p1c_435.001 Anmerk. 2. Daß das Gedicht für das Ohr gemacht p1c_435.002 werde, ist keine Frage. Denn die mündliche Sprache ist p1c_435.003 die nothwendige Form der Poesie, und unsre Nazion ist eben p1c_435.004 deswegen so wenig poetisch, weil bey ihr die Gedichte, wie p1c_435.005 die übrigen Bücher, angesehen und höchstens einmal mit den p1c_435.006 Augen flüchtig durchgelesen werden. Das Musikalischep1c_435.007 wird zwar dann auch etwas empfunden, aber nur so, wie p1c_435.008 man Musiknoten lesen kann. Der Zauber, der im Klange p1c_435.009 liegt, geht ganz verlohren. Die poetische Sprache muß an p1c_435.010 das Wunderbare und Außerordentliche gränzen. Sie will p1c_435.011 uns durch Darstellung des Jdealen aus der gewöhnlichen p1c_435.012 Sphäre der Verstandeswelt herausreißen. Darum ist p1c_435.013 sie in ihrem logischen Wesen tropisch, d. h. sie verwechselt p1c_435.014 die Begriffe, setzt einen für den andern, zeigt, wie p1c_435.015 überall in der Natur eins das Bild vom andern, und alles p1c_435.016 das Bild von Einem ist. Eben darum ist sie aber auch p1c_435.017 musikalisch, löst die artikulirten Töne wieder in Gesang p1c_435.018 auf, nimmt die Schranken des Verstandes hinweg, p1c_435.019 und zeigt die ideale Einheit in dunklen Klängen. Diese p1c_435.020 Eigenschaft der Poesie ist also nur durch wirkliche Deklamation p1c_435.021 darstellbar.
p1c_435.022 Anmerk. 3. Die Deklamation bedarf eines besondern p1c_435.023 Talents, einer wohlgefälligen Stimme und einer Fähigkeit, p1c_435.024 diese Stimme zu beherrschen, die dem Dichter selbst p1c_435.025 fehlen kann. Jndessen muß er doch ein Gefühl für alle Modificationen p1c_435.026 der Stimme haben, wie der Componist den Gesang p1c_435.027 kennen muß. Der große Corneille soll seine Werke sehr
p1c_435.001 Anmerk. 2. Daß das Gedicht für das Ohr gemacht p1c_435.002 werde, ist keine Frage. Denn die mündliche Sprache ist p1c_435.003 die nothwendige Form der Poesie, und unsre Nazion ist eben p1c_435.004 deswegen so wenig poetisch, weil bey ihr die Gedichte, wie p1c_435.005 die übrigen Bücher, angesehen und höchstens einmal mit den p1c_435.006 Augen flüchtig durchgelesen werden. Das Musikalischep1c_435.007 wird zwar dann auch etwas empfunden, aber nur so, wie p1c_435.008 man Musiknoten lesen kann. Der Zauber, der im Klange p1c_435.009 liegt, geht ganz verlohren. Die poetische Sprache muß an p1c_435.010 das Wunderbare und Außerordentliche gränzen. Sie will p1c_435.011 uns durch Darstellung des Jdealen aus der gewöhnlichen p1c_435.012 Sphäre der Verstandeswelt herausreißen. Darum ist p1c_435.013 sie in ihrem logischen Wesen tropisch, d. h. sie verwechselt p1c_435.014 die Begriffe, setzt einen für den andern, zeigt, wie p1c_435.015 überall in der Natur eins das Bild vom andern, und alles p1c_435.016 das Bild von Einem ist. Eben darum ist sie aber auch p1c_435.017 musikalisch, löst die artikulirten Töne wieder in Gesang p1c_435.018 auf, nimmt die Schranken des Verstandes hinweg, p1c_435.019 und zeigt die ideale Einheit in dunklen Klängen. Diese p1c_435.020 Eigenschaft der Poesie ist also nur durch wirkliche Deklamation p1c_435.021 darstellbar.
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/493>, abgerufen am 23.11.2024.
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