Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.p1c_301.001 p1c_301.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0359" n="301"/><lb n="p1c_301.001"/> beym Lyriker mitten in der Jdeenreihe, auf irgend eine Veranlassung. <lb n="p1c_301.002"/> <foreign xml:lang="grc">ἁμεραι δ' ἐπιλοιποι μαρτυρες σοφωτατοι</foreign> ─ <lb n="p1c_301.003"/> <foreign xml:lang="grc">ἀκερδια λελογχεν θαμινα κακαγορως</foreign>. <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Pindar.</hi> Nil <lb n="p1c_301.004"/> mortalibus arduum est. ─ Vis consili expers mole <lb n="p1c_301.005"/> ruit sua</hi>. Homer hat die Sentenz selten, doch ist sie dann <lb n="p1c_301.006"/> sehr wirksam. So ruft Hektor: <foreign xml:lang="grc">εἱς οἰωνος ἀριϛος, ἀμυνεσθαι</foreign> <lb n="p1c_301.007"/> <foreign xml:lang="grc">περι πατρης</foreign>. ─ Bey den Tragikern und überhaupt <lb n="p1c_301.008"/> bey den drammatischen Dichtern findet sich die Sentenz <lb n="p1c_301.009"/> oft, wenn kurze Reden gewechselt werden, im Streit, <lb n="p1c_301.010"/> wo man einander widerlegen will. <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Creon:</hi><foreign xml:lang="grc">συ δ' οὐκ</foreign><lb n="p1c_301.011"/><foreign xml:lang="grc">ἐπαιδῃ τωνδε χωρις εἰ φρονεις</foreign>; <hi rendition="#g">Antig.</hi><foreign xml:lang="grc">οὐδεν γαρ αἰσχρον</foreign><lb n="p1c_301.012"/><foreign xml:lang="grc">τους ὁμοσπλαγχνους σεβειν</foreign>. ─ <hi rendition="#g">Antig.</hi> <foreign xml:lang="grc">ὁμως</foreign> <lb n="p1c_301.013"/> <foreign xml:lang="grc">ὁ γ' Αἰδης τους νομους ἰσους ποθεῖ</foreign>. <hi rendition="#g">Creon.</hi> <foreign xml:lang="grc">αλλ' οὐχ</foreign> <lb n="p1c_301.014"/> <foreign xml:lang="grc">ὁ χρηστος τῳ κακῳ λαχειν ἰσον</foreign></hi>. Dies findet sich überall <lb n="p1c_301.015"/> im Sophocles, und läßt besonders eine <hi rendition="#g">starke</hi> und heftige <lb n="p1c_301.016"/> Empfindung zurück. Erhabener ist freylich die kalte Sentenz <lb n="p1c_301.017"/> mitten in der Leidenschaft, wenn sie nicht zu einer Widerlegung, <lb n="p1c_301.018"/> sondern zum Ausdruck der Empfindung selbst <lb n="p1c_301.019"/> dient, wie z. B. wenn Oedipus von der Vergänglichkeit der <lb n="p1c_301.020"/> schönsten menschlichen Gesinnungen spricht. (s. oben S. 110.) <lb n="p1c_301.021"/> Fehlerhaft wird der sentenziöse Styl schon bey dem zu subtilen <lb n="p1c_301.022"/> sokratischen Euripides. Seine Personen reden nicht <lb n="p1c_301.023"/> vier Worte zusammen, ohne eine allgemeine Wahrheit mit <lb n="p1c_301.024"/> einzumischen. Das ist nicht allein wider die Wahrscheinlichkeit, <lb n="p1c_301.025"/> sondern es macht auch die Rede kalt, die dadurch ihr <lb n="p1c_301.026"/> Jndividuelles verliehrt. Den Chören ist freylich die <hi rendition="#g">Sentenz</hi> <lb n="p1c_301.027"/> eigen, und mit Recht, weil sie alles aus einem allgemeinen <lb n="p1c_301.028"/> Gesichtspunkte ansehen müssen. ─ Besonders </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [301/0359]
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beym Lyriker mitten in der Jdeenreihe, auf irgend eine Veranlassung. p1c_301.002
ἁμεραι δ' ἐπιλοιποι μαρτυρες σοφωτατοι ─ p1c_301.003
ἀκερδια λελογχεν θαμινα κακαγορως. Pindar. Nil p1c_301.004
mortalibus arduum est. ─ Vis consili expers mole p1c_301.005
ruit sua. Homer hat die Sentenz selten, doch ist sie dann p1c_301.006
sehr wirksam. So ruft Hektor: εἱς οἰωνος ἀριϛος, ἀμυνεσθαι p1c_301.007
περι πατρης. ─ Bey den Tragikern und überhaupt p1c_301.008
bey den drammatischen Dichtern findet sich die Sentenz p1c_301.009
oft, wenn kurze Reden gewechselt werden, im Streit, p1c_301.010
wo man einander widerlegen will. Creon: συ δ' οὐκ p1c_301.011
ἐπαιδῃ τωνδε χωρις εἰ φρονεις; Antig. οὐδεν γαρ αἰσχρον p1c_301.012
τους ὁμοσπλαγχνους σεβειν. ─ Antig. ὁμως p1c_301.013
ὁ γ' Αἰδης τους νομους ἰσους ποθεῖ. Creon. αλλ' οὐχ p1c_301.014
ὁ χρηστος τῳ κακῳ λαχειν ἰσον. Dies findet sich überall p1c_301.015
im Sophocles, und läßt besonders eine starke und heftige p1c_301.016
Empfindung zurück. Erhabener ist freylich die kalte Sentenz p1c_301.017
mitten in der Leidenschaft, wenn sie nicht zu einer Widerlegung, p1c_301.018
sondern zum Ausdruck der Empfindung selbst p1c_301.019
dient, wie z. B. wenn Oedipus von der Vergänglichkeit der p1c_301.020
schönsten menschlichen Gesinnungen spricht. (s. oben S. 110.) p1c_301.021
Fehlerhaft wird der sentenziöse Styl schon bey dem zu subtilen p1c_301.022
sokratischen Euripides. Seine Personen reden nicht p1c_301.023
vier Worte zusammen, ohne eine allgemeine Wahrheit mit p1c_301.024
einzumischen. Das ist nicht allein wider die Wahrscheinlichkeit, p1c_301.025
sondern es macht auch die Rede kalt, die dadurch ihr p1c_301.026
Jndividuelles verliehrt. Den Chören ist freylich die Sentenz p1c_301.027
eigen, und mit Recht, weil sie alles aus einem allgemeinen p1c_301.028
Gesichtspunkte ansehen müssen. ─ Besonders
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