Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

lungen, Verschiedenheiten, Aehnlichkeiten, Unterscheidungen
zwischen denselben und dem eigentlichen Ich, und auch hier
läßt sich sehr streng die Vergleichung fortführen mit jenen
Ur-Theilchen des leiblichen Organismus, welche je mehr
ihre Masse wächst um so verschiedenartiger sich verbinden,
fortbilden, hier zu Nervenfasern, dort zu Muskelfasern, da
zu Knochenzellen, dort zu Membranen und Drüsen werden,
und indem sie so fortwachsen, neuen Dehiscenzen, Ver¬
einigungen oder Gliederungen Raum geben.

Alsbald regt sich nun aber auch, so wie die Masse
der Vorstellungen sich mehrt, wie in ihnen deutlicher das
Bild der Individualität sich spiegelt und die Vorstellung
des Ich von den übrigen Vorstellungen sich unterscheidet,
also das Selbstbewußtsein aufgeht, im Innern
dieser neuen Welt des Geistes die Entwicklung von Vor¬
stellung aus Vorstellung. Nicht bloß neue Vorstellungen
von Außen treten hinzu, sondern das was wir die Pro¬
ductivität des Geistes nennen können, und was, wenn es
fort und fort sich bethätigt, die Pubertät des Geistes
anzeigt, fängt sich an zu offenbaren. Wir nennen dies
Vermögen zur Fortbildung im Geiste die Phantasie,
und merkwürdigerweise tritt eine solche geistige Pubertät
auch wirklich dann erst deutlicher und am mächtigsten her¬
vor, wenn das Kind erwächst und wenn es der leiblichen
Pubertät sich nähert. Durch die Phantasie wächst nun das
Reich des Geistes immer größer und immer gewaltiger,
obwohl auch hier wieder, wie beim Verstande, zu bemerken
ist, daß die Phantasie, wenn sie im heranwachsenden Kinde
auftaucht, noch sehr weit absteht von der großartig schaffen¬
den Phantasie der gereiftesten Periode. Zugleich zeigt sich
hier wieder, im Verhältniß zur vorigen Geistesstufe, theils
ein gewisses Negiren, theils auch wieder eine nicht zu ver¬
kennende Steigerung. Die Phantasie, das eigenmächtige
Produciren von Vorstellungen, wird Veranlassung daß diese
mit den ursprünglichen sich mischen, ja daß sie wohl auch

lungen, Verſchiedenheiten, Aehnlichkeiten, Unterſcheidungen
zwiſchen denſelben und dem eigentlichen Ich, und auch hier
läßt ſich ſehr ſtreng die Vergleichung fortführen mit jenen
Ur-Theilchen des leiblichen Organismus, welche je mehr
ihre Maſſe wächſt um ſo verſchiedenartiger ſich verbinden,
fortbilden, hier zu Nervenfaſern, dort zu Muskelfaſern, da
zu Knochenzellen, dort zu Membranen und Drüſen werden,
und indem ſie ſo fortwachſen, neuen Dehiscenzen, Ver¬
einigungen oder Gliederungen Raum geben.

