wie den Esel vor ihm. "Sieh' Dich vor, Herr! Dein Rücken, Dein Fuß, Deine rechte Seite ist ge- fährdet! Nimm Dich in Acht, Deine linke Seite, Deinen Kopf! Passe auf! ein Kamel, ein Maul- thier, ein Esel, ein Pferd! Bewahre Dein Gesicht, Deine Hand! Weich' aus, Freund! Laß mich und meinen Herrn vorbei! Schmähe meinen Esel nicht, Du Lump; der ist mehr werth, als Dein Ur- großvater war. Verzeih', Gebieter, daß Du gestoßen wurdest." Diese und hundert andere Redens- arten umsurren beständig das Ohr des Reisenden. So jagt man zwischen allen den Gefahr bringen- den Thieren und Reitern, zwischen Straßenkarren, lasttragenden Kamelen, Wagen und Fußgängern durch, und der Esel verliert keinen Augenblick seine Lust, seine Willfährigkeit, läßt sich gar nicht erhalten, sondern stürmt dahin in einem höchst angenehmen Galopp, bis das Ziel erreicht ist. Kairo ist die hohe Schule für alle Esel. Hier erst lernt man dieses vortreffliche Thier kennen, schätzen, achten, lieben.
Auf unseren Esel freilich sind Oken's Worte vollkommen anzuwenden: "Der zahme Esel ist durch die lange Mißhandlung so herunter gekommen, daß er seinen Stammeltern fast gar nicht mehr gleicht. Er bleibt nicht blos viel kleiner, sondern hat auch eine mattere aschgraue Farbe und längere, schlaffe Ohren. Der Muth hat sich bei ihm in Widerspenstigkeit verwandelt, die Hurtigkeit in Langsamkeit, die Lebhaftigkeit in Trägheit, die Klugheit zur Dummheit, die Liebe zur Freiheit in Ge- duld, der Muth in Ertragung der Prügel."
Jhn meint auch Scheitlin in seiner trefflichen Thierseelenkunde.
"Der zahme Esel ist eher gescheidt, als dumm; nur ist seine Gescheidtheit nicht so gutmüthig, als die des Pferdes, ist mehr Tücke und Schlauheit und drückt sich am stärksten durch Eigenwillen oder Eigensinn aus. Jung, obschon von einer Sklavin geboren, ist er sehr munter, und liebt possirliche Sprünge, wie alle Kindheit, ahnt, wie auch das Menschenkind, sein vielleicht gräßliches, trauriges Schicksal nicht. Jst er erwachsen, so muß er ziehen und tragen und läßt sich gut dazu abrichten, was auf Verständniß deutet; denn er muß in den Willen eines anderen Wesens, in den eines Menschen treten. Das Kalb ist hierzu niemals verständig genug, und sogar das Pferdefüllen merkt anfänglich nicht, was man eigentlich mit ihm will. Wie geduldig aber auch der Esel seine große Last trägt, er trägt sie doch nicht gern; denn sobald er entlastet worden, trollt er sich gern auf dem Boden herum und schreit sein schreckliches Geschrei heraus. Es muß ihm ein musikalischer Sinn völlig mangeln. Seine Ohren deuten wirklich etwas Besonderes an."
"Sein Schritt ist außerordentlich sicher. Etwa ein Mal will er schlechterdings mit dem Wagen nicht von der Stelle, und etwa ein Mal nimmt er Reißans. Man muß immer auf seine Ohren sehen; denn er spielt fleißig mit ihnen und drückt seine Gedanken und Vorsätze durch sie, wie das Pferd, aus. Daß er die Prügel verachtet und kaum durch sie angetrieben wird, deutet einerseits auf Eigensinn, andererseits auf seine harte Haut. Seinen Wärter kennt er wohl; davon aber, daß er Anhänglichkeit an ihn, wie die Pferde, gewinne, ist nicht die Rede. Doch läuft er auf ihn zu und bezeigt einige geringe Freude. Auffallend ist an ihm die Empfindlichkeit für die erst von fern herannahende Wit- terung; er hängt entweder den Kopf, oder er macht muntere Sprünge."
