Ein Besuch in Zürich bei den weiblichen Studierenden
der Medizin.
Ein Beitrag zur Klärung der Frage des Frauenstudiums von Mathilde Weber.
Vor wenigen Monaten bekam ich einen freundlichen Brief von der
Vorsitzenden des neu gegründeten allgemeinen Studentinnenvereins aus
Zürich. Sie sprach mir in demselben den Dank des Vereins aus, weil
ich in meiner kleinen Schrift (Aerztinnen für Frauenkrankheiten, eine ethische
und sanitäre Notwendigkeit, bei Franz Fues, Tübingen 1888) eine Lanze
für das Studium der Medizin der Frauen gebrochen hatte.
Der Verein ließ mich einladen, einer seiner Monatsversammlungen bei-
zuwohnen. Gerne folgte ich der Einladung. War es doch längst mein
Wunsch, vor der im Oktober erscheinenden vierten Auflage obiger kleinen
Schrift persönlich in Zürich Erfahrungen zu sammeln über den seitherigen
Verlauf und Erfolg des Frauenstudiums daselbst. Namentlich wollte ich
auch an Ort und Stelle unbefangen Urteile hören über das Thun und
Leben der Studentinnen selbst. Wob sich doch in der Ferne längst durch
engherziges Vorurteil der Gesellschaft ein schwarzer Schleier abenteuerlicher
Vorstellungen um die – „Studentinnen“.
Jch gestehe es. das Herz schlug mir deshalb höher, als ich am Abend
des zwölften Juli in den Verein eingeführt wurde durch die Medizin
studierende Tochter meiner gütigen Gastfreundin, Frau Eishold aus Dresden,
die um ihrer Tochter willen nach Zürich gezogen war. Die Vereinszu-
sammenkünfte wurden in dem Salon einer zur Universität gehörenden
Dame bei einer Tasse Thee abgehalten. Bereits hatten etliche vierzig
Damen Platz genommen.
Trotzdem ich den Abend zuvor schon von den bei Frau E. eingelade-
nen deutschen Studentinnen den besten Eindruck empfangen hatte, überfiel
mich doch plötzlich eine geheime Furcht. Hatte ich nicht doch vielleicht diese
Studienfrage zu ideal und vertrauensvoll aufgefaßt? – Und doch war
nun durch meine kleine Broschüre für immer mein Name daran geknüpft.
Mußte ich nicht vielleicht hier eine große Enttäuschung durchmachen beim
persönlichen Kennenlernen dieser jungen Mitkämpferinnen für Frauenbildung
und geistige Berufsarbeit? Diese Fragen stürzten plötzlich über mich her-
ein; angstvoll fühlte ich mich von Glut übergossen. Nun, seit ich in Zürich
selbst war, konnte ich mir nicht verhehlen, welche mannigfache Gefahren
und Anfechtungen eine solche exponierte Sonderstellung mit sich bringt.
Doch dem Himmel sei Dank gesagt; es wurde mir immer leichter im
Herzen, je eindringlicher ich während der von einer Frl. Neunreuter aus
Straßburg trefflich geleiteten Verhandlungen Umschau in dem Salon hielt.
Wo war denn das von den Gegnern, z. B. von Herrn Prof. Dr.
Bischof befürchtete extravagante, unweibliche Benehmen zu sehen, wo die
oft geschilderten Cigarretten und Herrenkostüme? Wo die bleichen, nervösen,
von der geistig ungewohnten Anstrengung grämlich gewordenen, schrecklichen
Zwitterwesen.
Jch fand nur frische, kräftige Frauen und Mädchen, voll weiblichen
Anstandes und vernünftigen, sich an die herrschende Mode anschließenden,
nicht auffallenden Toiletten.
Aeußerst wohlthuend berührte das würdige, gehaltene Benehmen. Man
sah, sie waren Alle erfüllt von dem ganzen Ernst ihrer schwierigen Lebens-
arbeit, zu der sie sich durch zahllose Hindernisse erst das Recht erkämpfen
mußten. Man rühmte mir schon vorher einstimmig in den verschiedensten Züricher
Kreisen das Benehmen der Studentinnen. Nun durfte ich mich zu meiner
Freude selbst überzeugen, wie richtig der Ausspruch des von den Damen
hochgeschätzten Herrn Prof. Dr. von Meier war, mit welchem er einen
Angriff auf die Damen entgegnete: daß er „von all den Bischoffischen
Gespenstern nie etwas gesehen habe“. Auch ich konnte nun selbst bezeugen,
wie diese geistige Lernfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht zu einer
sympathischen Berufsarbeit beglückend und erfrischend auf die ganze Ent-
wicklung und Persönlichkeit der anwesenden Damen eingewirkt hatte.
Dagegen findet man unter den Schülerinnen der Lehrerinnenseminarien
bleiche, abgehärmte, nervöse Mädchen, weil sie sich oft gegen Neigung und
mit mangelndem Talent in diesen einzigen seither den Frauen gestatteten,
üeistigengeistigen Beruf einzwängten und dort mit Gedächtnißarbeit über ihre Kraft
gberbürdetüberbürdet werden müssen. Denn aus staatlichen Sparsamkeitsgründen
dürfen häufig diese Aermsten fast nur die Hälfte der Jahre auf die Vor-
bereitung verwenden, wie die Jünglinge, weil leider immer noch manche
maßgebende deutsche Behörden den Wert der Frauen-Arbeit und der Frauen-
Erziehung zu sehr unterschätzen.
Es scheint, daß das auswärts verbreitete Vorurteil gegen die
Studentinnen noch von früheren Vorgängen herstammt, und nur durch die
Gedankenlosigkeit der Menge und den Mangel an selbständiger Beobachtung
auch noch auf die heutige Generation der Schülerinnen übertragen wird.
Damals, vor fünfzehn bis zwanzig Jahren, studierten vorherrschend nur
Russinnen. Dieselben standen auf einer uns fremdartigen Kulturstufe und
hatten auch andere gesellschaftliche Anschauungen als wir Westeuropäer.
