Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite



gefährlichsten Umständen nahmen sowohl Privat-
leute als ganze Republiken ihre Zuflucht zur Ve-
nus, der Buhlerinn, der Gottheit der unkeu-
schen Liebe; ganz Griechenland schämte sich nicht
seine Errettung den Gebeten an sie zuzuschreiben.
Belehrten wohl die Weisen unter ihnen das Volk
von der Ungereimtheit und Sündlichkeit dieser
Gebete? Wer war unter ihnen weiser, tugendhaf-
ter und besser; wer hatte eine reinere Sittenleh-
re unter den Heiden, als Socrates? Gleichwohl
setzte er es als einen Grundsatz feste, daß jeder sich
zur Religion seines Landes bekennen müßte. Als
er angeklagt wurde, daß er die Götter läugnete,
die das Volk anbetete, vertheidigte er sich dage-
gen, als wenn er eines Verbrechens beschuldigt
worden wäre. Wagten es einige, dem herrschen-
den Jrrthume zu widersprechen, so wurden sie
vor dem gerechtesten Gerichte in Griechenland,
von dem Areopagus, als Gottesläugner ver-
dammt. Einer von ihnen hatte nur geläugnet,
daß die Bildseule der Minerva von dem Phidias
ein Gott wäre, als er sich auch in der Gefahr
sah, vielleicht sein Leben zu verlieren, und er
wußte sich nicht anders als mit der Ausflucht zu
retten, daß er gesagt hätte, sie wäre kein Gott,
weil sie eine Göttinn wäre, und doch wurde er
aus seiner Republik verbannt.

So



gefährlichſten Umſtänden nahmen ſowohl Privat-
leute als ganze Republiken ihre Zuflucht zur Ve-
nus, der Buhlerinn, der Gottheit der unkeu-
ſchen Liebe; ganz Griechenland ſchämte ſich nicht
ſeine Errettung den Gebeten an ſie zuzuſchreiben.
Belehrten wohl die Weiſen unter ihnen das Volk
von der Ungereimtheit und Sündlichkeit dieſer
Gebete? Wer war unter ihnen weiſer, tugendhaf-
ter und beſſer; wer hatte eine reinere Sittenleh-
re unter den Heiden, als Socrates? Gleichwohl
ſetzte er es als einen Grundſatz feſte, daß jeder ſich
zur Religion ſeines Landes bekennen müßte. Als
er angeklagt wurde, daß er die Götter läugnete,
die das Volk anbetete, vertheidigte er ſich dage-
gen, als wenn er eines Verbrechens beſchuldigt
worden wäre. Wagten es einige, dem herrſchen-
den Jrrthume zu widerſprechen, ſo wurden ſie
vor dem gerechteſten Gerichte in Griechenland,
von dem Areopagus, als Gottesläugner ver-
dammt. Einer von ihnen hatte nur geläugnet,
daß die Bildſeule der Minerva von dem Phidias
ein Gott wäre, als er ſich auch in der Gefahr
ſah, vielleicht ſein Leben zu verlieren, und er
wußte ſich nicht anders als mit der Ausflucht zu
retten, daß er geſagt hätte, ſie wäre kein Gott,
weil ſie eine Göttinn wäre, und doch wurde er
aus ſeiner Republik verbannt.

So
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0140" n="126"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
gefährlich&#x017F;ten Um&#x017F;tänden nahmen &#x017F;owohl Privat-<lb/>
leute als ganze Republiken ihre Zuflucht zur Ve-<lb/>
nus, der Buhlerinn, der Gottheit der unkeu-<lb/>
&#x017F;chen Liebe; ganz Griechenland &#x017F;chämte &#x017F;ich nicht<lb/>
&#x017F;eine Errettung den Gebeten an &#x017F;ie zuzu&#x017F;chreiben.<lb/>
Belehrten wohl die Wei&#x017F;en unter ihnen das Volk<lb/>
von der Ungereimtheit und Sündlichkeit die&#x017F;er<lb/>
Gebete? Wer war unter ihnen wei&#x017F;er, tugendhaf-<lb/>
ter und be&#x017F;&#x017F;er; wer hatte eine reinere Sittenleh-<lb/>
re unter den Heiden, als Socrates? Gleichwohl<lb/>
&#x017F;etzte er es als einen Grund&#x017F;atz fe&#x017F;te, daß jeder &#x017F;ich<lb/>
zur Religion &#x017F;eines Landes bekennen müßte. Als<lb/>
er angeklagt wurde, daß er die Götter läugnete,<lb/>
die das Volk anbetete, vertheidigte er &#x017F;ich dage-<lb/>
gen, als wenn er eines Verbrechens be&#x017F;chuldigt<lb/>
worden wäre. Wagten es einige, dem herr&#x017F;chen-<lb/>
den Jrrthume zu wider&#x017F;prechen, &#x017F;o wurden &#x017F;ie<lb/>
vor dem gerechte&#x017F;ten Gerichte in Griechenland,<lb/>
von dem Areopagus, als Gottesläugner ver-<lb/>
dammt. Einer von ihnen hatte nur geläugnet,<lb/>
daß die Bild&#x017F;eule der Minerva von dem Phidias<lb/>
ein Gott wäre, als er &#x017F;ich auch in der Gefahr<lb/>
&#x017F;ah, vielleicht &#x017F;ein Leben zu verlieren, und er<lb/>
wußte &#x017F;ich nicht anders als mit der Ausflucht zu<lb/>
retten, daß er ge&#x017F;agt hätte, &#x017F;ie wäre kein Gott,<lb/>
weil &#x017F;ie eine Göttinn wäre, und doch wurde er<lb/>
aus &#x017F;einer Republik verbannt.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[126/0140] gefährlichſten Umſtänden nahmen ſowohl Privat- leute als ganze Republiken ihre Zuflucht zur Ve- nus, der Buhlerinn, der Gottheit der unkeu- ſchen Liebe; ganz Griechenland ſchämte ſich nicht ſeine Errettung den Gebeten an ſie zuzuſchreiben. Belehrten wohl die Weiſen unter ihnen das Volk von der Ungereimtheit und Sündlichkeit dieſer Gebete? Wer war unter ihnen weiſer, tugendhaf- ter und beſſer; wer hatte eine reinere Sittenleh- re unter den Heiden, als Socrates? Gleichwohl ſetzte er es als einen Grundſatz feſte, daß jeder ſich zur Religion ſeines Landes bekennen müßte. Als er angeklagt wurde, daß er die Götter läugnete, die das Volk anbetete, vertheidigte er ſich dage- gen, als wenn er eines Verbrechens beſchuldigt worden wäre. Wagten es einige, dem herrſchen- den Jrrthume zu widerſprechen, ſo wurden ſie vor dem gerechteſten Gerichte in Griechenland, von dem Areopagus, als Gottesläugner ver- dammt. Einer von ihnen hatte nur geläugnet, daß die Bildſeule der Minerva von dem Phidias ein Gott wäre, als er ſich auch in der Gefahr ſah, vielleicht ſein Leben zu verlieren, und er wußte ſich nicht anders als mit der Ausflucht zu retten, daß er geſagt hätte, ſie wäre kein Gott, weil ſie eine Göttinn wäre, und doch wurde er aus ſeiner Republik verbannt. So

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/140
Zitationshilfe: Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/140>, abgerufen am 23.11.2024.