I.
Das Frauenwahlrecht ein soziales Recht, kein Naturrecht.
Seine soziale Grundlage. Frauenwahlrecht als Ueber-
lebsel alter sozialer Ordnungen.
Die Konferenz der sozialistischen Frauen zu Mannheim hat sich mit
der Frage des Frauenstimmrechts befaßt. Der Beschluß, sie zu erörtern,
war nicht diktiert von dem Bedürfnis nach theoretischer, nach prinzi-
pieller Klärung der Frage selbst. Diese Klärung ist innerhalb der
Sozialdemokratie und der proletarischen Frauenbewegung längst vor-
handen. Die Erörterung der Frage war den deutschen Genossinnen
vielmehr durch Erwägungen praktischer Natur nahegelegt worden. Wir
stehen der Tatsache gegenüber, daß bestimmte geschichtliche Umstände —
auf die wir später noch eingehen werden — darauf hinwirken, die Frage
des Frauenstimmrechts aus einer bloß prinzipiellen, programmatischen
Forderung der Sozialdemokratie in einen Punkt unseres praktischen
Aktionsprogramms zu verwandeln. Es handelt sich daher für die Ge-
nossinnen darum, sich über die Richtlinien ihrer entsprechenden Arbeit
klar zu werden. Wir bedürfen einer Antwort auf die Frage: Wie
sollen wir als Sozialdemokratinnen die Agitation und den Kampf für
das Frauenstimmrecht in den Kreis der allgemeinen Gegenwartsarbeit
einbeziehen?
Die proletarische Frauenbewegung steht entschieden auf dem Boden
der sozialistischen Geschichtsauffassung. Wir wären daher nicht, die wir
sind, wenn wir nicht auch bei der Antwort auf diese Frage, bei dem
Suchen nach den nötigen Richtlinien unserer Aktion, eins betonen würden.
Das ist die soziale Grundlage, welche die geschichtliche Entwickelung für
die Forderung des Frauenwahlrechts geschaffen hat. Und da zeigt es sich,
daß wir auch betreffs der Begründung unserer Forderung in reinlicher
Scheidung von der bürgerlichen Frauenbewegung getrennt sind. Nach
unserer Auffassung tritt die Berechtigung, die Notwendigkeit des Frauen-
stimmrechts in erster Linie auf als Ergebnis der kapitalistischen Pro-
duktionsweise. Es erscheint vielleicht manchem unwesentlich, das be-
sonders hervorzuheben. Wir erachten es dagegen als nötig, weil die
bürgerliche Frauenbewegung bis jetzt die Berechtigung der Forderung
überwiegend aus alten naturrechtlichen Gründen herleitet. Die bürger-
liche Frauenrechtelei fordert noch heute das Frauenstimmrecht als
ein Naturrecht, genau so wie die spekulative Philosophie der sich emanzi-
pierenden Bourgeoisie am Ausgange des 18. und im Anfang des 19. Jahr-
hunderts Bürgerrechte als Naturrechte rechtfertigte, die dem Menschen
mit dem Geborenwerden zustehen. Wir unsererseits betrachten das
Frauenstimmrecht im Lichte der Ergebnisse der forschenden National-
ökonomie und Geschichte. Wir fordern es als ein soziales Recht, dessen
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Grundlage nicht in irgendwelchen naturrechtlichen Erwägungen zu suchen
ist, sondern in den wesentlich gewandelten sozialen Bedingungen.
Gewiß: auch im frauenrechtlichen Lager wird nebenbei betont, daß
die Umwälzung der wirtschaftlichen Lage und damit auch des Bewußt-
seins der Frau durch die kapitalistische Produktionsweise von wesent-
licher Bedeutung ist für die Rechtfertigung der erhobenen Forderung.
Allein dieser Zusammenhang wird nicht in seiner vollen stützenden und
treibenden Wichtigkeit gewertet. Zum Beweis dafür kann die Prin-
zipienerklärung dienen, welche der bürgerliche „Weltbund für Frauen-
stimmrecht‟ bei seiner Konstituierung auf seiner ersten Jnter-
nationalen Konferenz im Juni 1904 zu Berlin angenommen hat. Jn
dieser Prinzipienerklärung stehen an erster Stelle rein naturrechtliche
Erwägungen, die im Grunde sentimentaler Art sind. Aus ideologischen
Gedankengängen heraus geboren, können sie leicht durch andere Gefühls-
werte, andere Gefühlsgründe, durch eine andere Jdeologie über den
Haufen geworfen werden. Erst unter Punkt 8 wird nebenbei auch der
wirtschaftlichen Umwälzung der Gesellschaft, wird der beruflichen Tätig-
keit der Frau gedacht. Aber in welchem Zusammenhang? Es heißt da,
das Frauenstimmrecht ist begründet in der „gestiegenen Wohlhabenheit‟,
welche die Erwerbstätigkeit der Frauen dem weiblichen Geschlecht ge-
bracht hat. Das ist äußerst charakteristisch. Wir sind der Ueber-
zeugung, daß die Forderung des Frauenstimmrechts ihre tiefste, ihre
stärkste Begründung nicht findet in der Wohlhabenheit einer dünnen
Schicht des weiblichen Geschlechts, nein: in der Armut, in der Not, in
der Ausbeutung, der die große Masse des weiblichen Geschlechts preis-
gegeben ist. Mit aller Entschiedenheit weisen wir die angezogene
frauenrechtlerische Begründung zurück. Sie ist nichts als eine Variation
des alten liberalen Gemeinplatzes vom Nationalreichtum und dem
Recht des Besitzes. Wollten wir uns mit den bürgerlichen Frauen-
rechtlerinnen für unsere Rechtsforderung auf den naturrechtlichen
Standpunkt stellen, so könnten wir uns damit begnügen, allen Vor-
urteilen gegen das Frauenstimmrecht den entsprechend geänderten leiden-
schaftlichen Gefühlsschrei Unterdrückter und Geknechteter entgegenzu-
rufen, den Shakespeare seinem Shylock in den Mund gelegt hat: „Hat
nicht ein Weib Hände, Gliedmaßen, Sinne, Leidenschaften wie der
Mann, mit denselben Speisen genährt, mit denselben Waffen ver-
wundet, mit denselben Mitteln geheilt, von demselben Winter gekühlt,
von demselben Sommer gewärmt. Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir
nicht, wenn ihr uns verwundet, bluten wir nicht, und wenn ihr uns ver-
giftet, sterben wir nicht?!‟ Allein, so wirkungsvoll derartige elementare
Gefühlsausbrüche momentan sein mögen: im Kampfe um soziale Rechte
erweisen sie sich als eine Waffe, die zersplittert, sobald sie den harten
Felsen der geschichtlichen Wirklichkeit berührt.
Wie wenig die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen die stärksten
treibenden Kräfte werten, welche auf die Einführung des Frauenstimm-
rechts hindrängen, beweist auch ein Aufruf an „Deutschlands Frauen‟,
den der Vorstand des „Verbandes für Frauenstimmrecht‟ vor nicht zu
langer Zeit veröffentlicht hat. Darin heißt es: „Als Staatsbeamte, als
Lehrerinnen, als Mitarbeiterinnen in sozialen Hülfsvereinen, als Steuer-
zahlerinnen üben Tausende von Frauen Bürgerpflicht aus, darum haben
sie das volle Recht, auch Bürgerrechte zu fordern.‟ Respektvoll wird zur
Begründung der Rechtsforderung der Betätigung eines Händchens
Damen in sozialen Hülfsvereinen gedacht, einer Betätigung, die oft genug
den Charakter eines Sports oder des geschäftigen Müßigganges trägt.
Kein Wort dagegen von der gesellschaftlich unentbehrlichen Tätigkeit der
Millionen Arbeiterinnen in Fabrik, Kontor und Laden, in der Land-
wirtschaft und Heimarbeit. Und doch ist es diese Tätigkeit, welche den
festen Grundstein bildet, auf dem die Forderung der vollen politischen
Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts ruht. Und doch sind es
diese unerwähnten Arbeiterinnen, welche die Heereskolonnen stellen, die
die ausschlaggebenden Schlachten für das Frauenwahlrecht schlagen.
Unserer Ueberzeugung nach erhält das Frauenstimmrecht seine Be-
gründung durch den Wandel des wirtschaftlichen und sozialen Lebens,
den die kapitalistische Produktion geschaffen hat und in Fluß erhält.
Er gelangt zum Ausdruck in der Erwerbsarbeit der Frauen und im be-
sonderen Maße in der Eingliederung der Proletarierinnen in die
Jndustrie.
Zugegeben, daß bestimmte Tatsachen vorhanden sind, die dieser
Auffassung zu widersprechen scheinen. Das Frauenstimmrecht — wenn
auch in beschränktem Umfange — bestand und besteht in manchen Ländern
schon, ehe die kapitalistische Produktion auftrat, vor allem aber, ehe sie
jenen Grad der Reife erlangt hatte, für welchen die Erwerbsarbeit der
Frau bezeichnend ist. Aber diese Art des Frauenstimmrechts ist wesens-
verschieden von dem Recht, das wir heute, im Zeitalter des entfalteten
Kapitalismus heischen. Jm Lichte der geschichtlichen Zusammenhänge
betrachtet, entpuppt es sich entweder als Recht des Grund und Bodens
oder als Recht der Wirtschaftsgemeinde, der Großfamilie, wenn es na-
türlich auch einen Rückschluß darauf zuläßt, daß die Frau früher ihres
Geschlechts wegen nicht davon ausgeschlossen war, dieses Recht zu
repräsentieren. Nicht als Persönlichkeit erhielt die Frau das Wahl-
recht, sondern als Vertreterin des Haushalts der Großfamilie oder
als Grundbesitzerin, weil nach der lehnsrechtlichen Regel der
Grund und Boden stärker war als die Person. So hat zum
Beispiel die französische Geschichte verzeichnet, daß die Stadt Ferrières
1308 zu den Ständen in Tours Männer und Frauen als Abgeord-
nete entsendete. Und mehr als zwei Jahrhunderte später meldet
sie, daß 1560 und 1576 an der Wahl zu den Generalständen Witwen
und Töchter teilnahmen, welche eine selbständige Wirtschaft führten. Jn
England eignete noch im 15. und 16. Jahrhundert Grundbesitzerinnen
das Wahlrecht zu dem englischen Parlament und wurde von solchen be-
sonders in Bergflecken ausgeübt. Erst im Jahre 1739 wurde das Recht
durch den King's bench court — den obersten Gerichtshof — aus-
drücklich aufgehoben.
Auch wo wir heute einem beschränkten Frauenstimmrecht begegnen
— nicht als neuerobertem Recht, sondern als einen Ausklang alter sozialer
Ordnungen — ist es des oben angegebenen Ursprungs. Jn der bäuer-
lichen Dorfgemeinde Rußlands dürfen Frauen unter Umständen unter
den gleichen Bedingungen wie die Männer an den Beschlüssen der Dorf-
gemeinde mitwirken. Es ist das ein altes Gewohnheitsrecht, das durch
die russische Gesetzgebung anerkannt worden und das seinem Wesen nach
auch das Recht des Grund und Bodens, des Haushalts ist, ein Gewohn-
heitsrecht, in dem sich unseres Erachtens widerspiegelt, daß in Rußland
die alte aus mutterrechtlicher Grundlage hervorgewachsene Großfamilie
länger fortbestand als in Westeuropa. Die Frau übt das alte über-
kommene Recht aus nicht als Persönlichkeit, sondern als Vertreterin
des Familienhausstands, der Wirtschaftsgemeinschaft. Jn einer
Reihe anderer Staaten und sogar in vielen Provinzen Preußens
besteht ebenfalls ein beschränktes Frauenstimmrecht. Jn den sieben öst-
lichen Provinzen des genannten Landes, sowie in Westfalen und Schles-
wig-Holstein besitzen Frauen in den ländlichen Gemeinden das Wahl-
recht zu den Gemeindeverwaltungen. Jedoch nicht alle Gemeindebürge-
rinnen, sondern nur die grundbesitzenden und steuerzahlenden unter
ihnen. Das gleiche gilt von dem Frauenwahlrechte zu den Gemeinde-
räten nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Städten in einem
Teile der Pfalz und anderwärts. Auch in den österreichischen Kron-
ländern besitzen die Frauen in den ländlichen und in vielen städtischen
Gemeinden das Recht, die Gemeindeverwaltung zu wählen, aber das
Recht eignet ihnen ebenfalls nur, wenn sie Grundbesitzerinnen oder eigen-
berechtigte Steuerzahlerinnen sind. Auf dem Gemeindewahlrecht baut
sich das Landtagswahlrecht der Kronländer auf, und bis zu Erkämpfung
des allgemeinen Wahlrechts durch das Proletariat, unter Führung der
Sozialdemokratie, war es auch die Grundlage des Wahlrechts zu dem
Reichsrat. Jn der Folge davon besitzen in vielen österreichischen Kron-
ländern die Grundeigentümerinnen und in manchen Kronländern auch
die dem Zensus genügenden Steuerzahlerinnen das Wahlrecht zu den
Einzellandtagen. Bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts
konnten ferner die Großgrundbesitzerinnen unter den gesetzlich vor-
geschriebenen Bedingungen an den Wahlen zum Reichsrat teilnehmen.
Jn Schweden besteht unter ähnlichen Bedingungen ein verkümmertes
Frauenwahlrecht zu den Gemeindeverwaltungen. Die meisten Bestim-
mungen, welche das Frauenstimmrecht der angezogenen Art festlegen,
machen es von Grundbesitz und Steuerleistung abhängig und charakteri-
sieren es schon dadurch als Recht des Besitzes, nicht der Person. Diese
seine Wesenseigentümlichkeit tritt noch schärfer dadurch in die Er-
scheinung, daß vielfach die besitzenden und wahlberechtigten Frauen das
Wahlrecht nicht persönlich ausüben dürfen, sondern durch einen männ-
lichen Anverwandten oder Bevollmächtigten ausüben lassen müssen.
Ein so geartetes Wahlrecht ist durchaus nicht das Recht, das wir
für das gesamte weibliche Geschlecht fordern. Es ist ein Vorrecht des
Besitzes und nicht das Recht, das nach unserer Auffassung der Frau als
Persönlichkeit, als Staatsbürgerin gebührt. Es steht daher im schroffen
Gegensatz zu unserer Forderung. Jn England finden wir betreffs des
Frauenwahlrechts zu den verschiedenen Organen der lokalen Selbstver-
waltung ein Kompromiß zwischen dem Rechte des Besitzes und dem Rechte
der Frau als Persönlichkeit. Der Besitz soll in der Selbstver-
waltung Recht und Vertretung haben, auch wenn zufälligerweise
nicht der Mann, sondern die Frau sein Träger ist, dem kapita-
listischen Grundsatz entsprechend, daß das Eigentum selbst das ge-
ringere soziale Gefäß heiligt. Das Frauenwahlrecht zu den ver-
schiedenen Körperschaften der lokalen Selbstverwaltung ist daher
weitaus überwiegend auf den Zensus gegründet. Jmmerhin aber
übt die englische Frau persönlich ihr Wahlrecht aus. Unserer Ueber-
zeugung entsprechend darf das Frauenstimmrecht jedoch weder an Grund-
besitz noch an gewerbliches Eigentum oder Steuerleistung gebunden sein.
Wir fordern es als ein soziales Recht der Person.
II.
Die kapitalistische Produktionsweise als wichtigste
treibende Kraft des Frauenwahlrechts.
Die Forderung der Frau, als Persönlichkeit mittels des aktiven
und passiven Wahlrechts den ihr gebührenden Einfluß in Staat und
Gemeinde auszuüben, hat ihre wichtigste treibende Kraft durch die
wirtschaftliche Entwickelung, durch die kapitalistische Produktion er-
halten. Schon in den Anfängen der kapitalistischen Entwickelung hat
daher das Frauenstimmrecht innerhalb der bürgerlichen Demokratie
vereinzelte begeisterte Vorkämpfer gefunden. Die es waren, zählten
zu den erlauchtesten Denkern der Bourgeoisie in den Zeiten ihrer
Jugend, da diese in ihrer revolutionären Sünden Maienblüte den
Traum allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit träumte.
Es ist das wahrlich keine Tatsache, deren sich die Bourgeoisie zu
schämen hätte.
Die Forderung des Frauenstimmrechts als Recht der Persönlichkeit
tritt in England auf als Niederschlag jener „glorreichen Revolution‟, in
welcher die englische Bourgeoisie ihrer jungen Herrlichkeit Karls I. Kopf
zu Füßen legte. Sie tauchte in Frankreich an die Oberfläche, als die
„große Revolution‟ ihre Wellen in das geistige Leben des Landes
vorauswarf, und als das gewaltige historische Drama sich aufrollte, in
welchem die Bourgeoisie über Louis Capets Leiche hinweg zu ihrer
politischen Emanzipation schritt. 1787 erhob Condorcet in seinen
„Briefen eines Bürgers von Newhaven‟ die Forderung voller Gleich-
berechtigung des weiblichen Geschlechts. Der glühende Atem revolu-
tionären Geistes wehte sie über die französische Grenze. 1792 ver-
öffentlichte in England Mary Wollstonecraft ihr berühmtes Werk
„Forderung der Frauenrechte‟, und in Deutschland erschien Th. v. Hippels
bedeutsame Schrift für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts.
Jn dem Sturmgebraus der französischen Revolution selbst erklang bald
der Ruf, die geheischten Menschenrechte dürften nicht bloß Männerrechte,
sie müßten auch Frauenrechte sein. Olympe de Gouges kämpfte mit leiden-
schaftlicher Begeisterung für die volle Emanzipation des weiblichen Ge-
schlechts. Als Gegenstück zu der berühmten Proklamation der Menschen-
rechte schleuderte sie ihre Erklärung der Frauenrechte in die Oeffentlichkeit.
Darin heißt es: „Die Frau ist frei geboren und gesetzlich dem Manne
gleich …. Das Prinzip aller Souveränität ruht wesentlich in der
Nation, welche nur die Vereinigung von Frau und Mann ist. Freiheit
und Gerechtigkeit bestehen darin, jedem alles zukommen zu lassen, was
ihm gebührt …. Das Gesetz muß für alle gleich sein. Da alle
männlichen und weiblichen Bürger gleich sind vor dem Auge des Gesetzes,
müssen ihnen in gleicher Weise alle Würden, Aemter und öffentlichen
Einrichtungen zugänglich sein nach ihrer Fähigkeit und ohne eine andere
Unterscheidung als die ihrer Tugenden und Talente …. Die Frau
hat ein Recht, das Schaffot zu besteigen, sie sollte in gleicher Weise
das Recht haben, die Tribüne zu besteigen.‟ Das Frauenstimmrecht
wurde bereits 1789 in Flugschriften wie in einer Eingabe an die
konstituierende Nationalversammlung gefordert. Diese begnügte sich
jedoch in der Sache mit der platonischen Erklärung, „sie stelle die
Verfassung unter den Schutz der Gattinnen und Mütter‟. 1793 löste
der Sicherheitsausschuß auf Antrag Amars die politischen Frauen-
organisationen auf und verbot ihre Neubildung. Bald verstummte die
Forderung des Frauenstimmrechts. Der demokratische Spiritus der
französischen Bourgeoisie verflog mit der Eroberung und Befestigung
der politischen Herrschaft, und die kapitalistische Produktion war nicht
weit genug entwickelt, um durch revolutionierte Seins- und Tätigkeits-
bedingungen in der Frauenwelt selbst das unerstickbare Massenverlangen
nach politischer Gleichberechtigung wachzurufen. Erst die großen uto-
pistischen Sozialisten Saint-Simons und Fourier und ihre Schüler
nahmen die Forderung wieder auf. 1848 beantragte Victor Confidérant,
1851 Pierre Leroux im französischen Parlamente das Frauenstimmrecht.
Sie fanden keine Zustimmung, sondern begegneten nur Hohn und
Geringschätzung.
Jn den Vereinigten Staaten von Nordamerika wurde die For-
derung des Frauenstimmrechts mit besonderer Energie zuerst während
des Kampfes für die Abschaffung der Sklaverei vertreten. Die von
diesem Kampf getragene Strömung war von starker rückwirkender Kraft
auf England und trug ein gut Teil dazu bei, auch hier eine Bewegung
für das Frauenstimmrecht in Fluß zu bringen. Vom englischen Par-
lament wurde das Frauenstimmrecht zum ersten Male vor ungefähr
70 Jahren in einer Eingabe von einer einzelnen Frau gefordert: von
Lady Stanmore. Erst 1867 stellte einer der hervorragendsten Geister
der bürgerlichen Demokratie, John Stuart Mill, im Namen einer
größeren Gruppe von Frauen den Antrag auf Einführung des
Frauenwahlrechts.
Wie in England und Frankreich, so ist auch in Deutschland politisches
Bürgerrecht für das weibliche Geschlecht gefordert worden, als das
Bürgertum im Kampf für seine politische Emanzipation für demokra-
tische Prinzipien schwärmte. Jn den Stürmen der vierziger Jahre, die
den Prinzen von Preußen als simplen Kaufmann Lehmann bei Nacht
und Nebel über den Kanal jagten, wurde auch die Forderung des
Frauenstimmrechts von bürgerlichen Demokraten verfochten. Kurz, in
allen Kämpfen, in denen das Bürgertum eingetreten ist für die Ver-
wirklichung des demokratischen Prinzips — als für eine Vorbedingung
seiner eigenen politischen Emanzipation und Herrschaft —, in allen
revolutionären Kämpfen der Bourgeoisie: hat auch die Forderung der
Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts Verteidiger gefunden.
Wohl hat der Kampf für die Emanzipation der Frau einzelne
Konzessionen errungen, manche Abschlagszahlung gebracht, aber die volle
politische Gleichberechtigung des gesamten weiblichen Geschlechts ist bis
heute in den meisten und gerade in den industriell am höchsten ent-
wickelten Ländern noch nicht Wirklichkeit geworden. Erklärlich genug.
Gerade zu der Zeit, wo die Bourgeoisie am leidenschaftlichsten und rück-
sichtslosesten für das demokratische Prinzip stritt, waren in der Frauen-
welt selbst die Kräfte noch gebunden, deren Regen und Weben große
Frauenmassen zur Forderung des Wahlrechts als einer sozialen Not-
wendigkeit zwingt. Die Vorbedingung dafür, daß der Ruf nach dem
Frauenstimmrecht als eine historisch begründete Massenforderung er-
klingt, ist erst durch die größere Reife der kapitalistischen Produktion
geschaffen worden. Sie steht im engsten Zusammenhang mit der
Revolutionierung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Frau und damit
des Haushalts.
Die Entwickelung der Maschinenindustrie wertete die Familie
um, indem sie diese aus einer vorwiegend wirtschaftlichen Einheit,
aus einer Produktionsgemeinschaft in eine nur sittliche Einheit
verwandelt. Damit legte sie nicht nur den Grund zur wirt-
schaftlichen Emanzipation der Frau von der Familie und dem
Haushalt, sondern auch zu ihrer politischen Gleichberechtigung.
Die politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts ist das unerläß-
liche Korrelat seiner wirtschaftlichen Verselbständigung. Die nämlichen
geschichtlichen Kräfte, welche mit starker Faust die Naturalwirtschaft aus
der Familie trieben und verhinderten, daß die Frau noch länger als
Universalhandwerkerin im Haushalte tätig war: schufen die Möglichkeit
und Notwendigkeit für ihre neue wirtschaftliche Tätigkeit draußen in
der Gesellschaft, auf dem sozialen Markte. Die Zerstörung der alten
wirtschaftlichen Tätigkeitssphäre des weiblichen Geschlechts hat in der
bürgerlichen Frauenwelt das Bedürfnis erstehen lassen, dem Leben
einen neuen sittlichen Jnhalt zu geben und schuf hier für Zehn-
tausende den Zwang, des Lebens Notdurft durch einen selbständigen
Erwerb zu sichern. Die Vorrechtsstellung des Mannes setzt jedoch
dem Ringen der bürgerlichen Frauen um Lebensinhalt und Lebens-
unterhalt starke Schranken entgegen. Die Frauen bedürfen eines
wirksamen Mittels, um diese Schranken zu brechen. Das Wahl-
recht ist ein solches Mittel. Die bürgerlichen Frauen müssen da-
nach trachten, die politische Gleichberechtigung als ein unschätzbares
und unentbehrliches Mittel zu erobern, genügend Einfluß auf die
Gesetzgebung zu gewinnen, um mit ihrer Hülfe alle Bestimmungen
zu beseitigen, welche dem Manne eine Monopolstellung einräumen
und die Lebensbetätigung des Weibes hemmen. Jn der proleta-
rischen Frauenwelt ist nicht minder, ja in noch höherem Maße
das Bedürfnis nach dem Besitz des politischen Wahlrechts, nach der vollen
politischen Gleichberechtigung erwacht. Die kapitalistische Entwickelung
hat Hunderttausende, ja Millionen Proletarierinnen hinausgestoßen in
das gesellschaftliche Wirtschaftsleben. Als selbständig Erwerbende ist
für sie soziale Bewegungsfreiheit, freies Verfügungsrecht über ihre
Person und ihren Verdienst so notwendig wie für den Mann; als
Ausgebeutete bedürfen sie sozialen Schutzes und sozialer Rechte so
dringend wie er. Auch sie können daher nicht länger des unmittel-
baren Einflusses auf die Gesetzgebung entraten, den der Besitz des
Wahlrechts sichert.
Die Statistik beweist schlagend für alle kapitalistisch entwickelten
Länder, in welchem Umfange sich die Auflösung der alten Wirtschafts-
ordnung und damit der Uebergang der Frau zur Berufstätigkeit und
die Jndustrialisierung der Proletarierinnen insbesondere vollzieht.