"Wir können die Ehre des Esels noch vollkommen retten, weil wir sagen können, daß er zu sehr Vielem, wozu man sonst nur das Pferd abgerichtet sieht, ebenfalls eingeschult werden kann. Manche Kinder lernen schwer, aber gründlich und auf die Dauer; so der Esel. Man gibt Wettrennen mit ihm; man lehrt ihn durch Reife springen und Kanonen ablösen. Er springt gut und sicher und ist ganz unerschrocken. Er paßt auf seines Herrn Auge und Wort und versteht beide wohl. Darum kann man ihn auch tanzen lehren, sich im Takte bewegen und Thüren öffnen, wobei er sein Maul wie eine Hand gebraucht, Treppen auf- und absteigen und die schönste, älteste, verliebteste Person, die Zeit an einer vorgehaltenen Taschenuhr, die Zahl der Augen auf einer Karte oder einem Würfel durch Schläge mit dem Fuße auf den Boden angeben und auf jede Frage seines Herrn mit Kopfschütteln oder Kopfnicken oder Ja und Nein antworten."
Brehm, Thierleben. II. 24
Der zahme Eſel.
wie den Eſel vor ihm. „Sieh’ Dich vor, Herr! Dein Rücken, Dein Fuß, Deine rechte Seite iſt ge- fährdet! Nimm Dich in Acht, Deine linke Seite, Deinen Kopf! Paſſe auf! ein Kamel, ein Maul- thier, ein Eſel, ein Pferd! Bewahre Dein Geſicht, Deine Hand! Weich’ aus, Freund! Laß mich und meinen Herrn vorbei! Schmähe meinen Eſel nicht, Du Lump; der iſt mehr werth, als Dein Ur- großvater war. Verzeih’, Gebieter, daß Du geſtoßen wurdeſt.‟ Dieſe und hundert andere Redens- arten umſurren beſtändig das Ohr des Reiſenden. So jagt man zwiſchen allen den Gefahr bringen- den Thieren und Reitern, zwiſchen Straßenkarren, laſttragenden Kamelen, Wagen und Fußgängern durch, und der Eſel verliert keinen Augenblick ſeine Luſt, ſeine Willfährigkeit, läßt ſich gar nicht erhalten, ſondern ſtürmt dahin in einem höchſt angenehmen Galopp, bis das Ziel erreicht iſt. Kairo iſt die hohe Schule für alle Eſel. Hier erſt lernt man dieſes vortreffliche Thier kennen, ſchätzen, achten, lieben.
Auf unſeren Eſel freilich ſind Oken’s Worte vollkommen anzuwenden: „Der zahme Eſel iſt durch die lange Mißhandlung ſo herunter gekommen, daß er ſeinen Stammeltern faſt gar nicht mehr gleicht. Er bleibt nicht blos viel kleiner, ſondern hat auch eine mattere aſchgraue Farbe und längere, ſchlaffe Ohren. Der Muth hat ſich bei ihm in Widerſpenſtigkeit verwandelt, die Hurtigkeit in Langſamkeit, die Lebhaftigkeit in Trägheit, die Klugheit zur Dummheit, die Liebe zur Freiheit in Ge- duld, der Muth in Ertragung der Prügel.‟
Jhn meint auch Scheitlin in ſeiner trefflichen Thierſeelenkunde.
