit.
Diesen schicksalsschweren Jrrtum will der Feminismus
aufhellen.
Das kann nur geschehen, wenn die Frau zu einer un-
abhängigen, ökonomischen Einheit gemacht wird. Die ver-
heiratete Frau gehört ebenso zur Familie wie der Ehemann.
Aber während er, wie arm er auch sei, dadurch nichts von
seiner ökonomischen Selbständigkeit verliert, wird die Frau
durch die Familie zu einer Null, als ob sie garnicht existiere.
Das ist unrecht; sie wird sozial als ein Schmarotzer be-
handelt, während sie faktisch arbeitet.
So eigentümlich es klingen mag: die Frau wird in
unseren Gesetzen in vieler Hinsicht den Kindern, Verbrechern
und Jdioten gleichgestellt.
Alles auf Erden ist dem Wechsel und der Entwickelung
untertan – aber die Familien-Jnstitution steht seit den
ältesten Zeiten der Tradition unverrückbar fest.
Eine Aenderung kann nur eintreten, wenn die Frau
und das Kind von dem Bettelverhältnis zum Manne be-
freit werden. Die Frau kann nur dann eine unabhängige
ökonomische Einheit werden, wenn auch das Kind eine solche
wird. Der Feminismus erstrebt die Emanzipation des Kindes.
Die Gesetze suchen jetzt schon das Kind gegen un-
würdige Eltern zu schützen. Hiermit ist der Weg gebahnt,
das Kind der mißbräuchlichen Gewalt der Eltern zu entziehen.
Viele halten das für eine Unmöglichkeit; sie meinen,
das Kind sei tatsächlich ein Schmarotzer, und lebe durch die
Gnade und Barmherzigkeit Anderer.
Nein, – sagt der Feminismus, das Kind ist kein
Schmarotzer, es braucht nicht von Almosen zu leben; dieser
Jrrtum muß aufhören. Das Kind ist reich, es ist das
Arbeitskapital der Zukunft. Schon das Neugeborene stellt
einen Wert dar, seinen eigenen Arbeitswert, dafür muß
die Gemeinschaft ihm die Mittel zu einer soliden Erziehung
geben, die das Erwachsene zurückzahlen wird.
Ob das Neugeborene Familie hat, ob Vater oder
Mutter am Leben sind, kann seinen eigenen Wert weder
verkleinern noch vergrößern, und sollte vom ökonomischen
Standpunkt aus betrachtet völlig bedeutungslos sein. Von
Geburt an müßte es als frei und unantastbar gelten, auf
das Sorgsamste gehegt und gepflegt werden und nur den
Gesetzen unterworfen sein – kein Opfer des persönlichen
Gutdünkens.
Jn der Zeiten Lauf hat man den Beruf des Familien-
versorgers mit bestimmten Vorrechten belehnt.
Eigentlich sind es die Männer, die mit einseitiger Ein-
schätzung ihrer Arbeit zu Ungunsten der Frauenarbeit diese
Vorrechte forderten.
Diese können gerechterweise kaum noch verteidigt werden,
bleiben aber mit der Zähigkeit, die, wie es scheint, der Kern
aller Bevorrechtung ist, bestehen. Wir wollen hier einige
der wichtigsten nennen.
Die Männer machen allein die Gesetze. Die Frauen-
arbeit wird schlechter bezahlt als die der Männer, selbst
wenn sie faktisch gleichwertig ist. Allen gut bezahlten Aemtern
werden die Frauen fern gehalten.
Lange waren die Männer mit diesen sozialen Unter-
schieden zwischen den Geschlechtern vollkommen zufrieden,
aber neuerdings hat sich ein Umschwung vollzogen. Be-
sonders die jungen Männer der gebildeten Klassen haben
angefangen nachzudenken, inwiefern und ob die Freude über
diese Vorrechte wirklich so groß und wahr ist, wie bisher
angenommen wurde.
Sie sagen sich mit einem gewissen Stolz, daß die Frauen
noch schlechter bezahlt werden als sie, und daß sie weder
Reichstagsmitglieder noch Staatsminister werden können.
Jn der Regel werden das junge Männer aber auch nicht.