Nach den letzten in Betracht kommenden Zählungen gab es:
| Erwerbstätige Frauen | Arbeiterinnen |
1895 in Deutschland | 7657350 | darunter 5392377 |
1890 in Oesterreich | 6245730 | 〃 5310639 |
1890 in Frankreich | 5191084 | 〃 3584518 |
1891 in England und Wales | 4016571 | 〃 3113256 |
1890 in den Vereinigten Staaten | 3914571 | 〃 2864818 |
Diese Zahlen illustrieren nicht nur, welchen Umfang die Erwerbs-
arbeit der Frau im allgemeinen, die proletarische Erwerbsarbeit aber
im besonderen angenommen hat, sondern sie weisen auch aus, wie
dringend das weibliche Geschlecht des Wahlrechts bedarf. Der gekenn-
zeichneten Situation entsprechend wird die proletarische Erwerbsarbeit
die stärkste treibende Kraft im Kampfe um dieses Recht sein. Die
Millionen Arbeiterinnen in Jndustrie, im Handel, in der Landwirt-
schaft usw. können nicht länger des Stimmrechts entbehren, denn es
ist eine Waffe, die ihre Jnteressen gegen das ausbeutende Kapital
schützt. Und zu diesen Millionen gesellen sich viele Hunderttausende
von Proletarierinnen der Kopfarbeit, von bürgerlich berufstätigen
Frauen, die entweder direkt durch die kapitalistische Ausbeutung leiden
oder indirekt infolge der Zusammenhänge und Begleiterscheinungen,
welche die kapitalistische Ordnung schafft. Große Scharen von ihnen
müssen „hungernd mit dem Hirn pflügen‟, wie die Arbeiterinnen mit
der Hand. Durch die charakterisierte Umwälzung ihres wirtschaftlichen
Seins sind die Frauen auch in ihrem Bewußtsein, in ihrem Empfinden
und Denken revolutioniert worden. Sie sind zur politischen Groß-
jährigkeit herangewachsen. Und nun fordern sie das allgemeine Wahl-
recht als eine soziale Lebensnotwendigkeit. Sie müssen den politischen
Machtanteil, den ihnen der Stimmzettel verleiht, zur Verteidigung und
Wahrung ihrer ökonomischen und kulturellen Jnteressen in die Wag-
schale werfen können.
Aber wenn wir das Frauenstimmrecht auch in erster Linie als eine
soziale Lebensnotwendigkeit würdigen, so begehren wir seine Zuerken-
nung doch nicht minder als einen Akt selbstverständlicher Gerechtigkeit.
Die Frau ist nicht nur wirtschaftlich von der Familie und dem Haus-
halt unabhängig geworden; sie wertet nicht nur ihre produktive Tätigkeit
auf den verschiedensten Gebieten der Hand- und Kopfarbeit in ihrer
Bedeutung für die materielle und kulturelle Entwickelung der Gesell-
schaft. Nein, sie ist auch des großen sozialen Wertes ihres hausmütter-
lichen und erzieherischen Waltens bewußt geworden. Der helle Schein,
den die Feuer der großen Fabrikbetriebe auf das mütterliche Wirken
im Heim geworfen haben, hat ihre Augen für die Bedeutung dessen
geöffnet, was sie als Gattin und Mutter für die Allgemeinheit leistet.
Jn dem Maße, wie die Zahl der erwerbstätigen Proletarierinnen steigt,
wie auch die Trägerin, Gebärerin und Erzieherin des proletarischen
Nachwuchses dem Kapital zinsen und fronden muß, unbekümmert um
die Verpflichtungen gegen das keimende Leben in ihrem Schoß, ohne
Rücksicht auf die Pflege, deren das neugeborene Kind, auf die Sorgfalt
und Führung, welches die heranwachsende Jugend bedarf: trat es
scharf in Erscheinung, daß das Schalten und Walten der Frau als
Hausmutter mehr ist als ein Privatdienst, den sie dem Manne leistet,
nämlich eine Tätigkeit von höchster sozialer Bedeutung. Nicht durch
Leichtsinn, nicht durch das Verstummen der Schläge des Mutterherzens,
nein durch den eisernen Druck der kapitalistischen Ausbeutung sind
Millionen Frauen gezwungen worden, werden sie weiter gezwungen, sich
wider das körperliche, geistige und sittliche Wohl ihres eigenen Fleisches
und Blutes zu vergehen. Die steigenden Zahlen über die Säuglings-
sterblichkeit, über die sittlich verwahrlosenden Kleinen, über die jugend-
lichen Fürsorgebedürftigen und Verbrecher: illustrieren den hohen Wert
dessen, was die Frau innerhalb ihrer vier Pfähle für die Pflege
und Erziehung des Nachwuchses wirkt. Die Forderung des Frauenstimm-
rechts ist die Forderung nach sozialer Anerkennung ihrer hochbedeut-
samen sozialen Tätigkeit als Mutter.
Die Frauen fordern das Wahlrecht jedoch auch auf Grund des
demokratischen Prinzips in seiner weitesten Bedeutung. Nicht nur in
dem Sinne, daß gleichen Pflichten gleiche Rechte entsprechen sollen,
daß der Frau zum Zahlrecht auch das Wahlrecht gebührt: wir
glauben es vielmehr der Gesellschaft schuldig zu sein, alle geistigen
und sittlichen Kräfte unserer Eigenart entsprechend in dem Dienst
der Allgemeinheit zu betätigen. Wir teilen nicht die Ansicht
gewisser frauenrechtlerischer Kreise, daß Frauen und Männer gleiche
Rechte haben müssen, weil sie geistig-sittlich gleich seien. Wie körperlich,
so sind die Geschlechter auch in ihrem Geistes- und Seelenleben ver-
schieden. Aber verschieden sein, anders sein, heißt für das weibliche
Geschlecht nicht niedriger sein als das männliche. Und wenn wir auf
Grund unserer psychischen weiblichen Eigenart zum Teil anders
fühlen, denken und handeln als der Mann, so empfinden wir unser
Anderssein als einen Vorzug im Hinblick auf die Ergänzung des
Mannes und die Bereicherung der Gesellschaft.
Von den angedeuteten Gesichtspunkten aus fordern wir die volle
politische Gleichberechtigung der Frau und das Wahlrecht insbesondere,
als die staatsrechtliche Mündigkeitserklärung unseres Geschlechts.
III.
Der Einfluß der Klassenscheidung in der Frauenwelt
auf die Bedeutung des Wahlrechts.
Jn bezug auf die hervorgehobene allgemeine prinzipielle Bedeutung
des Frauenwahlrechts besteht innerhalb des gesamten weiblichen Ge-
schlechts kein Unterschied. Ebenso werten alle Frauen ohne Unterschied
der Klasse die politische Gleichberechtigung als ein Mittel, das Recht
freier, reicher Lebensentwickelung und Lebensbetätigung zu erobern.
Jn der Frauenwelt herrscht jedoch ebenso gut wie in der Männer-
welt der Klassengegensatz und der Klassenkampf. Dadurch wird zwischen
den Frauen der verschiedenen Klassen ein Gegensatz geschaffen betreffs
des praktischen Werts des Wahlrechts und betreffs des Zieles, für das
es gebraucht wird. Für die Frauen hat das Wahlrecht praktisch eine
ganz verschiedene Bedeutung je nach dem Besitz, über den sie verfügen,
oder der Besitzlosigkeit, unter der sie leiden. Und zwar steht im all-
gemeinen der Wert des Stimmrechts für sie in umgekehrtem Ver-
hältnis zur Größe ihres Besitzes.
Je unbeschränkter den Frauen der oberen Zehntausend privatrechtlich
die Verfügungsmöglichkeit über ein großes Vermögen eignet, um so
leichter können sie politischer Rechte entraten. Dank ihrem Geldbeutel
können sie ihre persönlichen Jnteressen auch so in ausgiebigstem Maße
wahren.
Höhere Bedeutung kommt dem Wahlrecht für die mittlere Schicht
der bürgerlichen Frauen zu. Ein großer Teil von ihnen ist nicht in
der angenehmen Lage, wie ihre reicheren Schwestern, sich mittels ererbter
Vermögen eine Lebensbetätigung zu schaffen, welche den persönlichen
Neigungen entspricht. Meist müssen sie sich durch ihre Arbeit nicht nur
einen neuen Lebensinhalt aufbauen, sondern auch in ihr einen Brot-
erwerb suchen. Jhrer Klassenzugehörigkeit und ihrem Bildungsgange
entsprechend denken sie jedoch natürlich genug nicht an die allen offen-
stehende Möglichkeit, gewerbliche oder landwirtschaftliche Arbeiterinnen
zu werden. Sie streben nach einer sogenannten freien oder liberalen
Berufstätigkeit. Die gleiche Bildungsgelegenheit wie dem Manne und
die Möglichkeit zur Ausübung höherer Berufe ist jedoch vielfach noch
den Frauen durch gesetzliche Bestimmungen verwehrt. Die Frauen der
mittelbürgerlichen Schichten und der bürgerlichen Jntelligenz brauchen
daher dringend das Wahlrecht, um die gesetzlichen Grenzwälle zu
schleifen, welche ihren Bedürfnissen nach Bildung und Berufstätigkeit
entgegenstehen. Diese Mittelschicht der Frauenwelt begehrt aber das
Wahlrecht nicht nur im Hinblick auf die Wahrung ihrer engeren Jnter-
essen als Angehörige des weiblichen Geschlechts. Sie will sich nicht
darauf beschränken, den Kampf zu führen gegen die Vorrechte des
Mannes, sondern sie möchte auch ihre politische Macht auf allen Ge-
bieten der Gesetzgebung, des öffentlichen Lebens wirkend zur Geltung
bringen, an der Lösung aller sozialen Aufgaben mithelfen, besonders
auch an dem Zustandekommen einer durchgreifenden Sozialreform.
Jhr Wünschen und Wollen berührt sich darin mit demjenigen der
proletarischen Frauen, aber nur, um sofort den Gegensatz der Klassen-
interessen hervortreten zu lassen, der die proletarische und bürgerliche
Welt trennt.
Die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen wollen im öffentlichen Leben
mitraten und mittaten, wollen am Ausbau der sozialen Reformen
mitwirken, weil sie hoffen, dadurch die heutige bürgerliche Ge-
sellschaftsordnung zu stützen und zu erhalten. Die Proletarierinnen
dagegen wollen mittels des Wahlrechtes nicht nur ihre ökonomischen
und kulturellen Gegenwartsinteressen verteidigen, sondern auch für
ihre teuersten Zukunftshoffnungen kämpfen. Das kann aber nur im
Ringen gegen das kapitalistische Regime geschehen. Es ist nicht die
Herrschaftsstellung des Mannes ihrer Klasse, die ihnen freie Lebens-
entfaltung und Lebensbetätigung vorenthält, es ist die Herrschafts-
stellung der Kapitalistenklasse, ihre Ausbeutungsmacht und ihr Aus-
beutungsrecht in der heutigen Ordnung. Die politische Arbeit und
der politische Kampf der proletarischen Frauen hat daher ein über die
Gegenwart und ihre Reformierung hinausreichendes Ziel: den Sturz
des Kapitalismus. Und so fordern die Proletarierinnen das Wahl-
recht vor allem zum Kampfe gegen die Kapitalistenklasse und gegen
die kapitalistische Ordnung. Gewiß: auch sie wollen möglichst durch-
greifende soziale Reformen, aber zu ganz anderem Zweck als die bürger-
lichen Frauenrechtlerinnen. Nicht um die bürgerliche Gesellschaft, die
kapitalistische Wirtschaftsordnung zu stützen; nein, um die Kampfes-
fähigkeit des Proletariats gegen sie zu steigern. Kurz das A und O
unserer Wahlrechtsforderung bleibt: wir verlangen gleiche politische
Rechte mit dem Manne, damit wir ungehemmt durch gesetzliche
Schranken mitarbeiten, mitkämpfen können, um diese Gesellschaft zu
stürzen.
IV.
Die bürgerliche Frauenbewegung und das Wahlrecht.
Die aufgezeigten Zusammenhänge erklären uns, weshalb bis zum
heutigen Tage die bürgerliche Frauenbewegung den Kampf für die
politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts nicht einheitlich und
mit höchstem Nachdruck führt, weshalb sie insbesondere nicht in fest-
geschlossenen Reihen hinter der Forderung des allgemeinen, gleichen,
direkten und geheimen Wahlrechts für alle großjährigen Staats-
angehörigen ohne Unterschied des Geschlechts steht. Jhre Haltung ist
der geschichtlich bedingte, unvermeidliche Ausdruck für die bestehende
Verschiedenheit der sozialen Schichtung innerhalb der Frauenwelt und
der in jener wurzelnden Jnteressengegensätze. Nur wenn man die Ver-
schiedenheit der sozialen Schichtung ins Auge faßt, wird verständlich,
daß die bürgerliche Frauenbewegung nicht einmal als festgefügte, ein-
heitliche Macht hinter der prinzipiellen Forderung des Frauenwahl-
rechts steht. Aus dem früher dargelegten Grunde haben die Frauen
der oberen Zehntausend im allgemeinen kein oder nur ein schwaches
Bedürfnis nach der politischen Gleichberechtigung mit dem Manne.
Nur wenn man die Verschiedenheit der sozialen Schichtung nicht über-
sieht, begreift man die andere Tatsache. Sobald man über die Pro-
klamierung des bloß abstrakten Prinzips politischer Gleichberechtigung
des weiblichen Geschlechts hinaus die Frage nach der praktischen Natur
des Wahlrechts aufwirft und die Forderung des allgemeinen Wahlrechts
erhebt, verstummt das schöne frauenrechtlerische Lirum Larum von der
„einen großen Schwesternschaft‟. Der Klassen- und Jnteressengegensatz
zwischen den bürgerlichen Frauen einerseits, den Proletarierinnen
anderseits schließt es aus, daß eine einige und ungeteilte Frauen-
bewegung hoch über dem Schmutz der Parteikämpfe in den Wolken
makelloser Gerechtigkeit und Unparteilichkeit thront und mit segnender
Hand auch den Proletarierinnen ihr Recht spenden wird.
Die bereits erwähnte internationale Konferenz des „Weltbundes
für das Frauenstimmrecht‟ hat den schlagenden Beweis für unsere
Auffassung geliefert. Sorgfältig sind die tagenden Damen der Ver-
legenheit aus dem Wege gegangen, klipp und klar auszusprechen, welche
Art von Frauenwahlrecht sie verlangen. Sie haben sich damit begnügt,
das Frauenstimmrecht überhaupt zu fordern, obgleich sie ganz gut
wissen, daß es ein allgemeines Frauenwahlrecht und ein beschränktes
Damenwahlrecht gibt, und daß der Unterschied zwischen beiden in den
Tagen des verschärften Klassenkampfs immer bedeutsamer wird. Es
entbehrt nicht eines pikanten Beigeschmacks, daß Frau Stritt, die
Vorsitzende des gemäßigten „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins‟,
gelegentlich der Verhandlungen des „Weltfrauenbundes‟ sich radikaler
gezeigt hat als die radikalen bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, welche
auf der Jnternationalen Konferenz für das Frauenstimmrecht das große
Wort führten. Sie erklärte, daß ihrer Auffassung nach nur eine Art
des Stimmrechts in Betracht kommen könne: das allgemeine, gleiche,
direkte und geheime Wahlrecht für Männer und Frauen. Aber freilich:
so ehrenvoll die betreffende Erklärung für diejenige ist, die sie ab-
gegeben, so gering ist ihre praktische Bedeutung. Denn der „Welt-
frauenbund‟ selbst, der fast zur selben Zeit wie die Stimmrechts-
konferenz in Berlin tagte, und dem auch der „Allgemeine Deutsche
Frauenverein‟ angegliedert ist, hat sich so wenig wie diese für das
allgemeine Wahlrecht erklärt. Auch er hat sich mit einer ganz vagen
Erklärung begnügt. Auf keiner der beiden internationalen Tagungen
hat eine bürgerliche Frauengruppe — auch die radikalste nicht — offiziell
und ein für allemal programmatisch bindend zu diesem Kardinalpunkt
der Wahlrechtsfrage Stellung genommen. Alle — in welcher Couleur
sie auch schillern mögen — haben sich damit begnügt, das Wahlrecht
für die Frauen der einzelnen Länder unter den gleichen Bedingungen
zu fordern, an die es für die Männer geknüpft ist. Mit anderen
Worten: dort, wo das allgemeine Männerwahlrecht noch nicht besteht,
ist das Ziel ihres Strebens erfüllt, wenn zum Herrenwahlrecht das
Damenwahlrecht tritt. Eine spätere offizielle Lebensäußerung der inter-
nationalen bürgerlichen Frauenrechtelei hat das bestätigt. Jm August
1906 hat in Kopenhagen eine andere Konferenz des „Weltbundes für
das Frauenstimmrecht‟ getagt. Die Konferenz beriet nicht nur Fragen
der Organisation und Agitation, sie fand auch Zeit, das welt-
erschütternde Problem zu lösen, welche Abzeichen künftighin die Mit-
glieder der Frauenwahlrechtsvereine tragen sollen. Dagegen hat sie
nicht mit einem Worte die Frage des allgemeinen Wahlrechts erörtert,
noch weniger hat sie unzweideutig erklärt, wie der frauenrechtlerische
„Weltbund‟ dazu steht, und doch drängte sich die Stellungnahme zum
allgemeinen Wahlrecht geradezu auf. Die Vertreterinnen von Finn-
land und Ungarn äußerten nämlich die Ansicht, daß die Bewegung für
die politische Gleichberechtigung der Frau die meisten Fortschritte
dort zu verzeichnen habe, wo der Kampf für das allgemeine Wahl-
recht die Geister wachrüttelt, wo der Wahlrechtskampf des Proletariats
den Boden für die Beseitigung jeden politischen Unrechts bereitet. Sie
hatten das aus den Verhältnissen in ihrem Vaterlande gelernt. Die
Konferenz konnte also gleichsam mit Händen den Zusammenhang
greifen, der sie — wenn sie konsequent Frauenrechte vertreten wollte
— zur Forderung des allgemeinen Wahlrechts treiben mußte. Trotz-
dem hat sie sich feige um eine nicht zu drehende und zu deutelnde
Stellungnahme herumgedrückt.
Doch bleiben wir zur Bekräftigung unserer AuschauungAnschauung im Lande.
Die Geschichte der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung ist überreich
an Tatsachen, die sie erhärten. Jn ihrer Gesamtheit marschieren die
frauenrechtlerischen Organisationen in Deutschland noch immer nicht
in geschlossener Phalanx hinter der Fahne des Frauenstimmrechts. Wohl
hat sich der „Bund deutscher Frauenvereine‟ auf seiner General-
versammlung zu Wiesbaden 1902 unter dem Drängen des „radikalen
Flügels‟ endlich dazu bequemt, sich offiziell für das Frauenwahlrecht
zu erklären. Allein in der recht schwächlichen Form, es sei „dringend
zu wünschen, daß die Bundesvereine das Verständnis für den Gedanken
des Frauenstimmrechts nach Kräften fördern.‟ Will man die „Kräfte‟
der Bundesvereine nach dem bemessen, was diese zur Verwirklichung
des bescheidenen aber „dringenden Wunsches‟ getan haben, so muß
man sie fast durchweg als die organisierte Ohnmacht bewerten. Denn
— von den Frauenstimmrechtsvereinen abgesehen — haben die wenig-
sten von ihnen irgend Nennenswertes auch nur für die Verbreitung des
„Gedankens‟ des Frauenstimmrechts geleistet. Noch weniger ist bis heute
von einer einheitlichen und kraftvollen Aktion des „Bundes‟ für die
Eroberung vollen politischen Bürgerrechts für das weibliche Ge-
schlecht die Rede gewesen. Und das obgleich die große gemäßigte
Organisation durch ihre Zugehörigkeit zum „Weltfrauenbund‟ 1904
sich neuerlich zum Frauenstimmrecht bekannt hat. Jn diesem Jahre
hat sich nämlich diese internationale Vereinigung bürgerlicher
Frauenrechtlerinnen in einer Resolution für die volle politische
Gleichberechtigung der Geschlechter erklärt. Außerdem — und
das muß besonders betont werden — hat sich der „Bund deutscher
Frauenvereine‟ offiziell darüber ausgeschwiegen, ob er ein all-
gemeines Frauenstimmrecht erstrebt oder sich in seiner „maßvoll klugen
Weise‟ unter Umständen auch mit einem Zensuswahlrecht bescheiden
würde. Es ist jedenfalls nicht besonders vertrauenerweckend, daß in
dem offiziellen „Zentralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine‟ kurz
nach der diesjährigen Reichstagswahl eine regelrechte Attacke gegen
das allgemeine Wahlrecht geritten wurde, die Frau Stritt zwar recht
wortreich, aber keineswegs mit der nämlichen Bestimmtheit zurück-
geschlagen hat, mit der sie sich in Berlin seinerzeit für das allgemeine
Wahlrecht ausgesprochen hatte.
Weit energischer als der „Bund‟ in seiner Gesamtheit tritt der
sogenannte radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung — in
der Hauptsache im „Verband fortschrittlicher Frauenvereine‟ zusammen-
geschlossen — für das Frauenwahlrecht ein. Aber für das allgemeine
Wahlrecht hat auch er bis heute nicht programmatisch alle Organisa-
tionen verpflichtet, die sich zu ihm zählen. Nicht einmal die noch
geltenden, 1904 revidierten Statuten des „Deutschen Verbandes für
Frauenstimmrecht‟ enthalten die ausdrückliche Erklärung, daß das ge-
forderte Frauenwahlrecht als allgemeines zur Einführung kommen
müsse. Der Vorstand des Verbandes muß wohl endlich empfunden
haben, wie ungenügend und schwächlich in der heutigen Situation
die Prinzipienerklärung seiner „Satzungen‟ ist. Der Entwurf zu
ihrer Abänderung, welcher die dritte Hauptversammlung im Sep-
tember 1907 beschäftigen soll, enthält unter § 3 den nachstehenden
Passus: „Der Verband erstrebt das allgemeine, gleiche und direkte
Wahlrecht für beide Geschlechter zu den gesetzgebenden Körper-
schaften und zu den Organen der Selbstverwaltung.‟ Da der „Verband‟
bereits 1902 als „Verein für Frauenstimmrecht‟ gegründet worden ist,
hat er sich reichlich Zeit gelassen, ehe er zu einer unzweideutigen
Stellungnahme schritt. Daß sie einen Fortschritt bedeutet, erhellt aus
einer Gegenüberstellung mit der Erklärung, durch welche Fräulein
Augspurg als Vorsitzende des Verbandes 1905 die Anregungen be-
antwortete; eine Protestaktion gegen den Hamburger Wahlrechtsraub
zu beschließen. „Wo es sich nur um absolute Männerrechte handelt, bei
denen Frauenrechte gar nicht in Frage stehen,‟ erklärte sie, „ist die
Sache nicht prinzipiell genug, besondere Anstrengungen und Mittel auf-
zuwenden.‟ Allerdings hat sich die Hamburger frauenrechtlerische Orga-
nisation doch noch in letzter Stunde zu einem bescheidenen Protest gegen
den Wahlrechtsraub aufgerafft. Wir verzeichnen das als die eine
Schwalbe, über deren Ankunft wir uns freuen, die aber leider noch
keinen Sommer macht.
Die im Frühling d. I. gegründete „Liberale Frauenpartei‟ hat
die Forderung des allgemeinen Wahlrechts in ihr Programm aufge-
nommen. Allein diese neugebackene Organisation umschließt nur einen
sehr bescheidenen Bruchteil der radikalen Frauenrechtlerinnen, ist einst-
weilen praktisch bedeutungslos und kann — wie die Dinge gelagert
sind — unserer Ansicht nach in Zukunft schwerlich zu Kraft und aus-
schlaggebender Wichtigkeit gelangen.
Der programmatisch ungeklärten und unverbindlichen Stellung der
bürgerlichen Frauenbewegung in ihrer Gesamtheit zur Wahlrechtsfrage
entsprechen ihre praktischen Lebensäußerungen dazu. Sie sind schwächlich
und widerspruchsvoll, kennzeichnen sich überwiegend zum mindesten durch
eine große Gleichgültigkeit gegen das allgemeine Wahlrecht und be-
deuten zum Teil seine offene Preisgabe. Zum Beleg dafür einige Tat-
sachen, deren Richtigkeit eine Nachprüfung in der frauenrechtlerischen
Literatur wie in der politischen Tagespresse erweist.
Jm Winter 1901/02 richtete der radikale Verein „Frauenwohl‟
an den preußischen Landtag eine Eingabe, in welcher er für die Frauen
das Gemeindewahlrecht verlangte. Etwa für alle Frauen? Mit
nichten. Die radikalen Frauenrechtlerinnen wollten als Vollgemeinde-
bürgerinnen nur Frauen gelten lassen, die mindestens ein Jahr am
Orte ansässig wären und eine, wenn auch nur geringe, direkte Abgabe
zahlten. Dieser Antrag lief in Wirklichkeit darauf hinaus, das Ge-
meindewahlrecht nur für die Damen und nicht für die proletarischen
Habenichtse unter ihren „Schwestern‟ zu fordern. Es ist eine bekannte
Tatsache, daß ein großer Teil des männlichen wie des weiblichen Pro-
letariats des Wahlrechts beraubt wird, sobald die Seßhaftigkeit eine
Vorbedingung der Wahlberechtigung ist. Das Wahlrecht von einer
Steuerleistung abhängig machen, heißt ebenfalls nicht anderes,
als zweierlei Recht für Besitzende und Nichtbesitzende schaffen. Das
durch die Bedingung geschaffene Unrecht ist um so schreiender, als, nicht
nach einzelnen, sondern nach Klassen gerechnet, die werktätigen Massen
durch direkte und indirekte Steuern mehr zu dem Einkommen von Staat
und Gemeinde beitragen, als die besitzende Minderheit. Dazu noch
eins. Wir müssen die Frage aufwerfen: Wer zahlt in Wirklichkeit
die Steuern der besitzenden Klassen? Das sind die Proletarier, ohne
Unterschied des Geschlechts, das sind die Ausgebeuteten, die erst den
Besitz schaffen.
