später als die übrigen sich entwickelnden Systeme soll der Gegensatz des individuellen Lebens zum Leben der Gattung auf das entschiedenste hervorgehoben werden, in ihm sondert sich das gesammte neue Geschöpf von dem alten ab, in ihm ruht daher alle Lust eines neu sich erschließenden Lebens und aller Schmerz eines untergehenden. Zugleich bildet es mehr als die übrigen Systeme, denen es nicht als Ein¬ zelnes zu Einzelnem entgegengesetzt ist, sondern denen es, in wie fern das Ganze reproducirend, als Einzelnes einer Totalität gegenüber steht, auch eine größere Abgeschlossen¬ heit in sich, und seine Erfühlungen können deßhalb in der eigenthümlichsten Weise den gesammten Organismus be¬ herrschen. In der Thierwelt sehen wir deßhalb die ganze individuelle Existenz häufigst nur von diesem System ab¬ hängen. Das Thier gelangt zur Geschlechtseinigung, und in vielen Fällen ist somit der Kreislauf seines Lebens ab¬ geschlossen. In der menschlichen Seele liegt eben darum in dieser Region die Möglichkeit höchster Steigerung inne¬ ren Wohlgefühls, innerer Lust -- wofür die Sprache ein eigenes Wort gibt -- "Wollust" -- welche nichts anderes ist als Mittheilung lebendigster höchster Erfühlung der un¬ bewußten Sphäre des Geschlechtssystems an die höchste be¬ wußte Sphäre der Nerven; ja in der bewußten Seele wird von hier aus, immer mehr sich erhebend und vergei¬ stigend, die Möglichkeit der mächtigsten aller Leidenschaften -- und gerade der, welche höchstes Glück und höchsten Schmerz einschließt, gegeben, d. i. der Liebe.
Ueberblicken wir jetzt, nachdem nur kurz die Geschichte der Begränzung verschiedener organischen Provinzen und der verschiednen Erfühlung einer unbewußten Psyche gegeben worden ist, die Mannichfaltigkeit dieser Thatsachen im Gan¬ zen, so ergeben sich für die Lehre vom Leben der Seele folgende wichtige Sätze:
1. Das unbewußte Walten der Idee bestimmt eine Gliederung der leiblichen Bildung in verschiedene Systeme,
ſpäter als die übrigen ſich entwickelnden Syſteme ſoll der Gegenſatz des individuellen Lebens zum Leben der Gattung auf das entſchiedenſte hervorgehoben werden, in ihm ſondert ſich das geſammte neue Geſchöpf von dem alten ab, in ihm ruht daher alle Luſt eines neu ſich erſchließenden Lebens und aller Schmerz eines untergehenden. Zugleich bildet es mehr als die übrigen Syſteme, denen es nicht als Ein¬ zelnes zu Einzelnem entgegengeſetzt iſt, ſondern denen es, in wie fern das Ganze reproducirend, als Einzelnes einer Totalität gegenüber ſteht, auch eine größere Abgeſchloſſen¬ heit in ſich, und ſeine Erfühlungen können deßhalb in der eigenthümlichſten Weiſe den geſammten Organismus be¬ herrſchen. In der Thierwelt ſehen wir deßhalb die ganze individuelle Exiſtenz häufigſt nur von dieſem Syſtem ab¬ hängen. Das Thier gelangt zur Geſchlechtseinigung, und in vielen Fällen iſt ſomit der Kreislauf ſeines Lebens ab¬ geſchloſſen. In der menſchlichen Seele liegt eben darum in dieſer Region die Möglichkeit höchſter Steigerung inne¬ ren Wohlgefühls, innerer Luſt — wofür die Sprache ein eigenes Wort gibt — „Wolluſt“ — welche nichts anderes iſt als Mittheilung lebendigſter höchſter Erfühlung der un¬ bewußten Sphäre des Geſchlechtsſyſtems an die höchſte be¬ wußte Sphäre der Nerven; ja in der bewußten Seele wird von hier aus, immer mehr ſich erhebend und vergei¬ ſtigend, die Möglichkeit der mächtigſten aller Leidenſchaften — und gerade der, welche höchſtes Glück und höchſten Schmerz einſchließt, gegeben, d. i. der Liebe.
Ueberblicken wir jetzt, nachdem nur kurz die Geſchichte der Begränzung verſchiedener organiſchen Provinzen und der verſchiednen Erfühlung einer unbewußten Pſyche gegeben worden iſt, die Mannichfaltigkeit dieſer Thatſachen im Gan¬ zen, ſo ergeben ſich für die Lehre vom Leben der Seele folgende wichtige Sätze:
1. Das unbewußte Walten der Idee beſtimmt eine Gliederung der leiblichen Bildung in verſchiedene Syſteme,
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ſpäter als die übrigen ſich entwickelnden Syſteme ſoll der
Gegenſatz des individuellen Lebens zum Leben der Gattung
auf das entſchiedenſte hervorgehoben werden, in ihm ſondert
ſich das geſammte neue Geſchöpf von dem alten ab, in ihm
ruht daher alle Luſt eines neu ſich erſchließenden Lebens
und aller Schmerz eines untergehenden. Zugleich bildet
es mehr als die übrigen Syſteme, denen es nicht als Ein¬
zelnes zu Einzelnem entgegengeſetzt iſt, ſondern denen es,
in wie fern das Ganze reproducirend, als Einzelnes einer
Totalität gegenüber ſteht, auch eine größere Abgeſchloſſen¬
heit in ſich, und ſeine Erfühlungen können deßhalb in der
eigenthümlichſten Weiſe den geſammten Organismus be¬
herrſchen. In der Thierwelt ſehen wir deßhalb die ganze
individuelle Exiſtenz häufigſt nur von dieſem Syſtem ab¬
hängen. Das Thier gelangt zur Geſchlechtseinigung, und
in vielen Fällen iſt ſomit der Kreislauf ſeines Lebens ab¬
geſchloſſen. In der menſchlichen Seele liegt eben darum
in dieſer Region die Möglichkeit höchſter Steigerung inne¬
ren Wohlgefühls, innerer Luſt — wofür die Sprache ein
eigenes Wort gibt — „Wolluſt“ — welche nichts anderes
iſt als Mittheilung lebendigſter höchſter Erfühlung der un¬
bewußten Sphäre des Geſchlechtsſyſtems an die höchſte be¬
wußte Sphäre der Nerven; ja in der bewußten Seele
wird von hier aus, immer mehr ſich erhebend und vergei¬
ſtigend, die Möglichkeit der mächtigſten aller Leidenſchaften
— und gerade der, welche höchſtes Glück und höchſten
Schmerz einſchließt, gegeben, d. i. der Liebe.
Ueberblicken wir jetzt, nachdem nur kurz die Geſchichte
der Begränzung verſchiedener organiſchen Provinzen und
der verſchiednen Erfühlung einer unbewußten Pſyche gegeben
worden iſt, die Mannichfaltigkeit dieſer Thatſachen im Gan¬
zen, ſo ergeben ſich für die Lehre vom Leben der Seele
folgende wichtige Sätze:
1. Das unbewußte Walten der Idee beſtimmt eine
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/67>, abgerufen am 23.11.2024.
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