Die Frau gilt ihnen trotz ihrer eigenen untergeordneten
Stellung dadurch nicht mehr. Zwar haben sie die ererbten
politischen und sozialen Rechte des Mannes und des Familien-
versorgers – in spe –, aber sie können keine Familie
gründen. Dieses kleine „Aber“ hat ihnen die Augen für
gewisse Dinge geöffnet. Die Familie und die Häuslichkeit
sind ihnen zu teuer geworden. Eine Umschätzung der Lebens-
werte war die natürliche Folge ihres Nachdenkens, und wie
gewöhnlich folgte der ökonomischen Umwertung auch die
moralische. Solange alle jungen Männer Anwartschaft auf
Familienvaterwürde hatten, erschien ihnen die Familie als
der einzig wahre Ausdruck für soziale Moral und sie um-
gaben, sobald sie Einfluß hatten, diese Jnstitution mit so
vielen schützenden Mauern wie möglich. Sie haben kein
Jnteresse mehr daran, daß diese Mauern bestehen, seitdem
das Heim: Kinder, Haushalt, Wohnung und Dienstboten
etwas Unerreichbares für die mittellose Jugend geworden ist.
Das Heim ist eine fast uneinnehmbare Festung geworden,
die in der Mittelklasse nur von finanziell sicherstehenden
Männern erobert werden kann. Bis jetzt hatte man in der
Moral-Literatur viel davon gesprochen, wie das Heim be-
schaffen sein müsse, um eine gute Schule zu werden, und
wie die Gründer desselben selbst geartet sein, und es ordnen
müßten.
Man hat sich aber wohl gehütet, der Frage näher zu
treten, wie die Menschen, die nicht heiraten können oder
wollen – aber doch Liebe verlangen, ihr Leben ordnen
sollten. Absichtlich wurde die Existenz solcher Menschen ein-
fach ignoriert, man wagte nicht, ihr Dasein zu beachten.
Aber nichts ist schlimmer als Furcht.
Der Feminismus will vor nichts zurückschrecken, will
nicht, daß um falscher Scham willen die wahren Naturen
durch die Heuchler leiden sollen; er sah ein, daß scheinheiliges
Verschweigen faktischer Zustände der Ruin vieler Frauen
geworden ist.
Gerade durch diese Scheinheiligkeit führten verschiedene
erotische Zerstreuungen der Männer das Verderben und die
Vernichtung vieler Frauen herbei. Je ärmer und liebevoller
das Herz einer Frau, desto größer ihre Gefahr, besonders
wenn sie arm ist und allein steht. Endlich kam die Gefahr
des Alleinstehens und Verschweigens an den Tag.
Nun bildeten sich Vereine; es wurde diskutiert; da fand
man bald, daß die alleinstehende Frau nicht nur auf dem
Gebiet der Arbeit, sondern auch auf dem der Liebe zu schwach
für den Daseinskampf war. Man bestand energisch darauf,
ihr würdigere Daseinsbestimmungen zu schaffen.
Die Frauen in Frankreich, Deutschland und England
gründeten Organisationen zur Versicherung in größerem
Maßstabe.
Man begriff, daß die Rettung der ärmeren Frau im
Zusammenwirken liegt; möglichst große Fachausbildung sollte
ihr werden, und für diejenigen, die nicht bewußt auf Mutter-
schaft verzichten wollten, sollten Mutterschaftsversicherungen
eingeführt werden, in der Art, daß beim Eintritt der Mutter-
schaft eine Entschädigung je nach der Größe der gezahlten
Einlagen geleistet würde. Dazu sollte eine verbesserte ge-
sundheitliche Erziehung kommen, damit nicht, wie jetzt so oft,
Mangel an Kraft und Ausdauer sich geltend mache.
Das Nachdenken der jungen Männer über die Schwierig-
keiten der Gründung eines eigenen Heims veranlaßte sie
auch, wie oben gesagt, über verschiedene moralische, mit
Heirat zusammenhängende Rätsel zu grübeln. Sie fingen
an, die Ehe kritisch zu betrachten.
Sie begannen diese sogenannte heilige Jnstitution ihres
idealisierenden Schimmers zu entkleiden.
Jch für meinen Teil glaube, daß das Studium der Jdee
der Ehe das sicherste Mittel ist, Feministen zu schaffen.
Wer davon fern bleiben will, soll sich deshalb davor hüten.