Aeußerst lehrreich wie die angezogene Eingabe ist auch die Hal-
tung der nämlichen radikalen Frauenrechtlerinnen in den Reichstags-
wahlkämpfen von 1903 und 1907. Der „Verein für Frauenstimmrecht‟,
der 1903 den ersten begrüßenswerten Versuch machte, die bürgerlichen
Frauen in den Wahlkampf zu führen, schied von vornherein aus dem
Aktionsprogramm die Forderung des Frauenwahlrechts aus, zu deren
Durchsetzung er doch gegründet worden war. Offenbar wollte er durch
diese blutige Selbstverhöhnung zeigen, mit welchem Recht er seinen Namen
führt! Jn einem Wahlaufrufe forderte er die Frauen zur Unter-
stützung von Kandidaten auf, „die für Gerechtigkeit, Freiheit und
Fortschritt eintreten.‟ Unter einer höchst fadenscheinigen Begründung
machte er in einem Rundschreiben seinen Anhängerinnen plausibel, daß
für die Unterstützung eines Kandidaten ihrerseits „die Frage seiner
Haltung gegenüber dem Frauenstimmrecht nicht ausschlaggebend zu
sein braucht‟. Zu dieser Parole stimmte es, daß bekannte Führerinnen
der radikalen Frauenrechtlerinnen in Berlin, Frankfurt a. M. und
anderen Städten noch die Werbetrommel für Freisinnige und sonstige
bürgerliche Liberale gerührt haben, die zum großen Teil dem Frauen-
wahlrecht gleichgültig, im besten Falle aber als laue Freunde gegen-
überstanden. Und das ist das kennzeichnende: es handelte sich nicht
um die Unterstützung bürgerlich Liberaler, die im Kampfe gegen Kon-
servative und Zentrum standen, sondern die in der Hauptsache mit der
Sozialdemokratie ringen mußten, der einzigen Partei, die in Deutsch-
land geschlossen und grundsätzlich das Frauenstimmrecht verficht. Es
sei dahingestellt, ob die radikalen Frauenrechtlerinnen sich in Hamburg
tatsächlich der äußersten Schmach schuldig gemacht haben, den Liberalen
im Kampfe gegen einen Bebel zu unterstützen, der in Deutschland zu
den ersten und verdienstvollsten Vorkämpfern für die volle Gleich-
berechtigung des weiblichen Geschlechts zählt. Von glaubwürdiger Seite
ist es berichtet, von den Damen selbst ist es bestritten worden; Be-
hauptung steht gegen Behauptung. Aber selbst wenn dieser Fall schmach-
vollsten Verrats der Fraueninteressen aus dem frauenrechtlerischen
Sündenregister ausscheiden sollte, ist das folgende unbestrittene Tat-
sache. Die radikalen Frauenrechtlerinnen sind gegen den Sozial-
demokraten für den Liberalen in einem Hamburger Wahlkreis ein-
getreten, in dem die konservative Kandidatur bloße Zählkandidatur
war, und die Wahlaktion der Damen mithin den ausgesprochenen
Charakter einer Demonstration gutbürgerlicher Gesinnung gegen die
Sozialdemokratie trug. Etwas verändert hat sich das gleiche Schau-
spiel in der diesjährigen Wahlkampagne wiederholt.
Es illustriert die innere Zerfahrenheit und Schwäche, die auch
im Lager der radikalen Frauenrechtelei herrscht, daß der „Verband für
Frauenstimmrecht‟ — zu dem sich seither der frühere Verein gleichen
Namens umgestaltet hat — nicht mit einer scharfumrissenen Parole
zu einer einheitlichen Wahlaktion auf dem Plan erschienen ist. Wohl
erinnerte der Vorstand in einem Zirkular daran, daß es Pflicht eines
jeden Mitgliedes sei, sich lebhaft an den bevorstehenden Reichstags-
wahlen zu beteiligen, „indem es seine Arbeitskraft zur Propaganda
für die Wahlarbeiten zur Verfügung stellt‟. Aber über einige Allge-
meinheiten betreffs des Ziels dieser Arbeiten ist das Schriftstück nicht
hinausgekommen. Es hieß darin, nachdem die Parteilosigkeit der
Organisation wie üblich mit heiligem Eid beschworen: „Der Verband
darf lediglich beanspruchen, daß seine Mitglieder nur für solche Kandi-
daten eintreten, die sich in öffentlichen und verbindlichen Formen für
die politische Gleichberechtigung der Geschlechter zu erklären den Mut
haben.‟ Kein Wort des Dokuments verrät auch nur andeutungsweise,
daß das begehrte Wahlrecht ein allgemeines Wahlrecht sein muß.
Die dem Verband angegliederten Landesorganisationen traten der
Losung der Zersplitterung entsprechend jede für sich in die Wahlarbeit
ein. Sie gingen auch — wenigstens auf dem Papier — einen Schritt
über die Schwächlichkeit des Verbandsvorstandes hinaus. Soweit uns
bekannt ist, sind sie dem Beispiel des preußischen Landesausschusses
für das Frauenstimmrecht gefolgt und haben das „allgemeine, gleiche,
direkte und geheime Wahlrecht auch für Frauen‟ mit unter die
Forderungen aufgenommen, die als ausschlaggebend für die zu ge-
währende Unterstützung der Kandidaten seitens der Mitglieder in
Betracht kommen sollten. Dies offizielle Bekenntnis zum allgemeinen
Wahlrecht ist übrigens erst nach der scharfen Kritik erfolgt, die auf
der Konferenz der sozialistischen Frauen zu Mannheim an der Haltung
der Frauenrechtlerinnen in der Wahlrechtsfrage geübt worden war.
Jndessen: besser spät als niemals.
Freilich ist auch das bescheidene prinzipielle Vorwärts in der Praxis
fast bis zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft. Und das, weil
keine einzelne Frauenstimmrechtsorganisation den Mut haben durfte,
eine einheitliche, prinzipielle Aktion durchzuführen, wollte sie nicht die
Gefahr eines Auseinanderfallens der Organisation selbst heraufbe-
schwören. Das theoretische Märchen von der einen unteilbaren Frauen-
bewegung kann nur mittels der Uneinheitlichkeit und damit der Schwäche
der Praxis am Leben erhalten werden. So wurde die Fahne des
allgemeinen Wahlrechts wohl entfaltet, aber um sie zu verteidigen und
zum Siege zu tragen, dazu geschah nur Widerspruchsvolles und Unzu-
längliches, ja in manchen Fällen wurde die Fahne geradezu dem Feind
ausgeliefert. Die Frauenstimmrechtsorganisationen marschierten unter
dem Eiapopeia von ihrer unbefleckten Unparteilichkeit in den Wahl-
kampf, denn sie stellten es ausdrücklich ihren Mitgliedern frei, nach
ihrer persönlichen Ueberzeugung jeden Kandidaten, ohne Unterschied
seiner Parteizugehörigkeit zu unterstützen, der Entgegenkommen gegen
das aufgestellte Programm ad hoc bekunde. Die theoretische Unpartei-
lichkeit schlug aber wieder in eine ausgesprochen bürgerliche Praxis um,
welche das prinzipielle Recht des weiblichen Geschlechts preisgab. Von
verschwindenden Ausnahmen abgesehen, ist das frauenrechtlerische Ein-
treten in den Wahlkampf nur den Kandidaten des bürgerlichen Liberalis-
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mus, vor allem aber den verschiedenen Schattierungen des bürgerlichen
Freisinns zugute gekommen. Was aber bedeutet das, wenn man das
Frauenwahlrecht und zwar als allgemeines Frauenwahlrecht zur
Kampfesparole erhebt? Das mögen die folgenden Ausführungen zeigen.
V.
Die politischen Parteien und das Frauenwahlrecht.
Keine einzige der bürgerlichen liberalen und demokratischen Parteien
ist in Deutschland zurzeit offiziell und programmatisch auf das Frauen-
stimmrecht verpflichtet, von keiner einzigen von ihnen ist daher eine
energische und geschlossene Unterstützung dieser Forderung zu erwarten.
Die drei freisinnigen Fraktionen haben sich auf einer Tagung mit der
Frauenfrage so nebenher in oberflächlicher Weise auseinandergesetzt. Was
das Frauenstimmrecht insbesondere anbelangt, so haben sie ihm die
Almosen einiger freundlichen Redensarten zugeworfen, die durchblicken
ließen, daß der „volle und ganze‟ Freisinn nicht mehr abgeneigt sei,
später einmal, in nebelgrauer Zukunft, die Forderung in wohlwollende
Berücksichtigung ziehen zu wollen. Die Deutsche Volkspartei hat auf ihrem
letzten Parteitag zu München eine entschiedene Stellungnahme zu der
Frage des kommunalen und erst recht des politischen Wahlrechts ebenfalls
auf die lange Bank geschoben. Jhre einflußreichsten Führer bekämpfen
die Forderung mit Spießbürgerwitzchen, die der Clown in dem Zirkus
einer leidlich großen Stadt nicht mehr aufzutischen wagt. Jahrelang
haben die vulgärsten Mätzchen gegen das Frauenstimmrecht zu den be-
liebtesten Pfeilen gehört, welche die Partei in ihrem Kampfe gegen die
Sozialdemokratie von ihrem schlappen Bogen schnellte. Und noch im
letzten Landtagswahlkampfe — Dezember 1906 — haben die um Hauß-
mann und Payer in ihrem Kampfe gegen den „Umsturz‟ feierlich das
Frauenstimmrecht als eine „blinde Ueberstürzung‟ abgeschworen, für die
sich nur die utopienbegeisterte Sozialdemokratie erklären könne.
Was aber inmitten der bürgerlich liberalen und freisinnigen
Parteien die einzelnen „Frauenrechtsfreunde‟ wert sind, zu denen die
radikalen Frauenrechtlerinnen in der schwärmerischen Verzückung einer
ersten Backfischliebe aufblicken: das haben erst kurz vor den letzten Reichs-
tagswahlen wieder einmal Taten sinnenfällig enthüllt. Jm Frühjahr
1906 mußte der Reichstag über einen Antrag der Sozialdemokratie ver-
handeln, der zu den Parlamenten aller Bundesstaaten die Einführung
des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle
großjährigen Staatsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts
forderte, also das Frauenwahlrecht in sich begriff. Alle bürgerlichen
Parteien haben versagt, das allgemeine Wahlrecht überhaupt, das
Frauenwahlrecht insbesondere auch nur im Prinzip zu einem Siege
zu führen. Ausnahmslos haben sie gegen den sozialdemokratischen
Antrag gestimmt, und die Freisinnigen obendrein mit der aus-
drücklichen Begründung, ihm nicht beitreten zu können, weil er die
Forderung des Frauenwahlrechts enthalte. Doch mehr noch. Das
Frauenstimmrecht wurde auch von den vereinzelten bürgerlichen
Politikern schnöde im Stich gelassen, die in der Theorie für
diese Forderung schwärmen und von den bürgerlichen Frauenrechtle-
rinnen als die verdienstvollsten und zuverlässigsten Vorkämpfer für die
volle Gleichberechtigung der Geschlechter über den grünen Klee gefeiert
werden. So der Ueberall-und-nirgends-Herr v. Gerlach. Er verbeugte
sich zwar verbindlich lächelnd vor dem Prinzip des Frauenwahlrechts,
schlachtete es aber skrupellos den „parteipolitischen‟ Jnteressen des Frei-
sinns. Auch er betonte, aus „Zweckmäßigkeitsgründen‟ gegen die
Forderung und ihretwegen gegen den ganzen sozialdemokratischen An-
trag zu stimmen. Der bürgerliche Freisinn hielt es für nötig, etwas
später, im Frühjahr 1906, seine Ablehnung des Frauenstimmrechts noch-
mals im Reichstage mit stolzgeschwellter Männerbrust zu verkündigen.
Es handelte sich um die Beratung eines Antrags, für das Reich ein ein-
heitliches und freies Vereins- und Versammlungsrecht zu schaffen, das
Frauen und Männer mit gleichem Maße messen sollte. Die Sozial-
demokratie benützte auch diese Gelegenheit, um eine Lanze für das
Frauenstimmrecht zu brechen. Herr Pachnicke aber erhob im Namen des
Freisinns den Schwurfinger und gab allen Philistern und Reaktionären
unter Berufung auf die angeführte Abstimmung die beruhigende Ver-
sicherung: „Es herrscht unter den freisinnigen Parteien nahezu Ein-
stimmigkeit darüber, daß augenblicklich dieser Forderung nicht nach-
zugeben sei.‟
Wie anders dagegen die Haltung der Sozialdemokratie zur strittigen
Frage! Kaum daß sie als Partei geboren war, hat sie auch die For-
derung gleichen Rechts für Mann und Weib in ihr Programm auf-
genommen. Mit prinzipieller Klarheit und Einmütigkeit hat sie sich an-
gelegen sein lassen, dem in der Theorie anerkannten Bürgerrecht der
Frau auch in der Praxis Geltung zu verschaffen. Die Sozialdemokratie
ist in Deutschland die Frauenstimmrechtsorganisation par excellence.
Jn Tausenden und Abertausenden von Versammlungen, in denen sie
jahraus jahrein ihre Lehren, ihre Forderungen begründet, wird die Be-
rechtigung des Frauenwahlrechts nachgewiesen. Die proletarische
Frauenbewegung insbesondere hat wiederholt über das ganze Reich eine
systematische Agitation entfaltet, die ausschließlich dem vollen, dem
höchsten politischen Recht des weiblichen Geschlechts galt. Die Genossen
Bebel, v. Wollmar und viele andere noch sind je und je im Reichstag
und in den Landtagen verschiedener Einzelstaaten nachdrücklich für das
Frauenwahlrecht eingetreten. Und die Sozialdemokratie hat sich nicht
mit der gelegentlichen Begründung der Forderung im Parlamente be-
gnügt. Sie hat diese auch zu positiven Anträgen verdichtet. Als erste
und bisher noch immer einzige unter allen Parteien hat die Sozial-
demokratie bereits 1895 im Reichstage einen Antrag eingebracht, daß
in allen Bundesstaaten die Parlamente beruhen müssen auf dem all-
gemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht aller großjährigen
Staatsangehörigen, ohne Unterschied des Geschlechts. Die Verhandlung
des Antrages gab ihr Gelegenheit, die Forderung des Frauenwahl-
rechts großzügig und energisch von der bedeutsamsten Tribüne des Reichs
aus zu begründen. Die bürgerlichen Parteien standen ihr in geschlossener
Front entgegen. Jm sächsischen Landtag haben unsere Genossen einen
entsprechenden Antrag gestellt und verteidigt. Als die Sozialdemokratie
im Winter 1905/06 den Kampf für die Demokratisierung des Wahl-
rechts in Preußen, Sachsen usw. aufnahm, hat sie auch die Forderung
des Frauenstimmrechts erhoben. Jn den großen Demonstrationsver-
sammlungen wie in der Presse ist sie verfochten worden. Sie gelangte
auch in dem Antrag zu ihrem Recht, den die Sozialdemokratie im Reichs-
tag stellte und begründete, und der sich im wesentlichen mit dem des
Jahres 1895 deckte. Kurz: in Deutschland ist die Sozialdemokratie die
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getreueste und eifrigste Vorkämpferin für die volle politische Gleich-
stellung der Geschlechter. Sie hat den Gedanken des Frauenwahlrechts
in die breitesten Massen getragen und hat ihm hier verständnisvolle An-
hänger und Verteidiger — Männer wie Frauen — geworben. So ver-
dienstvoll auch ist, was trotz aller ihrer historisch erklärlichen Gebrechen
die bürgerliche Frauenbewegung geleistet hat, um das Vorurteil gegen
das weibliche Geschlecht wegzuräumen und diesem das Wahlrecht zu er-
ringen: es erscheint zwergenhaft neben dem revolutionären Werk, das
die Sozialdemokratie in dieser Beziehung unter den Massen vollbringt.
Doch zurück zu unserem „Hammel‟, zur Haltung der bürgerlichen
Frauenrechtlerinnen im Wahlkampf. Um ihre Bedeutung für uns
Sozialistinnen, für die proletarischen Frauen in aller Schärfe zu er-
kennen, dürfen wir uns nicht damit begnügen, die Stellungnahme der
verschiedenen politischen Parteien zum Frauenstimmrecht allein kritisch
zu prüfen. Wir müssen vielmehr ihr Verhalten zum Wahlrecht über-
haupt ins Auge fassen. Denn daraus können wir zunächst schlußfolgern,
ob diese Parteien unter gegebenen Umständen für ein allgemeines
Frauenwahlrecht oder nur für ein beschränktes Damenwahlrecht eintreten
werden, welches die Masse der Proletarierinnen leer ausgehen läßt. Des
weiteren aber ist das von höchster Bedeutung dafür, ob den Männern
des Proletariats das allgemeine Wahlrecht gesichert bleibt, damit aber
ein vorzügliches Mittel, außerhalb und innerhalb des Parlaments für
das Frauenstimmrecht und alle Reformen zu kämpfen, die im prole-
tarischen Klasseninteresse liegen. Doppelt wichtig ist die Auskunft auf
unsere Frage angesichts der Wahlrechtsräubereien und des zähen Wider-
stands gegen die Demokratisierung des Wahlrechts in den Bundesstaaten;
angesichts auch des offenen und verhüllten Hasses, mit dem die herr-
schenden Klassen das Reichstagswahlrecht beehren.
Nun pfeifen es aber in unseren Tagen die Spatzen von den Dächern,
daß der bürgerliche Liberalismus aufgehört hat, ein treuer Schützer des
allgemeinen Wahlrechts zu sein. Die Nationalliberalen verschleiern
kaum noch ihre bittere Feindschaft gegen das allgemeine Wahlrecht, die
Freisinnigen verschiedener Richtung bekennen sich zwar „unentwegt‟ mit
den Lippen zu ihm, aber in ihren Taten sind sie ihm ferne. Das alles
bekunden Aeußerungen der einflußreichsten Preßorgane und Partei-
führer, sowie vor allem Begebnisse in Gemeinden und Einzelstaaten.
Die Nationalliberalen haben den Wahlrechtsraub in Sachsen, Hamburg
und Lübeck mit auf dem Gewissen, sie haben in Bayern die Massen solange
als nur möglich um eine Reform des Wahlrechts geprellt. Bei den
Wahlrechtsräubereien in Kiel, Königsberg und anderen Kommunen noch
haben die Freisinnigen ihr Händchen im Spiel gehabt. Solange sie in
Preußen die Macht hatten, haben die Herren sie nie für das allgemeine
Wahlrecht eingesetzt. Das war es ja, was Lassalle bestimmte, die Arbeiter
als Klassenpartei um das Banner des allgemeinen Wahlrechts zu
sammeln und sie gegen die bürgerliche Demokratie zu führen. Und
bis heute hat sich der Freisinn noch nicht zu einem einzigen kraftvollen
Ansturm gegen die preußische Dreiklassenschmach erhoben.
Wenn wir zu den politischen „Kindern und Bettlern‟ gehörten,
die „hoffnungsvolle Toren‟ sind, so könnten wir das alles als „vor-
übergehende Erscheinung‟ deuten. Wir vermöchten mit Naumann und
Geistersehern seiner Art von einem „Aufschwung des Liberalismus‟ zu
träumen, der alle „wahrhaft freigesinnten Elemente‟ zum Kampfe für
die Eroberung bezw. Verteidigung des allgemeinen Wahlrechts einen
wird. Die Geschichte verbietet uns so liebenswürdige Jllusionen. Das
allgemeine Wahlrecht ist nie das Wahlrecht nach dem Herzen der
Bourgeoisie gewesen, deren politische Vertreter die Liberalen doch sind.
Die politische „Freiheit, die sie meinte‟, war stets und überall die
plutokratische Beschränkung des Zensuswahlrechts. Das allgemeine
Wahlrecht gehört zu jenen ideologischen Reminiszenzen alter Jugend-
sünden, die der Liberalismus in sein Programm aus den stürmischen
Tagen übernommen hat, da die Bourgeoisie in ihrer Auseinandersetzung
mit dem Feudalismus der kleinbürgerlichen und proletarischen Massen
benötigte. Mit der Befestigung der bourgeoisen Klassenherrschaft wächst
die Gleichgültigkeit, mit der Bedrohung dieser Klassenherrschaft durch
das Proletariat aber steigt der Haß der Liberalen gegen das allgemeine
Wahlrecht. Was aber die rötlich angehauchten „Freisinnigen‟ aller
Namen anbelangt, so verraucht ihre schöne Leidenschaft für das „Prinzip
der reinen Demokratie‟ in dem Maße, als dank der kapitalistischen
Produktion die Um- und Neubildung sozialer Schichten, als die Klassen-
scheidung schärfer vor sich geht und die verschwommenen politischen
Urnebel des „Volkes‟, der „kleinen Leute‟ sich zu festen politischen
Körpern zusammenballen, deren Bahnen durch ökonomische, durch
Klasseninteressen bestimmt werden. Je mehr Kleinbürgertum und
Kleinbauerntum in ihrer wirtschaftlichen Existenz erschüttert und zersetzt
an politischer Bedeutung als Klassen verlieren und die Gefolgschaft der
„Mittelstandsretter‟, Antisemiten, Bauernbündler und anderer reaktio-
närer Gruppen bilden; je mehr das Proletariat seiner wirtschaftlichen
Rolle entsprechend an Zahl und Bedeutung zunimmt und sich als Klasse
im Lager der Sozialdemokratie konzentriert: um so bourgeoiser, kapita-
listischer wird die Politik der bürgerlichen „Volksparteien‟, um so un-
zweideutiger vollzieht sich die Sammlung des Liberalismus nach rechts
hin. Nicht der Kampf für das allgemeine Wahlrecht, der Kampf
gegen es — hinter welcher Maske er sich auch bergen möge — wird je
länger je überwiegender die Sorge der „geeinten‟ Liberalen. Das all-
gemeine Wahlrecht ist nicht der Schlußstein der bürgerlichen Emanzipa-
tion. Es steht — von den Ländern mit alter bäuerlicher Demokratie
abgesehen — an der geschichtlichen Schwelle, wo das proletarische
Emanzipationsringen beginnt; es ist das Schiboleth im Kampfe zwischen
den ausbeutenden und den ausgebeuteten Klassen der kapitalistischen
Ordnung; die geschichtliche Entwickelung legt seine Eroberung und seinen
Schutz immer mehr in die Hände des Proletariats.
VI.
Die bürgerliche Frauenbewegung und die politischen
Parteien.
Das angeführte Tatsachenmaterial steht nicht „in Keilschrift auf
drei Ziegelstein'‟ verzeichnet, es dürfte auch den Frauenrechtlerinnen
bekannt sein. Wollten sie daher für das Frauenstimmrecht kämpfen —
und zwar als allgemeines Frauenwahlrecht, nicht als Damenwahl-
recht —, so müßten sie offen aussprechen: die Forderung voller sozialer
und politischer Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts zählt in
Deutschland unter den politischen Parteien nur eine einzige wirklich zu-
verlässige, treue Verteidigerin: die Sozialdemokratie. Allein vor diesem
Eingeständnis hütet sich die bürgerliche Frauenbewegung, wenn auch
einzelne ihrer Trägerinnen gelegentlich dem Kampfe der Sozialdemo-
kratie für volles Frauenrecht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Noch
ängstlicher aber als vor dem Bekenntnis dessen, was ist, scheuen sich
die Damen, im Kampfe für das Frauenwahlrecht die Konsequenz der
tatsächlichen Verhältnisse zu ziehen. Schreckten sie nicht davor
zurück, sie hätten, um die letzten Reichstagswahlen dem Ringen für das
allgemeine Frauenstimmrecht nutzbar zu machen, in erster Linie und in
der Hauptsache die Kandidaten der Sozialdemokratie unterstützen müssen.
Denn bürgerliche Kandidaten konnten sich günstigenfalls für ihre Person,
jedoch nie für ihre Partei zum Eintreten für das Frauenstimmrecht
verpflichten. Was aber haben wir erlebt?
Trotz der vorliegenden Tatsachen und des offiziellen Bekennt-
nisses zum allgemeinen Wahlrecht für beide Geschlechter haben die
radikalen Frauenrechtlerinnen in vielen Wahlkreisen im Kampfe
gegen die Sozialdemokratie liberale und freisinnige Kandidaten
unterstützt, die sich im günstigsten Falle als flaue Verfechter des
Frauenwahlrechts erwiesen haben, von denen jedoch manche der
Forderung völlig gleichgültig und verständnislos gegenüberstanden und
für sie höchstens notgedrungen ein paar unverbindliche Phrasen
vom Tisch ihrer Wahlversprechungen fallen ließen. Mitglieder
des „Verbandes für Frauenstimmrecht‟ haben sogar hier und da die
Wahl von Kandidaten unterstützt, von deren Stellungnahme zum Frauen-
wahlrecht nicht einmal das gesagt werden kann. Kurz: wenn auch nicht
offiziell anerkannt und proklamiert, so hat sich doch in der Praxis im
allgemeinen siegreich die Parole durchgesetzt, welche die frauenrechtlerische
Führerin Fräulein Heymann auf der zweiten Hauptversammlung des
„Verbandes für Frauenstimmrecht‟ in Berlin im Oktober 1905 in ihrem
Referat über die Beteiligung der Frauen an den Kommunal- und Land-
tagswahlen eindringlichst empfohlen hatte. Diese Parole aber lautete:
Unterstützung der bürgerlichen Liberalen allein.
