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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
gekehrt; seine sittlichen Gebote wachsen nicht mit innerer Not-
wendigkeit aus den Tiefen des Menschenherzens empor, sondern sind
"Gesetze", die unter bestimmten Bedingungen, an bestimmten Tagen
erlassen wurden und jeden Augenblick widerrufen werden konnten. --
Man werfe einen vergleichenden Blick auf die arischen Inder: oft
stiessen ihnen Fragen über den Ursprung der Welt auf, über das
Woher und Wohin, nicht jedoch als ein wesentlicher Bestandteil ihrer
Seelenerhebung zu Gott; diese Frage nach den Ursachen hat mit
ihrer Religion gar nichts zu thun, und anstatt darauf viel Gewicht
zu legen, rufen die Hymnensänger fast ironisch aus:

"Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?
Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,
Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,
Der weiss es! -- oder weiss auch er es nicht?"1)

Genau dieselbe Auffassung bekundete Goethe -- den man den "grossen
Heiden" manchmal nennt, mit grösserem Recht jedoch den grossen
Arier
heissen würde -- als er die Worte sprach: "Lebhafte Frage
nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit". Ähnlich der deutsche
Naturforscher des heutigen Tages: "Im Unendlichen kann kein neues
Ende gesucht werden, kein Anfang. So weit wir auch die Ent-
stehung zurückschieben mögen, stets bleibt die Frage nach dem Ersten
des Ersten, nach dem Anfang des Anfangs offen".2) Ganz anders
empfand der Jude. Er wusste über die Schöpfung der Welt so genau
Bescheid wie heutzutage die wilden Indianer von Südamerika, oder
die Australneger. Nicht aber wie bei diesen war es eine Folge der
mangelnden Aufklärung, sondern das einsichtstiefe, melancholische
Fragezeichen der arischen Hirten durfte niemals einen Platz in seiner
Litteratur besitzen; der herrische Wille war es, der es verbot, und
der den Skepticismus, der bei einem so hochbegabten Volke nicht
ausbleiben konnte (siehe den Koheleth oder Buch des Predigers),
sofort durch fanatischen Dogmatismus zurückdrängte. Wer das Heute
ganz besitzen will, muss auch das Gestern, aus dem es herauswuchs,
umspannen. Der Materialismus scheitert, sobald er nicht konsequent
ist; dem Juden lehrte dies ein unfehlbarer Instinkt; und ebenso genau

1) Rigveda X, 129, 7.
2) Adolf Bastian, der hervorragende Ethnolog, in seinem Werk: Das
Beständige in den Menschenrassen
(1868), S. 28.

Das Erbe der alten Welt.
gekehrt; seine sittlichen Gebote wachsen nicht mit innerer Not-
wendigkeit aus den Tiefen des Menschenherzens empor, sondern sind
»Gesetze«, die unter bestimmten Bedingungen, an bestimmten Tagen
erlassen wurden und jeden Augenblick widerrufen werden konnten. —
Man werfe einen vergleichenden Blick auf die arischen Inder: oft
stiessen ihnen Fragen über den Ursprung der Welt auf, über das
Woher und Wohin, nicht jedoch als ein wesentlicher Bestandteil ihrer
Seelenerhebung zu Gott; diese Frage nach den Ursachen hat mit
ihrer Religion gar nichts zu thun, und anstatt darauf viel Gewicht
zu legen, rufen die Hymnensänger fast ironisch aus:

»Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?
Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,
Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,
Der weiss es! — oder weiss auch er es nicht?«1)