Unsere Nachkommen werden einst ganz verständnislos
fragen: Wie konnte man zu damaliger Zeit die Jdee der
Ehe billigen? Wie konnte man unschuldige Wesen oft
lebenslang an Verbrecher aller Art – die zuweilen vielleicht
selber schändlichem Zwange ihr Dasein verdanken – ketten?
Hatte man keine Nerven, kein Zartgefühl? Verstand man
nicht, daß die sexuelle Freiheit die erste Pflicht für die Würde
des Charakters ist?
Sie werden nicht begreifen, wie die Ehe vom Gesichts-
punkt des Menschenrechts verteidigt werden konnte.
Der Feminismus betrachtet das jetzige gesetzliche Band
zwischen Mann und Weib grundsätzlich als Ungerechtigkeit,
gesetzliche Sklaverei. Jn Wirklichkeit ist es freilich oft anders,
weil viele Persönlichkeiten einen höheren Standpunkt haben,
als die Gesetze.
Aber wie ist es wohl da, wo die Persönlichkeiten tiefer
oder auf demselben Standpunkt wie die Gesetze stehen? Da
wird der Schwächere vom Gutdünken des Stärkeren hilflos
abhängig sein. Die moderne Weltliteratur zeigt deutlich,
daß die jungen, gebildeten Männer vorurteilsfrei über Ehe
und Liebe nachzudenken gelernt haben. Eine Art von mo-
ralischer Renaissance ist darin erstanden.
Wer Romane liest, weiß, daß die jüngeren Schriftsteller
die Liebe anders schildern als ihre Vorgänger.
Don Juan treibt sich nicht mehr so fröhlich und ver-
antwortungslos umher; er hat – zum Mindesten in den
Büchern – ein Herz, das nicht nur das eigene, sondern
auch das allgemeine erotische Elend ergreifend und schmerz-
lich beklagt.
Die modernen Schriftsteller sind gefühlvoll und erkennen
in der Liebe die Botin von Sorge und Not, gleichviel ob
man sich ihr zu- oder abwendet.
Sie meinen, es käme daher, daß die Liebe keine Achtung
genießt.
Eigentlich nimmt sie im Staatswesen gar keinen Platz
ein. Zu dieser Entdeckung führt das Studium der bestehen-
den Moral. Diese hat Platz für gesetzliche Verbindungen,
Zölibat, Prostitution, aber keinen für die Liebe. Diese Ent-
deckung war eine Quelle der Sorge für unsere jungen Dichter.
Seit uralten Zeiten hielten sie die Liebe für die Poesie
des Lebens.
Dasselbe tut der Feminismus und betrachtet noch dazu
die Liebe als eine Stütze – keine Gefahr – der Moral.
Sie trauern zusammen über die Verbannung der Liebe.
Aus der Sorge entstand der Ernst.
Dieser Ernst verschmähte den halb frivolen, halb mysti-
schen Ton, den frühere Schriftsteller aufschlugen, wenn sie
von Erotik sprachen. Der Unterschied ist zwischen den ver-
schiedenen Zeiten erstaunlich groß.
Liest man die alten Schriftsteller und ihre Aussprüche
über die Liebe, so wird man sie zuweilen schön, begeistert
und unschuldig finden; sehr oft aber sind sie jungenhaft, ja
lümmelhaft durch gedankenlose Grausamkeit, und mit ihnen
verglichen, erscheint unsere Jugend sehr reif und mannhaft.
Die Literatur schilderte früher auch zwei Arten von
Moral – eine männliche und eine weibliche. Diese Doppel-
moral gibt nur dem Manne das Recht, seine natürlichen
Triebe zu befriedigen. Eine Frau, welche dasselbe wagt,
wird ohne Entschuldigung und Verzeihung verurteilt. Sie
vertrat die Ansicht, daß eine unverheiratete Mutter mit
Füßen getreten werden kann, ein unverheirateter Vater aber
in keiner Weise beunruhigt werden darf. Ja, sie wies die
Frau auf einen abgelegenen Platz, wo diese mit dem Kinde
verhungern konnte, wenn sie nicht vorzog, es gleich zu töten,
worauf doch Hinrichtung oder lebenslängliches Zuchthaus stand.
Diese wunderliche moralische Trennung der Geschlechter
war umso unbegreiflicher, als sie doch gemeinsame Gebiete
berührte.
