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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
war Herr, ja König in seinem Hause: sein Wille reichte über den
Tod hinaus durch die unbedingte Freiheit des Testierens und die
Heiligkeit des Testaments; sein Heim war gegen behördliche Ein-
mischung durch festere Rechte geschützt als das unsere; im Gegensatz
zum semitischen Patriarchat hatte er das Prinzip der Agnation1) ein-
geführt und dadurch die ganze Schwiegermutter- und überhaupt Weiber-
wirtschaft von vornherein abgeschafft; dagegen wurde die mater familias
wie eine Königin geehrt, geschätzt, geliebt! Wo sah man Ähn-
liches in der damaligen Welt? Jenseits der Civilisation vielleicht; inner-
halb ihrer nirgends. Und darum liebte der Römer seine Heimat mit
so zäher Liebe und vergoss er für sie sein Herzensblut. Rom war für
ihn die Familie und das Recht, ein ragender Fels der Menschenwürde
inmitten wilder Brandung.

Man glaube doch nicht, dass irgend etwas Grosses auf dieser
Welt vollbracht werden könne, ohne dass eine rein ideale Kraft mit-
wirke. Die Idee allein wird es freilich nicht thun; ein handgreifliches
Interesse muss ebenfalls dabei sein, und wäre es auch nur, wie bei
den Glaubensmärtyrern, ein jenseitiges Interesse; ohne ideale Beigabe
besitzt jedoch der Kampf, bloss um Gewinn, wenig Widerstandskraft;
höhere Leistungsfähigkeit giebt einzig ein Glaube, und das eben nenne
ich, im Gegensatz zum unmittelbaren Interesse des Augenblickes --
sei es Gelüste, Besitz oder was noch -- einen idealen Trieb. Wie
Dionysius von den alten Römern sagt: "Sie dachten gross von
sich selbst
und durften daher nichts ihrer Voreltern Unwürdiges thun"
(I, 6); mit anderen Worten, sie hielten sich ein Ideal von sich selbst
vor. Ich meine das Wort "Ideal" nicht in dem verkommenen, ver-
schwommenen Sinne der romantischen "blauen Blume", sondern in
dem Sinne jener Kraft, welche den hellenischen Bildner dazu antrieb,
aus dem Steine heraus den Gott zu bilden, und welche den Römer
lehrte, seine Freiheit, seine Rechte, seine Verbindung mit einem Weibe
zur Ehe, seine Verbindung mit anderen Männern zu einem Gemein-
wesen als etwas Heiliges zu betrachten, als das Kostbarste, was das
Leben schenken kann. Ein Fels, sagte ich, nicht ein Wolkenkuckucks-
heim. Als Traum bestand das ja mehr oder weniger bei allen Indo-
europäern: die heilige Scheu, den heiligen Ernst treffen wir in ver-

1) Die Familie auf Vaterverwandtschaft allein beruhend, so dass nur die Ab-
stammung von der Vaterseite durch Mannspersonen eine rechtliche Verwandtschaft
begründet, dagegen nicht die von der Mutterseite. Nur eine in den richtigen
Formen geschlossene Ehe erzeugt Kinder, die zur agnatischen Familie gehören.

Das Erbe der alten Welt.
war Herr, ja König in seinem Hause: sein Wille reichte über den
Tod hinaus durch die unbedingte Freiheit des Testierens und die
Heiligkeit des Testaments; sein Heim war gegen behördliche Ein-
mischung durch festere Rechte geschützt als das unsere; im Gegensatz
zum semitischen Patriarchat hatte er das Prinzip der Agnation1) ein-
geführt und dadurch die ganze Schwiegermutter- und überhaupt Weiber-
wirtschaft von vornherein abgeschafft; dagegen wurde die mater familias
wie eine Königin geehrt, geschätzt, geliebt! Wo sah man Ähn-
liches in der damaligen Welt? Jenseits der Civilisation vielleicht; inner-
halb ihrer nirgends. Und darum liebte der Römer seine Heimat mit
so zäher Liebe und vergoss er für sie sein Herzensblut. Rom war für
ihn die Familie und das Recht, ein ragender Fels der Menschenwürde
inmitten wilder Brandung.