Zwei Gründe sind es, welche die Frauenrechtlerinnen zur Recht-
fertigung ihrer Haltung geltend machen. Zunächst behaupten sie, daß
der „entschiedene‟ bürgerliche Liberalismus mehr und mehr sein Herz für
Frauenrechte entdeckt habe und sich zu einer tatkräftigen Vertretung der
politischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts durchmausere. Mit dem
Eifer berufsmäßiger Wahrsagerinnen lesen sie aus dem Kaffeesatz un-
verbindlicher Redensarten und Viertels-Konzessiönchen die Bestätigung
ihrer teuersten Hoffnungen heraus. Wie grausam die Wirklichkeit diese
Hoffnungen bis jetzt noch enttäuscht hat, erhellt aus den oben angeführten
Tatsachen zur Genüge. Aber die Frauenrechtlerinnen gehören als
Glieder einer Klasse, die sich auf dem absteigenden Aste ihrer Entwicke-
lung befindet, zu jenen, die am Grabe noch die Hoffnung aufpflanzen.
Während sie z. B. auf der erwähnten Hauptversammlung noch selig ver-
zückt in der Erinnerung der liberalen Arme schwelgten, die sie während
des Landtagswahlkampfes in Bayern „offen aufgenommen hatten‟,
applizierten ihnen liberale Beine einen außerordentlich kräftigen Fuß-
tritt. Die Partei der bayerischen Liberalen, deren „Erneuerung‟ den
Damen bereits im Geiste geschmeckt hatten, brachte bei Beratung einer
Petition ganze armselige drei Stimmen für das Frauenwahlrecht auf.
Man sollte meinen, das hätte ernüchternd wirken müssen. Weit gefehlt!
Fräulein Augspurg entdeckte zu rechter Zeit, daß nur sechs Liberale an
der betreffenden Landtagsverhandlung teilgenommen hatten. Sie setzte
sich flugs hin, rechnete und rechnete und erfreute sich und die bürger-
lichen Frauen mit dem pompösen Resultat, daß in Bayern schon 50 Proz.
der Liberalen für das Frauenwahlrecht eingetreten seien! Wenn die
bürgerlichen Frauenrechtlerinnen ihre Hoffnungen, das Frauenwahl-
recht dank liberaler Unterstützung zum Siege zu führen, auf derartige
kindische Rechenstückchen gründen, so können wir den Damen nur wünschen,
daß recht bald nicht mehr als ein einziger Liberaler im bayerischen Land-
tage existieren möge. Sie können dann — die gleichen Umstände vor-
ausgesetzt — triumphierend verkünden, daß 100 Proz. der National-
liberalen für das allgemeine Frauenwahlrecht gestimmt haben. Jedoch
was kindisch erscheint, hat seinen Sinn. Es wird verständlich als
instinktiver oder bewußter Ausdruck der Klassenlage der bürgerlichen
Frauenwelt. Durch ihre Klassenlage wird diese getrieben, sich im
Lager der bürgerlichen Parteien zu sammeln. Und je weniger der
bürgerliche Liberalismus vorläufig noch entschieden und geschlossen den
Kampf um das Bürgerrecht der Frau aufnimmt: zu um so kleinlicheren
und spitzfindigeren Kniffen müssen die Frauenrechtlerinnen ihre Zuflucht
nehmen, wollen sie den Schein erhalten, daß sie nur im Namen der
Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts die Unterstützung der Libe-
ralen im Kampfe gegen die Sozialdemokratie empfehlen.
Der zweite Grund, mit dem die Frauenrechtlerinnen ihre Hand-
und Spanndienste für den bürgerlichen Liberalismus erklären, ist die
angebliche Unzuverlässigkeit und Schwächlichkeit der Sozialdemokratie
im Kampfe für die volle Emanzipation des weiblichen Geschlechts, das
Frauenwahlrecht im besonderen. Was wir weiter oben an Tatsachen
erwähnt haben, um die Haltung der verschiedenen Parteien dem Frauen-
wahlrecht gegenüber zu charakterisieren, erweist die frauenrechtlerische
Beschuldigung als eitel Verleumdung. Die Damen müssen denn auch
aus Deutschland ins Ausland gehen, um ihre Behauptung wenigstens
mit einem Schein von Berechtigung zu umkleiden. Sie verweisen
darauf, daß in Belgien und Holland sich einzelne sozialistische Führer
abfällig oder wenigstens kritisch über das Frauenwahlrecht geäußert
haben. Sie führen an, daß in Belgien, Schweden und Oesterreich die
sozialistische Partei im Kampfe um das Wahlrecht aus taktischen Er-
wägungen die Forderung des Frauenwahlrechts momentan etwas in den
Hintergrund gerückt hatte. Lagen aber die Dinge in den betreffenden
Ländern etwa so, daß sie ein höheres Vertrauen der Frauenrechtlerinnen in
den angeschwärmten bürgerlichen Liberalismus als in die gescholtene so-
zialistische Partei begründen? Keineswegs, gerade das Gegenteil trifft
zu. Auch in Belgien, Schweden und Oesterreich hat sich die sozialistische
Partei trotz allem noch immer als weit zuverlässigere Vorkämpferin für
das Bürgerrecht des weiblichen Geschlechts erwiesen wie die bürgerlichen
Liberalen. Jn Belgien insbesondere aber hat die sozialistische Arbeiter-
partei in ihrer letzten großen Kampagne für die Demokratisierung des
Wahlrechts die Forderung des Frauenstimmrechts wie die Herabsetzung
des Wahlalters unter dem Einfluß des Zusammengehens mit den näm-
lichen Liberalen fallen lassen, in deren „offene Arme‟ sich zu stürzen
den deutschen Frauen angesonnen wird. Aber überhaupt, welchen Sinn
hat gerade in Deutschland das ganze frauenrechtlerische Gehabe von der
Lässigkeit der Sozialdemokratie im Kampfe für Frauenrecht? Die
Damen mögen uns eine einzige bürgerliche Partei nennen, die in diesem
Kampfe nicht etwa mehr geleistet hat, als die Sozialdemokratie; nein,
wir wollen bescheiden sein, nur annähernd so viel wie sie; sie mögen uns
die frauenrechtlerische Organisation zeigen, die nachhaltiger und ernster
für das Frauenwahlrecht wirkt als sie: und wir gestehen ihnen das Recht
zu, Steine auf die Partei des klassenbewußten Proletariats werfen zu
dürfen.
Das Klagen und Keifen über den Verrat der Frauenrechte durch
die Sozialdemokratie ist nichts als hohler Lärm, der die Tat-
sache übertönen soll, daß auch den radikalen Frauenrechtlerinnen ihre
Jnteressen als Glieder der bürgerlichen Klasse mehr am Herzen liegen
als ihre volle soziale Wertung und Befreiung als Frauen. Was als Un-
konsequenz der Auffassung erscheint, als klaffender Gegensatz zwischen
dem Ziele und dem Wege des frauenrechtlerischen Kampfes, das offen-
bart sich als Konsequenz der Klassenlage, das ordnet sich in geschlossener
Einheitlichkeit dem bürgerlichen „Endziel‟ unter: die bürgerliche
Ordnung der Klassengegensätze im Jnteresse der ausbeutenden und
herrschenden Klassen zu erhalten. Nur im Lichte dieser geschichtlich be-
gründeten Tatsache wird erklärlich, daß Frauen, welche die Gleichberechti-
gung des weiblichen Geschlechts auf ihr Banner geschrieben haben, den
bürgerlichen Liberalismus unterstützen, der diese Gleichberechtigung ab-
lehnt und die Sozialdemokratie schmähen und bekämpfen, welche grundsätz-
lich für die volle Emanzipation des Weibes eintritt. Fräulein Heymann
hat es übrigens auf dem Verbandstag der Frauenstimmrechtsorgani-
sationen 1905 mit erfrischender Deutlichkeit ausgesprochen, warum die
Frauenrechtlerinnen den bürgerlichen Liberalismus unterstützen und zur
Sammlung um ihn blasen. „Die bürgerlichen Frauen können die
Klassenpolitik der Sozialdemokratie nicht mitmachen,‟ erklärte sie. Das
stimmt! Jedoch nur in politischen Kleinkinderstuben wird man die
Schlußfolgerung glauben, welche die Damen mit süßgespitzten Mündchen
flüstern. Nämlich, daß sie als Bundesschwestern der Liberalen in ethischer
Verklärung statt eines Klasseninteresses das Allgemeininteresse ver-
treten. Eine jede ernsthaft zu nehmende politische Partei treibt Klassen-
politik und muß sie treiben, solange eine Gesellschaft der Klassengegen-
sätze besteht. Nur politische Träumer, Hansnarren und Gaukler können
sich als Uebermenschen geberden, die jenseits der Klassengegensätze eine
Allerweltsheilpolitik verwirklichen. Nicht, daß die Sozialdemokratie
eine Klassenpolitik verfolgt, scheidet sie also von den bürgerlichen
Parteien, sondern daß sie dieselbe im Jnteresse der ausgebeuteten Massen
verfolgt und nicht — wie ihre Gegner — im Jnteresse der ausbeutenden
Minderheit. Jndem die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen die Trommel
zur Unterstützung des bürgerlichen Liberalismus rühren, treten sie als
Kämpferinnen für das bürgerliche Klasseninteresse in die Schranken.
Es fällt uns nicht ein, den Damen einen Vorwurf aus ihrer
Stellungnahme zu machen. Sie ist historisch erklärlich und darum be-
rechtigt, denn sie ist begründet in der Klassenlage der bürgerlichen
Frauenwelt. Was aber zu scharfer Kritik und Abwehr herausfordert,
das ist das Gemisch von ehrlicher Konfusion und bewußter Heuchelei, mit
welchem die Damen die Jnteressen der bürgerlichen Frauen mit denen
des gesamten weiblichen Geschlechts identifizieren, mit welchem sie in
dessen Namen die sanften Wänglein aufblasen, um sich auch den Prole-
tarierinnen als Verfechterinnen ihres Rechts angelegentlichst zu
empfehlen, während ihre Praxis doch auf die Vertretung bürgerlicher
Klasseninteressen hinausläuft. Werten wir die bürgerliche Frauen-
rechtelei nicht nach ihren Reden, sondern nach ihren Taten, so stellt sich
heraus — wir glauben das überzeugend dargetan zu haben — daß ihnen
Damenrecht vor Frauenrecht, bürgerliches Klasseninteresse vor dem
Jnteresse der proletarischen Massen und damit der Menschheitsentwicke-
lung geht.
Das stark zu betonen und zu erklären ist unerläßlich nötig.
Die proletarischen Frauen müssen sich klar darüber sein, daß sie nicht
darauf zählen dürfen, im Kampfe für ihre volle politische Gleichberechti-
gung in den bürgerlichen Frauen konsequente, zuverlässige Mitstreite-
rinnen zur Seite zu haben. Unseres Wissens haben sich z. B. die
norwegischen Frauenrechtlerinnen ruhig mit der Einführung des kom-
munalen Zensuswahlrechts begnügt und seither nicht den Kampf dafür
aufgenommen, es zum allgemeinen Frauenwahlrecht zu erweitern. Als
jüngst die Einführung eines beschränkten Frauenwahlrechts zu dem
Storthing vor der Tür stand, haben sie nicht mit der sozialistischen Ar-
beiterpartei und den klassenbewußten Proletarierinnen des Landes zu-
sammen für das allgemeine Frauenwahlrecht gekämpft. Sie sind der
letzten großen sozialistischen Demonstration für das allgemeine Wahl-
recht aller großjährigen Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts
ferngeblieben. Jn Holland brachten die bürgerlichen Demokraten einen
Antrag in der Kammer ein, der das Frauenstimmrecht forderte, aber
gleichzeitig festgelegt wissen wollte, unter welchen Bedingungen das
Frauenwahlrecht gewährt werden solle. Mit anderen Worten: der
Antrag forderte das Frauenwahlrecht nicht als allgemeines Recht,
sondern nur als Recht des weiblichen Besitzes, als Zensuswahlrecht.
Die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen haben ihre Zustimmung zu diesem
Antrag erklärt. Das heißt nichts anderes, als daß sie das Recht der
„ärmeren Schwestern‟ preisgegeben haben.
Uns ist nur ein Beispiel bekannt, daß bürgerliche Frauenrechtlerinnen
von Anfang an bis heute unzweideutig und entschieden für das all-
gemeine Wahlrecht eingetreten sind. Die Gründerinnen des „Allgemeinen
Oesterreichischen Frauenvereins‟ haben diese Forderung 1891 in der
ersten Petition erhoben, die in Oesterreich von Frauen dem Reichs-
rat zur Frage des Frauenwahlrechts eingereicht wurde. Die Petition
enthielt die folgenden trefflichen Sätze: „Wir wollen nicht, gleich unseren
männlichen Mitbürgern, nur Vor- und Sonderrechte für eine bestimmte
Klasse begehren und andere Klassen von jenen Vorteilen ausgeschlossen
wissen, die wir für uns zu erlangen trachten. Nein, das erstemal,
wo österreichische Frauen sich mit der Bitte um Gewährung politischer
Rechte an den Reichsrat wenden, soll auch gleich kundgetan werden,
daß wir Frauen die Bedürfnisse der modernen Welt verstehen, und daß
der Grundsatz von der Gleichheit aller, die ein Menschenantlitz tragen,
uns tief ins Herz geschrieben steht. Wir machen uns daher zu Dolmet-
schen der sehnlichsten Wünsche aller Nationen dieses weiten Reiches,
indem wir die Gewährung des Wahlrechts an alle großjährigen und
eigenberechtigten Staatsbürger und Staatsbürgerinnen erbitten, also
die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts ohne
Unterschied der Steuerleistung, des Standes und Geschlechts.‟ Wir
haben die Geschichte der Frauenstimmrechtsorganisationen in Deutsch-
land und anderen Ländern noch vergeblich nach einem Dokument durch-
stöbert, das sich an Klarheit und Entschiedenheit der Stellungnahme
mit der erwähnten Petition messen könnte.
VII.
Das beschränkte Frauenwahlrecht.
Die klare Erkenntnis dessen, daß die Proletarierinnen in ihrem
Kampfe für das Wahlrecht nicht auf nennenswerte, besonders aber
nicht auf treue Unterstützung von bürgerlicher Seite hoffen dürfen,
gewinnt aber dank eines Umstandes in unseren Tagen erhöhte
Wichtigkeit. Es ist die Rolle, welche das beschränkte Frauen-
wahlrecht zu spielen beginnt, eine Rolle, die weniger bedeutsam
für den Kampf um die politische Emanzipation des gesamten
weiblichen Geschlechts, als für den um die Eroberung der politischen
Macht durch das Proletariat ist. Jn der Tat: wie heute die Dinge
liegen, kann das beschränkte Frauenstimmrecht seiner praktischen Be-
deutung nach nicht in erster Linie als fortschrittliche Errungenschaft,
als Konzession an die Forderungen des weiblichen Geschlechts gewürdigt
werden. Es tritt vor allem als reaktionäre Maßregel auf, bestimmt,
dem wachsenden Einfluß der proletarischen Massen eine Fessel anzu-
legen. Bestimmte geschichtliche Umstände, die später erörtert werden,
bewirken, daß in den Klassen der Besitzenden die Neigung zur Ein-
führung eines Frauenwahlrechts wächst, das an einen Zensus
geknüpft ist.
Jst aber ein beschränktes Frauenstimmrecht gleichbedeutend mit
der politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts; muß die
sozialistische, die Arbeiterbewegung, um ihrem Programm und ihrem
Wesen getreu zu bleiben, auch den Kampf für ein beschränktes Frauen-
stimmrecht führen? Das ist eine Frage, vor welche höchstwahrscheinlich
in naher Zukunft die sozialistischen Arbeiterparteien aller Länder gestellt
werden. Das ist eine praktische Frage, vor welcher die sozialistische
Arbeiterbewegung in Norwegen schon gestanden ist, und vor welcher
die von England steht. Bei der Antwort darauf muß unseres Erachtens
das Folgende berücksichtigt werden.
Prüft man das beschränkte Frauenstimmrecht genau, so erweist es
sich im letzten Grunde immer als ein mehr oder weniger
verhülltes Recht des Geldbeutels, des Besitzes. Es
trägt ein demokratisches Mäntelchen, hat aber eine plutokratische Seele.
Es ist zwiespältiger Natur und charakterisiert sich dadurch schon als ein
legitimes Kind des Kapitalismus. Seinem innersten Wesen nach be-
deutet es weit weniger die erste Stufe zur politischen Gleichberechtigung
des gesamten weiblichen Geschlechts, als die letzte Stufe der sozialen,
der politischen Emanzipation des Besitzes. Es verwirklicht nur die poli-
tische Gleichberechtigung zwischen den Besitzern von gleich großen Ver-
mögen, bezw. Einkommen. Es mißachtet daher das Recht der Frau als
Persönlichkeit und anerkennt nur ihre Macht als Besitzerin von Eigen-
tum. Es verleiht der Frau nicht Bürgerrecht, weil sie eine Frau, son-
dern obgleich sie eine Frau ist, nur weil sie als Besitzende auftritt.
Was es emanzipiert, ist also nicht das weibliche Geschlecht, wohl aber den
weiblichen Geldbeutel, das weibliche Einkommen. Es läßt folglich auch
die breiten Massen der nichtbesitzenden Frauen nach wie vor rechtlos.
Das an einen Zensus geknüpfte Frauenwahlrecht schränkt
wohl ein altes soziales Unrecht ein, aber es hebt dieses nicht auf,
und es schafft gleichzeitig ein neues soziales Unrecht. Das neue
Unrecht trifft zunächst die Mehrzahl des weiblichen Geschlechts, das es
politisch zu emanzipieren vorgibt, des weiteren aber die ganze Klasse,
der die Mehrzahl angehört, das Proletariat. Das Prinzip der Gleich-
berechtigung das in der Theorie für das ganze weibliche Geschlecht
gelten soll, kommt in der Praxis nur einem Teile desselben zugute. Das
beschränkte Frauenstimmrecht läßt im Widerspruch mit dem Prinzip,
auf das es sich beruft, die politische Rechtlosigkeit vieler, ja der
meisten Frauen fortbestehen. Es schreibt ihre politische Unfreiheit aber
auf ein anderes Konto: es begründet sie nicht mehr mit der Zugehörig-
keit zu einem Geschlecht, sondern mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse.
Nicht weil sie Frauen sind, sondern weil sie Arme, Ausgebeutete sind,
vorenthält es ihnen das Bürgerrecht. So trägt es das Brandmal einer
ausgesprochenen Klassenmaßregel. Die wirtschaftliche und soziale Vor-
rechtsstellung der Damen der Aristokratie und Bourgeoisie verstärkt es
noch durch ein politisches Monopol. Der wirtschaftlichen und sozialen
Unterdrückung der Frauen des Volkes aber fügt es noch die politische
Rechtlosigkeit hinzu. Kurz, es gibt politische Macht, denen, die ohnehin
dank ihrem Besitze und ihrer Stellung über bedeutenden sozialen Ein-
fluß verfügen, und es läßt mit leeren Händen die stehen, welche als
Nichtbesitzende des Stimmzettels am dringendsten als eines Mittels
bedürfen, auch ihrerseits zu sozialem Einfluß zu gelangen.
Aber die beiden Kategorien von Frauen, welche das beschränkte
Stimmrecht schafft — die politisch emanzipierten und die politisch recht-
losen —, stehen in der Gesellschaft nicht allein für sich. Sie sind durch
die engste Solidarität der Jnteressen mit den beiden Klassen verbunden,
denen sie angehören: der Klasse der Besitzenden und Ausbeutenden die
einen, der Klasse der Besitzlosen und Ausgebeuteten die anderen.
Zwischen diesen beiden Klassen gähnt ein Gegensatz der Jnteressen, den
kein Gerede von der allgemeinen „Schwesternschaft aller Frauen‟ zu
überbrücken vermag. Das beschränkte Frauenstimmrecht zeigt ihn mit
aller Deutlichkeit auf und vergrößert ihn. Jnfolge dieser Zusammen-
hänge reicht das beschränkte Frauenstimmrecht in seinen Wirkungen
über die Frauenwelt selbst hinaus und erweist sich als eine Maßregel,
welche die Besitzenden ohne Unterschied des Geschlechts bevorrechtigt zum
Schaden der Nichtbesitzenden ohne Unterschied des Geschlechts. Den
Gesetzen der Klassensolidarität entsprechend gebrauchen die politisch
emanzipierten reichen und wohlhabenden Frauen ihren Stimmzettel
in der Hauptsache dazu, um die Machtstellung und damit die Aus-
beutungsmöglichkeit der besitzenden Klassen zu stärken. Das heißt nichts
anderes, als daß sie die gewonnene politische Gleichberechtigung gegen
die gesamte Klasse des Proletariats und damit auch gegen „die ärmeren
Schwestern‟ kehren. Denn das Jnteresse der Arbeiterinnen und
Arbeiterfrauen fordert nicht bloß die Einschränkung der Machtstellung
und Ausbeutungsmöglichkeit der besitzenden Klassen, sondern mehr: die
radikale Ueberwindung dieser Macht und Ausbeutung durch die Auf-
hebung der kapitalistischen Ordnung. Weit davon entfernt, auch nur
die politische Unfreiheit des gesamten weiblichen Geschlechts zu be-
seitigen, ist das beschränkte Frauenstimmrecht ein Mittel, durch die
Befestigung der Macht der besitzenden Klassen die politische und soziale
Knechtschaft der gesamten ausgebeuteten Masse aufrecht zu erhalten.
Kein Wunder daher, daß in allen Ländern die Reaktionäre jeglicher
Schattierung beginnen, für das beschränkte Frauenstimmrecht zu
schwärmen. Sie erkennen mit sicherem Jnstinkt, daß es nach seiner
Wirkung in dem Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit eine weit
mehr reaktionäre als fortschrittliche Maßregel ist.
Jn England wird gegenwärtig um das Frauenwahlrecht mit
Energie und Leidenschaft gekämpft, und zwar in der Hauptsache um
das beschränkte Frauenstimmrecht. Dem Parlament lag in dieser
Session der Antrag Dickinson vor, der, wie ähnliche Anträge in früheren
Jahren, für die Frauen das Stimmrecht unter den gleichen Bedingungen
forderte, wie es die Männer besitzen. Jn England ist aber das geltende
Männerwahlrecht kein allgemeines. Das Manöver eines liberalen Ab-
geordneten verhinderte, daß der Antrag Dickinson bei den Verhand-
lungen in der vorgeschriebenen Zeit zur Abstimmung und zur zweiten
Lesung kam, und er gilt in der Folge als abgelehnt. Der Premier-
minister Campbell-Bannerman konnte sich das billige Vergnügen leisten
zu erklären, daß er zwar ein Anhänger des Frauenstimmrechts, aber
über den Antrag nicht entzückt sei, weil dieser nur einer kleinen Minder-
heit wohlhabender Frauen das Wahlrecht sichern würde. Campbell-
Bannerman wird noch Gelegenheit haben zu bekunden, wie ernst es
ihm mit dieser durchaus berechtigten Kritik des Antrages Dickinson
war. Jm englischen Parlament ist von Sir Charles Dilke zusammen
mit Mitgliedern der unabhängigen Arbeiterpartei ein anderer Antrag
eingebracht worden, dessen Annahme allen großjährigen Frauen das
Wahlrecht verleihen würde. Der Antrag fordert eine gründliche
Demokratisierung des Wahlrechts in Staat und Gemeinde auf der
Grundlage des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts für alle groß-
jährigen Männer und Frauen.
Aber bedeutsamer als die parlamentarischen Anträge erscheint die
kraftvolle Agitation, die unterdessen im Lande seitens der bürgerlichen
Frauenrechtlerinnen weitergeführt wird. Und sie gilt überwiegend der
Erringung des Wahlrechts für die Frauen „unter den gleichen Be-
dingungen wie die Männer es besitzen‟, mit anderen Worten: einem
beschränkten Frauenstimmrecht. Wie weit oder wie eng die Beschrän-
kungen des Wahlrechts sein sollen, darüber gehen in der Frauen-
stimmrechtsbewegung selbst die Meinungen auseinander. Soll das
geltende Parlamentswahlrecht, wie es für die Männer besteht, oder
sollen die Frauenwahlrechtsgesetze zu den Organen der lokalen Selbst-
verwaltung für die Bedingungen maßgebend sein, an die das politische
Frauenwahlrecht geknüpft wird? Die bestehenden Wahlgesetze zu den
lokalen Verwaltungskörperschaften stellen im Punkte Frauenwahlrecht
eine wahre Musterkarte der verschiedensten und widerspruchsvollsten
Bestimmungen dar. Es ist noch eine offene Frage, welches aller vor-
handenen Wahlgesetze oder welche Kombination ihrer Vorschriften die
Grundlage für das politische Frauenstimmrecht geben soll. Es fehlt
sogar nicht an Befürwortern des Frauenstimmrechts, welche sich „aus
Zweckmäßigkeitsrücksichten‟ damit abfinden würden, daß alle ver-
heirateten Frauen noch vom Besitz des Wahlrechts ausgeschlossen blieben.
Die Phrase, die Frauen sollen das Wahlrecht unter den gleichen Be-
dingungen wie die Männer erhalten, verdeckt Meinungsunterschiede und
täuscht vor allem leider auch noch viele Proletarierinnen über den mehr
plutokratischen als demokratischen Charakter der geforderten Reform.