„Der zahme Eſel iſt eher geſcheidt, als dumm; nur iſt ſeine Geſcheidtheit nicht ſo gutmüthig, als die des Pferdes, iſt mehr Tücke und Schlauheit und drückt ſich am ſtärkſten durch Eigenwillen oder Eigenſinn aus. Jung, obſchon von einer Sklavin geboren, iſt er ſehr munter, und liebt poſſirliche Sprünge, wie alle Kindheit, ahnt, wie auch das Menſchenkind, ſein vielleicht gräßliches, trauriges Schickſal nicht. Jſt er erwachſen, ſo muß er ziehen und tragen und läßt ſich gut dazu abrichten, was auf Verſtändniß deutet; denn er muß in den Willen eines anderen Weſens, in den eines Menſchen treten. Das Kalb iſt hierzu niemals verſtändig genug, und ſogar das Pferdefüllen merkt anfänglich nicht, was man eigentlich mit ihm will. Wie geduldig aber auch der Eſel ſeine große Laſt trägt, er trägt ſie doch nicht gern; denn ſobald er entlaſtet worden, trollt er ſich gern auf dem Boden herum und ſchreit ſein ſchreckliches Geſchrei heraus. Es muß ihm ein muſikaliſcher Sinn völlig mangeln. Seine Ohren deuten wirklich etwas Beſonderes an.‟
„Sein Schritt iſt außerordentlich ſicher. Etwa ein Mal will er ſchlechterdings mit dem Wagen nicht von der Stelle, und etwa ein Mal nimmt er Reißans. Man muß immer auf ſeine Ohren ſehen; denn er ſpielt fleißig mit ihnen und drückt ſeine Gedanken und Vorſätze durch ſie, wie das Pferd, aus. Daß er die Prügel verachtet und kaum durch ſie angetrieben wird, deutet einerſeits auf Eigenſinn, andererſeits auf ſeine harte Haut. Seinen Wärter kennt er wohl; davon aber, daß er Anhänglichkeit an ihn, wie die Pferde, gewinne, iſt nicht die Rede. Doch läuft er auf ihn zu und bezeigt einige geringe Freude. Auffallend iſt an ihm die Empfindlichkeit für die erſt von fern herannahende Wit- terung; er hängt entweder den Kopf, oder er macht muntere Sprünge.‟
„Wir können die Ehre des Eſels noch vollkommen retten, weil wir ſagen können, daß er zu ſehr Vielem, wozu man ſonſt nur das Pferd abgerichtet ſieht, ebenfalls eingeſchult werden kann. Manche Kinder lernen ſchwer, aber gründlich und auf die Dauer; ſo der Eſel. Man gibt Wettrennen mit ihm; man lehrt ihn durch Reife ſpringen und Kanonen ablöſen. Er ſpringt gut und ſicher und iſt ganz unerſchrocken. Er paßt auf ſeines Herrn Auge und Wort und verſteht beide wohl. Darum kann man ihn auch tanzen lehren, ſich im Takte bewegen und Thüren öffnen, wobei er ſein Maul wie eine Hand gebraucht, Treppen auf- und abſteigen und die ſchönſte, älteſte, verliebteſte Perſon, die Zeit an einer vorgehaltenen Taſchenuhr, die Zahl der Augen auf einer Karte oder einem Würfel durch Schläge mit dem Fuße auf den Boden angeben und auf jede Frage ſeines Herrn mit Kopfſchütteln oder Kopfnicken oder Ja und Nein antworten.‟
Brehm, Thierleben. II. 24
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Der zahme Eſel.
wie den Eſel vor ihm. „Sieh’ Dich vor, Herr! Dein Rücken, Dein Fuß, Deine rechte Seite iſt ge-
fährdet! Nimm Dich in Acht, Deine linke Seite, Deinen Kopf! Paſſe auf! ein Kamel, ein Maul-
thier, ein Eſel, ein Pferd! Bewahre Dein Geſicht, Deine Hand! Weich’ aus, Freund! Laß mich
und meinen Herrn vorbei! Schmähe meinen Eſel nicht, Du Lump; der iſt mehr werth, als Dein Ur-
großvater war. Verzeih’, Gebieter, daß Du geſtoßen wurdeſt.‟ Dieſe und hundert andere Redens-
arten umſurren beſtändig das Ohr des Reiſenden. So jagt man zwiſchen allen den Gefahr bringen-
den Thieren und Reitern, zwiſchen Straßenkarren, laſttragenden Kamelen, Wagen und Fußgängern
durch, und der Eſel verliert keinen Augenblick ſeine Luſt, ſeine Willfährigkeit, läßt ſich gar nicht
erhalten, ſondern ſtürmt dahin in einem höchſt angenehmen Galopp, bis das Ziel erreicht iſt. Kairo
iſt die hohe Schule für alle Eſel. Hier erſt lernt man dieſes vortreffliche Thier kennen, ſchätzen,
achten, lieben.