Genau dieselbe Auffassung bekundete Goethe — den man den »grossen
Heiden« manchmal nennt, mit grösserem Recht jedoch den grossen
Arier
heissen würde — als er die Worte sprach: »Lebhafte Frage
nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit«. Ähnlich der deutsche
Naturforscher des heutigen Tages: »Im Unendlichen kann kein neues
Ende gesucht werden, kein Anfang. So weit wir auch die Ent-
stehung zurückschieben mögen, stets bleibt die Frage nach dem Ersten
des Ersten, nach dem Anfang des Anfangs offen«.2) Ganz anders
empfand der Jude. Er wusste über die Schöpfung der Welt so genau
Bescheid wie heutzutage die wilden Indianer von Südamerika, oder
die Australneger. Nicht aber wie bei diesen war es eine Folge der
mangelnden Aufklärung, sondern das einsichtstiefe, melancholische
Fragezeichen der arischen Hirten durfte niemals einen Platz in seiner
Litteratur besitzen; der herrische Wille war es, der es verbot, und
der den Skepticismus, der bei einem so hochbegabten Volke nicht
ausbleiben konnte (siehe den Koheleth oder Buch des Predigers),
sofort durch fanatischen Dogmatismus zurückdrängte. Wer das Heute
ganz besitzen will, muss auch das Gestern, aus dem es herauswuchs,
umspannen. Der Materialismus scheitert, sobald er nicht konsequent
ist; dem Juden lehrte dies ein unfehlbarer Instinkt; und ebenso genau

1) Rigveda X, 129, 7.
2) Adolf Bastian, der hervorragende Ethnolog, in seinem Werk: Das
Beständige in den Menschenrassen
(1868), S. 28.
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[234/0257] Das Erbe der alten Welt. gekehrt; seine sittlichen Gebote wachsen nicht mit innerer Not- wendigkeit aus den Tiefen des Menschenherzens empor, sondern sind »Gesetze«, die unter bestimmten Bedingungen, an bestimmten Tagen erlassen wurden und jeden Augenblick widerrufen werden konnten. — Man werfe einen vergleichenden Blick auf die arischen Inder: oft stiessen ihnen Fragen über den Ursprung der Welt auf, über das Woher und Wohin, nicht jedoch als ein wesentlicher Bestandteil ihrer Seelenerhebung zu Gott; diese Frage nach den Ursachen hat mit ihrer Religion gar nichts zu thun, und anstatt darauf viel Gewicht zu legen, rufen die Hymnensänger fast ironisch aus: »Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen? Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht, Der sie gemacht hat oder nicht gemacht, Der weiss es! — oder weiss auch er es nicht?« 1) Genau dieselbe Auffassung bekundete Goethe — den man den »grossen Heiden« manchmal nennt, mit grösserem Recht jedoch den grossen Arier heissen würde — als er die Worte sprach: »Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit«. Ähnlich der deutsche Naturforscher des heutigen Tages: »Im Unendlichen kann kein neues Ende gesucht werden, kein Anfang. So weit wir auch die Ent- stehung zurückschieben mögen, stets bleibt die Frage nach dem Ersten des Ersten, nach dem Anfang des Anfangs offen«. 2) Ganz anders empfand der Jude. Er wusste über die Schöpfung der Welt so genau Bescheid wie heutzutage die wilden Indianer von Südamerika, oder die Australneger. Nicht aber wie bei diesen war es eine Folge der mangelnden Aufklärung, sondern das einsichtstiefe, melancholische Fragezeichen der arischen Hirten durfte niemals einen Platz in seiner Litteratur besitzen; der herrische Wille war es, der es verbot, und der den Skepticismus, der bei einem so hochbegabten Volke nicht ausbleiben konnte (siehe den Koheleth oder Buch des Predigers), sofort durch fanatischen Dogmatismus zurückdrängte. Wer das Heute ganz besitzen will, muss auch das Gestern, aus dem es herauswuchs, umspannen. Der Materialismus scheitert, sobald er nicht konsequent ist; dem Juden lehrte dies ein unfehlbarer Instinkt; und ebenso genau 1) Rigveda X, 129, 7. 2) Adolf Bastian, der hervorragende Ethnolog, in seinem Werk: Das Beständige in den Menschenrassen (1868), S. 28.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/257>, abgerufen am 23.11.2024.