Wenn in England bürgerliche Frauenrechtlerinnen mit größter
Energie für das beschränkte Frauenstimmrecht kämpfen, so ist das be-
greiflich. Sie handeln nur dabei, wie ihre Klassenlage das verlangt.
Sie nehmen dabei keine Rücksicht auf die volle Demokratisierung des
Wahlrechts, welche von den Jnteressen der proletarischen Frauen geboten
wird. Wie wenig Verständnis sie für deren Lage besitzen, haben die
Damen ja auch sonst bewiesen. Es sei an die Zähigkeit erinnert, mit
der sich ein großer und sehr einflußreicher Teil der englischen Frauen-
rechtlerinnen bis jetzt dem Ausbau des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes
widersetzt. Auch dabei haben sich die Damen stets auf das Prinzip
der Gleichberechtigung der Geschlechter berufen, während sie in Wirk-
lichkeit nichts verteidigen als die schrankenlose Ausbeutungsfreiheit der
Besitzenden über die Nichtbesitzenden. Sie bleiben also ihrer Rolle als
Vorkämpferinnen für die Jnteressen der besitzenden Klassen nur getreu,
wenn sie auch in der Frage des Frauenwahlrechts das Recht der großen
Mehrzahl ihrer Geschlechtsgenossinnen dem Vorrecht der Minderzahl
ihrer Klassengenossen opfern, wenn sie statt gleichem politischen Recht
für alle lediglich ein Vorrecht für einen Teil fordern.
Dagegen muß es unter den aufgezeigten Gesichtspunkten höchlichst
befremden, daß an der Seite der bürgerlichen Damen auch sozialistische
Frauen und Männer als Vorkämpfer für das politische Monopol des
Besitzes in die Schranken treten. Wie verwirrend das zum Schaden
der sozialistischen, der Arbeiterbewegung auf die Begriffe und das Tun
einwirkt, haben die Nachwahlen zum jetzigen englischen Parlament
bewiesen. Es scheint selbstverständlich, daß bei diesen Nachwahlen auch
die Genossinnen ihre ganze Kraft für die Unterstützung der Arbeiter-
kandidaten einsetzen mußten. Ganz gleich gegen welche politische Partei
die Arbeiterkandidaten im Felde standen: sie repräsentierten die aus-
gebeutete Arbeit gegenüber dem ausbeutenden Kapital. Einige führende
Genossinnen, welche sich Hals über Kopf in die bürgerliche Frauen-
stimmrechtsbewegung gestürzt haben, vergaßen jedoch über ihrem Ein-
treten für das „Recht des weiblichen Geschlechts‟ ihre elementare Pflicht
als Sozialistinnen. Als Mitglieder der „Womens' Social and Political
Union‟ machten sie die ausgesprochen bürgerliche Taktik der genannten
Organisation mit. Diese Taktik erhob an Stelle des Kampfes der
Klassen den Kampf der Geschlechter zum Leitmotiv der Wahlaktion.
Jhr lag eine bürgerliche Auffassung der Frauenfrage zugrunde, und
sie war auf die Verhältnisse und Jnteressen der bürgerlichen Frauen
zugeschnitten. Ein Manifest der W. S. P. U., das am 8. Januar in
den „Daily News‟ erschien, erklärt ausdrücklich, daß diese Gruppe
„einzig und allein im Jnteresse der Frauensache organisiert worden ist‟.
Zweck ihres Eingreifens in den Wahlkampf solle ausschließlich sein,
„die liberalen Kandidaten zu bekämpfen, da die liberale Regierung sich
weigert, den Frauen das Stimmrecht zu verleihen. Gegenüber allen
anderen Kandidaten, die im Felde stehen mögen, wird sie eine strikt
neutrale und unparteiische Haltung bewahren.‟ Das Manifest betonte
stark, daß die W. S. P. U. „keine Partei unterstützt‟ und verwahrt
diese Organisation besonders nachdrücklich gegen den entsetzlichen Ver-
dacht, „bei einem Wahlkampf, in dem drei Kandidaten um das Mandat
ringen, die Arbeiterkandidaten zu unterstützen. Behauptungen, daß dies
der Fall wäre, sind durchaus falsch.‟ Und dieses Zeugnis bürgerlicher
Tugendhaftigkeit genügte den leitenden Damen noch nicht. Sie wiesen
in dem gleichen Manifest nochmals ausdrücklich jede Gemeinschaft mit
der Arbeiterpartei zurück. „Die W. S. P. U. lehnt es ab, mit irgend-
einer politischen Partei identifiziert zu werden‟ … „kein Unterschied
wird zwischen den Unionisten und der Arbeiterpartei gemacht.‟ Es
liegt auf der Hand, daß diese Politik angeblicher Neutralität und
Unparteilichkeit allen Parteien gegenüber — von den bekämpften
Liberalen abgesehen — gleichbedeutend war mit einer Preisgabe des
Kampfes der Arbeiterpartei. Das kämpfende Proletariat ist aber durch
seine Klassenlage gezwungen zu erklären: Wer nicht für mich ist, der
ist gegen mich. Genossinnen, die aus rein bürgerlich-frauenrechtlerischen
Erwägungen heraus bei Wahlen ihre Tätigkeit für die sozialistischen,
die Arbeiterkandidaten einstellen, um ihre ganze Kraft auf ein „Wahl-
recht für Ziegelsteine und Zement‟ zu konzentrieren; Genossinnen, die
vom Schlachtfelde des Klassenkampfes desertieren, um einen Kampf
der Geschlechter auszufechten, der in der Hauptsache für die besitzenden
Klassen von Bedeutung ist: die sprechen sich selbst das Urteil. Die
Konfusion ihrer Auffassung wird zum Verrat des Parteiinteresses.
Die englischen Genossinnen und Genossen, welche mit die hervor-
ragendsten Kämpfer für das beschränkte Frauenstimmrecht sind, und
fast ausnahmslos der „Unabhängigen Arbeiterpartei‟ angehören, suchen
ihre Haltung durch allerlei Argumente zu rechtfertigen. Das beschränkte
Frauenstimmrecht, so behaupten sie, sei gar nicht so beschränkt, wie
es aussehe. Es sei so weitherzig, daß es die meisten Proletarierinnen,
daß es auf alle Fälle mehr Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen als
bürgerliche Damen stimmberechtigt machen würde. Die Behauptung
soll durch Berechnungen erhärtet werden, welche sich teils auf die Wähler-
listen zu den Gemeindewahlen stützen, teils auf eine Umfrage, die in
Nelson von Haus zu Haus unternommen worden ist. Das eine wie
das andere angezogene Beweismaterial ist aber brüchig. Von den
verschiedensten Seiten ist festgestellt worden, daß die kommunalen
Wählerlisten kein vertrauenswürdiger Maßstab für die Zahl der Frauen
sind, welche bei einem beschränkten Stimmrecht wahlberechtigt würden.
Jm Flugblatt Nr. 2 der „Adult Suffrage Society‟ (Verein zur Er-
ringung des Wahlrechts für alle Großjährigen) heißt es daher zum
Beispiel: „Was die munizipalen Wählerlisten anbelangt, so sind
sie ein sehr unzulänglicher Führer, da es ohne genaue und
persönliche Kenntnis der Wählerschaft unmöglich ist zu sagen, wieviel
mehr Frauen berechtigt sein würden, in die parlamentarischen Wähler-
listen eingetragen zu werden.‟ Und was die Umfrage von Haus zu
Haus anbetrifft, so ist ihr Wert sicher noch geringer. Umfragen, welche
in Zweigvereinen der Frauengenossenschaft „The Womens' Guild‟ vor-
genommen worden sind, haben gezeigt, daß die meisten Frauen erwarten,
das Wahlrecht zu erhalten, weil ihr Mann gegenwärtig wahlberechtigt
ist, denn das ist die Auslegung, die sie dem Satze geben: „wie es
den Männern verliehen ist‟. Wenn solche Unklarheit über die Wir-
kungen des beschränkten Frauenstimmrechts sogar bei den aufgeklärten
Arbeiterfrauen herrscht, welche der Womens' Guild angehören, so können
die persönlichen Aussagen über den künftigen Besitz des Wahlrechts
keine Beweiskraft für den tatsächlichen Umfang der eintretenden
politischen Emanzipation beanspruchen. Ein Verbandsbeamter der
organisierten Weber erklärte ausdrücklich, er wisse genau, daß sehr viele
Frauen in dieser Beziehung in einem Jrrtum befangen seien, und daß
„ein schmerzliches Erwachen‟ folgen würde, wenn der Antrag für das
beschränkte Frauenstimmrecht zur Annahme gelangte.
Tatsächlich beruhen die meisten persönlichen Aussagen der Frauen
über ihre künftige Wahlberechtigung auf Vermutungen und Hoffnungen.
Die wenigsten Frauen und Töchter der Arbeiter befinden sich in der Lage,
um aus eigener Kraft den Bestimmungen des beschränkten legislativen
Wahlrechts genügen zu können. Diese Frauen besitzen weder eigenes
Vermögen, noch haben sie durch Universitätsbildung bestimmte Titel
erlangt; nur wenige von ihnen sind eigenberechtigte Haushaltungs-
vorstände, selbständige Mieterinnen von Geschäftslokalen, die mindestens
10 Pfund Zins kosten, oder stehen in einem Dienstverhältnis, das
ihnen eine eigene Wohnung als Teil ihres Lohnes sichert. Die meisten
verheirateten Arbeiter ihrerseits besitzen auch nicht so viel Vermögen
oder Einkommen, um ihren Frauen und Töchtern das Wahlrecht
sichern zu können. Und wie sieht es mit dem Stimmrecht der un-
verheirateten Arbeiterinnen aus, die für ihre Existenz lediglich auf
ihren Verdienst angewiesen sind? Die Vorkämpfer für das beschränkte
Frauenstimmrecht suchen die Unterstützung der Arbeiterinnen damit
zu ködern, daß sie ihnen vorerzählen, die meisten von ihnen würden
dank der Bestimmungen des sogenannten lodgers' vote (Stimmrecht
selbständiger Mieter bezw. Mieterinnen) wahlberechtigt werden. Wer
sich nur einigermaßen gründlich mit den Löhnen und Lebensbedingungen
der Arbeiterinnen beschäftigt hat, der weiß, daß diese Behauptung
eine Luftspiegelung ist. Das lodgers' vote erhalten nur Personen,
welche allein ein Zimmer bewohnen, das unmöbliert nicht unter
4 Schilling wöchentlich Miete kostet. Die wenigsten Arbeiterinnen aber
haben Löhne, die ihnen ermöglichen, 4 Schilling pro Woche für die leere
Wohnung ausgeben zu können. Margaret Bondfield, eine der an-
gesehendsten englischen Gewerkschaftsführerinnen, verweist mit Recht dar-
auf, daß sogar die gelernten Textilarbeiterinnen von Lancashire, die zu
den wirtschaftlich bestgestellten Arbeiterinnen gehören, kein Zimmer allein
bewohnen, sondern mit einer Schwester oder Freundin zusammen hausen.
Die Schneiderinnen, Teeverpackerinnen, Arbeiterinnen in der Gelee- und
Konservenindustrie und andere Fabrikarbeiterinnen noch sind infolge
ihres niedrigen Verdienstes von 5—9 Schilling wöchentlich erst recht
außerstande, sich durch eine entsprechende Wohnung das Wahlrecht
zu sichern. Ja sogar sehr wenige der weiblichen Privatbeamten, Bureau-
angestellten, Telephonistinnen usw. würden bei dem beschränkten Stimm-
recht wahlberechtigt. Erhebungen, die kürzlich in London vorgenommen
wurden, haben ergeben, daß sie bei Angehörigen oder zu mehreren
beisammen wohnen. Weibliche Dienstboten und Verkäuferinnen kämen
als Wählerinnen kaum in Betracht, weil sie bei den Arbeitgebern in
Kost und Logis sind, und ihre Beschäftigung häufigen Stellenwechsel
mit sich bringt.
Alles in allem: sollte das beschränkte Frauenstimmrecht zur Ein-
führung gelangen, so würde nur ein bescheidener Teil der Prole-
tarierinnen den 17 verschiedenen Vorschriften des englischen legislativen
Wahlgesetzes über Eigentum, Bildungsgrad, Beschäftigung, Wohnung
und Dienst entsprechen und politisch emanzipiert werden können. Ja,
die Zahl der nicht stimmberechtigten Frauen würde sicher im Verhältnis
noch größer sein, als die Zahl der Arbeiter, die infolge der Vorschriften
vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Denn die Arbeiterinnen werden im
allgemeinen von den Kapitalisten noch härter ausgebeutet und schlechter
bezahlt als die Arbeiter. Nach dem Grundsatz des beschränkten Frauen-
stimmrechts sind sie, als ökonomisch schlechter gestellt, auch weniger
befähigt wie die besser gelohnten Arbeiter, den Stimmzettel zu
gebrauchen! Auch in diesem Zuge offenbart sich deutlich, daß für das
beschränkte Frauenstimmrecht in Wirklichkeit nicht das Prinzip der
Gleichberechtigung der Geschlechter ausschlaggebend ist, sondern das
Prinzip von der Macht und Würde des Besitzes und Einkommens.
Dazu muß noch ein Umstand in Berücksichtigung gezogen werden.
Solange das Stimmrecht nicht allen großjährigen Staatsangehörigen
zusteht, vielmehr im Jnteresse der ausbeutenden Klassen an Besitz und
Steuerleistung gebunden bleibt: solange wird es auch Behörden und
Gerichte geben, welche durch künstliche Auslegung der wahlgesetzlichen
Vorschriften viele Proletarier ihres Wahlrechts berauben. Das haben
schon manche englischen Arbeiter, Handelsangestellte usw. erfahren. Jn-
folge ihrer schlechteren ökonomischen Lage und ihrer komplizierteren Ver-
hältnisse würden erst recht viele Proletarierinnen die Erfahrung machen,
daß ihnen das Wahlrecht aberkannt wird. Weil sie Arme sind und nicht
etwa, weil sie Frauen sind!
Die Schwärmer für das beschränkte Frauenstimmrecht reden nun
freilich den Arbeiterinnen ein, dank dem Stimmzettel würden sie höhere
Löhne, gleiche Löhne mit den Männern erhalten. Hält man die soeben
kurz skizzierten tatsächlichen Verhältnisse fest, so kann man darauf mit
Fug und Recht antworten: Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Wenn
das beschränkte Frauenstimmrecht eingeführt wird, so müssen die Ar-
beiterinnen erst höhere Löhne bekommen, damit sie den Stimmzettel
erhalten können —, so müssen die Arbeiter erst höher entlohnt werden,
damit sie imstande sind, für ihre Frauen und Töchter den Vorschriften
des Wahlgesetzes zu genügen vermögen. Jst es den Vorkämpfern für das
beschränkte Frauenstimmrecht ernst mit ihrem Wunsche, auch den Arbeite-
rinnen und Arbeiterfrauen den Stimmzettel zu sichern, so müßten auch
all die edelsteinübersäten Damen, die zahlreich unter den Frauen-
rechtlerinnen vertreten sind, den Kampf aufnehmen gegen die Aus-
beutung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Das heißt aber nichts anderes,
als sie müßten kämpfen gegen ihre eigene Klasse und deren wirtschaft-
liche, soziale und politische Vorrechte; sie müßten kämpfen gegen soziale
Zustände, denen sie selbst ihre Muße, ihre Bewegungsfreiheit, ihre
Bildung und ihren Luxus verdanken. Sie müßten den Kampf auf-
nehmen für das Recht der Arbeit unbekümmert darum, ob sie vielleicht
künftighin in etwas weniger kostbaren Toiletten ihr Schicksal als
„Hunde, Ausgestoßene und Parias‟ bejammern könnten. Aber von
rühmlichen Ausnahmen abgesehen, nehmen die bürgerlichen Frauen-
rechtlerinnen an dem Kampf der Arbeiterklasse um bessere Entlohnung
nicht teil. Die Gewerkschaftsbewegung hat ihn ohne sie und manchmal
auch gegen sie geführt, als Kampf der Ausgebeuteten ohne Unterschied
des Geschlechts, gegen die Ausbeuter, ohne Unterschied des Geschlechts.
Nicht ihrem verkrüppelten Wahlrecht, ihrer Gewerkschaftsorganisation
und der Herrschaft Englands auf dem Weltmarkte verdanken es die
englischen Arbeiter, wenn sie „Beefsteak und Butter‟ essen können. Und
kein beschränktes Frauenstimmrecht, die Gewerkschaftsorganisation ist
ausschlaggebend dafür gewesen, daß die Lancashirer Textilarbeiterinnen
gleiche Löhne für gleiche Arbeit mit den Männern errungen haben.
Die Verfechter des beschränkten Frauenstimmrechts fühlen offenbar
die Schwäche der Argumente, die wir gedrängt resümierten. Sie
trumpfen daher mit der Bedeutung „des Prinzips der Gleichberech-
tigung der Geschlechter‟ auf. Diesem Prinzip, so erklären sie, müsse
vor allem gesetzliche Anerkennung verschafft werden. Das beschränkte
Frauenstimmrecht sei die erste notwendige Etappe auf dem Wege des
Fortschritts. Nach seiner Einführung werde das allgemeine Wahlrecht
nicht auf sich warten lassen. Wir können auch dieser Auffassung nicht
beipflichten. Jm britischen Reich ist die Schlacht für das Prinzip der
Gleichberechtigung der Geschlechter im öffentlichen Leben bereits
geschlagen. Jn den australischen Kolonien Großbritanniens besitzen die
Frauen das Wahlrecht zu dem Bundesparlament und — von der einzigen
Kolonie Viktoria abgesehen — auch zu den Einzelparlamenten. Jn
England selbst aber ist den Frauen das Recht zuerkannt worden, zu den
verschiedenen verwaltenden Körperschaften in Gemeinde, Bezirke, Graf-
schaft zu wählen bezw. in solche Körperschaften gewählt zu werden. Daß
dieses Recht zu den verschiedenen Körperschaften an die mannigfaltigsten
zum Teil sehr widerspruchsvollen Bedingungen geknüpft, und daß es
kein allgemeines Wahlrecht ist, steht auf einem anderen Blatte. Das
erklärt sich auch in der Hauptsache nicht aus der „Herrscherstellung‟,
dem „Monopol‟, dem „Egoismus‟ des Mannes, das ist vielmehr die
Konsequenz der Herrscherstellung, des Monopols und des Egoismus des
Besitzes. Die betreffenden Bestimmungen lassen das scharf hervortreten.
Zwischen der Gleichberechtigung der Frau im kommunalen und im
politischen Leben, auf dem Gebiete der Verwaltung und dem Gebiete
der Gesetzgebung besteht aber nur ein Unterschied des Grades, der Art
und nicht des Prinzips, des Wesens. Uebrigens beweist gerade die Ge-
schichte der lokalen Frauenstimmrechte, daß die „Durchsetzung des
Prinzips‟, daß der „notwendige erste Schritt‟ durchaus nicht eine Bürg-
schaft für weitere Schritte in sich trägt und die Gleichberechtigung der
armen mit der reichen Frau nicht als „selbstverständlich‟ nach sich zieht.
Uns ist nichts bekannt, daß die Frauen, denen Besitz und Steuerleistung
das Wahlrecht in der Gemeinde, Grafschaft usw. verschafft haben, mit
Begeisterung und Energie für die Ausdehnung dieser lokalen Bürger-
rechte auf die „ärmeren Schwestern‟ kämpfen. Der Respekt der bürger-
lichen Damen vor dem Recht des Besitzes ist offenbar noch größer als
ihre Liebe für das Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter. Das
alte Klassenunrecht und Klassenmonopol auf dem Gebiet der lokalen Ver-
waltung lassen sie unangetastet und wollen es durch ein neues Klassen-
unrecht und Klassenmonopol auf politischem Gebiete vervollständigen.
Denn als ein Monopol der Besitzenden muß das beschränkte Frauen-
stimmrecht wirken. Jn seinen Konsequenzen läuft es darauf hinaus,
den Besitzenden eine Art „Pluralvotum‟ einzuräumen. Während es
der Masse der Arbeiterinnen den Stimmzettel vorenthält, ermöglicht es
den Reichen, ihre politisch großjährigen weiblichen Familienmitglieder
dadurch wahlberechtigt zu machen, daß sie ihnen besondere Zimmer
mieten bezw. einräumen. Das hat Genosse Quelch auf dem letzten
Jahreskongreß der „Arbeiterpartei‟ überzeugend dargelegt. Und ebenso
zutreffend führte Miß Mabel Hope, die Führerin der Gewerkschaft der
Post- und Telegraphenbeamtinnen, dort aus: „Ein beschränktes Wahlrecht
würde den Arbeiterinnen nicht helfen —, es würde den reichen Frauen
nur die Gelegenheit geben, die Arbeiterinnen zu unterdrücken. Die ganze
Agitation, die die Frauenrechtlerinnen führen, geht nicht vom Klassen-
kampf, sondern vom Geschlechterkampf aus. Uns stehen aber die männ-
lichen Arbeiter viel näher als die reichen Frauen.‟ Jn „Justice‟, dem
Organ der „Sozialdemokratischen Föderation‟, vom 9. Februar 1907
gibt Genossin Montefiore ebenfalls der Ueberzeugung Ausdruck, daß das
beschränkte Frauenstimmrecht nur die besitzenden Damen emanzipieren
und der Reaktion zugute kommen wird. Sie schreibt: „Von dem Augen-
blick an, wo die alte bürgerliche Frauenstimmrechtsorganisation, deren
Führerin Mrs. Fawcett ist, solche unheilige Eile zeigte, durch ein
Bankett einige der Sozialistinnen zu feiern, welche für die Frauenstimm-
rechtssache im Gefängnis gewesen waren, trat es klar zutage, daß die
bürgerlichen Frauenrechtlerinnen große Hoffnungen hegten, ihre demo-
kratischeren Schwestern würden für sie die Kastanien aus dem Feuer
holen, die sie selbst wünschten, aber nicht den Mut hatten, heraus-
zuholen…. Mit dem Sieg der Konservativen stände ein Frauen-
stimmrecht bevor, daß die Damen der Primrose-Liga (eine konservative
Organisation) und alle Reaktionäre entzücken würde. Es ist Zeit, daß
die Proletarierin der Situation ins Antlitz blickt. Es ist Zeit, daß
sie die unerfreuliche Tatsache erkennt, daß die Frauen, die einer bürger-
3
lichen Partei angehören, die Ziele dieser so eifrig verfolgen, als die
ihr angeschlossenen Männer das tun. Ebenso wie die Arbeiter
in der Vergangenheit von den einnehmenden Manieren und Auftreten
derjenigen geblendet und verführt wurden, welche sie „in der ihnen zu-
kommenden Stellung‟ lassen wollten, müssen möglicherweise auch
die Proletarierinnen lernen, daß das Lamm nicht sicher ist, wenn
es sich neben den Löwen niederlegt, sogar dann nicht, wenn der Löwe
so lammfromm aussieht wie eine Vorkämpferin für das Frauenstimm-
recht.‟ Diese Ausführungen der Genossin Montefiore verdienen um so
mehr Beachtung, als sie selbst sich anfänglich mit Mut und Opferfreudig-
keit an der Frauenstimmrechtsbewegung beteiligt hatte. Heute erwartet
sie das Frauenstimmrecht für alle Frauen nicht mehr von einer be-
sonderen Frauenstimmrechtsbewegung, sondern von dem Kampfe des
Proletariats für das Wahlrecht aller Großjährigen. Die Bewertung
des beschränkten Frauenstimmrechts als eines Klassenmonopols wird
auch von erfahrenen Parlamentariern geteilt. „Das beschränkte
Frauenstimmrecht ist ein ausgesprochenes Klassenwahlrecht, da es sofort
die Stimmenzahl der Besitzenden verdoppeln wird, während es die
Stimmenzahl der Arbeiter nur um ungefähr ein Zehntel vergrößert.‟
So hat das Parlamentsmitglied für Barnard Castle, Mr. Arthur
Henderson erklärt, der als vorzüglicher Sachkenner gilt.
Und als Monopol der Besitzenden soll auch das beschränkte Frauen-
stimmrecht wirken. Es soll die politische Macht der Besitzenden im
Kampfe gegen die Arbeiterklasse stärken. Gerade um dieses seines re-
aktionären Wesens und Wirkens halber findet es viele begeisterte An-
hänger. Jn York z. B. hat Lady Knightley unumwunden ausgesprochen:
„Die Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen, welche Steuern und
Abgaben zahlen, würde die Notwendigkeit des allgemeinen Stimmrechts
beseitigen, das eine wahre Gefahr ist.‟ Und ebenso aufrichtig hat
Dr. Stanton Coit vor dem reaktionären Charakter des beschränkten
Frauenstimmrechts sein Kompliment gemacht. Jn einem Meeting in
Queen's Hall meinte er, „das beschränkte Frauenwahlrecht würde die
Gefahr abwenden, die in der Wahlberechtigung ungebildeter Personen
liegt.‟ Viele konservative Politiker treten aus den gleichen Erwägungen
heraus für die Forderung ein: „Das Stimmrecht den Frauen unter den
gleichen Bedingungen wie es die Männer besitzen.‟ Das Prinzip der
Gleichberechtigung der Geschlechter feiern sie mit dem Munde, aber die
reaktionäre Seele des beschränkten Frauenstimmrechts ist es, der ihre
Liebe, ihre Sehnsucht gilt. Jedenfalls wird die konservative Partei
die im Flusse befindliche Agitation ausnützen, um unter der trügerischen
Devise „Gerechtigkeit für die Frauen‟ durch das Klassenmonopol des
beschränkten Frauenstimmrechts die Macht der Besitzenden zu stärken.