Auf unſeren Eſel freilich ſind Oken’s Worte vollkommen anzuwenden: „Der zahme Eſel iſt
durch die lange Mißhandlung ſo herunter gekommen, daß er ſeinen Stammeltern faſt gar nicht mehr
gleicht. Er bleibt nicht blos viel kleiner, ſondern hat auch eine mattere aſchgraue Farbe und längere,
ſchlaffe Ohren. Der Muth hat ſich bei ihm in Widerſpenſtigkeit verwandelt, die Hurtigkeit in
Langſamkeit, die Lebhaftigkeit in Trägheit, die Klugheit zur Dummheit, die Liebe zur Freiheit in Ge-
duld, der Muth in Ertragung der Prügel.‟
Jhn meint auch Scheitlin in ſeiner trefflichen Thierſeelenkunde.
„Der zahme Eſel iſt eher geſcheidt, als dumm; nur iſt ſeine Geſcheidtheit nicht ſo gutmüthig, als
die des Pferdes, iſt mehr Tücke und Schlauheit und drückt ſich am ſtärkſten durch Eigenwillen oder
Eigenſinn aus. Jung, obſchon von einer Sklavin geboren, iſt er ſehr munter, und liebt poſſirliche
Sprünge, wie alle Kindheit, ahnt, wie auch das Menſchenkind, ſein vielleicht gräßliches, trauriges
Schickſal nicht. Jſt er erwachſen, ſo muß er ziehen und tragen und läßt ſich gut dazu abrichten, was
auf Verſtändniß deutet; denn er muß in den Willen eines anderen Weſens, in den eines Menſchen
treten. Das Kalb iſt hierzu niemals verſtändig genug, und ſogar das Pferdefüllen merkt anfänglich
nicht, was man eigentlich mit ihm will. Wie geduldig aber auch der Eſel ſeine große Laſt trägt, er
trägt ſie doch nicht gern; denn ſobald er entlaſtet worden, trollt er ſich gern auf dem Boden herum
und ſchreit ſein ſchreckliches Geſchrei heraus. Es muß ihm ein muſikaliſcher Sinn völlig mangeln.
Seine Ohren deuten wirklich etwas Beſonderes an.‟
„Sein Schritt iſt außerordentlich ſicher. Etwa ein Mal will er ſchlechterdings mit dem Wagen
nicht von der Stelle, und etwa ein Mal nimmt er Reißans. Man muß immer auf ſeine Ohren ſehen;
denn er ſpielt fleißig mit ihnen und drückt ſeine Gedanken und Vorſätze durch ſie, wie das Pferd, aus.
Daß er die Prügel verachtet und kaum durch ſie angetrieben wird, deutet einerſeits auf Eigenſinn,
andererſeits auf ſeine harte Haut. Seinen Wärter kennt er wohl; davon aber, daß er Anhänglichkeit
an ihn, wie die Pferde, gewinne, iſt nicht die Rede. Doch läuft er auf ihn zu und bezeigt einige
geringe Freude. Auffallend iſt an ihm die Empfindlichkeit für die erſt von fern herannahende Wit-
terung; er hängt entweder den Kopf, oder er macht muntere Sprünge.‟
„Wir können die Ehre des Eſels noch vollkommen retten, weil wir ſagen können, daß er zu ſehr
Vielem, wozu man ſonſt nur das Pferd abgerichtet ſieht, ebenfalls eingeſchult werden kann. Manche
Kinder lernen ſchwer, aber gründlich und auf die Dauer; ſo der Eſel. Man gibt Wettrennen mit
ihm; man lehrt ihn durch Reife ſpringen und Kanonen ablöſen. Er ſpringt gut und ſicher und iſt
ganz unerſchrocken. Er paßt auf ſeines Herrn Auge und Wort und verſteht beide wohl. Darum
kann man ihn auch tanzen lehren, ſich im Takte bewegen und Thüren öffnen, wobei er ſein Maul wie
eine Hand gebraucht, Treppen auf- und abſteigen und die ſchönſte, älteſte, verliebteſte Perſon, die Zeit
an einer vorgehaltenen Taſchenuhr, die Zahl der Augen auf einer Karte oder einem Würfel durch
Schläge mit dem Fuße auf den Boden angeben und auf jede Frage ſeines Herrn mit Kopfſchütteln
oder Kopfnicken oder Ja und Nein antworten.‟
Brehm, Thierleben. II. 24
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/391>, abgerufen am 23.11.2024.
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