Daher ist es sehr begreiflich, wie diese erste Vorkämpferinnen einer neuen
Zeitidee etwas Kühnes, ja gewissermaßen Herausforderndes gegen die ihrem
Beginnen meist mißtrauisch und feindlich entgegentretende Umgebung hatte.
Durch dieses mit so vielen Hindernissen erkämpfte Wissen, welches
man seither nur bei Männern für möglich hielt, entwickelte sich natürlich
auch bei Einzelnen ein zu großes Selbstbewußtsein und eine trotzige Nicht-
achtung gegen die herkömmlichen Sitten und Formen der Gesellschaft,
welche sie um dieses selbständige Betreten neuer, ungewöhnlicher Berufswege
gewissermaßen geächtet hatte. Konnten es aber auch wohl, objektiv be-
trachtet, damals andere, als besonders Mutige, gegen herkömmliche Gebräuche
und falschen Schein Gleichgiltige wagen, diese neue Berufsart für unser
Geschlecht zu erobern? Müßte man sich nicht eher wundern, wenn schüchterne,
ängstliche Mädchen es selbst bei höchster Begabung zuerst gewagt hätten,
den Kampf gegen langeingewurzelte Anschauungen aufzunehmen.
Die heutigen Studentinnen haben es darin schon viel besser. Sie
stehen durch die sich während zwanzig Jahren befestigte Berechtigung zu
diesem Studium nun auf einer sichereren Basis. Sie sind auch deshalb
von dem früheren Jrrwahn geheilt, als müßten sie durch das ebenbürtige
Lernen mit den Männern mehr von deren Sitten und Trachten annehmen.
Jch konnte mit Vergnügen bemerken, daß das nun ein überwundener
Standpunkt ist. Die meisten haben richtig erkannt, daß sie durch das
Eingreifen ihres speziell dem Frauenwohl dienenden Berufes praktisch zur
Lösung der Frauenfrage beitragen, und wie es ihnen deshalb Ehrensache
sein muß, durch echt weibliches Benehmen und feine Sitten zu zeigen, daß
höchstes geistiges Streben, Wissen und Lernen ganz wohl in den Rahmen
normaler Weiblichkeit hineinpaßt. Ja, daß dasselbe wie jede ernste Arbeit
veredelnd wirkt und den Fluch des vielen geistigen Müßiggangs und der
leidigen, häufigen Halbbildung von uns nimmt.
Unsere jungen, mutigen Mitarbeiterinnen für Frauen-Ehre und Erhebung
wollen durch ihren Fleiß, ihre Ausdauer und Selbstüberwindung zeigen,
daß sie das Frauenideal hoch halten; wollen zeigen, was Frauen leisten
können, wenn bei entsprechender Begabung alle Fähigkeiten und Kräfte
durch die Lernfreiheit zu einer strammen Anspannung veranlaßt werden.
Jst der Drang zu helfen, zu heilen nicht eine echt weibliche Grund-
tugend? Schmerzen zu lindern, zu trösten und zu pflegen ehrt man ja
längst an der Diakonissin und barmherzigen Schwester. Sollte es nicht
ebenso freudig von der Gesellschaft begrüßt werden, wenn einzelne der
an Geistes- und Körperkräften hervorragenden Frauen und Mädchen
wünschen, nicht unter fremder Bevormundung, und nur die niedrig-
sten Dienste darin thun zu müssen? Sollte denn die von den
Männern vorherrschend in Anspruch genommene Leitung der weiblichen
Schulung wirklich nicht auch 1-2 $%$ der Schülerinnen soweit gefördert
haben, daß dieselben, begeistert von dem allgemeinen Drang nach Fort-
schritt, auch eine höhere Wissensstufe, als seither, erklimmen dürften? Gilt
es doch vornehmlich dem edlen Zwecke, Heilung und erhöhte Gesundheit
denjenigen des eigenen Geschlechts zu bringen, welchen es bei Frauenkrank-
heiten zu peinlich erscheint, einen männlichen Arzt beraten zu sollen, so
daß sie oft erst Hilfe suchen, wenn es zu spät ist.
Erst wenn die Gesellschaft diese Mission des Frauenstudiums richtig
erkannt hat, wird sich eine gerechtere Beurteilung der Studentinnen vollends
allgemein Bahn brechen. Vorerst müssen sie wohl noch oftmals als Märty-
rerinnen für ihre Ueberzeugung leiden. Wie oft kommt es z. B. noch
vor, daß sie flüstern hören: „Das ist eine Studentin“ und dann sich
so neugierig prüfen und betrachtet fühlen, ob nichts Absonderliches
an ihnen zu finden sei, nicht auch wenigstens kurzgeschnittene Haare oder
ein Herrenhut oder eine Cigarrette.
Hoffen wir, daß der neu gegründete Verein wesentlich dazu beitragen
wird, die veraltete Voreingenommenheit nach und nach vollends zu be-
seitigen. Die böse Erbschaft von den früheren Russinnen wirkt leider bis-
weilen noch nach. So ging ich z. B. mit einem eingewanderten deutschen
Fräulein über die Straße, eine höchst auffallend gekleidete Dame begegnete
uns. Jch lachte. Das Fräulein sagte wegwerfend: „O, das wird
wohl wieder eine Studentin sein.“ „Wissen Sie das genau,“ fragte ich.
„Nein, aber man denkt sich, es müßte eine sein.“ „Kennen Sie denn welche?“
„O nein, gewiß nicht!“ sagte sie, diese Zumutung zurückweisend. Jch be-
trübte mich sehr. War doch dieser kleine Vorfall einer der zahllosen Be-
weise, wie schwer es bahnbrechende Elemente haben. Denn selbst die besten
Menschen nehmen sich selten die Mühe, auf den Grund zu gehen, ob eine
vorgefaßte Meinung verdient oder unverdient ist.