Jedoch so wenig wir als Sozialdemokratinnen mit dem Ziel und
dem Jnhalt der Bewegung für das beschränkte Frauenstimmrecht sym-
pathisieren können, so dürfen doch ihre Vorkämpfer in England ein Ver-
dienst beanspruchen. Sie haben mit Mut und Energie die Sturmglocke
gezogen und in allen Klassen der Gesellschaft große Kreise der Frauen
aus ihrer politischen Apathie aufgerüttelt und zum Kampfe für politische
Rechte gerufen. Sie haben die öffentliche Aufmerksamkeit auf die immer
dringlicher werdende Notwendigkeit gelenkt, daß die Gesellschaft die
Konsequenzen der ökonomischen Entwickelung zieht und dem weiblichen
Geschlecht volle politische Gleichberechtigung zuerkennt. Sie haben es
der sozialistischen Arbeiterbewegung klar ins Bewußtsein gerufen, daß
sie auch im Kampfe für die Gleichberechtigung der Geschlechter allen
bürgerlichen Parteien und Gruppen vorangehen muß. Allerdings nicht
in der Weise, daß sie ihrer geschichtlichen Auffassung, ihrem demo-
kratischen Prinzip ins Gesicht schlägt und sich zur Vorkämpferin eines
beschränkten Frauenwahlrechts macht. Es hieße dies an Stelle der
Prinzipientreue bloße Prinzipienreiterei setzen. Wohl aber dadurch,
daß sie mit aller Energie den Kampf aufnimmt für das ungeschmälerte
politische Recht aller Frauen, aller politisch Entrechteten überhaupt.
Die Schlacht für die politische Gleichberechtigung des gesamten
weiblichen Geschlechts wird im Kampfe des Proletariats geschlagen. Das
zeigt uns Finnland, wo dank der Sozialdemokratie das allgemeine Wahl-
recht für Männer und Frauen erobert worden ist. Jndem das
allgemeine Wahlrecht das Stimmrecht aus einem Sachrecht in
ein Personenrecht verwandelt, nur großjährige gleichberechtigte
Bürger anerkennt: erhebt es auch die politische Gleichberechti-
gung aller Frauen, ohne Unterschied der Klasse, aus einer pa-
piernen Formel zur lebendigen Wirklichkeit. Wer den Kampf um das
Frauenstimmrecht nicht um des Vorteils einer Klasse willen führt; wer
aus ernster, innerster Ueberzeugung für die politische Gleichberechtigung
des weiblichen Geschlechts kämpft, der kann, der muß sich von der bürger-
lichen Bewegung für das beschränkte Frauenstimmrecht abkehren und
mit Begeisterung für das allgemeine Wahlrecht aller Großjährigen ohne
Unterschied des Geschlechts kämpfen. Der Kampf für das wirkliche Recht
der Frau hat dabei nichts zu verlieren, sondern nur zu gewinnen.
Er erhält ein höheres, weiterspannendes Ziel, einen tieferen Gehalt, eine
breitere Basis, Scharen neuer aufopfernder Streiter und Streiterinnen.
Ganz unbegründet ist die von frauenrechtlerischer Seite geäußerte
Befürchtung, daß in England die Bewegung für das allgemeine Wahlrecht
nur das allgemeine Männerwahlrecht erringen werde. Wir weisen an
anderer Stelle nach, daß die sozialistische, die Arbeiterbewegung nicht
bloß durch ihre Prinzipien und ihr Programm, sondern durch zwingende
Klasseninteressen des Proletariats verpflichtet ist, für die volle Demo-
kratisierung des Wahlrechts zu kämpfen, das Frauenstimmrecht in-
begriffen. Auf der anderen Seite ist in England eine große Zahl
bürgerlicher Politiker und Parlamentsmitglieder durch formelle Ver-
sprechungen gebunden, für das Frauenwahlrecht einzutreten und zu
stimmen. Dagegen würde der Sieg des beschränkten Frauenstimmrechts
allein eine Schwächung und Gefahr für den Kampf um das Wahlrecht
aller Großjährigen bedeuten. Zunächst dadurch, daß er der Bewegung
für die volle Demokratisierung des Wahlrechts zahlreiche energische
Kräfte entzöge. Wären für die besitzenden Damen die Kastanien aus
dem Feuer geholt, um mit Genossin Montefiore zu sprechen, so würden
als Befriedigte viele beiseite treten, die heute noch als Rechtlose kämpfen
müssen und dadurch — sie mögen wollen oder nicht — die Wucht des
proletarischen Kampfes für die volle Demokratisierung des Wahlrechts
stärken und den Widerstand der Gegner schwächen. Davon abgesehen
ist eins klar. Kräftigt das beschränkte Frauenstimmrecht die Macht der
besitzenden Klassen, so steigert es auch die Widerstandskraft, die diese
der weiteren Demokratisierung des Wahlrechts, ja allen Reform-
forderungen zugunsten der Ausgebeuteten entgegenzusetzen vermögen.
Des weiteren dürfen wir vor allem nicht vergessen, daß es nicht
die Aufgabe der revolutionären Sozialdemokratie sein kann, die
aus der bürgerlichen Ordnung resultierenden politischen Konflikte
zwischen den Männern und Frauen der besitzenden Klasse auf-
zuheben. Umgekehrt: das Jnteresse des Proletariats gebietet ihr,
3*
solche Konflikte möglichst in Permanenz zu erhalten, sich aus-
wachsen und austoben zu lassen. Jhre wichtigste geschichtliche
Mission ist es, die bürgerliche Gesellschaft zu beseitigen und nicht sie zu-
gunsten der bürgerlichen Minderheit zu verbessern. Jn dieser Richtung
wirkt aber der Kampf zwischen den bürgerlichen Männern und Frauen
um politische Macht. Er vermehrt den Zwiespalt im Hause der herr-
schenden Klassen und schwächt dadurch ihre Kraft dem Proletariat gegen-
über. Aber, so könnte man einwenden, unter dem aufgezeigten Gesichts-
winkel darf die Sozialdemokratie auch nicht für das allgemeine Frauen-
wahlrecht eintreten. Der Triumph dieser Forderung muß betreffs der
Ueberwindung des politischen Gegensatzes zwischen bürgerlichen Männern
und Frauen die gleiche Wirkung haben wie die Einführung des be-
schränkten Damenstimmrechts. So richtig die letztere Tatsache ist, so
wenig stimmt die aus ihr abgeleitete Schlußfolgerung. Bei Einführung
des allgemeinen Frauenwahlrechts wird die aufgehobene zersetzende
Wirkung des Familienstreits zwischen den Geschlechtern in den bürger-
lichen Klassen bei weitem aufgewogen durch den revolutionären Einfluß
des unendlich bedeutsameren Klassenkampfes zwischen Proletariat und
Bourgeoisie, der nun erst auch zwischen den Frauen zu seiner vollen Ent-
faltung gelangt. Mit Sturmwind segeln die Schiffe des kämpfenden
Proletariats am besten.
Die meisten englischen Sozialisten- und Gewerkschaftsführer be-
ginnen, der Frage des Frauenstimmrechts erhöhte Aufmerksamkeit
zuzuwenden und sie im Lichte der aufgezeigten Zusammenhänge auf-
zufassen. Erfreulich wächst insbesondere auch die Zahl der führenden Ge-
nossinnen, von denen das gleiche gilt, und die sich angelegen sein lassen,
die prinzipielle Ueberzeugung in die praktische Tat umzusetzen. An
erster Stelle muß dabei des zielbewußten und eifrigen Wirkens des
„Vereins zur Erringung des allgemeinen Wahlrechts aller Großjährigen‟
gedacht werden. Er wurde 1905 von Genossinnen gegründet, welche
in der Mehrzahl der „Sozialdemokratischen Föderation‟ angehören.
Unter der Leitung der hervorragenden Gewerkschaftlerin Miß Margaret
Bondfield sucht diese Organisation durch Flugschriften und mündliche
Agitation das Ringen um die politische Gleichberechtigung des weib-
lichen Geschlechts aus dem engen Bett frauenrechtlerischer Auffassung
und bürgerlicher Klasseninteressen in den breiten Strom des prole-
tarischen Klassenkampfes, des Kampfes um das allgemeine Wahlrecht
aller Großjährigen hinüber zu leiten.
Angesichts der Situation haben die beiden sozialistischen Par-
teien Englands auf ihrem diesjährigen Jahreskongreß Stellung
zur Frage des Frauenstimmrechts genommen. Die „Sozialdemo-
kratische Föderation‟ beschloß in Carlisle dem Antrag der Ge-
nossin Kough entsprechend, nicht für ein beschränktes Frauenwahl-
recht einzutreten, sondern für das allgemeine Wahlrecht aller
Großjährigen ohne Unterschied des Geschlechts, wie es der Antrag
Dilke fordert. Genosse Dr. Dessin betonte ausdrücklich, daß die Partei
zwar das Ziel des gegenwärtigen frauenrechtlerischen Kampfes nicht zu
unterstützen vermöge, daß sie jedoch die frauenrechtlerischen Demon-
strationen billige, die von revolutionärem Mut getragen seien. Auf dem
Kongreß der „Unabhängigen Arbeiterpartei‟ zu Derby erklärte sich
nach längerer und lebhafter Diskussion die Mehrheit dafür, daß
die Partei auch die Anträge für das beschränkte Frauenstimmrecht unter-
stützen müsse. Schon der vorjährige Kongreß der „Unabhängigen
Arbeiterpartei‟ zu Liverpool hatte sich für das beschränkte Frauen-
stimmrecht entschieden. Auch die neue „Arbeiterpartei‟ hat sich mit
der Frage des Frauenstimmrechts befassen müssen. Jnnerhalb ihrer
Reihen herrscht infolge ihrer Zusammensetzung betreffs der Stellung zu
der aufgerollten Frage keine Einmütigkeit. Mehrere ihrer parlamenta-
rischen Vertreter — unter ihnen vor allem Keir Hardie — sind be-
geisterte Verfechter des Frauenstimmrechts überhaupt, auch des be-
schränkten Frauenwahlrechts. Der Jahreskongreß der „Arbeiterpartei‟,
der am 29. Januar d. J. in Belfast tagte, hat sich trotzdem mit über-
wältigender Mehrheit gegen das beschränkte Frauenstimmrecht und für
das allgemeine Wahlrecht aller Großjährigen ohne Unterschied des Ge-
schlechts ausgesprochen. Der Antrag Wishart, welcher die Partei zum
Eintreten für das beschränkte Frauenstimmrecht verpflichten wollte,
wurde abgelehnt, obgleich der parlamentarische Führer der „Arbeiter-
partei‟, Keir Hardie, ihn nachdrücklich befürwortete. 605000 Stimmen
fielen gegen, 268000 für die folgende Resolution Quelch: „Der
Kongreß erklärt, daß es höchste Zeit sei, allen erwachsenen Männern
und Frauen das gleiche Wahlrecht zu geben; ferner, daß jede
Wahlrechtsvorlage, die auf einem Zensus beruht und nur einen Teil
der Bevölkerung umfaßt, einen reaktionären Schritt bedeute und deshalb
bekämpft werden müsse.‟ Eine Genossin, der das Frauenrecht so am
Herzen liegt, wie Mrs. Montefiore, schreibt von diesem Beschlusse: „Jch
kann nicht die Möglichkeit sehen, daß Vertreter der Arbeiter und Ar-
beiterinnen angesichts der jüngsten Ereignisse anders gestimmt hätten,
als sie getan.‟ Das trifft zu!
Der Beschluß zeichnet nicht bloß den Vertretern der „Arbeiterpartei‟
im Parlament ihre Haltung klar und unzweideutig vor, er weist auch
mit aller Entschiedenheit auf die Aufgabe der sozialistischen Arbeiter-
bewegung hin, ihre ganze Kraft für das geforderte allgemeine
Wahlrecht aller Großjährigen einzusetzen. Der Kampf um die volle
Demokratisierung des Wahlrechts muß im Lager des kämpfenden Prole-
tariats alle Kräfte vereinigen, die auf der einen Seite in Tatenlosigkeit
verharrten, die auf der anderen Seite sich für ein bürgerliches Klassen-
interesse verzettelten. Der Kampf um die volle Demokratisierung des
Wahlrechts wird zu einer immer dringenderen praktischen Aufgabe
des Proletariats. Und wie die ganze Frauenfrage nur ein Teil der
sozialen Frage ist und nur mit ihr zusammen durch die Befreiung
des Proletariats, d. h. durch die Ueberwindung der kapitalistischen Ge-
sellschaftsordnung gelöst werden kann, so kann auch heute die politische
Emanzipation des gesamten weiblichen Geschlechts nur durch den
Kampf für die volle politische Gleichberechtigung des Proletariats
verwirklicht werden. Wer von diesen Gesichtspunkten aus für das
Frauenstimmrecht als allgemeines Wahlrecht kämpft, der schwört von
dem Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter kein Jota ab.
Umgekehrt: er gibt diesem Prinzip erst seine volle Tragweite, seinen
ganzen Gehalt, er hilft dazu, daß es sich aus einem toten Buchstaben
in lebendiges Fleisch und Blut verwandelt.
Die eingehende Prüfung des Wesens eines beschränkten Frauen-
stimmrechts und im Zusammenhang damit die Darstellung des Kampfes
um ein solches in England dünkte uns notwendig. Der Jubel über den
Januarsieg des nationalen Blockes dürfte bald verrauscht sein und von
neuem Jammer über das unaufhaltsame Anschwellen der „sozialdemo-
kratischen Gefahr‟ abgelöst werden. Wir wissen daher nicht, wie bald
in Deutschland die Furcht vor der Sozialdemokratie die bürgerlichen
Parteien mit ihrer prinzipiellen Gegnerschaft gegen die politische Eman-
zipation des weiblichen Geschlechts auf den Weg gen Damaskus treiben
und zu Aposteln eines beschränkten Frauenstimmrechts bekehren kann.
Und daß wir in diesem Falle von den deutschen bürgerlichen Frauen-
rechtlerinnen mehr demokratischen Sinn, eine tiefere theoretische Einsicht
und eine festere prinzipielle Haltung erwarten dürften, wie von ihren
englischen, holländischen und norwegischen Schwestern: daß hieße ihnen
mehr zumuten, als ihrem schwachen bürgerlichen Leibe frommt. Dafür
spricht nicht nur unsere historische Auffassung, sondern eine Kette lang-
jähriger praktischer Erfahrungen, von denen einige früher angeführt
worden sind. Wir könnten nichts Verkehrteres tun, als angesichts der sich
entwickelnden Verhältnisse in Vogelstraußpolitik den Kopf in den
Sand der gefühlsgeschwollenen Beteuerungen zu stecken, der zur
Frage von einem Bäckerdutzend „radikaler‟ Frauenrechtlerinnen auf-
gewirbelt wird. Nun liegt allerdings in Deutschland die Situation in
mehr als einem Punkt anders als in England. Nicht zum mindesten
auch insofern, als wir in Deutschland eine kräftige, zielklare sozialistische
Frauenbewegung haben, die stetig an Einfluß auf das weibliche Prole-
tariat gewinnt. Seit langen Jahren grundsätzlich scharf in Theorie
und Praxis von der bürgerlichen Frauenrechtelei getrennt, hat sie je
und je für das allgemeine Frauenstimmrecht, für die vollste Demo-
kratisierung des Wahlrechts überhaupt gekämpft. Allein die Genug-
tuung darüber darf uns nicht vergessen lassen, daß noch Millionen
Frauen — indifferent oder zum mindesten ungeschult — außerhalb dieser
Bewegung stehen. Da liegt die Gefahr nahe, daß große Kreise von ihnen
durch die bürgerlichen Schaumschlägereien mit dem Prinzip der Gleich-
berechtigung des weiblichen Geschlechts über die reaktionäre Natur eines
beschränkten Frauenstimmrechts getäuscht werden könnten. Dem gilt
es vorzubeugen, und je früher und gründlicher wir das besorgen, um
so besser. Die aufgezeigte Sachlage muß den Massen der proletarischen
Frauen zum Bewußtsein gebracht werden. Sie müssen die Ueberzeugung
gewinnen, daß sie im Kampfe für ihre volle soziale Emanzipation auf
die eigene Kraft und auf die ihrer Klasse angewiesen sind.
VIII.
Reaktionäre und revolutionäre Entwickelungstendenzen,
das Frauenwahlrecht betreffend.
Die gleiche geschichtliche Ursache: die Ausdehnung und Verschärfung
des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit zeitigt vor unseren
Augen charakteristische Erscheinungen, Entwickelungstendenzen, welche
für die politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts von höchster
Bedeutung sind. Die Bourgeoisie gibt mehr und mehr die demokra-
tischen Prinzipien preis, für die sie einst geschwärmt hat, auch die
bürgerlichen liberalen Parteien wagen nicht, ihre Konsequenzen betreffs
der vollen Demokratisierung des Wahlrechts zu ziehen. Sie fürchten
— wie alle bürgerlichen Parteien — die langsam, aber sicher an-
schwellende Macht des kämpfenden Proletariats. Gleichzeitig aber wird
die bürgerliche Welt allmählich zu einer Revision ihrer Anschauungen
über die Frauenfrage, über die politische Gleichberechtigung des weib-
lichen Geschlechts gezwungen. Die bürgerliche Frauenbewegung gewinnt
an Umfang und Bedeutung. Mag sie sich noch so schwächlich geberden:
als sozialer Kampfesausdruck der steigenden äußeren und inneren
Lebensnot großer und wachsender Schichten bürgerlicher Frauen wird
sie in bestimmter Richtung vorwärts getrieben und muß in ihr ebenso
unaufhaltsam Terrain erobern, als die geschichtlichen Kräfte wirksam
bleiben, welche jene Lebensnot unvermeidlich erzeugen. Unter dem
Zwange revolutionärer Verhältnisse revolutioniert auch sie Menschen
und Zustände. Selbst die reaktionärsten Parteien vermögen sich auf
die Dauer dieser Lage der Dinge nicht zu entziehen. Es sei in dieser
Hinsicht an den Wandel erinnert, der sich in der Stellung der bürger-
lichen Parteien zum Vereins- und Versammlungsrecht der Frauen voll-
zogen hat. Die Freisinnigen fordern heute bereits unbeschränktes und
gleiches Vereins- und Versammlungsrecht für beide Geschlechter, und
Nationalliberale wie Zentrümler beginnen der Gleichberechtigung des
weiblichen Geschlechts wenigstens Konzessionen zu machen. So bereitet
sich auch nach und nach ein Frontwechsel in der Haltung der bürgerlichen
Parteien zum Frauenwahlrecht vor. Von zwei Seiten bedrängt — vor
jeder weiteren Demokratisierung des Wahlrechts zitternd und doch zu
einer solchen getrieben —, erscheint ihnen das beschränkte Frauen-
stimmrecht als rettender Ausweg aus ihren Nöten, gleichzeitig aber als
treffliches Mittel, den siegreichen Vormarsch des Proletariats aufzuhalten.
Das beschränkte Frauenwahlrecht erlaubt ihnen, sich fortschrittlich auf-
zuputzen, dabei aber reaktionär zu handeln. Dem Damenrecht
eignet eine um so größere Anziehung auf die kapitalistische Welt, als
— wie wir bereits ausführten — ein Zensuswahlrecht das eigentliche
politische Jdeal des bürgerlichen Liberalismus ist. Soweit das Bürger-
recht der Frau Gnade vor seinen Augen zu finden beginnt, ist es daher
— von Ausnahmen abgesehen — ein Bürgerrecht mit verfälschtem
Jnhalt, das Sachrecht an die Stelle von Personenrecht setzt. Mehr
und mehr treten überall bürgerliche Liberale im Bunde mit den offenen
Reaktionären für das beschränkte Frauenwahlrecht in die Schranken.
Jn diesem Tatbestand, der selbstverständlich den verschiedenen Ver-
hältnissen der einzelnen Länder entsprechend unter verschiedenen
Formen und mit Variationen auftritt, haben wir eine Ent-
wickelungsreihe vor uns. Die andere wird dadurch angezeigt, daß
die Sozialdemokratie als konsequente Verfechterin des demokratischen
Prinzips den Kampf für das Frauenstimmrecht als allgemeines Recht,
als Recht der Person führt. Wie liegen die Dinge, welche das bewirken?
Das Proletariat wird durch seine ureigensten Klasseninteressen ge-
zwungen, der kräftigste und zuverlässigste Vorkämpfer für volle Demo-
kratie und damit auch für die politische Gleichberechtigung des gesamten
weiblichen Geschlechts ohne Unterschied der Klasse zu sein. Jn dem
Maße, als die Frauenarbeit immer mehr an Umfang und Bedeutung
gewinnt und als ausschlaggebender Faktor im wirtschaftlichen Leben auf-
tritt: kann das Proletariat bei der Durchführung seiner ökonomischen
Kämpfe der organisierten zielbewußten und disziplinierten Mitwirkung
der Frauen nicht entraten. Die wirtschaftliche Organisierung und
Schulung der Arbeiterinnen in den Gewerkschaften ist aber nur dann
ungehindert möglich, wenn die Frauen volle politische Rechte besitzen. Die
politische Unfreiheit des weiblichen Geschlechts erweist sich als eine
drückende Fessel für die gewerkschaftliche Organisation und Betätigung
der Arbeiterinnen. Welche Rechte zum beruflichen Zusammenschluß und
zum wirtschaftlichen Kampf auch immer ihnen durch das Gesetz auf dem
Papier eingeräumt seien: bei der engen Verquickung des wirtschaftlichen
und politischen Lebens können sie — wie für die Männer auch — illusorisch
gemacht werden, solange die ergänzenden und schützenden politischen
Rechte fehlen. Jedoch mit dem wirtschaftlichen Kampfe allein ist es für
das Proletariat nicht getan. Es steht in einem Kampf von Klasse gegen
Klasse, und jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf. Das Prole-
tariat muß auf politischem Gebiete für soziale Reformen in der Gegen-
wart, für seine volle Befreiung in der Zukunft durch die Eroberung der
politischen Macht kämpfen. Je schärfer aber der politische Kampf der
Klassen sich zuspitzt, je stärkere Wellen er in die Familie des Arbeiters,
des kleinen Mannes wirft, je fühlbarer er die Jnteressen der Frauen
berührt und in Mitleidenschaft zieht, um so weniger können die klassen-
bewußten Proletarier die Frauen ihrer Klasse als Mitkämpferinnen ent-
behren. Es wird für sie ein um so unabweisbareres Bedürfnis, ihre
weiblichen Klassenangehörigen als Mitstreiterinnen zur Seite zu haben,
die von zielklarer Erkenntnis geleitet, wollen und handeln, als die
bürgerlichen Parteien und Mächte sich bemühen, die unaufgeklärten
Frauen gegen die aufgeklärten Männer zu mobilisieren. Um aber
politisch kämpfen und für den Kampf erzogen werden zu können, bedarf
die Proletarierin voller politischer Rechte. Das gesamte Proletariat
muß daher die Forderung erheben: „Nieder mit allen gesetzlichen Be-
stimmungen, welche der Frau die volle politische Gleichberechtigung vor-
enthalten! Her mit der Zuerkennung aller staatsbürgerlichen Rechte
für das gesamte weibliche Geschlecht!‟
Diese Forderung wurzelt in der Erkenntnis, wie notwendig und be-
deutsam es ist, daß die Proletarierinnen gleich gerüstet und wehrtüchtig
wie die Männer ihrer Klasse an den wirtschaftlichen und politischen
Kämpfen innerhalb der kapitalistischen Ordnung und gegen sie teil-
nehmen. Nicht theoretischen Formeln zuliebe, nein, durch sein prak-
tisches Lebensinteresse als Klasse wird das Proletariat gezwungen, als
energischster Verfechter des Frauenstimmrechts aufzutreten. Als poli-
tische Klassenorganisation des Proletariats mußte daher die Sozial-
demokratie die Forderung des Frauenstimmrechtes in ihr Programm
aufnehmen und praktisch vertreten. Sie gehorcht damit praktischen Er-
wägungen, die aus ihrem Verständnis für die Existenz- und Kampfes-
bedingungen der Arbeiterklasse geboren werden. Sie gehorcht damit
aber auch ihrer geschichtlichen Einsicht in die Tendenz der ökonomischen
und sozialen Entwickelung: sie weiß, daß das Wahlrecht dank gründlich
revolutionierter Daseinsbedingungen eine soziale Lebensnotwendigkeit
für die Frauen geworden ist. Sie gehorcht damit endlich dem Gebot
sozialer Gerechtigkeit, das sie als treue Verfechterin des demokratischen
Prinzips vollstreckt wissen will.
Wenn die Sozialdemokratie demzufolge von je theoretisch und
praktisch für das Frauenwahlrecht eingetreten ist, so wird sie jedoch
in Zukunft das noch mehr, noch energischer tun müssen als seither. Die
Zuspitzung der Klassengegensätze, die Verschärfung des Klassenkampfes
zeitigt geschichtliche Umstände, welche die Frage des Frauenwahlrechts
in neue Zusammenhänge bringen. Das volle Bürgerrecht der Frau
beginnt nicht nur für das Proletariat, sondern auch für die
reaktionären Klassen eine große praktische Bedeutung zu gewinnen.
