Aber wie nöthig ist auch in dieser seellgen Beschäfftigung die Redlichkeit und Demuth des Herzens! Wenn ich Gott recht kennen; wenn ich zu heilsamen und wohlthätigen Einsichten von ihm kommen will, so muß ich wider alle Vorurtheile, und besonders wider die Leidenschaften auf mei- ner Hut seyn. Jch muß nicht voraussetzen, daß das nur Wahrheit seyn könne, was meinem Her- zen angenehm ist und seinen Begierden schmei- chelt. Wie wird ein Mensch zur Ueberzeugung von ihr kommen, oder ihren Eindruck zu seinem Besten empfinden können, wenn er sie nur in dem Widerspruche derselben mit seinen Lüsten be- trachtet? Wird er nicht vor dem Lichte fliehen, das er haßt? Wer zweifeln will, wird zweifeln; wer Einwürfe wider die Wahrheit sucht, findet sie, und immer werden sie ihm nur unauflöslicher werden, je länger seine Aufmerksamkeit sich bey ihnen verweilt; denn wenn er die Wahrheit ein- mal aus dem Gesichte verliert, so verliert er auch mit ihr die Gründe, wodurch sie bestätigt wird. Sie hat demnach keine gefährlichere Feindinnen, als die Leidenschaften, und weil ich dieses aus mehr als einer traurigen Erfahrung weiß, so will ich mich besonders wider den Betrug meines eignen Herzens waffnen. Jch will, als ein We- sen, welches mit dem herrlichen Vorzuge der
Ver-
Aber wie nöthig iſt auch in dieſer ſeellgen Beſchäfftigung die Redlichkeit und Demuth des Herzens! Wenn ich Gott recht kennen; wenn ich zu heilſamen und wohlthätigen Einſichten von ihm kommen will, ſo muß ich wider alle Vorurtheile, und beſonders wider die Leidenſchaften auf mei- ner Hut ſeyn. Jch muß nicht vorausſetzen, daß das nur Wahrheit ſeyn könne, was meinem Her- zen angenehm iſt und ſeinen Begierden ſchmei- chelt. Wie wird ein Menſch zur Ueberzeugung von ihr kommen, oder ihren Eindruck zu ſeinem Beſten empfinden können, wenn er ſie nur in dem Widerſpruche derſelben mit ſeinen Lüſten be- trachtet? Wird er nicht vor dem Lichte fliehen, das er haßt? Wer zweifeln will, wird zweifeln; wer Einwürfe wider die Wahrheit ſucht, findet ſie, und immer werden ſie ihm nur unauflöslicher werden, je länger ſeine Aufmerkſamkeit ſich bey ihnen verweilt; denn wenn er die Wahrheit ein- mal aus dem Geſichte verliert, ſo verliert er auch mit ihr die Gründe, wodurch ſie beſtätigt wird. Sie hat demnach keine gefährlichere Feindinnen, als die Leidenſchaften, und weil ich dieſes aus mehr als einer traurigen Erfahrung weiß, ſo will ich mich beſonders wider den Betrug meines eignen Herzens waffnen. Jch will, als ein We- ſen, welches mit dem herrlichen Vorzuge der
Ver-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0102"n="88"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Aber wie nöthig iſt auch in dieſer ſeellgen<lb/>
Beſchäfftigung die Redlichkeit und Demuth des<lb/>
Herzens! Wenn ich Gott recht kennen; wenn ich<lb/>
zu heilſamen und wohlthätigen Einſichten von ihm<lb/>
kommen will, ſo muß ich wider alle Vorurtheile,<lb/>
und beſonders wider die Leidenſchaften auf mei-<lb/>
ner Hut ſeyn. Jch muß nicht vorausſetzen, daß<lb/>
das nur Wahrheit ſeyn könne, was meinem Her-<lb/>
zen angenehm iſt und ſeinen Begierden ſchmei-<lb/>
chelt. Wie wird ein Menſch zur Ueberzeugung<lb/>
von ihr kommen, oder ihren Eindruck zu ſeinem<lb/>
Beſten empfinden können, wenn er ſie nur in<lb/>
dem Widerſpruche derſelben mit ſeinen Lüſten be-<lb/>
trachtet? Wird er nicht vor dem Lichte fliehen,<lb/>
das er haßt? Wer zweifeln will, wird zweifeln;<lb/>
wer Einwürfe wider die Wahrheit ſucht, findet<lb/>ſie, und immer werden ſie ihm nur unauflöslicher<lb/>
werden, je länger ſeine Aufmerkſamkeit ſich bey<lb/>
ihnen verweilt; denn wenn er die Wahrheit ein-<lb/>
mal aus dem Geſichte verliert, ſo verliert er auch<lb/>
mit ihr die Gründe, wodurch ſie beſtätigt wird.<lb/>
Sie hat demnach keine gefährlichere Feindinnen,<lb/>
als die Leidenſchaften, und weil ich dieſes aus<lb/>
mehr als einer traurigen Erfahrung weiß, ſo<lb/>
will ich mich beſonders wider den Betrug meines<lb/>
eignen Herzens waffnen. Jch will, als ein We-<lb/>ſen, welches mit dem herrlichen Vorzuge der<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Ver-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[88/0102]
Aber wie nöthig iſt auch in dieſer ſeellgen
Beſchäfftigung die Redlichkeit und Demuth des
Herzens! Wenn ich Gott recht kennen; wenn ich
zu heilſamen und wohlthätigen Einſichten von ihm
kommen will, ſo muß ich wider alle Vorurtheile,
und beſonders wider die Leidenſchaften auf mei-
ner Hut ſeyn. Jch muß nicht vorausſetzen, daß
das nur Wahrheit ſeyn könne, was meinem Her-
zen angenehm iſt und ſeinen Begierden ſchmei-
chelt. Wie wird ein Menſch zur Ueberzeugung
von ihr kommen, oder ihren Eindruck zu ſeinem
Beſten empfinden können, wenn er ſie nur in
dem Widerſpruche derſelben mit ſeinen Lüſten be-
trachtet? Wird er nicht vor dem Lichte fliehen,
das er haßt? Wer zweifeln will, wird zweifeln;
wer Einwürfe wider die Wahrheit ſucht, findet
ſie, und immer werden ſie ihm nur unauflöslicher
werden, je länger ſeine Aufmerkſamkeit ſich bey
ihnen verweilt; denn wenn er die Wahrheit ein-
mal aus dem Geſichte verliert, ſo verliert er auch
mit ihr die Gründe, wodurch ſie beſtätigt wird.
Sie hat demnach keine gefährlichere Feindinnen,
als die Leidenſchaften, und weil ich dieſes aus
mehr als einer traurigen Erfahrung weiß, ſo
will ich mich beſonders wider den Betrug meines
eignen Herzens waffnen. Jch will, als ein We-
ſen, welches mit dem herrlichen Vorzuge der
Ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/102>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.