Möchten es doch die Gründerinnen des Vereins immer recht ver-
stehen, denselben möglichst vorteilhaft, für die Jnteressen der Studentinnen
zu leiten, und nie uns Rücksicht es gestatten, daß ein zweifelhaftes
Element aufgenommen wird. Vor allem sollten sie darauf bestehen, daß
die Deutschen und Schweizerinnen, die ihn gegründet, stets darin vorherrschen
und das Präsidium bilden, damit es nicht vorkommen kann, daß durch eine
andere Nation deren Beschlüsse durchgesetzt oder durch dieselbe das Präsidium
gebildet wird in einer deutsch lehrenden Universität und deutsch sprechenden
Stadt.
Leicht würde sonst durch die unvergessenen, so fest gewurzelten Tradi-
tionen von den früheren Russinnen das Mißtrauen gegen den Verein auf-
tauchen, als beschäftige er sich mit sozialen oder sogar politischen Fragen.
Mit aller Jnnigkeit und Dringlichkeit, die mir zu Gebot steht, möchte
ich deßhalb unsere jungen Gesinnungsgenossinnen warnen, sie möchten sich
nie in Abhandlungen oder Betrachtungen und Urteile über die soziale oder
Frauenfrage einlassen.
Die Widersprüche und Rätsel dieser modernen Sphinx können doch
von ihnen neben dem alle Kräfte und Zeit absorbierenden Berufsstudium
weder gelöst noch beseitigt werden. Möge es den Studentinnen genügen,
daß sie durch ihren Beruf selbst praktisch zur Lösung beitragen.
Möchten sie aber nie in den Wahn verfallen, daß sie dadurch schon,
trotz ihrer Jugend, nun gleich ein volles Verständniß und Ein- und Ueber-
blick über das ganze soziale Problem bekommen hätten.
Das bildet wieder ein langes Studium für sich. Und man darf dieses
geheimnißvolle, verschleierte Bild nicht mit unbefugter Hand enthüllen
wollen; es wäre ein so gefährliches und unheilvolles Beginnen, als
das jenes unglücklichen, wißbegierigen Jünglings von Saïs, welches uns
der Dichter so warnend vor Augen führt.
Es wäre gewiß das Förderlichste, wenn in den Vereinsabenden ein
kleiner Vortrag für allgemeine Bildung entweder über ein litterarisches,
historisches, künstlerisches oder ästhetisches Thema gehalten würde; denn es
ist für die spätere soziale Stellung der Aerztinnen von großem Werte, daß
ihre allgemeine Bildung nicht unter dem Fachstudium notleidet.
Während meines weiteren Aufenthaltes suchte ich zu erfahren, was
die Jnteressen der Studentinnen am meisten fördern könnte.
Wenn ich das Resumé der Mitteilungen, sowohl aus der Mitte der
Herren Universitätslehrer selbst heraus, als auch aus den verschiedenen
Kreisen der Züricher Gesellschaft zusammenstelle, so wird es kurz etwa
folgenderweise lauten:
Jn erster Linie sollte das Gymnasialstudium weniger kostspielig
zu erreichen sein. Zweitens wäre ein „College“ oder Heim nach den
trefflichen englischen und amerikanischen Vorbildern sehr zweckmäßig, eben-
so ein Lesezimmer; dann Turnen und gymnastische Spiele und Uebungen.
Auch eine Verminderung der sogenannten „Hörerinnen“ oder wie man bei
uns sagen würde, Hospitanten wäre erwünscht, damit keine Elemente her-
einkommen, die dem Studium absolut nicht gewachsen sind, besonders fürchtet
man dadurch ein Zunehmen des fremden, unvorbereiteten Elementes der
Russinnen. Viel hofft man von einer zweckmäßigen Leitung des neu ge-
gründeten „Studentinnenvereins“ und einem Zusammengehen mit den
Frauenvereinen. Man müßte die Welt überzeugen, daß beide Teile nicht im
Gegensätze stehen, sondern daß das Studium nur ein weiteres Glied in
der Kette der Schöpfungen ist, welche diese Vereine in den letzten zwanzig
Jahren durch materielle und ideelle Agitation allmählig für die Erziehung,
Schulung und Erwerbstüchtigkeit unseres Geschlechtes ins Leben gerufen
haben.
Daß es in Zürich mit einem großen Heim, wie in England und
Amerika, nicht recht gehen will, davon ließ ich mich mit schwerem Herzen
erst in Zürich überzeugen, denn ich schwärmte wie viele andere dafür.
Fr. Eishold arbeitete auch bereits einen vorzüglichen Prospekt dafür
aus, zu dessen Verwirklichung nur fehlte, daß noch manche reiche, edel-
mütige Gönner Stiftungen und Vermächtnisse gemacht hätten. – Das
Hinderniß für ein Heim sind die verschiedenen Nationalitäten der augen-
blicklich 70 studierenden Damen und die damit verbundenen verschieden-
artigen Geschmacksrichtungen und Lebensanschauungen. Man unterscheidet
in Zürich 3 Gruppen von Studentinnen: I. Schweizerinnen und Deutsche,
II. Amerikanerinnen und Engländerinnen, III. Russinnen und Polinnen.
Kleinere Pensionen aber unter Leitung einer gebildeten Familie speziell
für die gleichen Landsmänninnen würden sich gewiß mit der Zeit einrichten
lassen. Daselbst müßte jede Einzelne, je nach ihren Verhältnissen, ein bis
zwei Zimmer für sich haben können. Ein gemeinsames Speise- und
Konversationszimmer würde die Damen nur zu gewissen Stunden ver-
einigen.
Verschiedene der studierenden Damen halten uns entgegen, daß gerade
dieses isolirte Leben den Fleiß befördere. Nur dadurch könnten sie bei
den vielseitigen Hindernissen und der oft knappen Vorbildung und kleinen
Mitteln bald ein gutes Examen fertig bringen. Trotzdem glaube ich,
daß manche Eltern ihre Tochter leichteren Herzens ihrem Studiendrange
folgen lassen würden, wenn dieses unsern Gewohnheiten unsympatische,
wenn auch nach allseitigsten Versicherungen tadellose, Alleinleben außerhalb
der Familie und Freundeskreisen nicht wäre.