Jetzt wird man wohl keinen modernen Dichter finden
können, der eine spezielle Herren- oder Frauen-Moral ver-
teidigt. Nein! Um die Gemeinschaft zu betonen, hat man
ein neues Wort erfunden: Die intersexuelle Moral. Jhr
Ziel ist es, dem Menschen Wege zu zeigen, um im höchsten
Sinne des Wortes gerecht gegen das andre Geschlecht und
gegen das Kind zu handeln.
Diese intersexuelle Moral ist zwar noch nicht fertig,
wird es im absoluten Sinne auch nie werden, weil alles in
steter Entwickelung bleibt, aber sie ist lebendig geworden,
und das ist die Hauptsache. Sie lebt durch das Gewissen
einer neuen Zeit, und obgleich noch ein Kind, wird sie
kräftig und herrlich wachsen, denn ihr steht die gute und
kraftvolle Jugend zur Seite, die nicht nur Vorteil aus der
Kultur ziehen möchte, sondern Kultur ins Leben tragen will.
Die Feministen meinen, daß sie Grund haben, ihre
Moral für eine höhere zu halten, und daß sie darum wert
sei, bekannt zu werden. Sie rechnet mit den höchsten Zeit-
forderungen: Wahrheit und Gerechtigkeit; sie versteht die
praktischen Bedingungen zur Ausübung der höchsten Moral.
Sie stellt sich nicht auf übermenschliche Höhe und verlangt
keine blinde Ergebung, sie eignet sich für das menschliche
Leben und begreift menschliche Schwierigkeiten – das Leiden
der Frauen ist ihr wohlbekannt. Sie will von Leiden be-
freien, weil sie für sie Ursache und Ziel des Fortschritts darin
besteht, möglichst glückliche Daseinsbedingungen zu schaffen.
Die Menschheit hat stets darnach gestrebt, ob man es nun
anerkennen will oder nicht. Nur in dem Maße, als unser
eigenes Fortschreiten das irdische Dasein der Menschheit ver-
bessert, sprechen wir von einem „Fortschritt der Kultur“.
Anderenfalls sagen wir: Die Kultur sank – die Kultur
verschwand – die Willkür herrschte.
Der Feminismus glaubt an keinen wirklichen Fortschritt,
dessen Weg nicht durch die Wissenschaft und die Frucht des
Denkens geebnet wird.
Deshalb will er alle Klassen, alle Geschlechter und jeden
Einzelnen an das Denken gewöhnen, und daß sie ihren Ge-
danken Achtung verschaffen. Für Frauen und nicht wahl-
berechtigte Männer ist diese Achtung zunächst von dem Er-
ringen des Wahlrechts abhängig; ohne dieses ist es un-
möglich, seinen Gedanken und seinem Willen Respekt zu
verschaffen.
Ohne abgeklärte Geistesarbeit ist es auch mit dem
Besitz des Wahlrechts nicht möglich, die Menschheit für zweck-
mäßige Methoden zur Kunst des Lebens zu vereinigen. Erst
dann, wenn der Verstand kultiviert genug ist, werden wir
die Errungenschaften anzuwenden verstehen, die die Wissen-
schaften uns gebracht haben.
Wir werden wissen, daß jede Entwickelung bestimmten
Gesetzen folgt, daß keine Umgestaltung als Wunder vom
Himmel fällt, oder der Theaterstreich eines geschickten Regisseurs
ist, selbst wenn es manchmal den Anschein davon hat.
Keine Klasse, weder die der Proletarier in ihrer
Armut, noch die der Frauen in ihrer Schwäche, kann
sich zur Höhe des Lebens aufschwingen, bevor sie ihre Denk-
fähigkeit erhöht hat. Aeußere Umwälzungen können ohne
intellektuelle Vorarbeiten nicht dauernd sein.
Jede Zivilisation hängt davon ab, daß das Jndividuum
ein klares Bewußtsein von sich selbst und der Welt bekommt.
Der Feminismus will nicht zugeben, daß die Un-
wissenheit, bei wem es auch immer sei, eine Tugend
wäre, folglich auch nicht bei der Frau. Der Feminismus
will rationell der Vernunft gemäß wirken.
Er liebt die Aufklärung.
Seine Moral ist nur ein anderer Name für ߝ lux
– Licht!