Alsbald regt ſich nun aber auch, ſo wie die Maſſe
der Vorſtellungen ſich mehrt, wie in ihnen deutlicher das
Bild der Individualität ſich ſpiegelt und die Vorſtellung
des Ich von den übrigen Vorſtellungen ſich unterſcheidet,
alſo das Selbſtbewußtſein aufgeht, im Innern
dieſer neuen Welt des Geiſtes die Entwicklung von Vor¬
ſtellung aus Vorſtellung. Nicht bloß neue Vorſtellungen
von Außen treten hinzu, ſondern das was wir die Pro¬
ductivität des Geiſtes nennen können, und was, wenn es
fort und fort ſich bethätigt, die Pubertät des Geiſtes
anzeigt, fängt ſich an zu offenbaren. Wir nennen dies
Vermögen zur Fortbildung im Geiſte die Phantaſie,
und merkwürdigerweiſe tritt eine ſolche geiſtige Pubertät
auch wirklich dann erſt deutlicher und am mächtigſten her¬
vor, wenn das Kind erwächst und wenn es der leiblichen
Pubertät ſich nähert. Durch die Phantaſie wächſt nun das
Reich des Geiſtes immer größer und immer gewaltiger,
obwohl auch hier wieder, wie beim Verſtande, zu bemerken
iſt, daß die Phantaſie, wenn ſie im heranwachſenden Kinde
auftaucht, noch ſehr weit abſteht von der großartig ſchaffen¬
den Phantaſie der gereifteſten Periode. Zugleich zeigt ſich
hier wieder, im Verhältniß zur vorigen Geiſtesſtufe, theils
ein gewiſſes Negiren, theils auch wieder eine nicht zu ver¬
kennende Steigerung. Die Phantaſie, das eigenmächtige
Produciren von Vorſtellungen, wird Veranlaſſung daß dieſe
mit den urſprünglichen ſich miſchen, ja daß ſie wohl auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0182" n="166"/>
lungen, Ver&#x017F;chiedenheiten, Aehnlichkeiten, Unter&#x017F;cheidungen<lb/>
zwi&#x017F;chen den&#x017F;elben und dem eigentlichen Ich, und auch hier<lb/>
läßt &#x017F;ich &#x017F;ehr &#x017F;treng die Vergleichung fortführen mit jenen<lb/>
Ur-Theilchen des leiblichen Organismus, welche je mehr<lb/>
ihre Ma&#x017F;&#x017F;e wäch&#x017F;t um &#x017F;o ver&#x017F;chiedenartiger &#x017F;ich verbinden,<lb/>
fortbilden, hier zu Nervenfa&#x017F;ern, dort zu Muskelfa&#x017F;ern, da<lb/>
zu Knochenzellen, dort zu Membranen und Drü&#x017F;en werden,<lb/>
und indem &#x017F;ie &#x017F;o fortwach&#x017F;en, neuen Dehiscenzen, Ver¬<lb/>
einigungen oder Gliederungen Raum geben.</p><lb/>
            <p>Alsbald regt &#x017F;ich nun aber auch, &#x017F;o wie die Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
der Vor&#x017F;tellungen &#x017F;ich mehrt, wie in ihnen deutlicher das<lb/>
Bild der Individualität &#x017F;ich &#x017F;piegelt und die Vor&#x017F;tellung<lb/>
des Ich von den übrigen Vor&#x017F;tellungen &#x017F;ich unter&#x017F;cheidet,<lb/>
al&#x017F;o <hi rendition="#g">das Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein aufgeht</hi>, im Innern<lb/>
die&#x017F;er neuen Welt des Gei&#x017F;tes die Entwicklung von Vor¬<lb/>
&#x017F;tellung aus Vor&#x017F;tellung. Nicht bloß neue Vor&#x017F;tellungen<lb/>
von Außen treten hinzu, &#x017F;ondern das was wir die Pro¬<lb/>
ductivität des Gei&#x017F;tes nennen können, und was, wenn es<lb/>
fort und fort &#x017F;ich bethätigt, <hi rendition="#g">die Pubertät des Gei&#x017F;tes</hi><lb/>
anzeigt, fängt &#x017F;ich an zu offenbaren. Wir nennen dies<lb/>
Vermögen zur Fortbildung im Gei&#x017F;te <hi rendition="#g">die Phanta&#x017F;ie</hi>,<lb/>
