verfallenen Visionär, welcher die Madonna von Engeln umgeben erblickt, und einem Raphael dem sie im Augen¬ blick der Kunstbegeisterung erscheint und dem sie bleibend ihr Bild einprägt, scheint zunächst der Unterschied bei weitem nicht so groß als zwischen Geisteskranken und Geistesge¬ sunden er gewöhnlich vorausgesetzt wird. Bei näherer und schärferer Erwägung tritt jedoch eine beträchtliche Verschie¬ denheit alsbald hervor, und sie gibt sich, abgesehen von innerer verschiedener Entwicklung der Zustände, auch nach außen namentlich dadurch zu erkennen, daß jener kranken Richtung allemal die Möglichkeit vollkommener und nach¬ haltiger Productivität durchaus abgeht. Nie wird der kranke Visionär ein Bild von seiner Vision hinterlassen, welches, wie die unsterbliche Schöpfung eines Raphael, auf Jahr¬ hunderte die Kraft eines großen gesunden Gedankens zur Anschauung bringt, und nie wird aus den Declamationen einer wahnsinnigen Nonne, welche Hölle und Fegefeuer sieht, ein Werk hervorgehen wie die Divina comedia des Dante. -- Wenn es daher bei Plato heißt: "So viel heiliger und ehrenvoller nun jenes Wahrsagen ist als dieses Weissagen, dem Namen nach und der Sache nach, um so viel vortrefflicher ist auch nach dem Zeugniß der Alten ein göttlicher Wahnsinn als eine bloß menschliche Verständig¬ keit"; so ist hier von keinem kranken Zustande, sondern von jener höhern Unfreiheit des Geistes die Rede, wo er selbst von einer höhern göttlichen Idee erfaßt, gewisser¬ maßen das Wirken für sich und nach gewählten Zwecken aufgibt, und nicht mehr von selbstgewählten, sondern von gegebenen Zwecken, gleichsam wieder halb unbewußt, fortgetrieben wird. Kurz der höhere, oder wie Plato ihn ganz recht nennt, der göttliche Wahnsinn entsteht dann erst, wenn in dem Geiste des Menschen, d. h. in der zu ihrem eigenen und wahren Centrum, dem Selbstbewußtsein der Idee gelangten Seele, das Walten einer aus dem großen für uns unbewußten Mysterium der Welt eingedrungenen
verfallenen Viſionär, welcher die Madonna von Engeln umgeben erblickt, und einem Raphael dem ſie im Augen¬ blick der Kunſtbegeiſterung erſcheint und dem ſie bleibend ihr Bild einprägt, ſcheint zunächſt der Unterſchied bei weitem nicht ſo groß als zwiſchen Geiſteskranken und Geiſtesge¬ ſunden er gewöhnlich vorausgeſetzt wird. Bei näherer und ſchärferer Erwägung tritt jedoch eine beträchtliche Verſchie¬ denheit alsbald hervor, und ſie gibt ſich, abgeſehen von innerer verſchiedener Entwicklung der Zuſtände, auch nach außen namentlich dadurch zu erkennen, daß jener kranken Richtung allemal die Möglichkeit vollkommener und nach¬ haltiger Productivität durchaus abgeht. Nie wird der kranke Viſionär ein Bild von ſeiner Viſion hinterlaſſen, welches, wie die unſterbliche Schöpfung eines Raphael, auf Jahr¬ hunderte die Kraft eines großen geſunden Gedankens zur Anſchauung bringt, und nie wird aus den Declamationen einer wahnſinnigen Nonne, welche Hölle und Fegefeuer ſieht, ein Werk hervorgehen wie die Divina comedia des Dante. — Wenn es daher bei Plato heißt: „So viel heiliger und ehrenvoller nun jenes Wahrſagen iſt als dieſes Weiſſagen, dem Namen nach und der Sache nach, um ſo viel vortrefflicher iſt auch nach dem Zeugniß der Alten ein göttlicher Wahnſinn als eine bloß menſchliche Verſtändig¬ keit“; ſo iſt hier von keinem kranken Zuſtande, ſondern von jener höhern Unfreiheit des Geiſtes die Rede, wo er ſelbſt von einer höhern göttlichen Idee erfaßt, gewiſſer¬ maßen das Wirken für ſich und nach gewählten Zwecken aufgibt, und nicht mehr von ſelbſtgewählten, ſondern von gegebenen Zwecken, gleichſam wieder halb unbewußt, fortgetrieben wird. Kurz der höhere, oder wie Plato ihn ganz recht nennt, der göttliche Wahnſinn entſteht dann erſt, wenn in dem Geiſte des Menſchen, d. h. in der zu ihrem eigenen und wahren Centrum, dem Selbſtbewußtſein der Idee gelangten Seele, das Walten einer aus dem großen für uns unbewußten Myſterium der Welt eingedrungenen
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verfallenen Viſionär, welcher die Madonna von Engeln
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ihr Bild einprägt, ſcheint zunächſt der Unterſchied bei weitem
nicht ſo groß als zwiſchen Geiſteskranken und Geiſtesge¬
ſunden er gewöhnlich vorausgeſetzt wird. Bei näherer und
ſchärferer Erwägung tritt jedoch eine beträchtliche Verſchie¬
denheit alsbald hervor, und ſie gibt ſich, abgeſehen von
innerer verſchiedener Entwicklung der Zuſtände, auch nach
außen namentlich dadurch zu erkennen, daß jener kranken
Richtung allemal die Möglichkeit vollkommener und nach¬
haltiger Productivität durchaus abgeht. Nie wird der kranke
Viſionär ein Bild von ſeiner Viſion hinterlaſſen, welches,
wie die unſterbliche Schöpfung eines Raphael, auf Jahr¬
hunderte die Kraft eines großen geſunden Gedankens zur
Anſchauung bringt, und nie wird aus den Declamationen
einer wahnſinnigen Nonne, welche Hölle und Fegefeuer
ſieht, ein Werk hervorgehen wie die Divina comedia des
Dante. — Wenn es daher bei Plato heißt: „So viel
heiliger und ehrenvoller nun jenes Wahrſagen iſt als dieſes
Weiſſagen, dem Namen nach und der Sache nach, um ſo
viel vortrefflicher iſt auch nach dem Zeugniß der Alten ein
göttlicher Wahnſinn als eine bloß menſchliche Verſtändig¬
keit“; ſo iſt hier von keinem kranken Zuſtande, ſondern
von jener höhern Unfreiheit des Geiſtes die Rede, wo er
ſelbſt von einer höhern göttlichen Idee erfaßt, gewiſſer¬
maßen das Wirken für ſich und nach gewählten Zwecken
aufgibt, und nicht mehr von ſelbſtgewählten, ſondern von
gegebenen Zwecken, gleichſam wieder halb unbewußt,
fortgetrieben wird. Kurz der höhere, oder wie Plato ihn
ganz recht nennt, der göttliche Wahnſinn entſteht dann erſt,
wenn in dem Geiſte des Menſchen, d. h. in der zu ihrem
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Idee gelangten Seele, das Walten einer aus dem großen
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/456>, abgerufen am 23.11.2024.
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