Jm Gegensatz zu dem fröhlichen, sorgenlosen, kameradschaftlichen
Studentenleben führen die Studentinnen ein wahrhaft klösterliches Leben
unter strengster Klausur aus Sorge vor schlimmer Nachrede. Natürlich
müssen sie das sowohl um ihrer selbst willen als im Jnteresse ihres ganzes
Standes auf das dringendste vermeiden. Nirgends ist die Parole „Einer
für Alle, Alle für Einen“ von größerer Bedeutung, als hier, wo es immer
noch gilt, sich eine feste soziale Stellung und Geltung zu gewinnen. Es
haben dadurch auch Manche, besonders von den Jüngeren, im Zweifel über
die richtige Mitte, oft ein zu schroffes, unfreundliches Benehmen, nament-
lich gegen die Studenten, angenommen. Alle die Damen aber geben diesen
das ehrende Zeugnis, daß sie ihnen niemals einen Grund zu einer Klage
gegeben, sondern stets ein achtungsvolles, würdiges Benehmen gegen die
neuen Mitschülerinnen beobachtet haben.
Was den wünschenswertesten Lehrgang betrifft, so stimmen sowohl die
Lehrer als die erfahreneren Schülerinnen darin überein, daß für alle die
vielen zu beobachtenden Rücksichten es am zweckmäßigsten, besonders auch
für das körperliche Wohlergehen sei, wenn die Damen nicht vor dem
zwanzigsten bis vierundzwanzigsten Jahre die Hochschule beziehen. Die
meisten unter ihnen haben etwa folgende Vorbildung gehabt: Zuerst eine
gute, höhere Töchterschule absolviert, dann ein bis zwei Jahre vom fünf-
zehnten bis siebzehnten Jahre die weiblichen Hand- und Hausarbeiten er-
lernt und langsam mit den alten Sprachen begonnen, dann drei bis vier
Jahre sich ganz den Gymnasialstudien durch Privatstunden gewidmet. –
Man sieht, daß bis jetzt bloß Wohlhabenden dieses Studium möglich wird
trotz der Stipendien, die der allgemeine deutsche Frauenverein bereits einzelnen
tüchtigen, deutschen Mädchen geben kann.
Jn der Schweiz und in Schweden sind die maßgebenden Be-
hörden darin abermals mit gutem Beispiel vorangegangen. Dort besteht
bereits seit Jahren in den Lehrerinnenseminarien die Gelegenheit, sich zur
Maturitätsprüfung vorzubereiten. Es wurde daselbe schon von vielen
Mädchen, namentlich wohlhabenden, oft nur zur eigenen Befriedigung be-
standen. Jn Zürich erwirkte es vornehmlich der auch um das Frauen-
studium sehr verdiente Herr Prof. Schweizer-Siedler. Aus Zürich wurde
der Herausgeberin dieses Blattes, „die Frau im gemeinnützigen Leben“, un-
längst geschrieben:
„Die Jnkonsequenz, die darin liegt, den Frauen die Universität zu
erschließen, ohne ihnen Gymnasialbildung zu bieten, machte sich schon längst
fühlbar und ein neues Schulgesetz, das im Laufe des Jahres den Behörden
unterbreitet werden wird, nimmt auch in Aussicht, entweder die Mädchen
an Gymnasien zuzulassen oder – und das ist natürlich das bevorzugte
Projekt – denjenigen höheren städtischen Töchterschulen eine Subvention zu
geben, welche die Maturitätsprüfung ermöglichen.“
Auch in der Volksabstimmung, die endgiltig über das ganze Gesetz zu
entscheiden hat, wird dieser Vorschlag schwerlich auf Widerstand stoßen, da
sich das Universitätsstudium der Frauen ganz eingelebt hat und besonders
weibliche Aerzte sich als durchaus tüchtig und als ein großer Segen für
die leidende Frauenwelt bewährt hat. Als Anstaltsärzte sind sie wieder-
holt auch an staatlichen Kanton- oder Lehranstalten angestellt worden.
„Jch bin überzeugt, daß wenn in Deutschland der Versuch gemacht
würde, den Frauen die ärztliche Praxis durch Gewährung der Vor- und
Ausbildung zu ermöglichen, die Vorurteile wie bei uns sich von selbst
widerlegen und die Maßnahmen sich als äußerst segensreich erweisen würden.
So lange aber über die Frage immer nur theoretisiert wird, bleibt sie
natürlich eine unentschiedene Streitfrage. Gewiß kann hier einzig und
allein die Praxis ein endgiltiges Urteil abgeben“ – das schreibt und denkt
eine praktische Schweizerin, die treffliche Präsidentin des Frauenvereins
Zürich, Sektion des Schweizer Frauenverbandes: Frau Boos-Jegher.
Wir Frauen haben alle Ursache, die Schweizer Männer hochzuschätzen.
Sie gaben zuerst in Europa das Beispiel objektiver Gerechtigkeit auch für
unser Geschlecht, und handelten nach dem Satze: „Gleiche Pflichten, gleiche
Rechte.“ Sie sahen ein, daß wenn der Staat nicht selbst die arbeitslosen
Mädchen versorgen will, er ihnen auch die freie Wahl, wie dem Manne
lassen muß, die ihrer Persönlichkeit am meisten zusagende Erwerbsarbeit
ergreifen zu dürfen und die Gelegenheit zur Schulung dazu zu erhalten.
Mit ihrem praktischen Rechtsgefühl erkannten die Schweizer es zuerst als
eine staatliche Pflicht, dem durch die Maschinenarbeit immer größer
werdenden Ueberfluß an weiblicher Arbeitskraft auch wieder neue Arbeits-
gebiete zu eröffnen. Sie finden es unwürdig, immer wieder zu sagen,
die Frauen sollen haushalten, nähen und stricken, wenn faktisch Tausende
von Händen dazu entbehrlich geworden sind.