und merkwürdigerwei&#x017F;e tritt eine &#x017F;olche gei&#x017F;tige Pubertät<lb/>
auch wirklich dann er&#x017F;t deutlicher und am mächtig&#x017F;ten her¬<lb/>
vor, wenn das Kind erwächst und wenn es der leiblichen<lb/>
Pubertät &#x017F;ich nähert. Durch die Phanta&#x017F;ie wäch&#x017F;t nun das<lb/>
Reich des Gei&#x017F;tes immer größer und immer gewaltiger,<lb/>
obwohl auch hier wieder, wie beim Ver&#x017F;tande, zu bemerken<lb/>
i&#x017F;t, daß die Phanta&#x017F;ie, wenn &#x017F;ie im heranwach&#x017F;enden Kinde<lb/>
auftaucht, noch &#x017F;ehr weit ab&#x017F;teht von der großartig &#x017F;chaffen¬<lb/>
den Phanta&#x017F;ie der gereifte&#x017F;ten Periode. Zugleich zeigt &#x017F;ich<lb/>
hier wieder, im Verhältniß zur vorigen Gei&#x017F;tes&#x017F;tufe, theils<lb/>
ein gewi&#x017F;&#x017F;es Negiren, theils auch wieder eine nicht zu ver¬<lb/>
kennende Steigerung. Die Phanta&#x017F;ie, das eigenmächtige<lb/>
Produciren von Vor&#x017F;tellungen, wird Veranla&#x017F;&#x017F;ung daß die&#x017F;e<lb/>
mit den ur&#x017F;prünglichen &#x017F;ich mi&#x017F;chen, ja daß &#x017F;ie wohl auch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[166/0182] lungen, Verſchiedenheiten, Aehnlichkeiten, Unterſcheidungen zwiſchen denſelben und dem eigentlichen Ich, und auch hier läßt ſich ſehr ſtreng die Vergleichung fortführen mit jenen Ur-Theilchen des leiblichen Organismus, welche je mehr ihre Maſſe wächſt um ſo verſchiedenartiger ſich verbinden, fortbilden, hier zu Nervenfaſern, dort zu Muskelfaſern, da zu Knochenzellen, dort zu Membranen und Drüſen werden, und indem ſie ſo fortwachſen, neuen Dehiscenzen, Ver¬ einigungen oder Gliederungen Raum geben. Alsbald regt ſich nun aber auch, ſo wie die Maſſe der Vorſtellungen ſich mehrt, wie in ihnen deutlicher das Bild der Individualität ſich ſpiegelt und die Vorſtellung des Ich von den übrigen Vorſtellungen ſich unterſcheidet, alſo das Selbſtbewußtſein aufgeht, im Innern dieſer neuen Welt des Geiſtes die Entwicklung von Vor¬ ſtellung aus Vorſtellung. Nicht bloß neue Vorſtellungen von Außen treten hinzu, ſondern das was wir die Pro¬ ductivität des Geiſtes nennen können, und was, wenn es fort und fort ſich bethätigt, die Pubertät des Geiſtes anzeigt, fängt ſich an zu offenbaren. Wir nennen dies Vermögen zur Fortbildung im Geiſte die Phantaſie, und merkwürdigerweiſe tritt eine ſolche geiſtige Pubertät auch wirklich dann erſt deutlicher und am mächtigſten her¬ vor, wenn das Kind erwächst und wenn es der leiblichen Pubertät ſich nähert. Durch die Phantaſie wächſt nun das Reich des Geiſtes immer größer und immer gewaltiger, obwohl auch hier wieder, wie beim Verſtande, zu bemerken iſt, daß die Phantaſie, wenn ſie im heranwachſenden Kinde auftaucht, noch ſehr weit abſteht von der großartig ſchaffen¬ den Phantaſie der gereifteſten Periode. Zugleich zeigt ſich hier wieder, im Verhältniß zur vorigen Geiſtesſtufe, theils ein gewiſſes Negiren, theils auch wieder eine nicht zu ver¬ kennende Steigerung. Die Phantaſie, das eigenmächtige Produciren von Vorſtellungen, wird Veranlaſſung daß dieſe mit den urſprünglichen ſich miſchen, ja daß ſie wohl auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/182
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/182>, abgerufen am 23.11.2024.