Jn allen Ländern, wo das Proletariat erfolgreich kämpfend auf
dem Plan steht und den herrschenden Klassen Furcht vor seiner
Macht einflößt, da preßt die Situation den reaktionären Parteien
Sympathien für das Frauenwahlrecht ab. Sie befreunden sich
mit dem Gedanken seiner Einführung als mit einer letzten
winkenden Hoffnung, die bedrohte politische Machtstellung der aus-
beutenden Minderheit schützen und befestigen zu können. Und natur-
gemäß ist es besonders das beschränkte Frauenstimmrecht, das ihre
Herzen sich gewinnt. Sie gehen daran, das allgemeine Männerwahl-
recht, wo es besteht oder nicht länger vorenthalten werden kann, mittels
eines beschränkten Frauenwahlrechts zu „korrigieren‟, mittels eines
Frauenwahlrechts, das an einen bestimmten Besitz oder eine bestimmte
Steuerleistung gebunden ist. Das ist zuerst 1902 in Norwegen ge-
schehen, wo das allgemeine kommunale Männerwahlrecht mit einem
Zensuswahlrecht für die Frauen verquickt wurde. Das hat sich in dem
nämlichen Land vor kurzem betreffs des politischen Wahlrechts
wiederholt. Es ist das um so bezeichnender, als der Antrag
auf Einführung des beschränkten Frauenwahlrechts im Gegensatz zu
einem sozialdemokratischen Antrag zur Annahme gelangte, welcher das
allgemeine Frauenwahlrecht forderte. Jn England — wo seit Jahren schon
ein im allgemeinen beschränktes Frauenwahlrecht zu den Lokalverwal-
tungen besteht — ist starke Aussicht auf baldige Einführung eines gleich-
falls beschränkten politischen Frauenstimmrechts vorhanden. Ein solches
hat warme Fürsprecher — Stockreaktionäre und bürgerlich Liberale —
im österreichischen und italienischen Parlament gefunden. Belgische
und französische Klerikale spielen mit der Jdee einer eventuellen Forde-
rung des Frauenwahlrechts. Jn Deutschland hat einer der blutigsten
Gründer und skrupellosesten Scharfmacher, hat Herr von Kardorff er-
klärt, unter Umständen über das Frauenwahlrecht mit sich reden zu lassen.
Aber besonders wichtig für uns sind die Wandlungen, sind die
Tendenzen, die zur Frage innerhalb des Zentrums auftreten. Auf dem
Katholikentag zu Straßburg 1905 hat das Zentrum der Frauenfrage
gegenüber einen entschiedenen Frontwechsel vollzogen. Auf dieser
Tagung hat Pater Auracher einer veränderten Haltung zur Frauen-
frage, insbesondere aber zur weiblichen Erwerbstätigkeit, das Wort
geredet, und das gestützt auf Gründe, die kein Sozialdemokrat zu-
treffender zu entwickeln vermöchte. Schüchtern hat Pater Auracher sogar
angedeutet, daß den Frauen auch die politische Betätigung nicht länger
vorenthalten bleiben könnte. Bald darauf ist das Zentrum im bayerischen
Landtag viel weiter gegangen. Eine Petition des bürgerlichen Vereins
„Frauenwohl‟ auf Einführung des Frauenwahlrechts ist dort von
32 Zentrümlern unterstützt worden. Dr. Heim hat ihre Stellungnahme
in Ausführungen motiviert, die seiner geschichtlichen Einsicht alle Ehre
machen. Nun wäre es verfehlt, aus der hervorgehobenen Tendenz
zu schließen, daß das Zentrum etwa von heut auf morgen als be-
geisterter Vorkämpfer für das Frauenwahlrecht und gar für ein all-
gemeines Frauenwahlrecht im Felde erscheinen werde. Solche über-
schwengliche törichte Hoffnungen werden durch das gedämpft, was sich in
Belgien begeben hat. Als 1902 die belgischen Genossen das allgemeine
Wahlrecht für Männer und Frauen zu den Gemeinde- und Provinzial-
räten beantragten, erklärten die Klerikalen, sie würden für das Frauen-
wahlrecht stimmen. Jhre Erklärung war ein grobes Manöver, darauf
berechnet, die philisterhaft kurzsichtigen Liberalen zu schrecken und zu
veranlassen, ihre Stimmen gegen den Antrag abzugeben. Als es zur
Entscheidung kam, stimmte nicht ein einziger Klerikaler für den Antrag
unserer Genossen, und nur einer brachte den Mut auf, sich der Abstim-
mung zu enthalten!
Ungeachtet dieses lehrreichen Vorgangs bleiben die übrigen an-
gezogenen Tatsachen charakteristisch und bedeutsam genug. Sie lassen
erkennen, daß im Zentrum Tendenzen wirksam sind, welche an einer
Umbildung seines seitherigen grundsätzlichen Verhaltens zum Frauen-
wahlrecht arbeiten. Sie zeigen sinnenfällig, daß für die Stellungnahme
dieser Partei zur strittigen Frage im letzten Grunde nicht die vor-
geschobenen prinzipiellen ideologischen Gesichtspunkte ausschlaggebend
sind, sondern der sehr realpolitische Wille, die Herrschaft der Kirche und
der besitzenden Klassen um jeden Preis zu sichern. Die Klerikalen be-
kennen sich zu dem Grundsatz: „Die Frau schweige in der Gemeinde,‟
solange seine Praxis im Jnteresse ihrer Herrschaftsstellung als politischer
Sachwalter des kapitalistischen Eigentums gelegen ist. Jedoch werden
sie jederzeit bereit sein, der Frau die Zunge in der Gemeinde
zu lösen, wenn sie meinen, dadurch die Macht der Kirche und
der besitzenden Klassen befestigen zu können. Wie es in der
Bibel steht: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum
Besten dienen.‟ Wenn der Herr die Herzen der Mächtigen und
Gewaltigen einmal nicht sichtbarlich wie Wasserbäche im Dienste
einer kirchennützlichen Politik gelenkt hat: haben die Träger der
katholischen Kirche allzeit mittels kluger und schöner Frauen der Vor-
sehung korrigierend nachgeholfen. Und zwar ließen sie in diesem Falle
legitime wie illegitime und mit besonderer Vorliebe allerhöchst illegitime
Frauen als gleichberechtigt zu politischen Dingen zu. Sie verschmähten
es nie und nirgends, und sie streben heute mehr als je danach, dank dem
Einfluß des Beichtvaters über die Frauen die männliche Bevölkerung
politisch im Schlepptau der reaktionären Parteien zu halten. Wie sie
die Frau im Schatten des Beichtstuhls und Alkovens als schleichende
Jntrigantin oder betört kurzsichtig Flehende zu den politischen Macht-
zwecken der Kirche ausgenutzt haben, so werden sie sich auch dazu ver-
stehen, sie als Vollbürgerin im großen Lichte der Oeffentlichkeit auf den
politischen Kampfplatz zu rufen. Die oben hervorgehobene Bedingung
natürlich vorausgesetzt.
Jm Zeichen des verschärften Klassenkampfes gewinnt jedoch nicht
nur das beschränkte Frauenwahlrecht für die reaktionären Klassen und
Parteien wachsende Reize. Unter Umständen fangen sie an, sich mit dem
Frauenwahlrecht überhaupt auszusöhnen, und dort, wo das allgemeine
Männerwahlrecht weder versagt noch gemeuchelt werden kann, auch
das allgemeine Frauenstimmrecht nicht länger als der Uebel größtes
zu betrachten. Welche Resultate es auch für die Zukunft in seinem
Schoße tragen mag: in der Gegenwart erscheint es ihnen immer noch als
eine rettende Planke. Sie lernen es als ein Mittel schätzen, die Wir-
kungen des allgemeinen Männerwahlrechts zu durchkreuzen. Après
nous le déluge! Nach uns die Sintflut! Jhre Bekehrung zum
Frauenwahlrecht wird von den flachsten Augenblicks- und Nützlichkeits-
erwägungen bestimmt. Sie gründet nicht in geschichtlicher Einsicht und
der Achtung vor dem Recht des Weibes, das unter dem Drucke revo-
lutionierter Daseinsbedingungen zu politischer Reife erwächst. Nein,
ihre Wurzel ist die kühle Spekulation auf die geistige Rückständigkeit,
auf die politische Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit, welche das
traurige Erbteil ist, das Jahrhunderte der Unfreiheit und Ungleichheit
großen Massen des weiblichen Geschlechts gelassen haben. Die Gleich-
berechtigung des weiblichen Geschlechts wird von den betreffenden
Bürgerlichen als eine unerläßlich gewordene formale Anweisung mit
in den Kauf genommen, die latente politische Rückständigkeit der weib-
lichen Bevölkerung in aktive wirksame Rückständigkeit umsetzen zu
können. Die Herrschaft bürgerlicher, ja ausgesprochen reaktionärer
Jdeen über die Geister dünkt ihnen im größten Teil der Frauenwelt —
leider auch des weiblichen Proletariats! — stark und unerschüttert genug,
um im politischen Leben die unaufgeklärten Frauen zu Nutz und Frommen
der besitzenden Klassen gegen die klassenbewußt kämpfenden Proletarier
ausspielen zu können. Sie treten für das Frauenwahlrecht ein als
für ein Korrektiv gegen die steigende Aufklärung der Arbeiter und ihren
zunehmenden Abmarsch ins Lager der Sozialdemokratie. Je größer
die wirtschaftliche und soziale Macht oder auch die geistige Vormundschaft
ist, welche die Vorkämpfer reaktionärer Jdeen und Zustände über breite
Massen der weiblichen Bevölkerung noch ausüben: um so näherliegender
ist auch unter den aufgezeigten Zusammenhängen die Neigung zur Ein-
führung des Frauenwahlrechts. Das Zentrum insbesondere hat diese
gegenwärtig weniger als jede andere Partei zu fürchten. Umgekehrt:
es kann von ihr mit Sicherheit eine nicht unwesentliche Stärkung seiner
politischen Macht erwarten. So begreift sich, daß in Belgien, in Frank-
reich und anderwärts noch die Klerikalen heute der Forderung des
Frauenwahlrechts im allgemeinen sympathischer gegenüberstehen als die
bürgerlichen Liberalen.
Der nämliche Tatbestand, der das bedingt, erklärt jedoch auch das
andere. Die tiefe Abneigung, welche die bürgerlichen Liberalen, die
Demokraten inbegriffen, gegen die Einführung des Frauenwahlrechts
zumal in Ländern bekunden, wo der Klerikalismus noch die vor-
herrschende oder zum mindesten eine sehr starke Macht ist. Diese Ab-
neigung erweist nicht nur ihre Furcht vor den Klerikalen, sondern sie
ist gleichzeitig auch das Eingeständnis der geringen geistigen Fühlung,
die zwischen den Liberalen und der Frauenwelt der bürgerlichen
Klasse besteht. Fast in allen Ländern des westeuropäischen Konti-
nents haben die bürgerlichen Liberalen ihren „Männerstolz‟ weniger
„vor Königsthronen‟ als gegenüber dem weiblichen Geschlecht geübt,
das sie in der Oeffentlichkeit als Löwen anbrüllen, um dafür im Hause
recht oft als die kläglichsten Meister Zettel demütig unter den Pan-
toffel zu kriechen. Sie haben die Frauen als quantité négligeable
des öffentlichen Lebens behandelt und ihre geistige Rückständigkeit
als Bürgschaft der „Griseldistugend‟ gepflegt und erhalten, welche
dem Philister so bequem ist. Die fanatischsten bürgerlichen Frei-
denker und wütendsten Pfaffenfresser erachten herablassend lächelnd,
daß religiöser Aberglaube ihre Frauen und Töchter wohl ziert,
und sie lassen die Ansätze zu deren geistiger und sozialer Be-
tätigung im Weihrauchduft und Sakristeimoder unter Leitung von
Geistlichen und Betschwestern beider Geschlechter verkümmern. Die
politische Aufklärung und Schulung der bürgerlichen Frauen hat der
bürgerliche Liberalismus geradezu systematisch vernachlässigt, wenn nicht
gar grundsätzlich verfemt. Obschon die bürgerliche Demokratie an der
Wiege des politischen Erwachens der Frauenwelt gestanden ist, hat sie
doch so gut wie nichts für die Erziehung ihres Patenkindes getan. Nicht
mit Unterstützung der Männerwelt ihrer Klasse, vielmehr im Gegensatz
zu dieser und im Kampfe mit ihr hat sich die Sammlung und Schulung
der bürgerlichen Frauen zum Ringen für ihr Bürgerrecht vollzogen. So
trennt heute — von England und zum Teil auch von Skandinavien ab-
gesehen — in der liberalen Bourgeoisie eine breitere Kluft als in jeder
anderen sozialen Schicht das geistige Leben, die politische Gesinnung
der Geschlechter. Und wenn die bürgerlichen Liberalen vor der politischen
Rückständigkeit der Frauen zittern, welche die Macht der unverhüllten
Reaktion und insbesondere des Klerikalismus stärken müsse, so zittern
sie nur vor dem Geschöpf ihrer eigenen Sünde und Schande.
Die nicht zu leugnende geistige und politische Rückständigkeit der
Mehrheit des weiblichen Geschlechts hat auch im Lager der Sozialdemo-
kratie hier und da vereinzelte Stimmen laut werden lassen, die sich aus
„Zweckmäßigkeitsgründen‟ für jetzt gegen die Zuerkennung des Wahl-
rechts an die Frauen erklärt haben. So hat z. B. Troelstra, einer der
angesehensten Führer der holländischen Sozialisten, seinerzeit geäußert,
er werde gegen einen eventuellen Antrag auf Einführung des Frauen-
wahlrechts stimmen. Die Neuerung müsse zu einer Stärkung der
Reaktion führen, weil die Frauen noch zu unaufgeklärt seien. Dem
Sinne nach gleiche Aeußerungen sind besonders in Ländern und
Gegenden gefallen, wo unter dem Einfluß bestimmter geschichtlicher Ver-
hältnisse die Sozialdemokratie vor allem den Kampf gegen den Kleri-
kalismus führen muß, weil dieser als stärkster und gefährlichster
Sachwalter der Ausbeuterinteressen auftritt. Aber auch anderwärts
kann man der Meinung begegnen, daß die Zeit noch nicht erfüllet sei,
in welcher die Sozialdemokratie für die Einführung des Frauenwahl-
rechts kämpfen solle. Der Ansicht liegt überall die Auffassung zugrunde,
daß die unaufgeklärten Frauen zum Spielball in den Händen der re-
aktionären, in ganz besonderem Maße aber der klerikalen Parteien
werden würden, so daß ihre Stimmen auf lange Zeit hinaus den
Klassenkampf des Proletariats mit ernsten Gefahren bedrohten.
Nun wäre es töricht, zu bestreiten, daß mit der vollen politischen
Emanzipation des weiblichen Geschlechts auch Frauen, viele Frauen das
Wahlrecht ausüben werden, die infolge mangelnden politischen Ver-
ständnisses mit ihrem Stimmzettel zur Stärkung der Reaktion beitragen.
Es fragt sich jedoch, ob das ein Grund ist, dem weiblichen Geschlecht das
Bürgerrecht vorzuenthalten, und ob diese Vorenthaltung das Mittel ist,
die Rückständigkeit der Frauen mitsamt ihrer reaktionären Ausnutzung
zu überwinden. Wir sagen: nein! Wäre die zur Frage geäußerte Auf-
fassung richtig, dann dürfte das Proletariat überhaupt nie für eine
Demokratisierung des Wahlrechts eintreten. Denn jede über den status
quo hinausgehende Ausdehnung des Stimmrechts bringt zunächst
Massen auf den politischen Kampfplatz, die noch nicht politisch geschult
und zum richtigen Gebrauch ihres Bürgerrechts erzogen sind. Das
Wahlrecht ist jedoch nicht eine Belohnung für politische Reife, sondern
umgekehrt ein äußerst wirksames Mittel, die Massen zu sammeln, zu
organisieren und zu politischer Reife zu erziehen. Wollten wir nur
politisch reifen Staatsangehörigen das Wahlrecht zusprechen, so müßten
wir es einer sehr großen Zahl von heute Wahlberechtigten aberkennen.
Jn der Tat machen noch immer viele hunderttausende Wahlberechtigter
aus dem Proletariat den denkbar verkehrtesten Gebrauch von ihrem
Bürgerrecht. Sie geben bürgerlichen Kandidaten ihre Stimme und
liefern damit ihre Jnteressen ihren Gegnern aus. Aber kein ernst zu
nehmender Sozialdemokrat wird im Hinblick auf diese Tatsache einer
Entziehung oder Vorenthaltung des Wahlrechts das Wort reden. Die
Pariser „Revue Socialiste‟ veranstaltete im Sommer 1906 eine Umfrage
darüber, wie sich führende Sozialisten aller Länder zum Frauenwahlrecht
stellen. Alle Antworten stimmten darin überein, daß die politische
Rückständigkeit des weiblichen Geschlechts kein Grund sein dürfe, ihm
das Wahlrecht vorzuenthalten. Vaillant und Allemane haben das für
die französischen Sozialisten erklärt, Keir Hardie und Mac Donald für
die englischen, Kautsky und Bernstein für die deutsche Sozialdemokratie,
Ferri äußerte sich für die italienische und Vandervelde für die belgische
Bruderpartei in dem gleichen Sinne. Die Sozialdemokratie lebt nicht
den bürgerlichen Parteien gleich aus der Hand in den Mund. Sie
erfaßt die Dinge und Verhältnisse nicht bloß in der abgeschlossen
scheinenden Form dessen was ist, vielmehr im Flusse der Entwickelung
dessen, was aus ihnen dank der geschichtlichen Dialektik wird. Bei aller
Berücksichtigung der Wirklichkeit von heute stellt sie in Anrechnung,
was aus dieser Wirklichkeit werden kann, und was sie selbst aus ihr
entwickeln muß. Das Zukünftige ist der letzte und höchste Maßstab
ihrer Haltung. Auch ihre Stellungnahme zum Frauenwahlrecht wird
daher nicht bestimmt durch die reaktionären Folgen, die seine Ein-
führung zunächst und vorübergehend haben kann, wohl aber durch den
Ausblick auf die revolutionären Wirkungen, die bald und dauernd in
Erscheinung treten müssen.
Die Gewährung des Wahlrechts birgt eben nicht nur die augen-
fällige Gefahr in sich, vielmehr gleichzeitig auch ihre Korrektur, das
Mittel zu ihrer Ueberwindung. Die Rückständigkeit des weiblichen Ge-
schlechts predigt der Sozialdemokratie keineswegs, die Losung des
Frauenwahlrechts fallen zu lassen oder auch nur zurückzustellen, wohl
aber die andere: mit der höchsten Kraftentfaltung an der Aufklärung
und Schulung der proletarischen Frauenmassen zu arbeiten. Und für
die Erfüllung dieser Aufgabe schafft gerade die Gewährung des Frauen-
wahlrechts den stärksten Anreiz. Der Wert der sozialistischen Auf-
klärungs- und Organisierungsarbeit unter dem Proletariat wird leider
hier und da einseitig an ihrer Bedeutung für die Gewinnung von Wahl-
stimmen und Mandaten gemessen und nicht nach ihrer allseitigen Trag-
weite für die Revolutionierung der Hirne und die innere Kampfes-
bereitschaft der Massen. Die Frau hat jetzt unmittelbar keine Stimme und
kein Mandat zu vergeben. Manchen dünkt daher die Erweckung und Er-
ziehung der Proletarierinnen zum Klassenbewußtsein eine Art Luxus
und Zeitvertreib, welchen die Partei mehr zu dulden als zu fördern
habe. Sie erachten sie nicht als eine Lebensnotwendigkeit des proleta-
rischen Klassenkampfes, als eine ernste Aufgabe, der sich die Partei mit
dem gleichen Eifer widmen muß, wie der Schulung des männlichen
Proletariats. Von dem Augenblick an, wo durch Einführung des all-
gemeinen Frauenwahlrechts die Stimme des Weibes einen parlamen-
tarischen Kurswert erhält, der auf dem politischen Markt erscheint,
wird das anders. Es beginnt das Wettrennen der Parteien um die
Stimmen der Frau, der armen Frauen insbesondere, denn sie bilden
die Masse der Wählerinnen. Und dann wird allgemach auch von den
Kurzsichtigsten die zwingende Notwendigkeit begriffen, der Aufklärung
der Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen die gleiche Aufmerksamkeit zu-
zuwenden, wie derjenigen der proletarischen Männer.
So liegt unseres Erachtens kein Grund vor, welcher die Sozial-
demokratie bestimmen könnte, die Forderung voller politischer Gleich-
berechtigung des weiblichen Geschlechts „in den Silberschrein‟ zu stellen
und nur bei feierlichen Gelegenheiten als Prunkstück herauszuholen.
Wohl aber scheint es in unseren Tagen angezeigt, daß ihre Aktionen
für das Frauenwahlrecht immer energischer und wuchtiger werden
müssen. Der Gefahr, daß ein beschränktes Frauenwahlrecht zur Ein-
führung gelangt, begegnet die Sozialdemokratie am besten dadurch,
daß sie ihr eine kraftvolle und systematische Agitation für das all-
gemeine Frauenwahlrecht entgegenstellt. Und eine solche erweist sich
gleichzeitig als vorzügliches Mittel, die Frauen der werktätigen Massen
zur Erkenntnis ihrer Klassenlage wach zu rütteln und sie dem Heere
des klassenbewußt kämpfenden Proletariats einzureihen. Das aber ist
die Voraussetzung dafür, sie durch intensive Arbeit zu politischer
Selbständigkeit und Reife emporzuheben und es dadurch der Reaktion
zu vereiteln, ihren Zwecken in nennenswertem Umfange die Stimmen
der proletarischen Frauen dienstbar machen zu können. Der Sieg der
Sozialdemokratie in Finnland bei der ersten Wahl, die unter dem
gleichen Wahlrecht für Männer und Frauen stattfand, hat das schlagend
erwiesen.
IX.
Die Wahlrechtskämpfe des Proletariats und das
Frauenwahlrecht.
Die Stellungnahme der internationalen sozialistischen Parteien zur
Frage des Frauenwahlrechts scheint unter den obigen Gesichts-
punkten klar vorgezeichnet. Jn manchen Ländern jedoch haben die Ge-
nossen „Zweckmäßigkeitsgründe‟ dafür geltend gemacht, daß unter be-
stimmten Umständen der Kampf für das allgemeine Männerwahlrecht
nicht mit dem Kampf für das Frauenwahlrecht verquickt werden dürfe.
Während wichtiger Wahlrechtskämpfe haben sie sich damit begnügt, das
allgemeine Männerwahlrecht zu fordern und zu verfechten.
Das geschah 1902 in Belgien, wo die sozialistische Arbeiterpartei
in ihrer Kampagne für das gleiche Wahlrecht die Forderung des
Frauenwahlrechts fallen ließ. Von bestimmendem Einfluß darauf war
neben anderen Gründen — Genosse Vandervelde hat es anerkannt —
die Rücksicht auf die bürgerlichen Liberalen, die erklärten, sie würden
für die Wahlrechtsreform nicht eintreten, wenn die Sozialisten auf ihrer
Forderung des Frauenwahlrechts beständen. Was hat sich aber gezeigt?
Die Arbeiterpartei wurde in ihrem parlamentarischen und erst recht in
ihrem außerparlamentarischen Kampf für die Wahlrechtsreform von den
Liberalen in der schmählichsten Weise im Stich gelassen. Die prinzipielle
Forderung der Partei war also ohne praktischen Nutzen geopfert worden.
Ein ähnlicher Vorgang hat sich 1906 in Schweden wiederholt.
Durch den Druck einer rührigen Agitation, welche die sozialistische Partei
betrieben hatte, wurde die Regierung gezwungen, eine Wahlrechtsvorlage
einzubringen. Die Regierung hatte von vornherein den bürgerlichen
Frauenrechtlerinnen erklärt, daß sie es ablehne, in ihre Vorlage das
Frauenwahlrecht aufzunehmen. Die sozialdemokratische Fraktion in der
zweiten schwedischen Kammer beschloß angesichts der praktischen Aus-
sichtslosigkeit eines Vorstoßes, das Frauenstimmrecht nicht zu beantragen,
aber dafür zu stimmen, wenn es von anderer Seite beantragt würde.
Der Entwurf zur Wahlrechtsreform gelangte nun zwar in der zweiten
Kammer zur Annahme, allein in der ersten scheiterte er. Obwohl die
Sozialisten ihre Ansprüche auf Demokratisierung des Wahlrechts auf
das bescheidenste Maß reduziert hatten, ließ die Reaktion sich durch ihre
Nachgiebigkeit nicht entwaffnen. Sie fühlte sich noch mächtig genug,
jede Reform des Wahlrechts zurückzuschlagen. Auch in Schweden war
also der Verzicht auf die prinzipielle Forderung ohne praktischen Wert.
Genosse Branting schrieb daher kurz darauf in der „Gleichheit‟, daß die
sozialistische Partei nun in eine neue Phase des Kampfes eintrete, daß
sie den Kampf aufnehmen müsse für die Beseitigung der Ersten Kammer.
Er schloß seine interessante Darstellung des Wahlrechtskampfes mit der
Erklärung, daß der weitere Kampf ein bedeutsamer sei, denn er gehe
um die Macht zwischen den besitzenden und nichtbesitzenden Klassen.
Das Proletariat müsse daher an alle Mittel des Kampfes denken. Ein
Kampf aber, der in seiner Bedeutung und seinen Opfern so weittragend
sei wie er, könne nicht bestimmt werden durch kleinliche Opportunitäts-
rücksichten, er müsse prinzipiell durchgefochten werden. Der nächste
Wahlrechtskampf der schwedischen Sozialisten werde daher ein Kampf
sein für das allgemeine und gleiche Wahlrecht der Männer wie der
Frauen.