Es gab seiner Zeit in Zürich über die Erlaubnis zum Frauen-
studiumleiderstudium leider einen Kampf gegen einzelne deutsche Professoren, welche
nach den vaterländischen Traditionen den Frauen dieses Recht nicht ein-
räumen wollten. Aber doch drang die Berechtigung durch mit der Bei-
hilfe anderer deutscher Professoren – o, wie gerne nenne ich diejenigen
deutschen Namen, die mir bekannt wurden: Geheimer Rat Dr. Böhmert,
jetzt in Dresden, Professor Dr. Rose, jetzt in Berlin, und vor Allen den
wohlgesinnten Professor Dr. von Mayer.
Wir wünschen von ganzem Herzen, daß bald eine Mehrzahl von wohl-
wollenden Professoren in Deutschland seinen Standpunkt teilen möchten,
dann könnten wir hoffen, daß in absehbarer Zeit wenigstens eine deutsche
Universität ihre Pforte denjenigen wißbegierigen, opferfreudigen Mädchen
und Frauen öffnen würde, welche seither auswärts lernen und auswärts
ihre Kräfte zu Gunsten der leidenden Frauenwelt verwenden mußten.
Jn der Zeitschrift „Alma Mater 1878“ wurde aus einem Brief
von Herrn Prof. Mayer unter Anderem veröffentlicht: „Jch habe
der betreffenden Frage gegenüber stets eine sehr einfach zu bezeichnende
Stellung eingenommen, es ist die: die Frauen wollen versuchen, ob sie
durch das Studium (vorherrschend Medizin) einen neuen Wirkungskreis
gewinnen können, so mögen sie es versuchen; an uns ist es nicht, es ihnen
zu wehren oder zu erschweren. Geben wir ihnen allen Unterricht, den sie
verlangen, dann können sie wenigstens, wenn der Versuch nicht gerät, uns
nicht sagen, wir hätten ihnen aus Brodneid den Versuch verdorben.“
Daß der geehrte Herr Professor seinen Vorschlag nicht zu bereuen
brauchte, zeigt eine andere Stelle des vorgedachten Briefes: „ – Für die
schwebende Frage aber (ob die Frauen studieren dürfen und fähig dazu
sind) genügt es zu wissen, daß eine gewisse Anzahl von Frauen und
Fräulein sich dem Studium durchaus gewachsen zeigten, und daß davon
eine gewisse Anzahl das Studium bereits in einer solchen Weise absolviert
hat, daß jeder Studierende sich ein Beispiel daran nehmen darf.“ –
Wie richtig ist es, daß der Herr Professor nur von einer „gewissen,
beschränkten Anzahl“ studierender Frauen spricht. Das ist es, was wir
im Jnteresse unseres Geschlechts erstreben wollen. Gewiß begehren wir
nicht, wie die Gegner spotten, als ob plötzlich die Frauen im Allgemeinen
studieren sollten.
Sollte nicht bald ein ähnliches gerechtes Vorgehen, wie in den uns
umgrenzenden Kulturländern, auch bei uns möglich werden?
Die Toleranz ist doch das Kennzeichen großer Menschen und großer
Zeiten. Sollten die verbitterten Schwarzseher Recht bekommen, welche
nach den großen Erhebungen und Errungenschaften der letzten Jahrzehnte
einen gewissen Stillstand oder Rückgang in der sozialen Entwicklung als
eine logische Naturnotwendigkeit befürchten?
Es würde sich bei einer praktischen Erledigung dieser Frage eigentlich
nur um eine endliche Realisierung des Ausspruchs handeln, mit welchem
vor beinahe zwanzig Jahren ein edler Beschützer der Frauenarbeit, Fabri-
kant Müller aus Pforzheim, in der badischen Kammer unser Jnteresse
vertrat; er sagte: „die Frauen sollten auch arbeiten dürfen, zu was sie
fähig sind.“ Macht dieses logisch einfache Natur-Prinzip nicht alle die
weitgesuchten, oft widerspruchsvollen, kränkenden, gehässigen und demütigen-
den Gründe der Gegner tot, mit welchen sie uns ewig unter Vormund-
schaft halten wollen.
Reguliert die Natur, auf die uns die Gegner so oft hinweisen, nicht
am besten selbst die Grenzen unserer Thätigkeit? Bedarf es da noch, daß
das stärkere und mächtigere Geschlecht uns, „dem schwachen“, überall durch
hemmende Fesseln und Ketten die volle Entwicklung unserer Leistungsfähig-
keiten unmöglich macht?
Unter den Gegengründen, die mir auch in Zürich von einzelnen Deutschen
entgegengehalten wurden, gehört zu den kränkendsten und das Rechtsgefühl
verletzendsten stets der: daß man damit noch mehr die ohnehin große
Konkurrenz der Männer auf dem Arbeitsmarkt vermehre. Warum sollen
denn die armen Mädchen, für die weder der Staat, noch ein Gatte oder
Bruder, oder das Vermögen der Eltern, ein arbeits- und sorgenloses Leben
schaffen, nicht auch arbeiten dürfen und sich in die allgemeine Arbeits-
konkurrenz einreihen, wie sie wollen und können? Verbietet man es denn
je den Männern, daß sie die eigentlich rein weiblichen Berufe der Frauen-
ärzte, Mädchenlehrer, Köche, Konditoren, Damenschneider, Damen-Kon-
fektions-Verkäufer, und speziell weibliche Fabrikarbeiten u. s. w. betreiben?
Jn Amerika bügeln und waschen bereits die Chinesen, wer weiß, wie
bald das auch hier die Männer uns noch wegnehmen wollen!
Soll nur bei uns allein nicht jenes goldene Zeitalter für die Arbeit-
suchenden beginnen, wo nicht mehr das Geschlecht, sondern nur die beste
Leistung bei jedwelchem Angebot entscheidet?
Die deutschen Dichter besingen am häufigsten die Frauen, trotzdem
stellen die größere Mehrzahl der Männer uns heute noch in den
sozialen Lebensverhältnissen, in den Gesetzen und Rechten, und in der Be-
urteilung niedriger als die meisten andern modernen Kulturvölker.
