p1c_352.001 zu seyn. Bey den Alten war also der Reim etwas Zufälliges. p1c_352.002 Die neuere Poesie scheint auf den Reim verfallen zu p1c_352.003 seyn, anfangs als ein Hülfsmittel, rhythmische Reihen abzutheilen, p1c_352.004 von einander zu trennen, wieder auf einander zu p1c_352.005 beziehen, und überhaupt dem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen, p1c_352.006 da man die Verse noch nicht niederschrieb. Der Reimp1c_352.007 muß also dem Rhythmus mehr angehören, als dem Metrum. p1c_352.008 Vielleicht ist selbst das Wort Reim aus Rhythmusp1c_352.009 entstanden. Da die Gesänge der Hebräer offenbar p1c_352.010 rhythmisch sind, so hat man auch den Reim in dem alten p1c_352.011 Testamente finden wollen. Dies war besonders die Meynung p1c_352.012 des Clericus und des Abt Fourmont. Man beruft p1c_352.013 sich dabey auf die Neigung aller Morgenländer zum Reim, p1c_352.014 auf ganze Verzeichnisse syrischer Reime, auf arabische Poesieen, p1c_352.015 älter als der Koran, auf die punischen Stellen im p1c_352.016 Poenulus des Plautus, welche Reime hat, z. B. thim - p1c_352.017 lusim u. s. w. Allein es ist diese Conjektur eben so ungewiß, p1c_352.018 wie alles, was man über das Musikalische der hebräischen p1c_352.019 Poesie von je her behauptet hat. Man verwirft Vocalpunkte p1c_352.020 und Accente, als Erfindung unwissender Masorethen, p1c_352.021 corrigirt nach Wohlgefallen, und findet nach diesem p1c_352.022 gewaltsamen Verfahren freylich was man sucht, weil man p1c_352.023 es erst hineingelegt hat. Wenn dies bey Bestimmung der p1c_352.024 griechischen Maaße so oft geschieht, da man doch die griechischep1c_352.025 Sprache, ihre Vocale und Quantität genauer kennt, p1c_352.026 um wie viel freyeres Spiel hat nicht der Gelehrte im Gebiet p1c_352.027 des Hebräischen, wo das meiste terra incognita ist. p1c_352.028 Jndessen bleibt es doch unläugbar, daß der Reim sich bey
p1c_352.001 zu seyn. Bey den Alten war also der Reim etwas Zufälliges. p1c_352.002 Die neuere Poesie scheint auf den Reim verfallen zu p1c_352.003 seyn, anfangs als ein Hülfsmittel, rhythmische Reihen abzutheilen, p1c_352.004 von einander zu trennen, wieder auf einander zu p1c_352.005 beziehen, und überhaupt dem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen, p1c_352.006 da man die Verse noch nicht niederschrieb. Der Reimp1c_352.007 muß also dem Rhythmus mehr angehören, als dem Metrum. p1c_352.008 Vielleicht ist selbst das Wort Reim aus Rhythmusp1c_352.009 entstanden. Da die Gesänge der Hebräer offenbar p1c_352.010 rhythmisch sind, so hat man auch den Reim in dem alten p1c_352.011 Testamente finden wollen. Dies war besonders die Meynung p1c_352.012 des Clericus und des Abt Fourmont. Man beruft p1c_352.013 sich dabey auf die Neigung aller Morgenländer zum Reim, p1c_352.014 auf ganze Verzeichnisse syrischer Reime, auf arabische Poesieen, p1c_352.015 älter als der Koran, auf die punischen Stellen im p1c_352.016 Poenulus des Plautus, welche Reime hat, z. B. thim ─ p1c_352.017 lusim u. s. w. Allein es ist diese Conjektur eben so ungewiß, p1c_352.018 wie alles, was man über das Musikalische der hebräischen p1c_352.019 Poesie von je her behauptet hat. Man verwirft Vocalpunkte p1c_352.020 und Accente, als Erfindung unwissender Masorethen, p1c_352.021 corrigirt nach Wohlgefallen, und findet nach diesem p1c_352.022 gewaltsamen Verfahren freylich was man sucht, weil man p1c_352.023 es erst hineingelegt hat. Wenn dies bey Bestimmung der p1c_352.024 griechischen Maaße so oft geschieht, da man doch die griechischep1c_352.025 Sprache, ihre Vocale und Quantität genauer kennt, p1c_352.026 um wie viel freyeres Spiel hat nicht der Gelehrte im Gebiet p1c_352.027 des Hebräischen, wo das meiste terra incognita ist. p1c_352.028 Jndessen bleibt es doch unläugbar, daß der Reim sich bey
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/410>, abgerufen am 23.11.2024.
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