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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

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und sieht, oder vielmehr zu hören und zu sehen
wähnt, welche kein Auge gesehn, kein Ohr gehört
hat, und welche in keines andern Menschen Herz
gekommen sind. Wunderbare Bilder, Schimären
und Frazen flattern in dämmerndem Lichte vor
dem Spiegel seiner Vorstellungskraft; er glaubt
mit leiblichen Augen sie zu sehn, mit Händen
sie zu greifen und zu halten, und ist von seinem
eigenen Dasein nicht fester, nicht inniger über-
zeugt, als von dem ihrigen. Sein Blut geräth
dabei in Wallung, seine Stimme erhebt sich,
seine Sprache ist die Sprache eines Begeisterten,
eben so dunkel, eben so verdreht, eben so hoch-
fliegend und voltönend! Mitleidig oder verach-
tend sieht er auf alle die schwachen, kalten und
wässerichten Selen herab, welche seine Orakel-
sprüche nicht zu fassen, seine Gesichte nicht zu
sehen, dem hohen Sternenfluge seiner Einbil-
dungskraft und Fantasie nicht nachzukommen
vermögen, sondern mit bleiernen Füßen noch
immer an der Erde haften, indes es selbst schon
längst den höchsten Fixstern zurükgelegt hat, und
welche sich wohl gar erkühnen, den Gegenstand

seiner

und ſieht, oder vielmehr zu hoͤren und zu ſehen
waͤhnt, welche kein Auge geſehn, kein Ohr gehoͤrt
hat, und welche in keines andern Menſchen Herz
gekommen ſind. Wunderbare Bilder, Schimaͤren
und Frazen flattern in daͤmmerndem Lichte vor
dem Spiegel ſeiner Vorſtellungskraft; er glaubt
mit leiblichen Augen ſie zu ſehn, mit Haͤnden
ſie zu greifen und zu halten, und iſt von ſeinem
eigenen Daſein nicht feſter, nicht inniger uͤber-
zeugt, als von dem ihrigen. Sein Blut geraͤth
dabei in Wallung, ſeine Stimme erhebt ſich,
ſeine Sprache iſt die Sprache eines Begeiſterten,
eben ſo dunkel, eben ſo verdreht, eben ſo hoch-
fliegend und voltoͤnend! Mitleidig oder verach-
tend ſieht er auf alle die ſchwachen, kalten und
waͤſſerichten Selen herab, welche ſeine Orakel-
ſpruͤche nicht zu faſſen, ſeine Geſichte nicht zu
ſehen, dem hohen Sternenfluge ſeiner Einbil-
dungskraft und Fantaſie nicht nachzukommen
vermoͤgen, ſondern mit bleiernen Fuͤßen noch
immer an der Erde haften, indes es ſelbſt ſchon
laͤngſt den hoͤchſten Fixſtern zuruͤkgelegt hat, und
welche ſich wohl gar erkuͤhnen, den Gegenſtand

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[194/0224] und ſieht, oder vielmehr zu hoͤren und zu ſehen waͤhnt, welche kein Auge geſehn, kein Ohr gehoͤrt hat, und welche in keines andern Menſchen Herz gekommen ſind. Wunderbare Bilder, Schimaͤren und Frazen flattern in daͤmmerndem Lichte vor dem Spiegel ſeiner Vorſtellungskraft; er glaubt mit leiblichen Augen ſie zu ſehn, mit Haͤnden ſie zu greifen und zu halten, und iſt von ſeinem eigenen Daſein nicht feſter, nicht inniger uͤber- zeugt, als von dem ihrigen. Sein Blut geraͤth dabei in Wallung, ſeine Stimme erhebt ſich, ſeine Sprache iſt die Sprache eines Begeiſterten, eben ſo dunkel, eben ſo verdreht, eben ſo hoch- fliegend und voltoͤnend! Mitleidig oder verach- tend ſieht er auf alle die ſchwachen, kalten und waͤſſerichten Selen herab, welche ſeine Orakel- ſpruͤche nicht zu faſſen, ſeine Geſichte nicht zu ſehen, dem hohen Sternenfluge ſeiner Einbil- dungskraft und Fantaſie nicht nachzukommen vermoͤgen, ſondern mit bleiernen Fuͤßen noch immer an der Erde haften, indes es ſelbſt ſchon laͤngſt den hoͤchſten Fixſtern zuruͤkgelegt hat, und welche ſich wohl gar erkuͤhnen, den Gegenſtand ſeiner

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/224>, abgerufen am 27.09.2024.