Auch manche gebildete Männer, halten leider noch immer unberech-
tigter und unerprobter Weise an dem veralteten einseitigen Standpunkt
fest: Wissen und Bildung vertrage sich nicht mit den hauswirtschaftlichen
Leistungen und Pflichten: Hörte ich doch selbst unlängst noch einen hoch-
gestellten Beamten, der seine Haushälterin geheiratet hatte, sagen: eine
gute deutsche Hausfrau bedürfe eigentlich kaum viel mehr Lektüre als die
Bibel, das Kochbuch und das Tagblatt, und die Mädchen sollten lieber
heiraten als studieren wollen. Mit diesem gedankenlos hingeworfenen,
wohlmeinenden Rat glauben Manche das Jhrige für die Frauenfrage ge-
than zu haben, und am leichtesten den Ruf nach mehr Arbeit abschneiden
zu können.
Und doch läßt sich statistisch leicht berechnen, daß selbst, wenn man
alle die Junggesellen, welche eine Frau ernähren können, zum
Heiraten zwingen könnte, doch noch die mormonischen oder türkischen Ehe-
verhältnisse eingeführt werden müßten oder wie ein junger Arzt halb
scherzend rieth, müssen wie in China gleich 30 $%$ Mädchen nach der Geburt
getödtet werden, wenn der Jammer um ersprießliche weibliche selbständige
Arbeiten verstummen sollte. Denn auch im Hause der Brüder und
Schwäger, wie obige Ratgeber allein stehenden Mädchen so gerne empfehlen,
giebt es nicht genug Strümpfe mehr zu stricken und Hemden zu nähen
u. s. w., seit die Maschinen das Alles erleichtern, auch ist in den theuren
Wohnungen selten mehr ein behagliches Plätzchen für die alternde Schwester,
welche einst Jugendkraft und Vermögen für das Studium des Bruders
geopfert hatte.
Leider scheinen dem Staate seine Töchter nicht gleich wert zu sein,
wie seine Söhne, sonst würden seine Behörden nicht das mächtigere Geschlecht
schützen gegen die Konkurrenz mit dem schwächeren.
Sollten nicht endlich die armen Handarbeiterinnen von der Mitarbeit
der höher gebildeten Mädchen entlastet werden, indem den letzteren mehr
geistige Arbeit gestattet wird?
Erzählt nicht die Frauengeschichte größerer Städte Entsetzliches von dem
Elend und der Verzweiflung der Arbeitslosigkeit und – der Schande, zu
welcher sie häufig endlich führt! Solange diese aber noch in Glanz und
Luxus wandeln kann, und die Trinklokale sich immer vermehren und ver-
schönern, sollte – Konkurrenzfurcht kein Grund sein dürfen zu irgend
welcher Beschränkung ehrenhafter Frauenarbeit.
Müssen wir nicht in dieser Bevormundung unserer Arbeit noch einen
Rest der Zeitanschauung vom Anfang des Jahrhunderts erblicken? Damals
durfte keine Nähterin selbständig arbeiten. Sie mußte Gehilfin bei einem
Schneidermeister sein, welcher ihr dann nach seinem Ermessen einen Teil
der Einnahmen zukommen ließ! – Wie wird das zwanzigste Jahrhundert
beim Studium unserer heutigen Frauenstellung einfach unsere Zeit höhnend
mit jener zusammenwerfen!
Dürfen wir uns wundern, wenn manchen der deutschen Studentinnen,
welche sowohl durch ihre Lehrzeit, als ihren späteren Lebensberuf aus
ihrem Vaterland verbannt sind, der Sozialismus, der ihnen freundlichere
Staatsverhältnisse vorspiegelt, ein verlockendes Zaubergebilde sein würde?
Ein weiteres, eigentümliches Bedenken, welches ich auch schon öfter
von gebildeter Seite hörte, sprach eine ehrsame Züricher Bürgersfrau aus.
Dieselbe war im Allgemeinen den Studentinnen gewogen, namentlich ver-
ehrte sie die Frauenärztinnen, denn Frl. Falner, eine der beiden weib-
lichen Aerzte in Zürich, hatte sie schon aus schwerer Krankheit nicht nur
errettet, sondern auch liebevoll gepflegt. „Aber“, meinte sie, „wenn nun
die Studentinnen heiraten, dann ist meist das ganze Studium umsonst
gewesen“. –
Als ob es nicht ein Gewinn für die Gesellschaft wäre, wenn sich die
Summen des wirklichen Wissens und Könnens vermehrte!
Wird z. B. eine Mutter, welche Medizin studiert hat, nicht gesündere
Kinder erziehen, als eine Modedame, welcher jede Sanitätsregel gleichgiltig
ist. Oder sollte ein Mann seine Frau weniger lieben und schätzen, weil
sie für die höhere Lehrerinnenkarrière noch Philologie studierte, eine Wissen-
schaft, für welche Herr Prof. Schweizer-Sidler manche Mädchen besonders
begabt findet. Sollte der Gatte nicht finden, daß eine solche Vertiefung
in ein Studium statt dem oft oberflächlichen Herumnippen an den verschie-
densten Disziplinen seine Frau zu einer geistig noch ebenbürdigeren Le-
bensgefährtin und zu einer umsichtigen, selbständigen, pflichtgetreuen
Erfassung ihrer Lebensaufgaben befähigt? – Und kann wohl eine
Dame aus den höheren Gesellschaftskreisen, welcheWie bei uns das Lehrerinnenexamen., wie es in England,
Schweden, Amerika und der Schweiz bereits vielfach geschieht, zu ihrem
Vergnügen das Maturitätsexamen gemacht hat, nicht gerade deshalb, weil
sie logisch denken gelernt hat, einst die Häuslichkeit ihres Gatten auf das
Angenehmste und Zweckmäßigste gestalten. Wird er und seine Söhne
die Hausfrau nicht doppelt respektieren, wenn sie daneben des Sohnes
lateinische Schulaufgaben leitet. Daß viele Männer das hochschätzen, be-
weist, daß sie doch vielfach hochgebildete Frauen, den oberflächlichen,
hauptsächlich der Mode und der Gesellschaft huldigenden selbst – reichen
Mädchen vorziehen. Wenn es aber auch in Zukunft noch mehr solche Frauen
geben sollte, so dürfen darum doch jene gebildeten Männer, welche zur Gattin
eine einfache Haushälterin bequemer finden, nicht bange werden. Die soge-
nannten „Musterhausfrauen“, werden niemals in die Minderheit kommen.
