Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

menschlichen Bedürfnisse, und mit ihnen die Ge-
legenheiten zu öftern Kollisionen, die Veranlas-
sungen und Versuchungen zu gegenseitigen Un-
gerechtigkeiten und Ueberlistungen, bis ins Unend-
liche sich vervielfältiget. Einer drengt nunmehr den
andern, wie bei einem Zusammenlauf des Volks auf
enger Straße; einer sucht den andern von sich ab-
zuhalten, um sich selber Luft zu schaffen; einer trit
dem andern auf die Füße, nicht weil er treten wil,
sondern weil er selbst getreten wird, und sich dadurch
genöthiget sieht, seinen Fuß zurükzuziehen, und ihn
auf den Fuß seines Nebenmannes zu sezen. Nur
sehr wenigen festen Selen von herkulischen Kräf-
ten und von ausdauernder Rechtschaffenheit ist es
gegeben, sich gegen den algemeinen Drang zu stem-
men, unbeweglich dazustehn, und lieber den Fuß-
trit der Eindringenden zu dulden, als selbst auf
andre einzudringen oder loszutreten.

Aus dieser Beobachtung, für deren Richtig-
keit jeder Weltkenner dir die Gewähr leisten wird,
stießen drei wichtige Folgen ab; die eine für dich,
mein Sohn, und für jeden Jüngling, der, wie
du, im Begriffe steht, in das Gedränge der mensch-

lichen

menſchlichen Beduͤrfniſſe, und mit ihnen die Ge-
legenheiten zu oͤftern Kolliſionen, die Veranlaſ-
ſungen und Verſuchungen zu gegenſeitigen Un-
gerechtigkeiten und Ueberliſtungen, bis ins Unend-
liche ſich vervielfaͤltiget. Einer drengt nunmehr den
andern, wie bei einem Zuſammenlauf des Volks auf
enger Straße; einer ſucht den andern von ſich ab-
zuhalten, um ſich ſelber Luft zu ſchaffen; einer trit
dem andern auf die Fuͤße, nicht weil er treten wil,
ſondern weil er ſelbſt getreten wird, und ſich dadurch
genoͤthiget ſieht, ſeinen Fuß zuruͤkzuziehen, und ihn
auf den Fuß ſeines Nebenmannes zu ſezen. Nur
ſehr wenigen feſten Selen von herkuliſchen Kraͤf-
ten und von ausdauernder Rechtſchaffenheit iſt es
gegeben, ſich gegen den algemeinen Drang zu ſtem-
men, unbeweglich dazuſtehn, und lieber den Fuß-
trit der Eindringenden zu dulden, als ſelbſt auf
andre einzudringen oder loszutreten.

Aus dieſer Beobachtung, fuͤr deren Richtig-
keit jeder Weltkenner dir die Gewaͤhr leiſten wird,
ſtießen drei wichtige Folgen ab; die eine fuͤr dich,
mein Sohn, und fuͤr jeden Juͤngling, der, wie
du, im Begriffe ſteht, in das Gedraͤnge der menſch-

lichen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0126" n="96"/>
men&#x017F;chlichen Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e, und mit ihnen die Ge-<lb/>
legenheiten zu o&#x0364;ftern Kolli&#x017F;ionen, die Veranla&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ungen und Ver&#x017F;uchungen zu gegen&#x017F;eitigen Un-<lb/>
gerechtigkeiten und Ueberli&#x017F;tungen, bis ins Unend-<lb/>
liche &#x017F;ich vervielfa&#x0364;ltiget. Einer drengt nunmehr den<lb/>
andern, wie bei einem Zu&#x017F;ammenlauf des Volks auf<lb/>
enger Straße; einer &#x017F;ucht den andern von &#x017F;ich ab-<lb/>
zuhalten, um &#x017F;ich &#x017F;elber Luft zu &#x017F;chaffen; einer trit<lb/>
dem andern auf die Fu&#x0364;ße, nicht weil er treten wil,<lb/>
&#x017F;ondern weil er &#x017F;elb&#x017F;t getreten wird, und &#x017F;ich dadurch<lb/>
geno&#x0364;thiget &#x017F;ieht, &#x017F;einen Fuß zuru&#x0364;kzuziehen, und ihn<lb/>
auf den Fuß &#x017F;eines Nebenmannes zu &#x017F;ezen. Nur<lb/>
&#x017F;ehr wenigen fe&#x017F;ten Selen von herkuli&#x017F;chen Kra&#x0364;f-<lb/>
ten und von ausdauernder Recht&#x017F;chaffenheit i&#x017F;t es<lb/>
gegeben, &#x017F;ich gegen den algemeinen Drang zu &#x017F;tem-<lb/>
men, unbeweglich dazu&#x017F;tehn, und lieber den Fuß-<lb/>
trit der Eindringenden zu dulden, als &#x017F;elb&#x017F;t auf<lb/>
andre einzudringen oder loszutreten.</p><lb/>
        <p>Aus die&#x017F;er Beobachtung, fu&#x0364;r deren Richtig-<lb/>
keit jeder Weltkenner dir die Gewa&#x0364;hr lei&#x017F;ten wird,<lb/>
&#x017F;tießen drei wichtige Folgen ab; die eine fu&#x0364;r dich,<lb/>
mein Sohn, und fu&#x0364;r jeden Ju&#x0364;ngling, der, wie<lb/>
du, im Begriffe &#x017F;teht, in das Gedra&#x0364;nge der men&#x017F;ch-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lichen</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0126] menſchlichen Beduͤrfniſſe, und mit ihnen die Ge- legenheiten zu oͤftern Kolliſionen, die Veranlaſ- ſungen und Verſuchungen zu gegenſeitigen Un- gerechtigkeiten und Ueberliſtungen, bis ins Unend- liche ſich vervielfaͤltiget. Einer drengt nunmehr den andern, wie bei einem Zuſammenlauf des Volks auf enger Straße; einer ſucht den andern von ſich ab- zuhalten, um ſich ſelber Luft zu ſchaffen; einer trit dem andern auf die Fuͤße, nicht weil er treten wil, ſondern weil er ſelbſt getreten wird, und ſich dadurch genoͤthiget ſieht, ſeinen Fuß zuruͤkzuziehen, und ihn auf den Fuß ſeines Nebenmannes zu ſezen. Nur ſehr wenigen feſten Selen von herkuliſchen Kraͤf- ten und von ausdauernder Rechtſchaffenheit iſt es gegeben, ſich gegen den algemeinen Drang zu ſtem- men, unbeweglich dazuſtehn, und lieber den Fuß- trit der Eindringenden zu dulden, als ſelbſt auf andre einzudringen oder loszutreten. Aus dieſer Beobachtung, fuͤr deren Richtig- keit jeder Weltkenner dir die Gewaͤhr leiſten wird, ſtießen drei wichtige Folgen ab; die eine fuͤr dich, mein Sohn, und fuͤr jeden Juͤngling, der, wie du, im Begriffe ſteht, in das Gedraͤnge der menſch- lichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/126
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/126>, abgerufen am 23.11.2024.