Noch in einem dritten Lande hat sich betreffs der Haltung der
Sozialdemokratie zum Frauenwahlrecht ähnliches begeben: in Oester-
reich. Dort war es dem Proletariat nach jahrelangem zähem, tapfersten
Kampfe gelungen, die Regierung zu zwingen, endlich an eine einiger-
maßen durchgreifende Wahlrechtsreform zu gehen. Sie mußte einen
Entwurf einbringen, der das allgemeine, gleiche, direkte und geheime
Wahlrecht zu dem Reichsrat einführte und mit dem Kuriensystem auf-
räumte, dank dessen die politische Macht des Proletariats im Parlament
völlig erdrückt wurde. Die Wahlrechtsreform, zu der die Regierung
sich verstanden, war bedeutsam genug, sie entsprach jedoch in den ver-
schiedensten wichtigen Punkten durchaus nicht den grundsätzlichen Forde-
rungen der Sozialdemokratie, das Wahlrecht betreffend. Unter anderen
„Schönheitsfehlern‟, die ihr anhafteten — wie einjährige Seßhaftigkeit,
schreiend ungerechte Wahlkreisgeometrie usw. — war auch der, daß sie
die Frauen rechtlos ausgehen ließ. Jn der gegebenen Situation waren
die österreichischen Genossen und Genossinnen der Ansicht, daß es zunächst
gelten müsse, den Männern das allgemeine Wahlrecht unbedingt und so
rasch als möglich zu erobern. Und da ihnen seine Eroberung gefährdet
erschien, wenn der Wahlrechtskampf auch für das Frauenwahlrecht
geführt werde, beschloß der Parteitag — wie die Genossinnen selbst be-
fürworteten — diese Forderung vorläufig zurückzustellen. Die öster-
reichische Sozialdemokratie beschränkte sich darauf, ihre volle Macht
für den Reformentwurf der Regierung einzusetzen und nicht für ihre
eigenen grundsätzlichen Wahlrechtsforderungen. Daß sie sich bemüht hat,
den Entwurf durch ihre parlamentarische Arbeit in Einzelheiten so
viel als möglich zu verbessern, sei ausdrücklich hervorgehoben.
Bei Würdigung der Verhältnisse, unter denen unsere Bruderpartei
in den Wahlrechtskampf zog, ist die Auffassung verständlich, die Er-
oberung des allgemeinen Wahlrechts wenigstens für die Männer nicht
gefährden zu dürfen. Es galt endlich eine Wahlrechtsreform zustande
zu bringen, welche Oesterreich in einen modernen Staat umwandelte,
und damit die Vorbedingung dafür schuf, daß das Proletariat im
Parlament, im politischen Kampfe seine ganze Macht entfalten kann.
Aber wäre die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts tatsächlich dadurch
bedroht, ja unmöglich gemacht worden, daß die Sozialdemokratie für
ihr grundsätzliches Wahlrechtsprogramm den Kampf aufgenommen und
auch die Forderung des Frauenwahlrechts aufrechterhalten und in der
Agitation wie im Parlament mit allem Nachdruck verfochten hätte?
Das ist die Frage. Wir stehen nicht an, die Notwendigkeit der von
Anfang an geübten Entsagung zu verneinen.
Zunächst sei das eine klargestellt. Angesichts der gegebenen
Situation konnte niemand der österreichischen Sozialdemokratie an-
sinnen, das Frauenwahlrecht zu einer ausschlaggebenden Forderung des
Wahlrechtskampfes zu machen, zu einem Grund- und Eckstein, mit dem
die Wahlrechtsreform stand und fiel. Dieses Ansinnen wäre im Hinblick
auf die Machtverhältnisse zwischen den kämpfenden Parteien, hinter
denen die kämpfenden Klassen und Nationen standen, eine Torheit ge-
wesen; im Hinblick auf den erreichbaren Kampfpreis — das allgemeine
Männerwahlrecht — ein Verbrechen. Ja mehr noch. Es durfte und
konnte in dem Wahlrechtskampf nicht von einem Hervordrängen der For-
derung des Frauenstimmrechts vor die übrigen wichtigsten sozialistischen
Einzelpostulate zur Demokratisierung des politischen Rechts die Rede sein.
Jedoch ein anderes ist: das alles berücksichtigen, oder: die Forderung des
Frauenwahlrechts von Anfang an aus dem Kampfe ausschalten. Aller
Schwierigkeit und Bedeutung des Wahlrechtskampfes ungeachtet lag
unseres Erachtens kein triftiger Grund vor, sich über den Beschluß des
Amsterdamer Jnternationalen Sozialistischen Kongresses, das Frauen-
wahlrecht betreffend, hinwegzusetzen. Das Frauenwahlrecht hätte seiner
grundsätzlichen und praktischen Wichtigkeit für das kämpfende Prole-
tariat gemäß gefordert und vor den Massen wie im Parlament mit
Nachdruck vertreten werden sollen. Dadurch, daß unsere österreichische
Bruderpartei das Frauenwahlrecht von vornherein aus dem Kampfe
ausschied, verschwand die Forderung auch so gut wie vollständig aus
der Agitation, wurde sie im Reichsrat ebenfalls nicht ihrer Bedeutung
entsprechend verfochten. Es war dies durchaus naturgemäß. Während
einer Periode des Kampfes konzentriert sich die Agitation auf das
Kampfesobjekt. Die Agitation ist ja selbst ein wesentlicher, ja der
wichtigste Teil des Kampfes: sie gibt die Order, welche die Massen
mobilisiert und als Macht für das Kampfesziel aufmarschieren läßt.
Eine Forderung, die nicht im Aktionsprogramm einer Kampagne aus-
gesprochen ist, wird daher im allgemeinen auch in der Agitation unaus-
gesprochen bleiben. Aehnliches gilt von dem parlamentarischen Kampf.
Zur Rechtfertigung der befolgten Taktik ist behauptet worden, daß
die Einbeziehung des Frauenstimmrechts in den Kampf den Gegnern will-
kommen Anlaß geboten hätte, die Wahlrechtsreform zu verschleppen, wohl
gar zum Scheitern zu bringen. Unseres Dafürhaltens war jedoch diese
Befürchtung gegenstandslos. Es stand durchaus in der Macht der
sozialdemokratischen Fraktion, im Reichsrat die Forderung des Frauen-
stimmrechts — wie jeden anderen einzelnen Punkt des Wahlrechts-
programms — zurückzuziehen, nachdem sie vorher ihrer Bedeutung ent-
sprechend erhoben und begründet worden war. Die Fraktion war also
gegenüber etwaigen reaktionären Verschleppungsanträgen zur strittigen
Frage nicht wehrlos, sondern konnte sie zurückschlagen. Dann aber und
vor allem war den reaktionären Gelüsten, die Wahlrechtsreform ins
Stocken zu bringen und womöglich bachab zu schicken, eine Grenze gezogen
durch die Furcht vor der Macht des Proletariats. Die Haltung der
reaktionären Parteien in den Kämpfen ums Wahlrecht wird im letzten
Grunde nicht bestimmt durch die „weise Mäßigung‟ der preoletarischenproletarischen
Forderungen, sondern durch die tatsächliche Macht des Proletariats, die
hinter den Forderungen steht. Auch die zäheste, die tückischste Reaktion
läßt, was sie nicht tun kann und tut, was sie nicht lassen kann. Das
hat auch der österreichische Wahlrechtskampf bestätigt. Trotz des Ver-
zichts der Sozialdemokratie, ihre grundsätzliche Forderung des Frauen-
stimmrechts zu erheben, hat der Wahlrechtsausschuß sich mit dieser be-
fassen müssen. Der Demokrat Choc beantragte dort die Einführung
des Frauenwahlrechts; zwei Reaktionäre, Hruby und Kaiser, forderten
das Damenwahlrecht. Genosse Dr. Adler hat dann in trefflicher Weise
zu der Frage Stellung genommen. Es würde aber nach unserer
Meinung weit wirksamer gewesen sein, wenn die Sozialdemokratie von
Anfang an nachdrücklich für die Forderung eingetreten wäre. Jm
Kampf für das Recht sozial Unterdrückter, minderberechtigter Schichten
und Klassen, muß unsere Partei jederzeit den bürgerlichen Parteien
voranschreiten. Doch der springende Punkt der Sache selbst: Die
reaktionären Parteien haben die durch den Antrag Choc geschaffene
Situation nicht zu Verschleppungsmanövern ausgenutzt. Sicherlich
ebenso wenig aus einem ihnen völlig fremden Respekt vor dem Recht
des Proletariats, vor den weitreichenden Allgemeininteressen, um die
es ging, wie aus frommer Rührung über die Beschränkung, welche die
Sozialdemokratie sich auferlegt hatte. Was ihr Verhalten leitete, war
lediglich das Bewußtsein ihrer Ohnmacht, die proletarischen Massen
noch länger um die Errungenschaft ihres glänzenden Kampfes betrügen
zu können. Solange und soweit sie die Kraft spürten, die Wahl-
rechtsreform durch plutokratische Bestimmungen zu verschandeln, sich
ihrem Abschluß zu widersetzen, haben sie dies reichlich getan, auch ohne
daß die Forderung des Frauenstimmrechts eine Rolle in dem Kampfe
gespielt hätte. Mehr als einmal sind die Wahlreformarbeiten ins Stocken
geraten. Damit sie in Fluß blieben, mußte das Proletariat stets Gewehr
bei Fuß stehen, damit sie zum Abschluß kamen, mußte es mit dem
revolutionären Kampfesmittel des Massenstreiks drohen. Nicht der kampf-
lose Verzicht auf wesentliche Forderungen des sozialdemokratischen Wahl-
programms hat den siegreichen Ausgang des Kampfes gesichert. Das
hat vielmehr die Kraft, das Ungestüm, die Ausdauer des klassen-
bewußten Proletariats getan, das die Frage der Wahlrechtsreform aus
den Kabinetten der Minister und den Konventikeln der Parlamentarier
in die Straße, unter die breitesten Massen trug. Wie andere große
politische Kämpfe des Proletariats, so ist auch der Kampf ums Wahl-
recht in Oesterreich in Wirklichkeit nicht im Parlament entschieden
worden. Seine entscheidenden Schlachten haben die proletarischen
Massen außerhalb des Reichsrats geschlagen.
Wozu der Lärm ob der ausgeschalteten Forderungen, könnte man
vielleicht fragen. Jn der gegebenen Situation konnte der Siegespreis
des Kampfes doch nicht mehr als das allgemeine Männerwahlrecht sein.
Der Kampf für das Frauenwahlrecht wäre eine verlorene Schlacht ge-
blieben. Gewiß! Aber die verlorene Schlacht wäre keine vergebliche
gewesen. Sie hätte außerordentlich viel dazu beigetragen, den künftigen
Triumph des Frauenwahlrechts vorzubereiten. Die ebenso stürmische
als ausdauernde Wahlrechtskampagne der österreichischen Sozialdemo-
kratie hatte die Massen bis in ihre Tiefen aufgewühlt, hatte ihre
Empfindlichkeit, ihr Verständnis für soziales Unrecht gesteigert, hatte
eine Bereitschaft der Geister ausgelöst, mit alten überkommenen Be-
griffen und Zuständen abzurechnen, neue Jdeen aufzunehmen und
kämpfend zu vertreten. Diese geistige Atmosphäre war außerordentlich
geeignet, die Forderung voller politischer Gleichberechtigung des weib-
lichen Geschlechts unter alle Bevölkerungsschichten zu tragen und ihr ins-
besondere unter den proletarischen Massen Anhänger und Anhängerinnen
zu werben. Diese Situation ist nicht genutzt worden, das bleibt be-
dauerlich. Ein Antrag auf Einführung des allgemeinen Frauenwahl-
rechts ist eine der ersten Aktionen der sozialdemokratischen Fraktion ge-
wesen, welche dank des eroberten allgemeinen Männerwahlrechts in den
österreichischen Reichsrat eingezogen ist. Das bekräftigt, was nie ange-
zweifelt werden konnte: daß die österreichische Sozialdemokratie das
Frauenwahlrecht nach der grundsätzlichen und praktischen Bedeutung
wertet, die ihm zukommt. Kein Zweifel auch, daß die Partei den Antrag
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im Parlament wie außerhalb des Parlaments mit dem ernsten Eifer
und der hingebungsvollen feurigen Begeisterung verfechten wird, durch
welche sich bisher ihre Kämpfe ausgezeichnet haben. Allein, daß trotz der
87 sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichsrat betreffs eines
praktisch greifbaren Resultats des Vorstoßes die Situation jetzt günstiger
läge als zur Zeit des großen allgemeinen Wahlrechtskampfes, wird
wohl niemand behaupten. Die kühle Art, mit welcher die reaktionäre
Mehrheit des Parlaments im Handumdrehen dem sozialdemokratischen
Antrag auf Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu den Landtagen
der Kronländer die Dringlichkeit abgesprochen hat, zeigt sinnen-
fällig, was von ihr in puncto weiterer Wahlrechtsreformen zu
erwarten ist. Aber auch die Aussichten für die agitatorische
Wirkung des Antrags auf die Massen haben sich nicht verbessert.
Dadurch, daß die Forderung losgelöst von dem allgemeinen Rechts-
begehren auftritt, das im Wahlrechtskampfe seinen Ausdruck fand,
ergreift sie von vornherein weder in dem gleichen Umfange noch
mit der gleichen Wucht die Massen. Davon abgesehen, daß in
den Zeiten ruhigen politischen Alltagslebens auch die vorzüglichsten
Parlamentsreden nicht die revolutionäre und revolutionierende
Stimmung zu entfachen vermögen, welche von einer Epoche stürmischen
Kampfes geschaffen wird. Es gilt von solcher Stimmung der Massen,
was Auer von der Begeisterung sagte: „Sie ist keine Heringsware,
die sich einpökeln läßt.‟
Jn Deutschland hat es nicht an Leuten gefehlt, welche mit dem
weisen Schulmeisterfinger auf die Vorgänge in Oesterreich als auf ein
Beispiel hingedeutet haben, das die deutsche Sozialdemokratie in ihren
Wahlrechtskämpfen schleunigst nachahmen solle. Den Genossinnen ins-
besondere wurde gepredigt, hinter der Solidarität und Disziplin nicht
zurückzustehen, die ihre österreichischen Schwestern bewiesen haben, indem
sie die Forderung des Frauenwahlrechts zurückstellten und ihre ganze
Kraft für die Eroberung des allgemeinen Männerwahlrechts einsetzten.
Zehn gegen eins: die Mahner werden ihre Stimme aufs neue und ein-
dringlicher erheben, sobald die Wahlrechtskämpfe in Preußen, Sachsen
usw. wieder in kräftigeren Fluß kommen und schärfere Formen annehmen.
Es schien uns daher geboten, die dem Frauenwahlrecht gegenüber geübte
Taktik der österreichischen Genossen zu prüfen. Und ungeachtet der
Würdigung all der großen und komplizierten Schwierigkeiten, mit denen
der Wahlrechtskampf der Sozialdemokratie in Oesterreich rechnen mußte,
ungeachtet auch der aufrichtigen Bewunderung für die kühl wägende
und kühn wagende Art, wie unsere Genossen diesen Kampf durchgefochten
haben, können wir nicht umhin zu sagen: diese Taktik kann und darf
nicht die unsere sein. Die „Zweckmäßigkeitsrücksichten‟, denen die For-
derung des Frauenwahlrechts momentan geopfert worden ist, haben die
Reaktion nicht gehindert, im Kampfe gegen die Wahlrechtsreform bis
an die Grenze ihrer Macht zu gehen, und sie haben es dem Proletariat
nicht erspart, seinerseits ebenfalls seine volle Macht für die Wahlrechts-
reform aufbieten zu müssen.
Jedoch auf dem Grunde der aufgerollten Frage taucht eine andere,
wichtigere auf. Und das ist die: darf die Sozialdemokratie in ihren
Kämpfen überhaupt grundsätzliche Forderungen Zweckmäßigkeits-
rücksichten zum Opfer bringen, muß ihre Taktik in erster Linie von
ihren Prinzipien bestimmt werden, oder aber von der Rücksicht auf den
nächstliegenden praktischen Erfolg? Unserer Ueberzeugung nach dürfen
Theorie und Praxis, Prinzip und Taktik nicht gegensätzlich auseinander-
klaffen. Sie sind zwei Erscheinungsformen einer Einheit und können
daher nicht ohne Schaden auseinandergerissen werden. Unsere Kämpfe
müssen von einer prinzipiellen Auffassung getragen werden, die nicht
in einem toten orthodoxen Buchstabenglauben wurzelt, sondern in der
klaren, wohlbegründeten Erkenntnis, daß für das Proletariat eine
prinzipielle Politik und Taktik im letzten Grunde auch stets die praktisch
zweckmäßigste ist.
Auch die Wahlrechtskämpfe des Proletariats muß die Sozialdemo-
kratie daher auf Grund ihrer prinzipiellen Auffassung führen. Wie die
Dinge sich entwickelt und zugespitzt haben, ist heute überall dort, wo
ein organisiertes, zielbewußtes Proletariat auf dem politischen Blach-
felde steht, jeder Wahlrechtskampf ein Kampf um die politische Macht
zwischen dem Proletariat und den besitzenden Klassen. Die letzteren
fassen ihn auch ganz folgerichtig als einen solchen auf, selbst dann, wenn
er einer verhältnismäßig wenig einschneidenden Reformierung des
Wahlrechts gilt. Daher die Erscheinung, daß sie sich mit der größten
Energie, Zähigkeit und Böswilligkeit jeder Erweiterung, jeder Ver-
besserung des Wahlrechts widersetzen. Daher die andere, daß die Praxis,
die klugen Rechnungen darüber umzustoßen pflegt, daß durch Selbst-
beschränkung des Kampfziels das Proletariat den Widerstand der herr-
schenden Klassen zu entwaffnen, die oder jene bürgerliche Partei zu sich
herüberzuziehen vermöge. Ob die Sozialdemokratie viel oder wenig
fordert: die besitzende Minderheit wird alles vorenthalten, was vorzu-
enthalten ihre Macht noch erlaubt. Vorwände und Worte dafür wird
sie stets finden. Sie fürchtet die wachsende Macht des Proletariats
und wertet auch den kleinsten Schritt nach vorwärts als einen Anfang
des Endes ihrer eigenen Herrschaft. Aus ihrer Götterdämmerungs-
stimmung erklärt sich, daß sie die sozialistischen, die proletarischen
Wahlrechtsforderungen nicht nach Maßgabe der geübten „realpolitischen‟
Bescheidenheit behandelt. Ueber ihr Verhalten ihnen gegenüber ent-
scheidet das Maß ihrer Furcht vor der Reife und Macht des Proletariats.
Jn der Folge erhebt sich die Frage: ist der Verzicht auf einzelne
unserer grundsätzlichen Wahlrechtsforderungen oder ist die Entrollung
unseres gesamten Wahlrechtsprogramms das beste Mittel, unsere Macht,
unsere andauernde Kraftentfaltung in den Wahlrechtskämpfen zu
stärken? Die Antwort darauf fällt unseres Erachtens zugunsten
der Verfechtung unseres vollen Wahlrechtsprogramms aus. Je breiter
die Basis ist, auf der wir im Wahlrechtskampf stehen, um so
fester stehen wir, um so wuchtiger können wir zum Schlage ausholen,
um so größere Massen vermögen wir ins Gefecht zu werfen. Die Forderung
des Frauenwahlrechts ist aber ganz besonders geeignet, die Basis unserer
Kampfesstellung zu vergrößern. Sie zielt auf die Gleichberechtigung
der Hälfte des Volkes ab, sie führt uns neue, ansehnliche und an-
schwellende Massen Entrechteter als Mitstreiter und Mitstreiterinnen
zu. Aehnliches, wenn auch in geringerem Maße, gilt von jedem unserer
einzelnen Wahlrechtspostulate. Was aber das Festhalten des Frauen-
stimmrechts in jedem Wahlrechtskampf anbelangt, so kommt noch ein
anderer wichtiger Gesichtspunkt in Betracht. Jndem die Sozialdemo-
kratie den Ruf nach dem Frauenwahlrecht erhebt, trägt sie Verwirrung
und Zwiespalt in die Reihen ihrer Feinde und schwächt dadurch deren
Kampfessicherheit und Kampfeskraft. Die Forderung löst die sozialen
Gegensätze aus, die in den bürgerlichen Klassen zwischen Mann und
Frau vorhanden sind, sie erzeugt in den bürgerlichen Parteien Rei-
bungen und Splitterungen zwischen den Anhängern und den Gegnern
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des Bürgerrechts der Frau, sie zwingt die, welche die volle Gleich-
berechtigung des weiblichen Geschlechts ernstlich erstreben, wenn auch
getrennt marschierend, die Schlacht des Proletariats mitzuschlagen,
sie mögen das wollen oder nicht. Die Forderung läßt aber auch
die sozialen Gegensätze in Erscheinung treten, die innerhalb der Frauen-
welt vorhanden sind. Wie die bürgerlichen Parteien und Arbeiter-
freunde, so müssen auch die Frauenrechtlerinnen Farbe bekennen, ob sie
für allgemeines Frauenwahlrecht oder für Damenwahlrecht sind. Und
diese Klärung ist ein Gewinn, der nicht zu unterschätzen ist. Nichts
ist gefährlicher in einem schweren Kampfe als laue und halbe Freunde,
welche die Kühnheit und Entschlossenheit des Wollens lähmen und die
Wucht und Schärfe der Schläge mildern. Am wertvollsten aber ist die
Wirkung des Kampfes auf die proletarischen Massen. Er trägt Gährung,
Bewegung unter sie, veranlaßt sie, sich mit alten Jdeen auseinander-
zusetzen, hält sie dadurch in Atem, wirbt unter ihnen neue Kämpfer
und Kämpferinnen, sammelt und erzieht sie und steigert mit dem allen
die Kampfesfreude und die Siegeszuversicht. Nicht vergeblich wird
daher die Sozialdemokratie in ihrem Kampfe für das politische Recht
der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen auch die Forderung vollen
Bürgerrechts für das weibliche Geschlecht vertreten. Welches auch immer
sein Ausgang für den Augenblick sein mag, die Partei erhöht damit die
Aktionsfähigkeit des Proletariats und bereitet künftige Siege vor. Denn
das Frauenwahlrecht gehört zu jenem geistigen Dynamit, das Bresche in
den Unverstand der Massen wie in die politische Herrschaftsstellung der
besitzenden Klassen legt.
Jn allen Wahlrechtskämpfen muß daher die Forderung des Frauen-
wahlrechts als eine grundsätzliche Forderung der Sozialdemokratie nach-
drücklich erhoben und vertreten werden. Das ist bei uns in Deutsch-
land bis jetzt stets geschehen. Die deutsche Sozialdemokratie hat ihre
Wahlrechtskämpfe geführt als Kämpfe für das gleiche Recht von Mann
und Frau, und sie wird – davon sind wir überzeugt — auch in der
Zukunft anscheinenden „Zweckmäßigkeitsrücksichten‟ ihre grundsätzliche
Forderung nicht aufopfern.
Die deutschen Genossinnen lehnen deshalb für den Kampf um die
volle politische Gleichstellung der Geschlechter jede Eigenbrödelei ab. Sie
befürworten unter den gegebenen Umständen nicht eine besondere sozial-
demokratische Frauenwahlrechtsaktion. Sie wissen, daß ihr Rechts-
anspruch am meisten gewinnt, wenn er innerhalb des allgemeinen prole-
tarischen Ringens für die Demokratisierung des Wahlrechts seiner Be-
deutung entsprechend verfochten wird. Dadurch werden die breitesten
proletarischen Massen für ihn in die Schlacht geführt. Jnnerhalb der
allgemeinen Wahlrechtskämpfe aber fällt den Genossinnen eine doppelte
Aufgabe zu. Jhnen vor allem kommt es zu, die Masse der Proleta-
rierinnen für diese Kämpfe zu sammeln und zu schulen, dann aber
auch andererseits dafür zu wirken, daß die Forderung des Frauen-
wahlrechts in ihnen mit Treue allgemein verfochten wird.
Keine Jllusion darüber, daß die nächsten Kämpfe für die Demokrati-
sierung des Wahlrechts in Deutschland wahrscheinlich noch keinen Sieg
des allgemeinen Frauenwahlrechts bringen werden! Aber auch kein
Vergessen der Tatsache, daß wir durch unermüdliche energische Arbeit
die Vorbedingung dieses Sieges schaffen: die Revolutionierung
Hunderttausender Köpfe! Die Revolutionierung der Köpfe nicht bloß zu-
gunsten des Frauenwahlrechts, vielmehr zugunsten der gesamten
sozialistischen Auffassung. Auch den Kampf um das Frauen-
wahlrecht betrachten wir im Lichte jenes Satzes aus dem
„Kommunistischen Manifest‟: „Das eigentliche Resultat der prole-
tarischen Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer
weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.‟ Denn wir führen
den Kampf um das Frauenwahlrecht nicht als einen Kampf zwischen den
Geschlechtern, sondern als Klassenkampf zwischen Ausbeutern und Aus-
gebeuteten. Wir führen ihn nicht zusammen mit den bürgerlichen
Frauen gegen die Herrschaftsstellung des Mannes ohne Unterschied der
Klasse, sondern gemeinsam mit allen Ausgebeuteten und Entrech-
teten ohne Unterschied des Geschlechts gegen alle Ausbeutenden und
Herrschenden ohne Unterschied des Geschlechts. Die Hauptbedeutung
dieses unseres Kampfes besteht aber darin, daß er in den
Massen die Erkenntnis von der geschichtlichen Macht und der
geschichtlichen Mission des Proletariats heranreifen läßt, die
kapitalistische Ordnung durch die sozialistische zu ersetzen. Wenn
die Zeit erfüllet ist, wo die objektive geschichtliche Ent-
wickelung zur Umwälzung der Gesellschaft ihr Werk getan, so kann dank
dieser festgewurzelten Erkenntnis das Proletariat als sein eigener Be-
freier jeder Macht der kapitalistischen Ordnung zurufen:
„Es liegt an mir: — Ein Ruck von mir, ein Schlag von mir
zu dieser Frist,
Und siehe, das Gebäude stürzt, von welchem Du die Spitze bist.‟