Ebenso diejenigen Frauen, welche auch im reichsten wie im kleinsten Haus-
halt nie fertig werden und nie dazukommen, ein gutes Buch zu lesen
oder einem anregenden, genußreichen Gedankenaustausch mit Mann und
Kindern zu pflegen, weil sie sich aus geistiger Jnteresselosigkeit ein planloses,
langsames Arbeitstempo angewöhnt haben. Denn nach der verblendeten,
veralteten Anschauung Vieler soll eine gute Hausfrau immerfort Beschäfti-
gung im Hause suchen und finden.
Nun komme ich noch zum Ende meiner durch die Züricher Reise und
deren Eindrücke hervorgerufenen Reflektionen, auf die so notwendige Gym-
nasialvorbildung. Die verschiedenen Herren Professoren erklärten das als
eine der wichtigsten und naheliegendsten Aufgaben der deutschen Frauenvereine.
Einer der wohlwollendsten Herrn sagte: „Bestürmen sie einige reiche,
edle Männer und Frauen zu baldigen, großen Stiftungen. Dieses zer-
splitterte, kostbare Vorstudium durch einzelne Privatstunden erschwert den
strebsamen, bahnbrechenden Frauen und Mädchen sehr das Universitäts-
studium. Denn die knappe, zum Teil autodidaktische Vorbildung konnte nicht so,
wie die systematisch fortlaufende der Knaben, in Fleisch und Blut übergehen.
Durch ihren gewissenhaften Fleiß beantworten die Damen zwar meist
die speziellen Fragen gut und schnell, aber doch für den allgemeinen Ueber-
blick, für das ganze Erfassen und das Judicium fehlt es oft noch an dem
gründlichen Fonds der in sich verarbeiteten Vorkenntnisse. Das kann na-
türlich nicht den Schülerinnen, sondern nur den ungünstigen Verhältnissen
zur Last gelegt werden.“
Er riet uns dasselbe, wie schon früher verschiedene der zahlreichen,
unsern Bestrebungen wohlgesinnten deutschen Männer: „Wir
sollten uns bemühen, bald durch Privatmittel ein Mädchengymnasium oder
wenigstens einmal Parallelkurse zu errichten. Der Staat würde sicher,
wenn sie sich lebensfähig zeigten, entweder eine Subvention geben, oder
sie ganz übernehmen. Aehnlich seien vielfach auch zuerst die Töchter-
schulen, Frauenarbeits- und Haushaltungsschulen gegründet worden.“ –
Haben wir das erreicht, und hat die erste Promotion sechzehnjähriger Schüler-
innen vier Jahre dort gelernt, so ist allerdings zu hoffen, daß bis dorthin
auch in Deutschland das Eis vollends gebrochen sein wird. Die Strömung
für die Erlaubnis zum Studium nimmt doch sehr erfreulich von Jahr
zu Jahr mehr zu. – Beharrt aber Deutschland noch länger auf seiner
Weigerung, so fehlt es den in der Schweiz examinierten Aerztinnen weder
in Europa noch Amerika an PraxisLeider verläßt auch die sowohl von Lehrern als Mitschülerinnen als die beste
medizinische Candidatin gepriesene Frl. Kunow aus Brandenburg nach vollendetem
Examen Europa, und folgt einer Aufforderung nach Amerika. Daselbst sind die in der
Schweiz ausgebildeten Aerztinnen sehr gesucht und glänzend honoriert. Möchte sie doch
bald von einer deutschen Fürstin als Leibärztin für Frauen- und Kinderkrankheiten
zurückgerufen werden, wie würde das unsre Sache fördern. Zwei junge studierende
Berlinerinnen hoffen zuversichtlich, in Berlin sich setzen zu dürfen.. – Auch Oesterreich zeigt durch
den neugegründeten Verein von Männer und Frauen für Einführung von
Gymnasialbildung, daß es einen Schritt vorwärts geht. – Schon durfte
dort eine begabte Wienerin, welche mir vorgestellt wurde, privatim das
Maturitätsexamen machen.
Es hatte für mich etwas Ergreifendes, der Drang zum ernstesten Stu-
dium, der diese schöne, reiche, adelige Dame beseelte. Sie erzählte mir, sie
habe von den ewigen Vergnügungen, vom Ball zum Konzert, von Gesell-
schaften ins Theater, von den Badereisen und Toilettensorgen, von dem
Teppichesticken und Spitzenhäckeln endlich eine solche Oede und Leere und ein
innerliches Unglücklichsein empfunden, daß sie eine immer größere Sehnsucht
nach ernster, geistiger Lebensarbeit durchdrungen habe, und ein immer
heißeres Verlangen, den Menschen zu helfen und zu dienen.
Jhre Stimmung sei immer trüber, ihre Gesundheit schwankend ge-
worden. Sie habe oft daran gedacht, Diakonissin zu werden, aber für
ihre geistige Strebsamkeit hätte es ihr nicht genügt.
Ein trauriges Erlebnis habe sie vollends bestimmt, Frauenärztin werden
zu wollen. Eine Freundin sei unheilbar erkrankt, weil sie sich aus Scham-
gefühl weigerte, für eine Frauenkrankheit einen männlichen Spezialarzt zu
beraten. Jhre Eltern hätten endlich ihrem Wunsche nachgegeben, und nun
sei sie glücklich.
Wie manches treffliche Mädchen, dem aber die Mittel fehlen, mag
wohl ähnlich empfinden.
Das Fräulein studiert nun seit anderthalb Jahren, ist blühend und
gesund, und erscheint durch ihre innere Befriedigung viel jugendlicher, als
ihre achtundzwanzig Jahre es eigentlich für möglich erscheinen lassen.
