p1c_323.001 Stellen eines alten Dichters seinen Zeitgenossen verleidet haben, p1c_323.002 welche wir schön und der Diction nach bewundernswerth p1c_323.003 finden, will ich nichts sagen. 2) Der Dichter muß p1c_323.004 auch die Construktionen und Worte vermeiden, welche, obgleich p1c_323.005 nicht doppelsinnig, dennoch zu schwer zu fassen sind. p1c_323.006 Die schönsten und rührendsten Stellen im Sophocles und p1c_323.007 Aeschylus lassen sich auch ohne Commentar verstehen. Das p1c_323.008 Dunkle, was die Philologen mit großem zänkischen Geschrey p1c_323.009 wieder hergestellt und erklärt haben, ist von herzlich p1c_323.010 wenigem Werth. Man sieht also, daß die höchste Schönheit p1c_323.011 auch einen leichten Ausdruck liebt. Aber so wie in der p1c_323.012 Musik das wiederkehrende Thema, oder eine andere sich p1c_323.013 leicht entwickelnde Melodie erst dann Eindruck macht, wenn p1c_323.014 eine Schwierigkeit in Zusammensetzung der Töne vorhergegangen, p1c_323.015 so ist es auch in der Poesie. Und nur der Dichter, p1c_323.016 welcher das Schwere oder Ungewöhnliche auf diese Art mit p1c_323.017 dem Leichten verbindet, wird den höchsten Effekt hervorbringen. p1c_323.018 Da die Worte den Sinn nur nach und nach entwikkeln, p1c_323.019 indem sie in der Zeitreihe vorgetragen werden, so muß p1c_323.020 eine gewisse Klarheit über das Ganze verbreitet seyn. Was p1c_323.021 erstlich die Construction betrifft, so kann der Periode, wenn p1c_323.022 es die Empfindung oder der Gegenstand erfordert, zwar p1c_323.023 lang seyn, eine Suspensio oder ein uperbaton, eine Parenthesisp1c_323.024 enthalten, aber die Wendung muß dann immer p1c_323.025 dieselbe seyn, daß man die aufgeschobene Conclusion doch p1c_323.026 schon zu ahnen vermag. Wenn Klopstock aber sagt: "Wo p1c_323.027 Scipionen, Flaccus und Tullius, Urenkel denkend tönender p1c_323.028 redt' und sang" so ist Flaccus und Tullius gewaltsam eingeschoben
p1c_323.001 Stellen eines alten Dichters seinen Zeitgenossen verleidet haben, p1c_323.002 welche wir schön und der Diction nach bewundernswerth p1c_323.003 finden, will ich nichts sagen. 2) Der Dichter muß p1c_323.004 auch die Construktionen und Worte vermeiden, welche, obgleich p1c_323.005 nicht doppelsinnig, dennoch zu schwer zu fassen sind. p1c_323.006 Die schönsten und rührendsten Stellen im Sophocles und p1c_323.007 Aeschylus lassen sich auch ohne Commentar verstehen. Das p1c_323.008 Dunkle, was die Philologen mit großem zänkischen Geschrey p1c_323.009 wieder hergestellt und erklärt haben, ist von herzlich p1c_323.010 wenigem Werth. Man sieht also, daß die höchste Schönheit p1c_323.011 auch einen leichten Ausdruck liebt. Aber so wie in der p1c_323.012 Musik das wiederkehrende Thema, oder eine andere sich p1c_323.013 leicht entwickelnde Melodie erst dann Eindruck macht, wenn p1c_323.014 eine Schwierigkeit in Zusammensetzung der Töne vorhergegangen, p1c_323.015 so ist es auch in der Poesie. Und nur der Dichter, p1c_323.016 welcher das Schwere oder Ungewöhnliche auf diese Art mit p1c_323.017 dem Leichten verbindet, wird den höchsten Effekt hervorbringen. p1c_323.018 Da die Worte den Sinn nur nach und nach entwikkeln, p1c_323.019 indem sie in der Zeitreihe vorgetragen werden, so muß p1c_323.020 eine gewisse Klarheit über das Ganze verbreitet seyn. Was p1c_323.021 erstlich die Construction betrifft, so kann der Periode, wenn p1c_323.022 es die Empfindung oder der Gegenstand erfordert, zwar p1c_323.023 lang seyn, eine Suspensio oder ein ὑπερβατον, eine Parenthesisp1c_323.024 enthalten, aber die Wendung muß dann immer p1c_323.025 dieselbe seyn, daß man die aufgeschobene Conclusion doch p1c_323.026 schon zu ahnen vermag. Wenn Klopstock aber sagt: „Wo p1c_323.027 Scipionen, Flaccus und Tullius, Urenkel denkend tönender p1c_323.028 redt' und sang“ so ist Flaccus und Tullius gewaltsam eingeschoben
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/381>, abgerufen am 23.11.2024.
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