Man glaube doch nicht, dass irgend etwas Grosses auf dieser
Welt vollbracht werden könne, ohne dass eine rein ideale Kraft mit-
wirke. Die Idee allein wird es freilich nicht thun; ein handgreifliches
Interesse muss ebenfalls dabei sein, und wäre es auch nur, wie bei
den Glaubensmärtyrern, ein jenseitiges Interesse; ohne ideale Beigabe
besitzt jedoch der Kampf, bloss um Gewinn, wenig Widerstandskraft;
höhere Leistungsfähigkeit giebt einzig ein Glaube, und das eben nenne
ich, im Gegensatz zum unmittelbaren Interesse des Augenblickes —
sei es Gelüste, Besitz oder was noch — einen idealen Trieb. Wie
Dionysius von den alten Römern sagt: »Sie dachten gross von
sich selbst
und durften daher nichts ihrer Voreltern Unwürdiges thun«
(I, 6); mit anderen Worten, sie hielten sich ein Ideal von sich selbst
vor. Ich meine das Wort »Ideal« nicht in dem verkommenen, ver-
schwommenen Sinne der romantischen »blauen Blume«, sondern in
dem Sinne jener Kraft, welche den hellenischen Bildner dazu antrieb,
aus dem Steine heraus den Gott zu bilden, und welche den Römer
lehrte, seine Freiheit, seine Rechte, seine Verbindung mit einem Weibe
zur Ehe, seine Verbindung mit anderen Männern zu einem Gemein-
wesen als etwas Heiliges zu betrachten, als das Kostbarste, was das
Leben schenken kann. Ein Fels, sagte ich, nicht ein Wolkenkuckucks-
heim. Als Traum bestand das ja mehr oder weniger bei allen Indo-
europäern: die heilige Scheu, den heiligen Ernst treffen wir in ver-

1) Die Familie auf Vaterverwandtschaft allein beruhend, so dass nur die Ab-
stammung von der Vaterseite durch Mannspersonen eine rechtliche Verwandtschaft
begründet, dagegen nicht die von der Mutterseite. Nur eine in den richtigen
Formen geschlossene Ehe erzeugt Kinder, die zur agnatischen Familie gehören.
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[136/0159] Das Erbe der alten Welt. war Herr, ja König in seinem Hause: sein Wille reichte über den Tod hinaus durch die unbedingte Freiheit des Testierens und die Heiligkeit des Testaments; sein Heim war gegen behördliche Ein- mischung durch festere Rechte geschützt als das unsere; im Gegensatz zum semitischen Patriarchat hatte er das Prinzip der Agnation 1) ein- geführt und dadurch die ganze Schwiegermutter- und überhaupt Weiber- wirtschaft von vornherein abgeschafft; dagegen wurde die mater familias wie eine Königin geehrt, geschätzt, geliebt! Wo sah man Ähn- liches in der damaligen Welt? Jenseits der Civilisation vielleicht; inner- halb ihrer nirgends. Und darum liebte der Römer seine Heimat mit so zäher Liebe und vergoss er für sie sein Herzensblut. Rom war für ihn die Familie und das Recht, ein ragender Fels der Menschenwürde inmitten wilder Brandung. Man glaube doch nicht, dass irgend etwas Grosses auf dieser Welt vollbracht werden könne, ohne dass eine rein ideale Kraft mit- wirke. Die Idee allein wird es freilich nicht thun; ein handgreifliches Interesse muss ebenfalls dabei sein, und wäre es auch nur, wie bei den Glaubensmärtyrern, ein jenseitiges Interesse; ohne ideale Beigabe besitzt jedoch der Kampf, bloss um Gewinn, wenig Widerstandskraft; höhere Leistungsfähigkeit giebt einzig ein Glaube, und das eben nenne ich, im Gegensatz zum unmittelbaren Interesse des Augenblickes — sei es Gelüste, Besitz oder was noch — einen idealen Trieb. Wie Dionysius von den alten Römern sagt: »Sie dachten gross von sich selbst und durften daher nichts ihrer Voreltern Unwürdiges thun« (I, 6); mit anderen Worten, sie hielten sich ein Ideal von sich selbst vor. Ich meine das Wort »Ideal« nicht in dem verkommenen, ver- schwommenen Sinne der romantischen »blauen Blume«, sondern in dem Sinne jener Kraft, welche den hellenischen Bildner dazu antrieb, aus dem Steine heraus den Gott zu bilden, und welche den Römer lehrte, seine Freiheit, seine Rechte, seine Verbindung mit einem Weibe zur Ehe, seine Verbindung mit anderen Männern zu einem Gemein- wesen als etwas Heiliges zu betrachten, als das Kostbarste, was das Leben schenken kann. Ein Fels, sagte ich, nicht ein Wolkenkuckucks- heim. Als Traum bestand das ja mehr oder weniger bei allen Indo- europäern: die heilige Scheu, den heiligen Ernst treffen wir in ver- 1) Die Familie auf Vaterverwandtschaft allein beruhend, so dass nur die Ab- stammung von der Vaterseite durch Mannspersonen eine rechtliche Verwandtschaft begründet, dagegen nicht die von der Mutterseite. Nur eine in den richtigen Formen geschlossene Ehe erzeugt Kinder, die zur agnatischen Familie gehören.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/159>, abgerufen am 23.11.2024.