Die Erzählung des für unsere Wünsche und Bitten um weibliche
Frauenärzte wichtigste, lehrreichste und günstigste Ergebnis meines Züricher
Besuches habe ich mir zum Schluß gespart. Es ist dies mein Besuch im
Hause der Spezialärztin Fr. Dr. Heim.
Dadurch kann ich nun abermals, wie einst nach meinem Gang durch
die Klinik der Al. Tiburtius und Lehmus in Berlin, die Thatsache der
Möglichkeit weiblicher Aerzte konstatieren. Wie vorzüglich und erfolgreich
Fr. Heim ihren Beruf seit 15 Jahren ausübt, darüber herrscht nur eine
Stimme der Anerkennung und Verehrung in Zürich.Frl. Dr. Falner praktiziert auch mit großem Erfolg und Anerkennung, nur
noch nicht so lange in Zürich, leider fehlte mir die Zeit, sie auch noch zu besuchen.
Auch die Herrn mediz. Professoren, die ich im Jnteresse der Aerztinnen-
frage besuchte, sprachen alle mit größter Hochachtung von ihr, und empfahlen
mir einen Besuch bei ihr als das beste Ueberzeugungsmittel, was eine
tüchtige Aerztin zu leisten vermöge. Eine ihrer Patientinnen rühmte
von ihr, sie ist ein Engel am Kranken- und namentlich Wochenbett, so sanft,
so sorglich, so gut und umsichtig, man fühle sich so sicher in ihrer Behand-
lung, daß man sich unbedingt ihrer geschickten kleinen und doch kunst-
vollen Hand anvertraue.
Eine andere von schwerer Operation glücklich genesene Verehrerin von
ihr sagte: „Die Aerztinnen haben eine Zukunft, das kann keine Frage
sein, wenn sie dazu noch, wie Fr. Dr. Heim und Frl. Falner, auch fürs
Häusliche so praktisch, so gut gebildet sind, hat es den großen Vorteil,
daß sie leichter die Verhältnisse, unter denen die zu behandelnden Kranken
leben und gepflegt werden müssen, beurteilen können, und auch den peku-
niären notwendigen Standpunkt eher berücksichtigen, als die mit den häus-
lichen Vorkommnissen unbewanderten männlichen Aerzte, welche in solchen
Fällen öfter anordnen, was bei bescheidenen Mitteln nicht durchgeführt
werden kann. – Frau Dr. Heim hat jährlich durchschnittlich 45-50 Ge-
burten zu besorgen, worunter wenigstens 30 Zangenoperationen, darunter
natürlich verschiedene schwere.
Jn 15 Jahren starben nur drei Wöchnerinnen, zu welchen sie zu spät
gerufen wurde. Die andern Alle, und mehrere hundert Operierte, sind
glücklich genesen, nur drei haben entzündliche, fieberhafte Krankheiten von
kürzerer Dauer durchgemacht.
Jch könnte noch manches Jnteressante aus ihrer Praxis anführen,
aber das wäre mehr für Aerzte als für Laien.
Nur noch gegen den oft von Aerzten angeführten Grund der Un-
möglichkeit weiblicher Aerzte, die mangelnde Körperkraft u. s. w. muß noch
entgegnet werden.
Ein deutscher praktischer Arzt, der dem Frauenstudium zugethan ist,
sagte mir, daß die meisten praktischen Aerzte in Zürich der Fr. Dr. Heim
mit freundlicher Kollegialität begegneten, und die in ihrem Spezialfach zu
behandelnden Patienten ihr mit gleichem Vertrauen zuweisen, wie einem
männlichen Spezialisten. Er setzte hinzu, ein wichtiges Konkurrenzmittel
gegen die größere männliche Kraft ist für die Frauen für dieses Fach die
kleine Hand. Besonders da bei den hier vorkommenden Operationen nur
selten extreme Gewalt angewendet werden muß.
Auch Fr. Dr. H. teilte mir mit, daß sie nur ein einzigesmal der
Hilfe bedurft hätte, und dieselbe leistete ihr eine Kollegin. Sie setzte hinzu,
daß sie allerdings robust sei und viel aushalten könne, aber durchaus
keinen in Beziehung ans Kraft über Durchschnitt gehenden Körperbau habe.
Sie sei zu der Annahme berechtigt, daß jede andere normale, gesunde
Frau, die an körperliche Uebungen gewöhnt worden und die nötige Ge-
wandtheit hat, dieses Fach mit Leichtigkeit ausüben kann. – Jn seltenen
Fällen geschieht es ja auch den Aerzten, daß ihre Kraft nicht ausreicht.
Die große Praxis der Fr. Dr. Heim widerlegt am besten die äußerst
cynischen unser ganzes Geschlecht verletzenden Behauptungen einiger Aerzte,
daß die kranken Frauen selbst nicht nach weiblicher Behandlung ver-
langen; hoffen wir, daß in zwanzig Jahren, wenn man erst überall weib-
liche Spezialärzte beraten kann, die Frauen diese häßlichen Ergüsse eines
niedrigen Materialismus thatsächlich widerlegen werden.
Eilen wir zu einem freundlichen Schlußbild, welches die weiteren Ein-
würfe, daß das Familienleben unter dem Berufe der Frau notleide, glänzend
widerlegte.
Die Stunde auf dem Züriberg in dem reizenden Chalet der Sommer-
wohnung von Herrn und Frau Professor Dr. Heim wird mir unver-
geßlich bleiben.
Und mit der Erinnerung an dieses ideal schöne Heimwesen einer
Aerztin, die zugleich die glücklichste, pflichtgetreueste Gattin und zärtlichste
Mutter zweier kräftigen schönen Kinder ist, nehmen wir Abschied von der
prächtigen Schweizer-Stadt.
Für alle Zeiten wird Zürich ein Ruhmesblatt einnehmen in der
Geschichte der Frauenbewegung. Und herzlicher Dank sei den Schweizer-
männer gesagt, daß sie zuerst in Europa den Ausspruch eines deutschen
Mannes praktisch realisierten – – daß endlich wieder naturgemäß – –
„Die Frauen auch alles arbeiten dürfen, zu was sie fähig
sind.“